Gina Mayer & Frank M. Reifenberg

Mit Illustrationen von Gerda Raidt

© 2015 arsEdition GmbH, Friedrichstr. 9, D-80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Gina Mayer und Frank M. Reifenberg, vermittelt durch die Literaturagentur Arteaga, München

Lektorat: Malte Ritter

Cover- und Innenillustrationen: © Gerda Raidt, vermittelt durch die Agentur Susanne Koppe, Hamburg,

www.auserlesen-ausgezeichnet.de

Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition unter Verwendung von Bildmaterial von © Getty Images/​Thinkstock

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978 - 3-8458 - 1290-8

ISBN Printausgabe 978 - 3-8458 - 1083-6

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Die Schattenbande

1. Kapitel,

in dem wieder einmal eine Dame mit Bart ziemlich viel Ärger macht

2. Kapitel,

in dem sich alle aus dem Staub machen

3. Kapitel,

in dem ein Amerikaner ein unwiderstehliches Angebot macht

4. Kapitel,

in dem Paule mal kurz verschwindet

5. Kapitel,

in dem sich eine Dame aufs Herrenklo verirrt

6. Kapitel,

in dem zu viele Leute in ein Luftschiff steigen

7. Kapitel,

in dem zu wenige Leute aus einem Luftschiff aussteigen

8. Kapitel,

in dem Klara plötzlich Klaus heißt

9. Kapitel,

in dem Lina es nicht lassen kann

10. Kapitel,

in dem Klara – kawupptich – kochen lernt

11. Kapitel,

in dem die Schatten etwas finden, das sie nicht gesucht haben

12. Kapitel,

in dem Madame Fatale die »Schwarze Katze« auferstehen lässt

13. Kapitel,

in dem ein blinder Passagier entdeckt wird

14. Kapitel,

in dem zu viel geknutscht wird

15. Kapitel,

in dem einige schweigen und andere zu viel sagen

16. Kapitel,

in dem es ein paar Leuten an den Kragen geht

17. Kapitel,

in dem Otto auf eine verwegene Idee kommt

18. Kapitel,

in dem Otto hoch hinauswill und tief hinunterkommt

19. Kapitel,

in dem die Schatten ankommen und gleich wieder abhauen

20. Kapitel,

in dem alles wieder von vorne beginnt

Nachbemerkung

Danksagung

Die Autoren

Die Illustratorin

Weitere Titel

Leseprobe zu "Die schwarzen Musketiere - Das Buch der Nacht"

Die Schattenbande

Schiebermütze, Knickerbocker und Dreck unter den Fingernägeln: Das ist Klara Schlapp. Dass sie ein Mädchen ist, ist geheim. Nur ihre Freunde wissen, dass sie blonde Zöpfe unter der Mütze versteckt. Klara ist eine begnadete Taschendiebin und die Anführerin der Schattenbande. Das Blöde ist nur: Otto will das einfach nicht einsehen.

Im Fassadenklettern nimmt es keiner so schnell mit Otto Karwuttke auf und auch im Pläneschmieden ist er große Klasse. Leider hat Klara oft schon Nägel mit Köpfen gemacht, bevor er sagen kann, wo es langgeht. Otto und Klara sind ein Superteam, das meinen alle. Aber Otto findet, dass sie noch besser wären, wenn Klara endlich einsehen würde, dass er der Chef ist.

Paule Kowalski ist ein genialer Panzerknacker und Erfinder. Aus Schrottteilen und Abfall baut er die erstaunlichsten Apparate, Maschinen und Sprengkörper. Wenn er einmal nicht an seinen Erfindungen tüftelt, stiehlt er Kohlen. Denn die Dampfmaschinen, mit denen er seine Apparate betreibt, wollen gefüttert werden. Paule träumt von einem eigenen Automobil – und von einer Weste aus Samt mit echten Perlmuttknöpfen.

Lina Kowalski ist Paules kleine Schwester und das jüngste Mitglied der Schattenbande. Sie ärgert sich furchtbar darüber, dass die anderen sie oft nicht ernst nehmen. Dabei könnte sie den Freunden nicht selten den Hals retten, wenn man sie nur mitmachen ließe. Lina hat nämlich einen sechsten Sinn. Sie wittert Gefahr und spürt Dinge, die anderen verborgen bleiben.

1. Kapitel,

in dem wieder einmal eine Dame mit Bart ziemlich viel Ärger macht

Otto beugte sich weit über das Geländer der Loge. Die Sitze auf dem kleinen Balkon waren eigentlich Madame Fatale vorbehalten. Nur ganz selten lud sie Gäste ein, die von dort die Show in der »Schwarzen Katze« von einem der besten Plätze aus verfolgen durften.

»Vorsicht!«, zischte Klara. Sie kniff die Augen zu. »Gleich segelst du runter und landest direkt bei Trettoff auf dem Schoß.«

»Ach was«, gab Otto zurück und rückte noch etwas weiter vor. Er flog so schnell nirgendwo runter. Außerdem würde er auf dem dicken Kommissar ziemlich weich landen.

Der Zuschauerraum der »Schwarzen Katze« füllte sich zusehends. Kommissar Trettoff saß mit einem kleinen Männlein an einem der Tischchen und biss schnell noch einmal in eine Bockwurst. Das Männlein wirkte neben dem massigen Leiter der Berliner Mordkommission wie eine der fast lebensgroßen Puppen, die jetzt Mode waren. Eigentlich bestand er nur aus zwei übereinandergestapelten Kugeln: Kopf und Körper. Der Rest stand irgendwie von ihm ab. Arme, Beine, Ohren.

»Das ist Madames Verehrer!«, kicherte Klara. »Horatio W. Sauerkraut.«

»Das lässt du sie besser nicht hören!«, flüsterte Lina. »Außerdem heißt das richtig Horatio W. Sourcrowd

»Madame Besserwisser«, seufzte Klara. »Dann eben Horäischo Dabbelju Sauarkrraud.«

Lina hatte vor ein paar Wochen begonnen, ihr Englisch aufzupolieren. Englisch war in Mode, und Lina achtete genauestens darauf, dass alle Wörter richtig ausgesprochen wurden. Manchmal plapperte sie sogar selbst auf Englisch los. Sie konnte sich einfach alles gut merken. Englisch, chinesisch, sogar kalimbesisch. Nun beugte sich auch Lina ein wenig über den Balkon.

»Seid ihr denn alle verrückt?«, fragte Klara.

»Nein, nur neugierig«, sagte Lina.

Die Nummer, die gleich zur Aufführung kommen sollte, war so sensationell, dass es unten im Parkett schon seit Wochen kein noch so winziges Eckchen für die vier Schatten gab. Da die beiden ersten Tischreihen aus Sicherheitsgründen abgesperrt wurden, standen noch weniger Plätze zur Verfügung als sonst.

Aber das war längst nicht alles, denn Madame Fatale, die noch nie mit einer eigenen Nummer aufgetreten war, wollte an diesem Abend mit einem weiteren Höhepunkt für Aufregung sorgen. Sie selbst würde eine holografische Illusion auf die Bühne bringen, allerdings erst im zweiten Teil des Programms.

Jetzt drängelte sich auch noch Billy Barrakuda zu Otto, Klara, Paule und Lina. »Servus, Grüezi und Hallo, gute Laune sowieso, denn Musik macht alle froh«, sang der Zeitungsreporter, jodelte einmal und tippte mit dem Zeigefinger an den moosgrünen Filzhut mit dem Gamsbart, den er neuerdings trug. Er hatte sich mit einem Tippfräulein aus dem Büro des bayerischen Reichstagsabgeordneten Studlhofer verlobt. Alles Bayerische war nun tipptopp und modern. »Vielleicht kann man es von hier oben sehen, wie sie es macht. Ich muss es wissen, Himmelsakrakruzi noch oamoal!«

»Hör uff, Billy, dit mit dem Alpenjedöns gloobt dir keener«, sagte Paule. »Und morjen kennste schon wieda eene Neue und deine Zenzi schießte uffn Mond.«

»Auch wenn du den Trick herausfindest, darfst du ihn niemals verraten«, meldete sich Lina zu Wort. »Madame Fatale verpackt dich in Houdinis Kiste und versenkt dich mit Bleigewichten in der Spree. Auf den Verrat von Geheimnissen des Varietés und der Magie steht der Tod«, sagte das jüngste Mitglied der Schattenbande mit einem solchen Ernst, dass Billy Barrakuda für eine halbe Sekunde bleich wurde.

Dann lachte er.

»Ungekämmte Gören sind besser nicht so vorlaut!«, sagte er.

»Still«, rief Otto aus. »Es geht gleich los.«

Er zückte ein kleines Opernglas, das in Perlmutt und Gold gefasst war. Ein Gast hatte es vergessen, es war kein Diebesgut. Dieses winzige Fernglas war besser als ein Feldstecher und eignete sich hervorragend zum Auskundschaften der reichen Spaziergänger im Tiergarten oder der Pferdenarren an der Rennbahn Hoppegarten.

Ein Blick aus sicherer Entfernung mit dem kleinen Ding, ein Hinweis an Klara, die sich anpirschte, stolperte, zugriff – und die Geldbörse mit genug Geld für das Essen einer ganzen Woche verschwand in der Tasche ihrer Knickerbocker. Aber jetzt waren sie alle hinter etwas anderem her. Und nicht nur die Schatten wollten es wissen. Ganz Berlin war scharf darauf.

Die Bühnenbeleuchtung erlosch. Einen Vorhang gab es nicht, das war zu gefährlich für das Gastspiel der Künstlerin, die gleich auftreten würde. Die gesamte Bühne nahm eine riesige muschelförmige Schale ein, sie bestand aus einem Material, das den Namen Asbest trug und feuerfest war.

Es sei ein Teufelszeug, hatte Madame Fatale gesagt, eine Menge Ärger werde man damit noch bekommen. Wie so oft hatte sie aber nicht sagen können, welchen Ärger. Nicht einmal, wann es den geben könnte. Ihre Prophezeiungen waren manchmal etwas ungenau.

Zusätzlich war die Muschel mit Stanniolpapier ausgekleidet. In der silbrigen Fläche spiegelte sich die Glut der Zigaretten und Zigarren, die die Damen und Herren im Publikum rauchten.

Madame Fatale trat auf die Bühne. In ihrem dunkelblauen Kostüm und mit dem straff nach hinten gebundenen Dutt, zu dem sie ihre Haare immer zurrte, sah sie aus wie die Leiterin einer Schule für höhere Töchter. Aber sie war die Chefin des Theaters und sagte mit strenger Stimme: »Ich muss Sie dringend bitten, nun alle Rauchwaren bis auf Weiteres zu löschen. Ihre Feuerzeuge und Streichhölzer geben Sie bitte bei meiner geschätzten Mitarbeiterin Fräulein Popinet ab. Sie bekommen sie ganz bestimmt zurück.«

Die Stammgäste lachten.

Fräulein Popinet unterhielt die Gäste zwischen den einzelnen Nummern des Varietés mit kleinen Tricks. Sie war fast so eine gute Taschendiebin wie Klara.

»Von Schusswaffen bitte ich heute ausnahmsweise keinen Gebrauch zu machen«, fuhr Madame Fatale fort. Wieder lachten alle. »Besonders der werte Herr Kriminalkommissar Trettoff möge sich daran halten. Sonst müssen Sie Ihren eigenen Todesfall aufklären, und das könnte Ihren Ruf als Hundert-Prozent-Heinrich gefährden.«

Der Kommissar hielt sich den Bauch vor Lachen und winkte Madame Fatale freundlich zu. Seit der Schießerei bei der Aufklärung des Mordes an der Großfürstin Drosskova waren Madame Fatale und er fast schon Freunde geworden.

Trettoff tuschelte mit seinem Tischnachbarn. Dieser hob die Hände zum Himmel, zog ein gepunktetes Taschentuch aus der Brusttasche seines gestreiften Jacketts, tupfte sich die Stirn und wurde so rot, dass Otto es oben auf der Galerie sehen konnte.

»Und hier ist sie …«, verkündete Madame Fatale, immer noch in einem Tonfall, als kündigte sie nicht den Star ihrer Show, sondern den Ehrengast auf dem Ball der Vampire an: »Fräulein Cäcilie Cervelat mit der einzigartigen Phönix-Nummer.«

Alle Lichter erloschen.

Das kleine Orchester, das aus einem dürren Klavierspieler, einem mageren Mann, der den Kontrabass zupfte, und einer knochigen Frau mit Saxofon bestand, spielte einen Tusch. Zwei gleißende Lichtstrahlen zischten auf einen Punkt in der Mitte der Bühne. Sie blitzten so grell auf, dass die Leute schrien. Fast alle kniffen die Augen zu.

Nur Paule saß mit einer kreisrunden, tiefschwarz gefärbten Schweißerbrille da. Für alle anderen sah es aus, als sei die Dame auf der Bühne aus den Lichtstrahlen entstanden. Paule sagte: »Doppelter Boden. Ick sach nur: Hydraulik von unten.«

»Scht!«, wurde der Spielverderber von den anderen ermahnt.

»Ist die schön!«, sagte Lina.

»Ist die echt?«, fragte Otto.

»Ist der echt?«, fragte Klara.

Die kurvige Figur der Dame steckte in einem goldenen Kleid, das wie eine zweite Haut saß. Es glitzerte und schoss gelbe Strahlenpfeile in alle Richtungen, sobald sich der Schein der Lampen in den vielen kleinen wie polierter Messing schimmernden Plättchen, mit denen das Kleid bestickt war, verfing.

Erst als sich die Augen an das flimmernde Licht gewöhnt hatten, war zu erkennen, dass die Glitzersteine in der Form eines Wesens mit Flügeln auf dem Kleid aufgestickt waren.

»Ein Phönix«, flüsterte Lina.

»Tu mal deine Haare weg«, sagte Billy Barrakuda.

Linas Haare standen spitz und starr in alle Himmelsrichtungen. Wie ein Igel sah sie aus.

»Sojar de Haare von die Dame sind jülden!«, staunte Paule.

»Und der Bart auch«, ergänzte Otto.

»Dit jeht doch jar nich«, sagte Paule.

»Was?«, fragte Klara. »Eine Dame mit Bart?«

»Nee, ne Dame mit joldenem Bart. Die is nich echt, ick sach et dir!«

Klara stupste Paule zur Seite. Mit einer Dame mit Bart hatte sie schon einmal sehr schlechte Erfahrungen gemacht. Diese hatte sich als Wachtmeister Eltinger entpuppt, der mit einem miesen Trick auf Diebesjagd gegangen war. Verkleidet als reiche Lady, die mit offener Perlenhandtasche die Taschendiebe zum Mopsen des Geldbeutels verlocken sollte, hatte der Wachtmeister Klara damals fast in die Falle gelockt.

Auf der Bühne stand jedoch keine falsche Dame, dafür hatte sie viel zu viele und viel zu aufregende Kurven. Irgendwie sah auch der Bart dieser Cäcilie Cervelat nicht unecht aus, auch wenn er aus purem Gold zu sein schien.

Mehr wunderte sich Klara eigentlich über den Namen.

Wie eine Wurst zu heißen, war für eine so glamouröse Gestalt sehr ungewöhnlich, aber die Leute im Showgeschäft ließen sich manchmal die verrücktesten Namen und Verkleidungen einfallen. Bei Klara erzeugte der Gedanke an eine Cervelatwurst nur Magenknurren.

Fräulein Cervelat gab nun dem Orchester ein Zeichen.

Die drei Musiker spielten lauter und lauter. Die Töne wogten, das Licht wogte, Fräulein Cervelats Haare wogten, und alles strahlte und strahlte und dann wogte auch die Stimme von Fräulein Cervelat.

»Ich erwache wiiiiiie ein Phöniiiiiix aus der Aaaaa-haa-aaasche …«, sang sie und breitete die Arme weit aus. Ihr Kleid fächerte sich zu den Seiten auf, noch mehr goldene Pailletten schossen ihre Strahlen ins Publikum.

»Macht die noch wat anderes als wie singen?«, murrte Paule.

»Sie verbrennt«, flüsterte Lina.

»Wat is übahaupt een Föhniks?«, wollte ihr Bruder nun wissen. »Äh … wat haste jesacht? Sie vabrennt?«

»Der Phönix ist ein mythischer Vogel«, rasselte Lina los. »Er verbrennt, um aus seiner Asche wieder neu zu erstehen …« Sie zitterte am ganzen Leib und packte Klara am Arm.

»Aus dem verglüüüüüüheee-enden Liiiiicht fliiiiieg ich …«, schmetterte Cäcilie Cervelat. Beim Wort fliiiiieg stieg die Sängerin langsam in die Höhe.

»Ist alles in Ordnung, Lina?«, fragte Klara.

Erst jetzt bemerkte sie, dass Linas Haare abstanden. Das war ein untrügliches und meist sehr schlechtes Zeichen. Offensichtlich arbeitete Linas sechster Sinn auf Hochtouren, und das konnte nur eines bedeuten: Gefahr. Und wenn Lina dabei zitterte: höchste Gefahr. Klara konnte Linas Sorge gut verstehen, schließlich war sie vor nicht allzu langer Zeit fast in einer Schrebergartenhütte in Flammen aufgegangen.

»Wir sollten gehen«, piepste Lina.

»Wat sachste, Schwestachen?«

»Sie hat gesagt, dass wir gehen sollten«, rief Klara gegen die laute Musik an.

Trettoff unten im Publikum warf einen Blick hinauf zu den Schatten. Er winkte ihnen zu.

»Wohl verrückt! Ganz Berlin will das sehen und du willst gehen?«, sagte Otto, der die ganze Zeit auf die Bühne gestarrt hatte, als erscheine dort ein Engel. »Sie schwebt«, seufzte er, »sie schwebt! Da ist nichts unter ihr.«

»Ach, ihr kennt doch die Tricksereien von der alten Fatale«, mischte sich Billy Barrakuda ein. »Und die Dame da unten ist keine Dame, sondern ein Kerl. Der Bart ist echt, aber die Dame nicht.«

Keiner hörte ihm zu. Klara hielt Lina an beiden Schultern. Otto pikste mit dem Zeigefinger gegen eine der nadelharten Haarspitzen.

»Ach, und schau da«, plauderte der Zeitungsreporter weiter. »Jetzt rauscht auch noch die Ginelli an. Wie immer viel zu spät!«

Alle wussten, dass die Filmschauspielerin Gina Ginelli es gar nicht mochte, wenn ihr jemand die Schau stahl. Und Cäcile Cervelat tat das ohne jeden Zweifel. Seit Wochen hieß es in Berlin schon: GG gegen CC.

»Ich erwache wiiiiiie ein Phöniiiiiix aus der Aaaaa-haa-aaasche …«, sang die CC erneut und breitete wieder die Arme weit aus.

Über den Rand des kleinen Balkons sah Klara nun, wie Gina Ginelli in der Tür zum Zuschauersaal stehen blieb. In ihrem Stirnband steckte eine schneeweiße Marabufeder und wippte über ihrem Bubikopf. Alle ließen sich die Haare neuerdings so schneiden. Außer Cäcilie Cervelat mit ihrer goldenen Mähne.

Ebenfalls mit schneeweißen Federn besetzt war der Saum des Kleides von Gina Ginelli. Schneeweiß war auch die Zigarettenspitze der Filmschauspielerin. Sie konnte ihre eleganten Glimmstängel damit ungefähr eine halbe Armlänge von ihrem Gesicht weghalten.

Jetzt schnipste die Ginelli ihrem Begleiter, einem eleganten Typ mit einem schräg sitzenden Zylinder auf dem Kopf, zweimal zu.

»Aus dem verglüüüüüüheee-enden Liiiiicht fliiiiieg ich …«, dröhnte es von der Bühne. Cäcilie Cervelat schwebte schon fast auf der Höhe der ersten Balkone.

Der Begleiter von Gina Ginelli reagierte sofort auf das Zeichen der Ginelli.

»Oh Gott nein!«, schrien Klara und Lina gleichzeitig.

Offenes Feuer.

Bei dieser Nummer.

Strengstens verboten.

Beim nächsten Ich erwache wiiiiiie ein Phöniiiiiix aus der Aaaaa-haa-aaasche würde sich die Sängerin, wenn alles normal verlaufen würde, eigentlich mit einem Puff! in Luft auflösen, dann käme eine kleine Stichflamme, ein Häuflein Asche würde auf die Bühnenbretter rieseln. Keiner wusste, wie sie es machte, es war die perfekte Illusion. Paule hatte vermutet, dass es irgendetwas mit einem Gas und mit Spiegeln und einem Ballon, in dem sich die Asche befand, zu tun hatte.

Jetzt aber flammte zuerst das Feuerzeug, dann die Glut der Zigarette von Gina Ginelli auf. Ein Luftzug saugte die Flamme zur Bühne. Dann ging alles so schnell, dass Klara kaum noch eins vom anderen unterscheiden konnte. Ein gewaltiger Feuerball stieg in der muschelförmigen Schale auf der Bühne auf. Das Saxofon jaulte zuerst los, dann jaulte die Saxofonspielerin und warf das glühend heiße Instrument von sich.

Die Gäste schrien, Sektkelche zerbarsten, Kellner duckten sich unter die Tische, Stühle wurden umgestoßen. Trettoff schrie Befehle, Madame Fatale stürzte auf die Bühne, die Ginelli und ihr Begleiter machten sich aus dem Staub.

»Wo ist Fräulein Cervelat?«, fragte Otto.

Von der Künstlerin mit dem goldenen Bart war nichts mehr zu sehen. Nur ein Häufchen Asche lag auf den Bühnenbrettern.

»Ick gloobe, die Vorstellung is jelaufen«, sagte Paule.

2. Kapitel,

in dem sich alle aus dem Staub machen

»Fire!«, schrie plötzlich eine Männerstimme.

Otto starrte hinunter in den Zuschauerraum. Horatio W. Sourcrowd hatte die Flammen ebenfalls entdeckt.

»Es brennt!«, rief der kugelige Mann und wiederholte es drei- bis viermal, bis auch jeder, der vielleicht noch auf seinem Stuhl gesessen und seinen Champagner ausgetrunken hatte, in helle Aufregung geriet.

»Alle raus hier«, befahl Klara.

»Und zwar so schnell wie der Wind«, stimmte Otto ihr zu.

So einig waren die beiden sich selten.

»Kannste dit nächste Mal nich früher die Haare uffstellen?«, fragte Paule seine Schwester und packte sie im selben Augenblick an der Hand.

Klara hatte schon die Tür zum Gang aufgerissen, aber dort war kein Durchkommen. Die Gäste aus den anderen Logen verstopften den Weg. Ein Mann schubste Klara zur Seite.

»Rüpel!«, schrie Otto. Sein Kopf arbeitete fieberhaft.

Sie waren schon so oft in der »Schwarzen Katze« gewesen und hatten hoffnungslos lange und verschlungene Wege zurückgelegt, bis sie endlich das Büro von Madame Fatale oder den Weg zu den Garderoben oder zurück in die Vorhalle gefunden hatten.

»Wo müssen wir lang?«, fragte Klara.

Otto hatte sonst stets ein sicheres Gespür dafür, wie ein Haus gebaut war; er musste nur davorstehen und sah vor seinem inneren Auge, wie sich Gänge verzweigten, Zimmer aufteilten oder Treppenhäuser durch die Bauwerke wanden. Das hatte ihnen schon oft die Flucht ermöglicht, wenn sie in einer Villa im Grunewald auf der Suche nach einem warmen Platz oder nach etwas zum Futtern gewesen waren.

An diesem Gebäude hier stimmte jedoch etwas nicht. Treppen führten plötzlich in die falsche Richtung, Flure verknäuelten sich, Räume waren nicht mehr dort, wo sie hingehörten. Das konnte zur tödlichen Falle werden, wenn es brannte.

Plötzlich sprang etwas auf die Brüstung des Balkons: der schwarze Kater, der selten weit von Madame Fatale entfernt war. Die Theaterchefin war jedoch nirgendwo zu sehen. Das sonst so dichte und seidige Fell des Tiers war schon angesengt. Der Kater fauchte wild und sprang zurück von der Loge ins Leere des Zuschauerraums.

»Er sagt, wir sollen ihm folgen«, rief Lina.

»Du bist wohl verrückt!«, brüllte Billy Barrakuda. Er rannte nun doch hinaus auf den Flur, quetschte sich zwischen die fliehenden Leute. »Mein Fotoapparat, verdammt«, hörte Otto ihn noch

Otto schaute hinab in den Zuschauerraum. Dort stand der Muskelmann, Madame Fatales persönlicher Assistent. Er winkte Otto zu sich und deutete auf seine Schultern.

Otto verstand. Er kletterte über die Brüstung.

»Otto, was machst du?«, schrie Klara.

Otto ließ sich nicht beirren. Er hangelte sich hinab, hielt sich oben an dem hölzernen Geländer fest und setzte einen Fuß auf die Verzierungen aus vergoldetem Stuck, der sofort abbrach. Er verlor den Halt, rutschte ein Stück, spürte dann aber, wie sich zehn Finger um sein Handgelenk krallten. Beim Blick nach oben sah er Klara, die ihn gerade vor dem Absturz bewahrt

Er zwinkerte ihr zu, suchte wieder Halt mit den Füßen und schaffte es beim nächsten Versuch, sich auf die Schultern des großen Kerls unter ihm zu stellen. Der Muskelmann umfasste mit hartem Griff Ottos Fußgelenke.

»Klara, jetzt du!« Otto wusste, dass Klara einen Höllenrespekt vor solchen akrobatischen Nummern hatte. Sie hatte die flinksten Finger von Berlin, kein Portemonnaie war vor ihr sicher, aber im Fassadenklettern würde sie nie das Klassenziel erreichen – wenn die Schatten jemals in irgendeine Schule gingen.

Trotzdem zögerte Klara nicht, sondern schwang ebenfalls die Beine über die Brüstung. Sie erreichte Ottos Schultern ohne Mühe und stellte sich darauf. Sie bildeten einen Turm, der fast bis zur Loge reichte. Klara rief Lina herbei. »Einfach an uns hinunterklettern, Lina. Trau dich.«

»Wir sind die beste menschliche Pyramide der Welt«, feuerte Otto Lina an. »Madame Fatale engagiert uns für die nächste Saison.«

Lina zeigte keine Angst. Paule starrte ihr von oben nach. Die Haare seiner kleinen Schwester hatten sich wieder gelegt. Kaum stand sie unten auf sicherem Boden, nahm Paule denselben Weg, Klara folgte ihm und Otto hüpfte mit einem Satz ebenfalls hinab.

»Wo lang?«, fragte er den Muskelmann.

Wortlos setzte sich dieser in Bewegung – ausgerechnet in Richtung Bühne, die lichterloh brannte.

»Ist der Kerl verrückt?«, rief Klara.

»Er kennt hier jeden Winkel«, entgegnete Otto.

Direkt vor der Bühne öffnete der Muskelmann eine Klappe. Eine Rutsche war zu sehen, sie verschwand aber in einem tiefschwarzen Abgrund. Otto starrte hinab. Die drei anderen Schatten umringten ihn.

»Was ist das denn?«, fragte Otto.

»Eine Kohlenrutsche«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Madame Fatale.

Lina drehte sich als Erste zu ihr um.

Die Direktorin trug ein paar Aktentaschen in den Händen, eine hatte sie unter den Arm geklemmt, Dokumente quollen daraus hervor. Unter der anderen Achsel lugten Papierrollen hervor. Hinter ihr trippelte Horatio W. Sourcrowd, der ebenfalls mit Kartons und Kistchen bepackt war. Ganz oben schwankte Madame Fatales liebstes Stück, die Kristallkugel, von der die Schatten mittlerweile aber wussten, dass sie nur zur Dekoration diente und noch nie die Zukunft daraus vorhergesagt worden war. Das funktionierte bei Madame nämlich ganz anders.

»Haben Sie den schwarzen Kasten, Horatio?«, fragte Madame streng.

»Den schwarzen Kasten?«, fragte Horatio W. Sourcrowd zurück. »Äh … ja … nein … vielleicht.« Er legte ein Teil seiner Last nach dem anderen ab und begann zu suchen.

»Sollten wir nicht lieber loslaufen?«, fragte Klara.

»Ohne den schwarzen Kasten verlasse ich das Theater nicht. Ich habe jahrelang daran gearbeitet. Ich brauche ihn für die holografische Illusion.«

»Da!«, rief Horatio W. Sourcrowd.

Er hatte den Kasten gefunden.

»Dann los, die Kohlenrutsche hinab!«, befahl Madame und stapelte den ganzen Kram wieder auf Horatio W. Sourcrowds Armen. Den schwarzen Kasten behielt sie dieses Mal selbst.

»Watt soll denn eine Kohlenrutsche mittenmang im Haus?«, fragte Paule.

»Der Zuschauerraum und das Vorderhaus wurden erst später angebaut. Früher verlief die Straße direkt hier entlang.«

»Und da sollen wir rein?«, fragte Klara. »Nie und nimmer.«

»Wie du willst«, sagte Madame Fatale. »Es ist allerdings der einzige Ausweg, wenn ihr hier oben nicht gegrillt werden wollt.«

Aus der Ferne hörte man das Gebimmel der Spritzenwagen der Berliner Feuerwehr.