Martin Walser

Angstblüte

Roman

Eins

1.

Es war Gundi. Sie klang, als sei jemand in ihrer Nähe, der nicht hören dürfe, was sie sagt. Man sah förmlich, wie sie den Kopf senkte, um Mund und Hörer möglichst dicht zusammenzubringen. Und verfügte doch in ihrem Schlößchen in der Menterschwaige über soviel Ungestörtheit, wie sie nur wollte. Eigentlich war sie entspannt. Die Gelassenheit selbst, sagte Diego, sei sie. Gelegentlich sprach er ihr sogar eine göttliche Gelassenheit zu. Aber heute gab es einen Grund für diesen Dringlichkeitston. Diego liegt im Schwabinger Krankenhaus. Er konnte morgens nicht aufstehen, konnte keinen Arm, kein Bein mehr bewegen, ist darüber so erschrocken, daß er sofort gekotzt hat. Sie hat den Notarzt gerufen, der hat Diego ins Schwabinger Krankenhaus bringen lassen, da liegt er jetzt seit achtundvierzig Stunden, die Ärzte können sich für keine Ursache entscheiden. Also Schlaganfall ist schon mal ausgeschlossen worden. MS noch nicht.

Als Karl von Kahn hörte, daß das schon vorgestern passiert war, konnte er ein zu lautes, fast klagendes Nein nicht zurückhalten.

Gundi sagte: Ja. Sagte das ganz matt.

Karl, eher heftig: Sag Lambert, ich komme sofort.

Karl, rief sie, Karl!

Er verstand nicht gleich und erfuhr, er habe Diego Lambert genannt. Das tue ihr weh. Jetzt, da Diego so elend daliege, ganz besonders.

Karl rief: Gundi, liebe Gundi, das tut mir so leid, wie ich es nicht sagen kann. Wisch es weg, hab es nicht gehört, laß es bedeutungslos sein. Ich bitte dich darum.

Gewährt, sagte sie.

Ich danke dir, Gundi, sagte er.

Also um drei, sagte sie.

Und Karl notierte: Haus 4, Abteilung 4a, Zimmer 4023. Um drei.

Gundi hauchte ein Ja.

Karl legte nach ihr auf, holte Atem und sagte es Helen weiter.

Die saß schon an ihrem Schreibtisch, der der Schreibtisch ihres Vaters war. Öfter sagte sie, wenn sie es noch zu etwas bringe, verdanke sie das ihrem zweiten Mann, der ihr erster Mann, ihr Mann überhaupt sei. Damit wollte sie sein Frühaufstehen rühmen. Karl von Kahn hatte es zur Lebensbedingung schlechthin gemacht, vor seinen Kunden auf zu sein, die Börsenkurse zu studieren, bevor seine Kunden sie studierten. Er hatte ganz unauffällig aus jedem seiner Kunden die Aufstehzeit herausgefragt. Vor sieben saß keiner vor dem Schirm. Also saß er um sieben vor dem Schirm. Also saß Helen um sieben an ihrem Schreibtisch. Sie war durch Karl zur Frühaufsteherin geworden. Das hätte, sagte sie, ihrem Vater sehr gefallen. Womit sie Karl wissen ließ, daß viel mehr, als ihrem Vater zu gefallen, nicht erreichbar war.

Als sie hörte, was Lambert passiert war, stand sie auf, kam zu Karl, der an der Tür ihres Arbeitszimmers stehengeblieben war, lehnte ihren Kopf an seine Brust und sagte: Mein armer Karl.

Karl sagte: Sag lieber, der arme Lambert.

Das war eine Lieblingsstellung: Ihr Gesicht an seine Brust geschmiegt, sein Kinn in ihren blonden Haaren. Dazu gehörte, daß er seine Arme um sie legte und mit seinem Kinn in ihren Haaren hin- und herrieb. Das ging jetzt nicht.

Er sagte: Entschuldige, bitte.

Er richtete Helen vorsichtig auf, dann streichelte er sie. Dann ging er hinauf in sein Arbeitszimmer. Dort ließ er sich in seinen Schreibtischstuhl fallen, kippte den Stuhl und sah auf die Balken und Bretter seiner schrägen Zimmerdecke.

Der Freund hatte Lambert geheißen, als er vor Karl, der wieder einmal auf seinen von Schwermut geplagten Tennispartner hatte warten müssen, stehengeblieben war und gesagt hatte: Meine Partnerin kommt auch nicht, ich finde, jetzt spielen wir. Ich bin Lambert Trautmann. Das weiß ich doch, hatte Karl gesagt. Gedacht hatte er, das seh ich doch. Und Sie sind Herr von Kahn, der Bruder Ereweins, dem ich viel verdanke. Er Ihnen auch, sagte Karl. Das freut mich, sagte Lambert.

Dann hatten sie gespielt, Lambert hatte gewonnen, aber nur knapp, und Karl hatte nichts dagegen, gegen dieses Gebirge von Mann knapp zu verlieren. Der war nicht viel größer, aber massiver, schwerer, wuchtiger. Lambert und Karl hatten dann jahrelang gegeneinander gespielt. Lambert nahm immerzu Stunden. Zuerst in der Tennisakademie bei Niki Pilic, dann bei weniger berühmten Lehrern. Karl nahm nie Stunden. Daraus, daß er trotzdem so oft gewann und verlor wie Lambert, schloß er, er sei eigentlich der bessere Spieler. Aber es war unübersehbar, daß auch Lambert sich für den besseren Spieler hielt. Lambert überraschte immer wieder mit neuen Taktiken, die er sich von seinen Lehrern beibringen ließ. Geschnittene Aufschläge und dann sofort vor ans Netz. Karl freute sich über jeden Technikimport. Je mehr Lambert ihm abverlangte, desto fröhlicher wurde er. Das war doch das reine Glück, dieses ernsthafte Gegeneinanderspielen. Wenn es einmal zweifelhaft war, ob der Ball die Linie noch berührt habe, konnte durchaus Streit entstehen. Sie waren ja Freunde geworden, und Freunde, die nicht streiten, sind keine Freunde. Um so beglückender dann, wenn sie nach einem Streit zurückfanden ins Spiel. Karl wußte immer: Wenn Lambert einmal aufhören würde zu spielen, würde er auch aufhören. Lambert war fünf Jahre jünger als Karl. Nach jedem Spiel pflegten sie den nächsten Termin zu verabreden. Für Lambert wurde es immer schwieriger, noch einen Termin zu finden. Seit Lambert in zwei Etagen in der Brienner Straße residierte, war er praktisch unerreichbar. Karl las in der Zeitung, daß Lambert keine Messe mehr ausließ. In Basel, in Paris, in Maastricht, Hannover, Salzburg und natürlich in München und sonstwo zeigte Lambert seine Potenz als Meister des Kunst- und Antiquitätenhandels. Seine Stände waren immer die größten. Aber daß er inzwischen mehr Zeit mit Gundi in deren Haus auf Menorca verbrachte, verhinderte Tennis gründlicher als alle Geschäfte zusammen. Lambert hatte offenbar Gundis Haus und Anwesen dort ins Großartige gesteigert. Auch einen Tennisplatz hatte er anlegen lassen, obwohl Gundi Tennis eher verachtete. Es sei ein Sport für Marionetten, hatte sie formuliert. Und Lambert hatte den Satz stolz lachend Karl weitergesagt.

Lambert hieß Lambert, bis er Gundi oder bis Gundi Lambert entdeckte. Sie nannte ihn von Anfang an Diego. Nach der Hochzeit erklärte sie, sie könne ihren Mann nicht mit einem Namen rufen, mit dem andere – und sie meinte die beiden Frauen, mit denen Lambert vor ihr verheiratet gewesen war – ihn gerufen hätten. Lambert war gerührt. Das war doch ein Liebessturm. Daß sie in der Villa in der Menterschwaige alle Schlösser ersetzen ließ, konnte eine praktische Maßnahme sein. Aber sie ließ alles ersetzen und erneuern, was durch eine ihrer beiden Vorgängerinnen ins Haus gekommen war. In ein paar Wochen hatte sie, ohne daß Lambert das jedesmal gleich begriff, herausgefragt, daß alle Keshans durch die erste Frau, und alles, was Biedermeier war, durch die zweite Frau ins Haus gekommen war. Hinaus damit. Lambert erlebte jede Säuberungswelle als Liebesbeweis der einundzwanzig Jahre jüngeren Gundi.

An dem, was Diego im ersten Stock der Villa präsentierte, konnte Gundi keinen Anstoß nehmen. Der Sängersaal, das war der erste Stock der Villa, die der Erfinder Ruckstuhl dem Schloß Neuschwanstein nachbauen ließ. Von Diego Bonsai-Neuschwanstein getauft. Mit dem Sängersaal hatte Diego die Bühne gefunden, die er für seine Selbstentfaltung brauchte. Seit er das Schlößchen hatte, spürte man förmlich seinen Ehrgeiz, jeden Abend für die Eingeladenen zum Ereignis werden zu lassen. Wie das dann ablief, wirkte kein bißchen vorbereitet. War es wahrscheinlich auch nicht. Er ließ immer erleben, was er gerade erlebt hatte. Wenn er in einem Buch Voltaires Satz entdeckt hatte Le superflu, chose très nécessaire, dann mußte er diesen Satz doch weitersagen und dazusagen, daß er in diesem Satz das Motto seiner Lebensarbeit und Lebensstimmung ausgedrückt sehe und daß seine Freunde, bitte, nicht über ihn lächeln mögen, wenn sie diesem Satz von jetzt an auf allen seinen geschäftlichen Papieren in bekenntnishafter Verwendung begegnen werden. Daß das Überflüssige das Notwendige sei, und das von Voltaire, seinem Hausheiligen, darauf trinken wir den Wein, den Voltaire zu schätzen wußte: Corton Charlemagne, zum Wohl.

Diego erfaßte, womit den jeweils Eingeladenen zu entsprechen, ja zu dienen war. Und er entsprach, er diente! Die Eingeladenen, das waren seine Freunde und solche, die es werden sollten. Das waren Damen und Herren, die auch als Kunden in Frage kamen.

Der Sängersaal hatte seine sechs säulengefaßten Rundbogenfenster zur Isar hin. Auf der sogenannten Galerieseite präsentierte Diego das, was er gerade am schönsten fand, also am heftigsten empfahl, seinen Kunden empfahl. Den Auserwählten. Es war ein Privileg, ins Bonsai-Schloß eingeladen und dort in den Sängersaal geführt zu werden. Auch jetzt noch, nachdem er sein Ladengeschäft aus der sanften Theresienstraße in die knallharte Brienner Straße verlegt hatte, um seinen Kunsthändlerrang unmißverständlich zu manifestieren, auch jetzt war das Bonsai-Neuschwanstein noch immer die Herzkammer seines Schönheitsimperiums, und der Sängersaal war die Herzkammer der Herzkammer. Vor den von drei Porphyrsäulen getragenen Rundbögen auf der Stirnseite des Saals hatte Diego seinen eigenen Geschmack entfaltet. Empire. Da saß man, nachdem man, von Diego geführt, auf der Galerieseite des Saals Diegos neueste Eroberungen beziehungsweise Offerten besichtigt hatte. Graphiken von Rembrandt ebenso wie Schafe am Bachlauf bei Bad Tölz im Vorfrühling. Fragonard-Blätter ebenso wie Hirtenjunge mit Kühen und Kälbern. Aber eben auch Schinkel-Stühle, versehen noch mit dem Etikett aus dem Stadtschloß in Berlin, oder eine Amatigeige mit diamantbesetzten Wirbeln aus dem Jahr 1646. Und er sagte immer freiheraus, daß er dieses Adolph-Menzel-Bild und diesen Corinth und diesen Schreibtisch Metternichs hier im engsten Kreis zeige, weil er solche Werke von keiner Laufkundschaft weggekauft sehen möchte. Er wollte immer wissen, wo, was er anbot, bleiben würde.

Denen, die er zum ersten Mal in den Sängersaal geladen hatte, erzählte er natürlich, wie er Besitzer dieses Bonsai-Neuschwansteins geworden war. Er hatte den Erfinder Ruckstuhl über fünfzehn Jahre hin zu einem bedeutenden Manierismussammler gemacht. Das war Diegos Leidenschaft: in jedem, der zu ihm kam, die Neigung zu entdecken, die in dem Betreffenden angelegt war, und diese Neigung dann zu entwickeln. Der Erfinder Ruckstuhl sei ein Verehrer Ludwigs II. gewesen und ein schwieriger Mensch, der sich mit manieristischer Kunst umgeben habe, mit Bildern, die man nicht verstehen, sondern nur anschauen konnte. Ihn habe nur das Unerklärliche interessiert. Bevor der Darmkrebs ihn zwang, sich zu vergiften, habe er seine Sammlung seiner Heimatstadt Rietberg im Ostwestfälischen geschenkt. Reich geworden sei Ruckstuhl mit revolutionären Erfindungen im Bereich der Abwasserbeseitigung. Zuletzt habe er noch mitgewirkt an der Entwicklung der Vakuumtechnik, mit deren Hilfe unsere Ausscheidungen ohne viel Wasserverbrauch aus den Zugaborten herausgesaugt werden.

Wenn Diego etwas erzählte, mußte er immer auch alles, was dazugehörte, erzählen. Also erlebte man eine gewisse Umständlichkeit. Die wollte er vor seinen Zuhörern nicht verbergen. Und daß, was er erzählte, erzählens-, also anhörenswert war, das mußte jeder, der ihm zuhörte, auch wenn er’s lieber knapper gehabt hätte, zugeben. Manche hielten Diego sicher für einen Angeber, bis sie merkten, daß er nur sagt, was er weiß. Diego macht den Eindruck, als wisse er immer noch mehr, als er sagt. Das eigentliche Risiko der Diego-Entfaltungen war, daß es unter seinen Gästen und Freunden Damen und Herren gab, die solche Abende und Nächte zur Selbstentfaltung brauchten. Amadeus Stengl etwa und Marcus Luzius Babenberg. Solche wie Stengl und Babenberg warteten darauf, sich einschalten und dann das Gespräch kurz einmal auf ihr Themengelände führen zu können. Sie waren doch auch Solisten. Als Diego, weil es wirklich dazugehörte, erzählte, daß der Erfinder Ruckstuhl nicht nur Ludwig II., sondern auch Pettenkofer verehrt habe, jenen Max von Pettenkofer, der geadelt worden war, weil er München durch ein Kanalsystem hygienisch, das heißt cholerafrei gemacht habe, da mußte er natürlich dazusagen, daß Ruckstuhl zeitlebens Pettenkofers Grab auf dem Alten Südlichen Friedhof gepflegt habe, ein Grab am Friedhofsrand, weil Pettenkofer eben auch ein Selbstmörder gewesen war. Selbstmord mit einundachtzig. Und viel unerklärlicher als Ruckstuhls Selbstmord.

Das war die Stelle, an der Marcus Luzius Babenberg sich einschaltete. Es leuchtete jedem Zuhörer ein, daß das, was Babenberg dann vorbrachte, nicht fehlen durfte. Der Selbstmord Pettenkofers sei keinesfalls unerklärlich gewesen, Pettenkofer habe sich umgebracht in einem Anfall von Schwermut und Verzweiflung, weil Robert Koch die Erreger der Seuchen, die Bakterien, entdeckt hatte, während er, nur ein Hygienefanatiker, ein Abwasser-Praktiker, versuchen mußte, die Bedeutung der Koch-Entdeckungen vielleicht wider besseres Wissen herunterzuspielen. Auch vor sich selbst. Wer kennt das nicht! Den überlegenen Konkurrenten nicht anerkennen können heißt, sich selber umbringen zu müssen. Der Goethe-Spruch, daß gegen unbestreitbare Vorzüge des Konkurrenten nur die Liebe helfe, war dem Naturwissenschaftler nicht mitgegeben worden. Dann entschuldigte sich Babenberg dafür, daß er Diego unterbrochen habe. Und, sagte er, er hätte es nicht getan, wenn er nicht der Cousin einer Urenkelin Pettenkofers wäre; dessen Selbstmordgeschichte werde in der Familie sorgfältig gepflegt, damit keiner glaube, Selbstmord sei in der Familie genetisch bedingt.

Daß Babenberg nichts sagte, dem man widersprechen konnte, machte es für Diego schwer fortzufahren. Aber Diego fiel der rettende Satz ein. Er habe, sagte er, Herrn Ruckstuhl gelegentlich erzählt, daß er ein Verehrer Voltaires sei, und als sie sich zum letzten Mal getroffen hätten, habe Ruckstuhl gesagt, er sei froh, daß er sein Haus in den Händen eines Ampère-Verehrers wisse. Da konnte man lachen. Und in dieses Lachen hinein konnte Diego sagen: Immerhin hat Ruckstuhl dieses Schlößchen eine Oase des schönen Wahns genannt. Und, sein Niveau zeigend, hat er hinzugefügt, er, als Liebhaber des Unerwartbaren, hätte auch lieber den Palazzo Carignano des Guarino Guarini nachgebaut, aber eine Imitation sei leichter zu imitieren als ein Original.

Hier hätte sich Karl von Kahn auch einmal einmischen können. Als Turin-Kenner. Er war mit seiner Zuhörerrolle durchaus zufrieden. Hier zu reden war nicht sein Fach. Die Redenden könnten ohne Zuhörer gar nicht reden. Trotzdem tat es weh, als Freund Diego den Palazzo Carignano erwähnte, ohne dazuzusagen, daß er Ruckstuhls Bemerkung erst zu würdigen wußte, als Karl, der leidenschaftliche Turin-Besucher, ihn nachträglich informiert hatte.

Daß Gundi ihren Lambert Diego getauft hatte, war verständlich, beziehungsweise sie machte es verständlich. Gundi hatte aus Lambert einen anderen Menschen geschaffen, und den hatte sie Diego getauft. Beide betonten, sie habe nicht nur in Lambert den Diego entdeckt, sondern auch aus Lambert den Diego gemacht. Den schlanken Diego, einundzwanzig Kilo leichter. Einundzwanzig Jahre ist meine Dritte jünger, so fing seine Rühmung immer an, und einundzwanzig Kilo war ich zu schwer. Und als er einundzwanzig Kilo leichter war, sang Gundi weiter, war er der Diego, den ich vom ersten Augenblick an in ihm vermutete. Eine Zeit lang habe ich nur Diego gespielt, fuhr er fort. Er hat, sang sie, nicht an den Diego in sich geglaubt. Aber sie, sang er, hat an den Diego in mir geglaubt. Und sie: Lambert sei für einen männlichen Mann eine lächerliche Bezeichnung, für eine Käsesorte Richtung Weichkäse immer, aber nicht für den Mann, den sie liebe, der sei von Kopf bis Fuß Diego.

Karl mußte immer wieder einmal die Versuchung niederkämpfen, dem Freund endlich zu gestehen, was ihm eingefallen war, als er Gundi zum ersten Mal gesehen hatte, im Königshof. Da war die zweite Frau noch im Haus, also traf man sich im Königshof und dinierte fast feierlich, auf jeden Fall in vollem Zukunftsernst. Von der zweiten Frau hatte Lambert Gundi offenbar schon so viel erzählt, daß Gundi sie nur noch die Biedermeier-Zicke nannte. Als Karl im Königshof auf den Tisch zugegangen war, als Lambert aufgestanden war, als Karl die Hand genommen hatte, die ihm Gundi entgegenstreckte, da war in ihm, obwohl er diese Gundi natürlich vom Fernsehen kannte und obwohl sie auch jetzt wie in ihren Fernsehsendungen in Türkis auftrat, trotzdem war in ihm, als er sie zum ersten Mal persönlich sah, eine Art Schlagzeile entstanden: Die Schwarze Witwenspinne, die ihren Partner tötet, wenn sie sich mit ihm gepaart hat. Und das, obwohl sie vor ihm stand in einem seidenen Anzug in lichtestem Türkis. Und in den Jahren seit diesem Abend war Gundi immer in irgendeiner Türkisvariation erschienen. Er empfand es als eine Untreue Lambert-Diego gegenüber, daß er nie die Schwarze Witwenspinne gestehen konnte, die ihm zuerst eingefallen war. Inzwischen hätten sie doch alle miteinander lachen können über diesen disneyhaften Einfall.

Jetzt lag der also da, der Freund. Gelähmt.

Karl sagte vor sich hin: Siehst du, Lambert, gleich neun, so früh hat Gundi noch nie angerufen. Daß sie noch vor halb neun anrief, hieß, sie hat die ganze Nacht nicht geschlafen, halbneun, das war für Gundis Lebensart kurz nach Mitternacht, und ich, lieber Lambert, hätte keine Minute länger mit ihr telefonieren können, weil ich immer am Montag um neun Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel anzurufen habe, so geht das dann, lieber Lambert, unsere Lebensarten haben sich auseinanderentwickelt, weil ich mich ab sieben um die Kurse kümmere, kümmern muß, lieber Lambert. Verzeih. Bitte.

Er wußte nicht, wie er es anfangen sollte, wegzudenken vom bewegungsunfähigen Freund. Durch dieses elende Daliegen war ihm der Freund plötzlich so nah, wie er schon lange nicht mehr gewesen war.

Er wählte Amei Varnbühler-Bülow-Wachtels Nummer. Die kannte er auswendig. Jede Zahl mußte gegen einen Widerstand gewählt werden.

Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel war schon vor fünfundzwanzig Jahren dreifache Witwe gewesen. Karl von Kahn hatte noch bei der Hypo gearbeitet, zuständig für das Privatkundengeschäft, und wäre vielleicht bis zur Pensionierung eine Hypo-Nummer geblieben, hätte nicht eines Tages der Baron Ratterer, auch ein Kunde, für den Karl zuständig gewesen war, zu ihm gesagt: Wenn Sie in einer solchen Hierarchie verdorren wollen, hätten Sie gleich Pfarrer werden können. Karl sagte dem Baron, sollte der sein Depot statt der Hypo ihm anvertrauen, werde er kündigen und selber eine Firma aufmachen. Schließlich folgten ihm sieben Kunden, die er jahrelang hingebungsvoll gepflegt und reicher gemacht hatte, als sie schon waren. Mit sieben Kunden, die zusammen für Anlagen von fünfzig bis siebzig Millionen sorgen, kann man eine Firma gründen. Aber wenn schon im zweiten Jahr drei von diesen sieben Kunden wegsterben und deren Angelegtes von ebenso hilflosen wie gierigen Erben vertan wird – und Baron Ratterer war einer dieser Gestorbenen – und wenn noch ein betrügerischer Bankrott das Depot des potentesten Kunden dem Staatsanwalt ausliefert, dann starrt man nachts zur Decke. Ohne die dreifache Witwe Amei, ohne den musikalischen Physiker Professor Schertenleib und ohne die dreimal geschiedene Magistra Leonie von Beulwitzen wäre er untergegangen. Wahrscheinlich. Vielleicht. Keinesfalls. Unterzugehen kann er sich nicht leisten. Er ist zum Nichtuntergehen verurteilt.

Der Neun-Uhr-Anruf am Montag war ein Ritual. Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel meldete sich mit allen drei Namen plus Vornamen, wie sie sich immer meldete, nämlich in einer mit jedem Namen aufwärtssteigenden Melodie, so daß die Schlußsilbe von Wachtel klang, als schreibe man das mit zwei -l-. Karl von Kahn antwortete mit seiner Namensmelodie, die so deutlich nach unten führte wie die der Kundin aufwärts.

Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel war seine älteste Kundin überhaupt. Da sie selber gegen den Alterszucker kämpfte, war sie interessiert an Anlagen im Pharmafeld. Sie wollte immer genau informiert werden über die Produkte der Firma, deren Aktien sie kaufen sollte. Karl hatte, auch wenn gewisse Formulierungen Pflicht waren, an jedem Montag Substanz zu bieten. Montag ist Spieltag. Sie will ihre Geschäftsentscheidungen verstanden wissen als Spielzüge. Ihr zuliebe hatte Karl in einer der letzten Nummern seiner Kunden-Post einen Artikel geschrieben über das, was in der Branche Nachhaltigkeit genannt wurde. Das war das Hauptwort der Branchen-Ethik. Immerhin hatten die sonst der anglo-amerikanischen Prägekraft eher willenlos ausgelieferten Jargonschöpfer diesmal zu einem konkurrenzfähigen deutschen Wort gefunden.

Karls Artikel war eine Hommage an Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel. Ein Kompliment für den die Folgen bedenkenden Anleger. Er hatte allerdings, da er auch ganz andere Kunden hatte, das Gegenteil genauso gelten lassen müssen. Aber Frau Varnbühler-Bülow-Wachtel fand, er habe sie und ihre Politik und Ethik bevorzugt. Das hatte er nicht, aber er war froh, daß sie das so verstand.

Heute hat er der Gnädigen Frau einen Kauf zu empfehlen, der geschaffen ist für sie. Wir greifen, wenn Sie mir folgen möchten, jetzt zu. Paion, die Bio-Tech-Firma, die sich neulich so unbeholfen an die Börse gewagt hat. Er hat den stotternden Start für Sie beobachtet. Der Einstiegskurs wurde dreimal gesenkt, zuerst sollte die Aktie vierzehn kosten, dann zwölf, dann zehn, jetzt also acht. Jetzt wären wir, wenn Sie wollen, dabei. Entwickelt wird ein blutgerinnsellösendes Medikament, dessen Wirkstoff aus dem Speichel einer südamerikanischen Fledermaus stammt, das dann aber gentechnisch produziert wird und Schlaganfallpatienten dramatisch schnell rettet.

Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel ließ sich dazu bewegen, dabeizusein. Ist notiert, sagte sie, morgen hören Sie von mir, an wieviel denken Sie?

Fünfzigtausend, sagte Karl von Kahn und sprach die Zahl, wie es zum Ritual beziehungsweise Spiel gehörte, so leichthin, als sei das nichts.

Wenn ich einsteige, sagte sie und wiederholte rituell, wenn ich einsteige, schlage ich die Finanzierung vor.

Sie schlug immer die Finanzierung vor. Diesmal hieß das, sie wollte die Finanzierung aus ihrem Schering-Portfolio herübergeholt wissen, weil sie in der Süddeutschen gelesen hatte, Schering sei mit Yasmin und Mirena zum Weltmarktführer bei den Verhütungsmitteln aufgestiegen. Da wollte sie nicht mehr dabeisein. Das konnte ihr Karl nur mit einer Einschränkung zusagen. Er werde ihre Schering-Aktien erst verkaufen, wenn sich die gerade vom Schering-Chef verkündeten Rekordergebnisse und die dazu gelieferte Zukunftsvision, daß nämlich von jetzt an der Gewinn stärker wachsen solle als der Umsatz, in einer Kurssteigerung bemerkbar gemacht haben wird. Da es dann aber für den günstigen Einstiegskurs bei Paion zu spät sein könne, werde er den Einstieg für die Gnädige Frau mit deren Erlaubnis per Kredit finanzieren. Kredite lungerten ja zur Zeit auf dem Markt herum und bettelten förmlich darum, aufgenommen zu werden. Da er aber immer das ganze Portfolio der Gnädigen Frau im Blick habe, und er möchte es lieber ein Anlagen-Gewächshaus nennen als ein Portfolio, könnte er ihr auch vorschlagen, den Einstieg bei Paion mit dem Verkauf von Puma-Werten zu finanzieren. Zwei Gründe dafür: Heute morgen die Meldung, Puma kauft weiter eigene Aktien zurück, für weitere hundert Millionen Euro, das heißt, die Puma-Aktien werden steigen. Zweitens: Puma-Papiere wirken im Werte-Gewächshaus der Gnädigen Frau eher fremd.

Und genau deshalb bleiben sie drin, rief die Kundin.

Um Ihre Instinktsouveränität habe ich Sie immer beneidet, sagte Karl im Finalton. Er sei glücklich, die Gnädige Frau heute wieder so situationsbewußt und dazu noch jahreszeitgemäß, also nichts als frühlingshaft erlebt zu haben. Wir hören voneinander.

Sie von mir, mein Lieber, sagte sie. Adieu.

Adieu, sagte Karl, wie es zum Ritual gehörte, deutlich leiser als sie.

Das Ritual, das er sonst mit nicht nachlassen dürfender Lust bediente, kam ihm heute lächerlich vor. Lambert! Daß Lambert, als er sich, aufgewacht, gelähmt sah, sofort gekotzt hat! Gundi hat es ihm tatsachenhart hingesagt.

Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel, in seiner Jahreszählung: neunzig plus. Seine Kunden starben nicht mehr einfach so weg wie in den ersten drei Jahren. Sobald die achtzig waren, ging es aufwärts. Dafür sorgte er. Durch immer neue, immer spannende, oft dramatische Um- und Umschichtungen der Anlagen. Karl hatte inzwischen eine Kunst daraus gemacht, Kunden, die siebzig plus, achtzig plus und neunzig plus waren, für langfristige Anlagen zu begeistern. Er setzte seine Kunden nicht den Kunststoffwörtern aus, mit denen die Branche sich den Anschein gab, das Weltwettergeschehen der Märkte mit immer feineren Maschinen und Methoden durchschauen und berechnen und lenken zu können. Er blieb beim Natürlichen. Der Markt als Naturgeschehen. Das war seine Sprache. Jede Bewegung auf dem Markt hat eine Wirkung, und diese Wirkung wirkt zurück auf ihre Ursache. Und die dadurch veränderte Ursache produziert eine veränderte Wirkung, die wieder zur veränderten Ursache einer anderen Wirkung wird. Daß du nicht zweimal im selben Wasser baden kannst, wird nirgends so wahr wie im Anlegergeschäft. Und er ist der, der handelnd etwas für seinen Kunden bewirkt, aber dann weiterhandeln muß, weil das Hin und Her nie aufhört, es sei denn, man zöge seinen Einsatz zurück. Glattstellung hieße das dann. Aber das will er nicht, das wollen seine Kunden nicht. Das will das Lebendige nicht. Und Karl von Kahn und seine Kunden sind für das Lebendige. Zins und Zinseszins. Verbrauch ist banal. Das Leben will die Wieder- und Wieder und Wiederanlage des Erworbenen.

In seiner Kunden-Post pflegte er eine Kolumne Das Zitat der Woche. Das war, fand er, eine schöne Möglichkeit, seine Kunden aufzuklären, ihnen seine Geschäfts-Philosophie nahezubringen. In der letzten Woche stand da: Money makes money. And the money that money makes makes more money. Benjamin Franklin. Immerhin. Dieses Zitat hatten vierzehn Kunden mit herzlichen Zuschriften beantwortet. Die wird er in der nächsten Kunden-Post veröffentlichen. Seine Kunden sollten sich in einem ungegründeten, aber spürbaren Club befinden.

Karl von Kahn übersetzte in seiner immer freitags verschickten Kunden-Post alles Wirtschaftliche ins Menschliche, verwendete aber soviel Farben aus dem Branchenflor, daß seine Kunden an seiner Zuständigkeit nie zweifeln konnten. Das ganze soziologisch-statistische Alarmierungsgewäsch, also alles, worin Demographie vorkam, ließ er höchstens zu, um seine Sechzig- bis Neunzigjährigen zum Lachen zu bringen.

Im letzten Leitartikel in seiner Kunden-Post hatte er seiner Laune freien Lauf gelassen. Die wissen doch, stand da, wenn sie über uns phantasieren, nicht, wovon sie reden. Lebenszyklusfonds, A S-Fonds beziehungsweise Altersvorsorge-Sondervermögen, stellen Sie sich vor, mit dergleichen versicherungsmathematischem Müll wollen sie der Tatsache entsprechen, daß wir immer noch nicht gestorben sind. Sie schreiben über unser Alter wie über ein Gebirge, das sie nur vom Flugzeug aus kennen. Vom Drüberhinfliegen. Sie wissen nicht, wie das ist, in diesem Gebirge zu leben. Es ist ein Gebirge, das Alter. Ein Leben in großer Höhe. So die Sonntagsausdrucksweise für unser Alter. In Wirklichkeit gibt es unser Alter nicht. Es ist eine Mache der Alarmisten. Von meinem und deinem Alter wissen sie nichts. Für die Alarmisten sind wir Statistikfutter. Sie reden über uns, wie der Farbenblinde von der Farbe redet. Über mein Alter und dein Alter gibt es keine Auskunft. Die produzieren Horizonte aus nichts als Gefahren, um sich als Retter aufspielen zu können. Das dazu verwendete Expertenvokabular erinnert doch an die Sprache, die die Theologen aufbieten, wenn sie die Existenz Gottes beweisen wollen. Die Anleihen, auf die wir uns eingelassen haben, sind katastrophensicher. Damit es uns nicht langweilig wird, haben wir dazu noch ein Aktienpaket geschnürt, das das tägliche Börsen-Auf-und-Ab mittanzt. Und wir haben Verkaufsoptionen gekauft. Fallen die Kurse, gewinnen die Optionen an Wert. Wir verkaufen nicht die sinkenden Aktien, sondern die wegen der sinkenden Aktien teurer werdenden Verkaufsoptionen. So überstehen wir die Krise. Uns kann nichts Ernsthaftes geschehen. Fliegt er doch nach Berlin, Köln, Frankfurt, Zürich und Stuttgart, wenn sich dort die Garnitur derer versammelt, die selber an der Wertschöpfungskette tätig sind. Wertschöpfungskette, das ist ein Wort nach seinem Geschmack. Man kann es gar nicht oft genug sagen. Wertschöpfungskette. Und damit Sie nicht etwas glauben müssen, was Sie wissen können, werte Damen, werte Herren, sagt er Ihnen die einzigen Zahlen, die zählen: Steigt die Lebenserwartung um 10 Prozent, reicht zur gleichbleibenden Versorgung eine Renditesteigerung von 0,17 Prozent. Das ist doch eine Auskunft, mit der es sich leben läßt. Mit einer Einschränkung: So geht es nur uns, die wir selber für uns sorgen per Anleihen und Aktien, denen, die leben vom Zinseszinseffekt, von der Wiederanlage.

Karl von Kahn liebte es, wenn die Gesichter seiner Kunden vor Staunen blühten, wenn er ihnen die Melodie des reinen Gewinns vortrug. Er lenkte immer den Blick auf die Schlechtberatenen, die den Staat für sich machen ließen. Da wird die Banalität zum Schicksal. Immer weniger Beitragszahler müssen aufkommen für immer mehr Ältere. Und warum? Weil der Staat mit dem Geld, das man ihm überläßt, nichts anzufangen weiß, während wir den Zins säen und den Zinseszins ernten. Das hätte man im 20. Jahrhundert doch lernen können: Auf nichts ist so wenig Verlaß wie auf alles Staatliche. Der Staat schafft nichts. Er reguliert. Der Regulator ist er. Seien wir froh, daß wir diesem Zirkus der Verantwortungslosigkeit entronnen sind. Und bedauern wir jeden, der ihm noch ausgeliefert ist. Wer hat denn die Kriege vorbereitet, erklärt, geführt! Die Staaten. Es wird eine Zeit kommen, und zwar schon bald, da werden die Staaten abgestorben sein, leere Fensterhöhlen der Bürokratie. Kapitalmarktinformationshaftungsgesetz. Das ist ein echtes Staatsprodukt. Wir, die wir uns selber verwalten, sind die Wegbereiter der Zukunft.

Jeder Mensch ist bereit, sich die Welt schönreden zu lassen. Nicht nur bereit. Er ist dessen bedürftig. Man muß nur sich selber als ersten davon überzeugen, daß diese Welt die beste sei von allen, die möglich gewesen wären. Der Weltprozeß entscheidet sich immer für das Bessere. Das Schlechtere unterbleibt. Jeder wird Zeuge, wieviel Schlechteres andauernd scheitert. Die Schlacht wird vom Besseren gewonnen. Das ist das tautologische Axiom. Das ist die Formel, nach der jeder irdische Prozeß verläuft. Wenn du nicht gewinnst, bist du der Schlechtere. Du kannst aber gewinnen. Denn jeder ist der Bessere. Das ist so paradox wie wahr. Absolut wahr.

Das hatten Diego und Karl einander jahrelang vorgesagt, eingeredet. Diego gab diesen Ton an. Karl machte mit. Auch durch Widerspruch. So zwang er Diego und sich selber zu einer Art Bodenhaftung. Diego sammelte unermüdlich Sätze aus Büchern, die man für unsterblich hielt, weil sie drei- oder vierhundert Jahre überdauert hatten. Am liebsten stattete er sich mit Voltaire-Sätzen aus. Die eigneten sich dazu, eingerahmt und aufgehängt zu werden. Gundi belächelte Diegos Eifer. Mein Zitatenpflücker, sagte sie und nahm seine beiden Hände und küßte ihm die Fingerspitzen.

Karl benutzte Zitate nur in der Kunden-Post. In den Kundengesprächen gab er sich erfahrungsreich, hell und zukunftsfroh. Das war er auch. Zumindest, wenn er nicht allein war. Seine Kunden belebten ihn. Seine Vorschläge waren ganz und gar das Resultat dessen, was die Kunden ihm erzählten. Sobald er allein war, wußte er sich oft nicht mehr zu helfen. Mutlosigkeit breitete sich aus in ihm. Die Welt war anders. Sie rächte sich dafür, daß er sie gepriesen hatte, obwohl er wußte, daß sie anders war. Wenn die Kunden ihn so erlebten, so mutlos, sie müßten ihn für einen Betrüger halten. Jeder Mensch muß jedem anderen Menschen gegenüber die Welt preisen. Sonst hört sich alles auf. Verzweifeln darf jeder für sich.

Kein Mensch darf merken, wie mutlos du bist. Nicht einmal du selbst. Und Helen schon gar nicht. Deren prinzipielle, wenn auch zarte Unentwegtheit schloß die Fähigkeit aus, einen Menschen für mutlos zu halten. Andererseits genügte es, wenn er auf dem Weg zu Professor Schertenleib in Gräfelfing um die Mittagszeit auf dem Bahnsteig stand und die Schienen gleißten in der Sonne. Da war er sofort wieder bereit für jede Einbildung.