Ally Carter
Meisterdiebin
Roman
Aus dem Amerikanischen von Alice Jakubeit
Fischer e-books
Ally Carter ist Autorin erfolgreicher Jugendbuchserien, deren Bände regelmäßig auf den Bestsellerlisten der ›New York Times‹ und von ›USA Today‹ erscheinen. Ally Carter lebt und arbeitet in Oklahoma.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Coverabbildung: bürosüd°, München
Erschienen bei FISCHER E-Book
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
›Uncommon Criminals. A HEIST SOCIETY Novel‹
bei Disney Hyperion Books, New York.
Copyright © 2011 by Ally Carter
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402710-4
Für Vanessa
Moskau kann im Winter eine kalte, strenge Stadt sein. Das große alte Haus am Twerskoi-Boulevard jedoch schien speziell dagegen stets immun gewesen zu sein, ebenso wie gegen vieles andere.
Während sich unter der Zarenherrschaft die Warteschlangen der Bedürftigen vor den Nahrungsmittelausgabestellen durch die Straßen zogen, gab es in dem großen Haus Kaviar. Während das übrige Russland zitternd dem sibirischen Wind ausgesetzt war, gab es in diesem Haus in jedem Zimmer Kaminfeuer und Gaslicht. Und als der Zweite Weltkrieg vorüber war und Städte wie Leningrad und Berlin nur noch aus Schutt und zerfallenden Mauern bestanden, mussten die Bewohner des großen Hauses am Twerskoi-Boulevard nur zum Hammer greifen und am oberen Treppenabsatz einen einzigen Nagel in die Wand schlagen – für ein Gemälde –, um das Ende eines langen Krieges zu markieren.
Das Gemälde war klein, es maß nur etwa zwanzig mal fünfundzwanzig Zentimeter. Die Pinselstriche waren mit leichter Hand, aber akribisch ausgeführt. Und der Gegenstand, die Landschaft der Provence, war einst ein Lieblingssujet eines Künstlers namens Cézanne gewesen.
Man sprach im Haus nicht darüber, wie das Gemälde dorthin gelangt war. Kein Angehöriger des Personals fragte jemals den Hausherrn, einen hochrangigen Sowjetfunktionär, nach dem Gemälde oder welche Leistungen im Kampf oder darüber hinaus ihm eine solch fürstliche Beute eingetragen hatten. Das Haus am Twerskoi-Boulevard war kein Ort für Geschichten, das wusste jeder. Überdies war der Krieg vorüber. Die Nazis hatten verloren. Und die Beute ging an die Sieger.
Oder wie in diesem Fall das Gemälde.
Irgendwann verblich die Tapete, und bald erinnerte sich kaum noch jemand an den Mann, der das Gemälde aus dem frisch befreiten Ostdeutschland mitgebracht hatte. Keiner der Nachbarn wagte, die Buchstaben K G B zu flüstern. Keiner der alten Sozialisten oder der neuen oberen Zehntausend, die zu Partys durch die offenen Türen strömten, wagte es jemals, die Russen-Mafia zu erwähnen.
Doch das Gemälde hing noch immer dort, die Musik spielte weiter, und die Party selbst schien anzudauern – sie hallte bis hinaus auf die Straße, wo sie in der eisigen Nachtluft verklang.
Die Party am ersten Freitag im Februar war eine Wohltätigkeitsveranstaltung – für welchen Zweck oder welche Stiftung allerdings, wusste eigentlich niemand. Es spielte keine Rolle. Die üblichen Gäste waren geladen. Der übliche Koch bereitete die üblichen Speisen zu. Die Männer standen da und rauchten die üblichen Zigarren und tranken den üblichen Wodka. Und selbstverständlich hing dasselbe Gemälde wie üblich am oberen Treppenabsatz und blickte auf die Partygäste hinab.
Doch eine der Anwesenden gehörte in Wirklichkeit nicht zu den üblichen Gästen.
Als sie dem Mann an der Tür einen Namen von der Liste nannte, wies ihr Russisch einen leichten Akzent auf. Als sie dem Dienstmädchen ihren Mantel reichte, schien niemandem aufzufallen, dass er viel zu leicht war für jemanden, der schon lange in Moskau lebte. Sie war zu klein; das schwarze Haar rahmte ein Gesicht ein, das in jeder Hinsicht viel zu jung war. Die Frauen musterten sie, wenn sie vorüberging, taxierten die Konkurrenz. Die Männer nahmen kaum Notiz von ihr. Sie knabberte am Essen, trank hin und wieder einen kleinen Schluck und wartete ab, bis es spät wurde und die übrigen Gäste angeheitert waren. Als es endlich so weit war, achtete keine Menschenseele auf das Mädchen mit der glatten, blassen Haut, das die Treppe hinaufging und das kleine Gemälde vom Nagel abhängte. Das Mädchen ging zum Fenster.
Und sprang.
Und weder das Haus am Twerskoi-Boulevard noch seine Bewohner sahen das Mädchen oder das Gemälde jemals wieder.
Niemand besucht Moskau im Februar einfach nur zum Vergnügen.
Vielleicht lag es also daran, dass die Zollbeamtin die unterdurchschnittlich große Jugendliche in der Schlange mit den Geschäftsleuten und Exilrussen, welche an diesem Tag auf der Flucht vor dem russischen Winter in New York eintrafen, so neugierig musterte.
»Wie lange waren Sie in Russland?«, fragte die Beamtin.
»Drei Tage«, erwiderte das Mädchen.
»Haben Sie etwas zu verzollen?« Die Zollbeamtin senkte den Kopf und musterte das Mädchen über den Rand ihrer Halbbrille hinweg. »Haben Sie irgendetwas mitgebracht, Schätzchen?«
Das Mädchen schien darüber nachzudenken, dann schüttelte es den Kopf. »Nein.«
»Reisen Sie allein?«, fragte die Frau und klang dabei weniger wie eine Staatsbedienstete in Erfüllung ihrer Pflichten, sondern eher wie eine Mutter, die beunruhigt war bei der Vorstellung, dass ein so junges Mädchen womöglich allein durch die Welt reiste.
Doch das Mädchen lächelte allem Anschein nach völlig unbekümmert und antwortete: »Ja.«
»Und sind Sie aus geschäftlichen Gründen oder zum Vergnügen gereist?«, fragte die Frau und blickte vom blassblauen Zollformular hoch in die strahlend blauen Augen des Mädchens.
»Zum Vergnügen«, erwiderte das junge Mädchen und nahm den Pass wieder an sich. »Ich musste zu einer Party.«
Zwar war Katarina Bishop gerade erst wieder in New York gelandet, doch als sie an diesem Samstagnachmittag durch den Flughafen ging, schweiften ihre Gedanken unwillkürlich zu all den Orten, die sie noch aufsuchen musste.
Da waren ein Klimt in Kairo, ein sehr hübscher Rembrandt, der angeblich in einer Höhle in den Schweizer Alpen versteckt war, und eine Statue von Bartolini, die zuletzt in den Außenbezirken von Buenos Aires gesichtet worden war. Insgesamt waren es mindestens ein halbes Dutzend Jobs, die als Nächstes auf sie zukommen konnten, und Kats Gedanken wanderten wie durch ein Labyrinth von einem zum anderen. Doch was am schwersten auf ihr lastete, waren die Jobs, von denen sie noch nichts wusste – die geplünderten Schätze, die bisher niemand gefunden hatte. Die Nazis hatten eine Armee benötigt, um sie alle zu stehlen, sagte sie sich. Sie selbst war jedoch nur ein einziges Mädchen – eine einzige Diebin. Sie rief sich in Erinnerung, dass es ein Leben lang dauern konnte, sie alle zurückzustehlen, und fühlte sich urplötzlich erschöpft.
Als sie die lange Rolltreppe abwärts betrat, ahnte Kat nichts von dem hochgewachsenen Jungen mit den breiten Schultern hinter ihr, bis sie spürte, wie die schwere Tasche ihr sanft von der Schulter gehoben wurde. Sie wandte sich um und sah hoch, doch sie lächelte nicht.
»Versuch lieber nicht, die zu stehlen«, sagte sie.
Der Junge zuckte die Achseln und griff nach dem kleinen Rollkoffer zu ihren Füßen. »Das würde ich nicht wagen.«
»Ich bin nämlich ein hervorragender Schreihals.«
»Das bezweifle ich nicht.«
»Und eine hervorragende Kämpferin. Meine Cousine hat mir diese Nagelfeile geschenkt – das Ding ist wie ein Schnappmesser.«
Der Junge nickte bedächtig. »Das werde ich mir merken.«
Als sie das untere Ende der Rolltreppe erreichten und Kat die Füße auf den glatten Boden setzte, ging ihr auf, wie verrückt – und unglaublich nachlässig – es von ihr gewesen war, den Jungen nicht zu bemerken, den alle anderen Frauen im Terminal offen anstarrten. Das lag nicht daran, dass er gut aussah (obwohl er das tat); es lag nicht daran, dass er reich war (obwohl auch das unbestreitbar war); W. W. Hale der Fünfte hatte einfach etwas Besonderes an sich – ein Selbstvertrauen, von dem Kat wusste, dass man es nicht kaufen konnte (und ziemlich sicher auch niemals stehlen).
Also ließ sie ihn ihr Gepäck tragen. Er ging so dicht neben ihr, dass ihre Schulter den Ärmel seines schweren Wollmantels streifte, doch sie protestierte nicht. Darüber hinaus berührten sie sich allerdings nicht. Er sah sie nicht einmal an, als er sagte: »Ich hätte den Jet geschickt.«
»Ach« – sie sah zu ihm hoch –, »ich will Meilen sammeln.«
»Oh, na dann, wenn das so ist …« Einen Sekundenbruchteil später tauchte Kats Pass wie durch Zauberei in Hales Hand auf. »Also, wie war es in Moskau, Ms … McMurray?« Er musterte sie. »Du siehst nicht wie eine Sue aus.«
»In Moskau war es kalt«, erwiderte Kat.
Er blätterte eine Seite im Pass um und betrachtete die Stempel. »Und in Rio?«
»Heiß.«
»Und –«
»Ich dachte, mein Vater und Onkel Eddie hätten dich nach Uruguay zitiert?« Unvermittelt blieb sie stehen.
»Paraguay«, berichtigte er sie. »Und es war eher eine Einladung. Ich habe mit Bedauern abgelehnt. Außerdem hätte ich eigentlich gerne bei einer aufregenden Nacht- und Nebelaktion ein Gemälde aus einem herrschaftlichen Haus voller Ex-KGBs geraubt.« Er seufzte tief auf. »Zu schade, dass ich dazu keine Einladung erhalten habe.«
Kat sah ihn an. »Es war eher eine langweilige Herumstehen- und Warten-Aktion.«
»Zu schade.« Hale lächelte, doch Kat fand wenig Wärme in seinem Blick. »Man hat mir nämlich gesagt, dass ich Smokings wirklich gut tragen kann.«
Das wusste Kat. Sie war sogar dabei gewesen, als ihre Cousine Gabrielle es ihm gesagt hatte. Doch eigentlich ging es hier gar nicht um Smokings, wie Kat sehr wohl wusste.
»Es war ein leichter Job, Hale.« Kat erinnerte sich an den kalten Wind in ihren Haaren, als sie am offenen Fenster gestanden hatte. Sie dachte an den verwaisten Nagel, der vermutlich erst heute Morgen aufgefallen war, und musste lachen. »Total leicht. Du hättest dich gelangweilt.«
»Klar«, erwiderte er. »Weil leicht und langweilig ja auch das ist, was einem gemeinhin zum KGB einfällt.«
»Es gab keine Probleme, Hale.« Sie streckte die Hand nach ihm aus. »Ich meine es ernst. Das war ein Job für eine Person. Wenn deine Hilfe nötig gewesen wäre, hätte ich dich angerufen, aber –«
»Dann hast du meine Hilfe wohl einfach nicht gebraucht.«
»Die Familie ist in Uruguay.«
»Paraguay«, berichtigte er sie.
»Die Familie ist in Paraguay«, sagte Kat lauter, doch dann wurde sie unwillkürlich wieder leise. »Ich dachte, du bist bei der Familie.«
Er trat auf sie zu, streckte die Hand aus und ließ den Pass in ihre Jackentasche gleiten, unmittelbar über ihrem Herzen. »Nicht dass du den noch verlierst.«
Als er auf den Ausgang zuging, beobachtete Kat, wie die großen gläsernen Schiebetüren sich öffneten. Sie wappnete sich gegen den eisigen Wind, doch Hale schien immun gegen die Kälte zu sein. Er drehte sich um und rief: »Also, ein Cézanne, ja?«
Sie hielt zwei Finger wenige Zentimeter auseinander. »Nur ein kleiner … Weatherby?«, riet sie, doch Hale lachte bloß, während ein langes schwarzes Auto am Bordstein hielt. »Wendell?«, riet Kat erneut und eilte zum Auto. Sie glitt zwischen den Jungen und das Auto, und als sie so dort stand, das Gesicht dicht an seinem, da schien es völlig unwichtig zu sein, wofür die Ws in seinem Namen standen. Die Gründe, deretwegen sie den ganzen Winter gearbeitet hatte, trug der Wind davon.
Hale ist hier.
Doch dann rückte er näher an sie heran – an sie und eine Linie, hinter die man nicht mehr zurückkonnte, wenn sie erst einmal überschritten war –, und Kat spürte, wie ihr Herz schneller schlug.
»Verzeihung«, sagte eine tiefe Stimme. »Verzeihung, Miss.«
Kat benötigte einen Augenblick, bis diese Worte zu ihr durchdrangen und sie so weit zurücktrat, dass der Mann nach der Autotür greifen konnte. Er hatte graues Haar, graue Augen und trug einen grauen Wollmantel, und Kat fand, das hatte den Effekt, dass er teils Butler, teils Fahrer und teils ganz buchstäblich der Mann aus Stahl zu sein schien.
»Sie haben mich vermisst, nicht wahr, Marcus?«, fragte sie, als er ihr Gepäck nahm und mit anmutiger Selbstverständlichkeit zum offenen Kofferraum trug.
»In der Tat«, erwiderte er mit deutlichem britischen Akzent, dessen Herkunft festzustellen Kat schon längst aufgegeben hatte. Dann legte er den Finger an die Mütze und ergänzte: »Willkommen zu Hause, Miss.«
»Ja, Kat«, sagte Hale gedehnt. »Willkommen zu Hause.«
Im Wagen war es zweifellos warm. Die Straßen zu Onkel Eddies Brownstone-Haus oder zu Hales Landsitz waren alle frei von Eis und Schnee, und Kat und Hale hätten innerhalb einer Stunde an einem trockenen, sicheren Ort sein können.
Doch Marcus’ Hand lag eine Sekunde zu lang auf dem Türgriff. Fünfzehn Jahre als Onkel Eddies Großnichte und Bobby Bishops Tochter hatten Kats Sinne ein wenig zu sehr geschärft. Und der Wind wehte genau in die richtige Richtung, perfekt darauf abgestimmt, die Stimme zu ihr zu tragen, die nur ein Wort rief: »Katarina!«
In Kats gesamtem Leben riefen nur drei Menschen sie routinemäßig bei ihrem vollen Vornamen. Einer hatte eine tiefe, barsche Stimme und gab zurzeit in Paraguay Anweisungen. Oder auch in Uruguay. Einer hatte eine sanfte, freundliche Stimme und befand sich in Warschau, wo er einen lange verlorenen Cézanne untersuchte und Pläne schmiedete, ihn nach Hause zurückzubringen. Doch es war die letzte Stimme, die Kat fürchtete, als sie herumfuhr, denn der Mann, dem sie gehörte, wollte sie höchstwahrscheinlich töten.
Kats Blick wanderte über die lange Schlange von Taxis, die Fahrgäste aufnahmen, über die Reisenden, die jemanden begrüßten oder zum Abschied umarmten. Sie wartete. Sie beobachtete. Doch von den drei besagten Menschen war niemand zu sehen.
»Katarina?«
Eine Frau kam auf sie zu. Sie hatte weißes Haar und gütige Augen und trug einen langen Tweedmantel sowie um den Hals einen handgestrickten Schal. Der junge Mann an ihrer Seite hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt. Die beiden bewegten sich langsam auf sie zu – als wäre Kat aus Rauch gemacht und könnte jeden Augenblick vom Wind verweht werden.
»Sind Sie die Katarina Bishop?«, fragte die Frau mit aufgerissenen Augen. »Sind Sie das Mädchen, das das Henley ausgeraubt hat?«
Wenn man es ganz genau nahm, hatte Katarina Bishop das Henley ebenso wenig ausgeraubt wie irgendein Mitglied ihrer Crew. Kat gehörte lediglich zu einer Gruppe von Jugendlichen, die einige Monate zuvor ins sicherste Museum der Welt spaziert war und von dessen Wänden vier Gemälde entfernt hatte, welche nicht Eigentum des Henley gewesen waren. Die Gemälde tauchten in keiner Versicherungsaufstellung auf. Sie waren niemals in irgendwelchen Katalogen aufgeführt gewesen. Das Henley hatte nie auch nur einen Cent für eines dieser Werke bezahlt, so dass Kat, als sie eines davon (einen Rembrandt) durch die Tür des Museums nach draußen trug, auch kein einziges Gesetz gebrochen hatte. (Ein juristisches Detail, das Onkel Marco – der sich einmal achtzehn Monate lang irgendwo in Minnesota für einen Bundesrichter ausgegeben hatte – bestätigt hatte.)
Daher sah Kat der Frau in die Augen und antwortete, ohne zu zögern: »Tut mir leid. Da sind Sie falsch informiert.«
»Sie sind Katarina Bishop?«, fragte der Begleiter der Frau. Zwar hatte Kat ihn noch nie gesehen, doch Frage und Tonfall hörte sie seit vergangenem Dezember häufiger.
Das Mädchen, das den Job im Henley geplant hatte, hätte größer sein müssen, schien die Frage zu besagen. Sie hätte älter, klüger, stärker, schneller und überhaupt mehr sein müssen als die kleine Jugendliche, die da vor ihnen stand.
»Die Katarina Bishop …« Der Mann hielt inne, um Worte verlegen. Dann flüsterte er: »Die Diebin?«
Diese Frage war gar nicht so leicht zu beantworten. Schließlich war Diebstahl – auch zu noblen und würdigen Zwecken – verboten. Überdies waren die beiden, wenn man ihrem Akzent Glauben schenken durfte, englische Fremde, und in England saßen das Henley, die Verwaltung des Henley und – vielleicht am wichtigsten – die Versicherungsgesellschaft des Henley.
Doch hauptsächlich konnte Kat deshalb nicht auf die Frage antworten – oder tat es jedenfalls nicht –, weil sie sich nicht mehr als Diebin betrachtete. Kat war eher eine Rückerstattungskünstlerin, eine Spezialistin für Wiederaneignung. Alles andere als eine gewöhnliche Kriminelle. Schließlich gehörte die Statue, die sie in Rio geklaut hatte, von Rechts wegen einer Frau, deren Großeltern in Auschwitz umgekommen waren, und das Gemälde aus Moskau würde bald auf die Reise zu einem neunzigjährigen Mann in Tel Aviv gehen.
Insofern: Nein, Katarina Bishop war keine Diebin, und daher antwortete sie: »Es tut mir leid, Sie haben sich in der Person geirrt«, und wandte sich wieder zu Hale und der langen schwarzen Limousine um.
»Wir brauchen Ihre Hilfe.« Die Frau ging auf sie zu.
»Tut mir leid«, sagte Kat.
»Man hat uns versichert, Sie seien recht talentiert.«
»Talent wird überschätzt«, lautete Kats Antwort.
Sie ging zum Auto, doch die Frau packte sie am Arm. »Wir können bezahlen!«
Da musste Kat stehenbleiben.
»Ich fürchte, Sie haben sich wirklich in der Person geirrt.«
Nach einem Blick von Kat öffnete Hale die Tür der Limousine. Kat saß schon halb drinnen, da rief die Frau: »Er hat gesagt, Sie … helfen Leuten.« Ihre Stimme brach, und der junge Mann drückte fest ihre Schultern.
»Großmutter, lass uns gehen. Wir hätten ihm nicht glauben dürfen.«
»Wem?« Es klang schärfer als beabsichtigt, doch das konnte Kat nicht ändern. Sie stieg wieder aus. »Wer hat Ihnen meinen Namen gesagt? Irgendjemand hat Ihnen gesagt, wo ich zu finden bin – wer war das?«
»Ein Mann …«, stammelte die Frau. »Er war sehr überzeugend. Er hat gesagt –«
»Wie hieß er?« Hale trat näher zu dem jungen Mann, der ihm vielleicht acht Jahre und etwa fünf Zentimeter voraushatte.
»Er kam zu uns in die Wohnung …«, begann der Mann, doch Kat hörte nur, was die Frau flüsterte.
»Romani.« Sie atmete tief durch. »Er hat gesagt, er heißt Visily Romani.«
Vielleicht haben Sie den Namen Visily Romani noch nie gehört. Ehe vier Monate zuvor zwei separate Visitenkarten mit diesem Namen im Henley aufgetaucht waren, hatten nur sehr wenige Menschen je von ihm gehört. Auch Kat hatte ihn bis dahin nicht gekannt, doch Kat war auch noch ein sehr junger Mensch in einer sehr alten Welt. Seither war sie allerdings, wie sie selbst sagen würde, viel, viel älter geworden.
So fühlte sie sich jedenfalls, als sie eine Stunde später neben Hale in einem kleinen ruhigen Diner unweit von Onkel Eddies Brownstone-Haus auf der Brooklyner Seite der Brücke saß. Die alte Frau und ihr Begleiter saßen auf der anderen Seite der Sitzecke, stumm und erschöpft. Sie sahen aus, als wären sie sehr, sehr weit gereist, um hierherzugelangen.
Das Lokal war beinahe leer. Dennoch sah der junge Mann sich immer wieder nach der Kellnerin, die Tische abwischte, und der Studentin mit den Kopfhörern auf den Ohren um, die in einem Buch über Verfassungsrecht las. Er hatte braune Augen und trug eine Hornbrille. Mit scharfem Blick beobachtete er den Raum.
»Meinen Sie nicht, wir sollten an einen ungestörteren Ort gehen?«, fragte er und klang doch tatsächlich verängstigt.
»Hier ist es ungestört genug«, erwiderte Hale.
»Aber –«, setzte der Mann an, doch da stützte Kat die Ellbogen auf den Tisch.
»Wer sind Sie, und warum haben Sie mich gesucht?«
»Ich heiße Constance Miller, Miss Bishop«, erwiderte die weißhaarige Frau. »Oder darf ich Sie beim Vornamen nennen? Ich habe das Gefühl, Sie zu kennen – Sie und Mr Hale.« Sie lächelte Hale an. »So ein entzückendes junges Paar.« Kat wurde ein wenig zappelig, doch die Frau fuhr fort. »Ich bin so etwas wie ein Fan von Ihnen.« Sie klang beinahe euphorisch, so, als hätte ihr gesamtes Leben aus Kuchenbasaren und Romanen von Agatha Christie bestanden, und nun würde sie sich in einem solchen Roman wiederfinden.
»Was ich sagen will, ist«, fuhr sie fort, »es gibt da etwas, das Sie für mich stehlen sollen.«
»Großmutter, bitte.«
»Ach, Marshall«, sagte die Frau und tätschelte ihrem Enkel die Hände, »das sind Profis.«
Hale hob die Augenbrauen und grinste Kat an. Kat trat ihm ans Bein und bedeutete der Frau, sie solle fortfahren.
»Aber Großmutter, sie sind …« Er warf einen Blick über den Tisch und senkte die Stimme. »Kinder.«
»Du bist fünfundzwanzig«, belehrte sie ihn.
»Was hat das damit zu tun?«
Sie zuckte die Achseln. »Für mich seid ihr alle Kinder.«
Kat wollte diese Frau nicht mögen. Zuneigung macht einen nachlässig, man geht Risiken ein. Tut Gefallen. Daher gestattete Kat sich nicht zu lächeln. Sie konzentrierte sich einfach auf das eine, was sie wirklich wissen musste.
»Wie haben Sie Visily Romani kennengelernt?«
»Er hat mich vor zwei Wochen in London aufgesucht. Er war mit unserer Situation vertraut und sagte, dass Sie –«
»Wie sah er aus?« Unwillkürlich beugte Kat sich vor, näher zu der einzigen ihr bekannten Person, die Romani tatsächlich mit eigenen Augen gesehen hatte. »Was hat er gesagt? Hat er Ihnen etwas gegeben oder –«
»Waren Sie schon einmal in Ägypten, Katarina?«, fragte die alte Frau, wartete die Antwort jedoch nicht ab. »Ich bin da geboren.« Dann lächelte sie. »Ach, für mich als Kind war es dort wundervoll. Die Städte waren so lebendig, und die Wüsten so groß und weit – wie der Ozean. Wir schliefen unter großen weißen Netzen und spielten in der Sonne. Mein Vater war ein genialer Mann. Stark und mutig und verwegen.« Sie schüttelte die Faust. »Er war Archäologe – er und meine Mutter – und damals … nun … damals musste man als Archäologe nach Ägypten.«
»Das ist ja alles gut und schön, Ma’am, aber ich glaube, Sie sagten etwas von –«, setzte Hale an, aber die Frau redete einfach weiter.
»Manche sahen den Sand und die Sonne und sagten, es sei ein ödes, unzivilisiertes Land. Aber mein Vater und meine Mutter wussten, dass es nicht die Oberfläche ist, die zählt. Zivilisation wird nicht aus Sand gemacht – sie wird aus Blut gemacht. Meine Eltern suchten viele Jahre lang. Kriege tobten, und sie suchten. Kinder wurden geboren, und sie suchten. Die Vergangenheit rief nach ihnen.« Ihr Blick schweifte ins Leere. »Wie sie jetzt wohl nach mir ruft.«
Kat nickte und dachte an die vor über einem halben Jahrhundert gestohlenen Schätze, die Gemälde, die sie nie gesehen hatte, die zu berühren und in der Hand zu halten sie sich sehnte.
»Großmutter«, sagte Marshall sanft und legte der Frau eine Hand auf die Schulter, »vielleicht sollten wir dir einen Tee bestellen.«
»Ich will keinen Tee! Ich will Gerechtigkeit!« Mit ihrer zerbrechlichen Faust schlug sie auf den Tisch. »Ich will, dass dieser Mann seinen Stein verliert, so, wie meine Eltern alles verloren haben, was sie hatten!«
»Stein?«, fragte Hale und setzte sich auf. »Welchen Stein?«
Doch der Mann nahm nicht einmal Notiz von der Frage. »Komm, Großmutter, wenn die besten Anwälte Englands uns nicht helfen können, was können dann zwei Kinder –«
»Kinder, die das Henley ausgeraubt haben«, ergänzte Hale. Erneut trat Kat ihn unterm Tisch ans Bein.
»– dann schon tun?«, beendete der Mann seine Frage.
»Meine Eltern hatten sie gefunden, Katarina.« Unvermittelt nahm die Frau Kats schmale Hände. »Sie hatten sie gefunden – hundert Kilometer von Alexandria, nur einen Steinwurf vom Meer entfernt. Sie hatten sie gefunden – eine der Schatzkammern des letzten Pharao in Ägypten.«
»Der letzte Pharao …«, begann Kat.
Die Frau seufzte und flüsterte: »Sie kennen ihn vielleicht besser unter dem Namen Kleopatra.«
Kats Finger begannen zu kribbeln, doch sie wusste nicht, ob es an dem lag, was die Frau gesagt hatte, oder an ihrem festen Griff.
»Ach, es war ein herrlicher Anblick. Kleopatra hatte gewusst, dass die Tage ihres Reiches gezählt waren, und ihre edelsten Schätze sehr sorgfältig vor den Römern verborgen. Es war die größte Kammer, die meine Eltern je gesehen hatten. Urnen und Statuen und Gold … so viel Gold. Ich erinnere mich, dass ich mit den Grabungshelfern auf den Goldbergen Verstecken gespielt habe. Sie waren so hoch, dass sie auch aus Sand hätten bestehen können.«
Sie öffnete die Handtasche auf ihrem Schoß und zog eine verblichene Schwarzweiß-Fotografie aus dem Innenfutter. Sie hielt sie in der Hand, in die Erinnerung vertieft, und dabei wirkten ihre Hände besonders zerbrechlich.
»Ich war so glücklich wie noch nie«, sagte die Frau und hielt Kat und Hale das Foto hin wie eine Opfergabe. Kat beugte sich vor über den billigen Esstisch und betrachtete das Bild eines jungen Mädchens in einem weißen Kleid, umgeben von den Schätzen einer Königin.
»Was ist passiert?«, fragte Hale.
»Kelly … ist passiert«, erwiderte der Enkel, und als die Frau diesen Namen hörte, erlosch ihr Lächeln sofort.
»Ich hatte ihn nie gemocht, und auf die Instinkte von Kindern sollte man immer hören«, sagte sie und lachte leise. »Aber das wissen Sie sicher selbst.«
Kat nickte. »Fahren Sie fort.«
»Nun, meine Eltern fanden die Kammer und begannen mit der Dokumentierung, doch nach drei Tagen setzten bei meiner Mutter vorzeitig die Wehen ein. Es war schrecklich. Beinahe hätten wir alle beide verloren, sie und meinen Bruder. Aber meine Eltern hatten die bedeutsamste Entdeckung ihrer Karriere gemacht, deshalb waren sie glücklich. Mein Vater hatte einen jungen Assistenten, dem er die Aufsicht über die Arbeiten übertrug, solange meine Mutter sich erholte. Zwei Wochen waren meine Eltern weg. Zwei Wochen.« Die letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. »Wissen Sie, wie sehr das Leben sich in nur zwei Wochen verändern kann?«
Kat spürte, wie Hale sein Bein unterm Tisch an ihres drückte, doch keiner von beiden sagte auch nur ein Wort. Das brauchten sie auch nicht.
»Er hat alles gestohlen, Miss Bishop. In den zwei Wochen, in denen meine Mutter mit dem Tode rang, stahl der Assistent meiner Eltern alles, wofür sie ihr Leben lang gearbeitet hatten.«
»Er hat den Fund für sich beansprucht?«, riet Kat.
»Schlimmer«, erwiderte die Frau. »Er hat alles eingepackt und fing an, es zu verkaufen. Nicht ein Stück war verzeichnet worden. Nichts war dokumentiert oder untersucht worden. Artefakte wurden auf Dampfer verfrachtet und quer übers Mittelmeer verschifft. Geschichte wurde an die Höchstbietenden verschachert zu einer Zeit, als die Welt sehr gut für die Schätze der Könige bezahlte. Oder in diesem Fall der Königin.«
Die Frau griff nach einem Taschentuch, doch sie weinte nicht. Sie musterte Kat und Hale lediglich und sagte: »Meine Eltern waren diskreditiert und mittellos – das Gespött der archäologischen Fachwelt. Der Fund ihres Lebens war fort, gestohlen von dem Menschen, dem sie am meisten vertraut hatten.«
»Aber sie hatten doch bestimmt jemandem davon erzählt?« Hale machte keinen Hehl aus seiner Skepsis. »Sicher wusste doch jemand, woran sie gearbeitet und was sie gefunden hatten.«
»Ach, aber es war ein wildes Land, Mr Hale. Das waren gefährliche Zeiten. Überall waren Plünderer – Grabräuber, Schatzsucher. Echte Archäologen waren unglaublich vorsichtig mit ihrer Arbeit. Geheimhaltung war das oberste Gebot.«
»Aber hinterher …«, setzte Kat an.
Die Frau schnaubte. »Hinterher? Hinterher waren sie gebrochen und von allen verlassen. Hinterher hatten sie nur noch ihren Stolz und ihre Kinder. Ich, Miss Bishop … Mein Bruder und ich waren alles, was sie aus dem Sand dort mit nach Hause brachten, und bald werde auch ich zu Staub werden.« Sie atmete tief durch, und ihre zarten Hände umklammerten das Taschentuch. »Für meine Eltern ist es zu spät, das zurückzuerlangen, was ihnen gehörte. Aber für Ägypten ist es nicht zu spät, das zu bekommen, was dem Land gehört.«
Sie legte die Hände flach auf den Tisch und beugte sich vor. In ihren Augen lag eine neue Dringlichkeit. Es war der Blick einer Frau, die eine Absicht verfolgte – einen Plan.
»In Kairo gibt es ein Museum, das den Stein nehmen würde, falls ich ihn beschaffen kann. Es hätte ihn schon vor einem halben Jahrhundert bekommen sollen, aber besser spät als nie.« Dann hielt sie inne. Sie schien Kat aufs Neue zu mustern. »Es muss ein wunderbares Gefühl sein, wenn man etwas Schönes nimmt und dorthin zurückbringt, wohin es rechtmäßig gehört. Meinen Sie nicht auch, Katarina?«
»Was …?« Kat schüttelte den Kopf. »Was hat Visily Romani Ihnen über mich erzählt?«
»Dass Sie Dinge stehlen.« Wieder lachte sie leise. Kat suchte in ihren Augen nach dem Mädchen auf dem Foto, doch zu viel Zeit und Sonne und Sand trennten die beiden.
Hale richtete sich auf. »Der Name des Assistenten Ihrer Eltern war Kelly?«
Die Frau lächelte. »Ja.«
»Oliver Kelly?«
Wieder lachte sie und sah Kat prüfend in die Augen. »Ja, Katarina, der Gründer des weltgrößten Auktionshauses war ein feiger Plünderer … ein Dieb.«
Draußen fiel ein kalter Regen. Kat hörte die Tropfen an die Fenster des Diners prasseln und dachte an Warschau und Abiram Steins Blick, als dieser von Krieg und Nazis und Gemälden erzählt hatte.
»Sehen Sie sich das Foto an, Katarina.« Die Frau schob den Schnappschuss über den Tisch.
»Es ist ein schönes –«
»Sehen Sie genauer hin.«
Kelly. Ägypten. Kleopatra. Die Worte hingen im Raum wie das Aroma von Kaffee und das Prasseln des Regens. Kat betrachtete das Foto nochmals und sah ein kleines Mädchen in einem langen weißen Kleid, einen reich verzierten Raum, zwei gebräunte Hände und den größten Edelstein, den sie je gesehen hatte.
»Ist das –«
»Ja.«
»Dann ist das –«
Der Enkel schluckte. »Ja.«
»Und Sie wollen, dass wir –«
»Ihr Freund Mr Romani hat uns versichert, dass Sie perfekt geeignet sind. Falls es eine Frage der Finanzierung ist, so fürchte ich zwar, dass unsere juristischen Bemühungen uns eher ärmer gemacht haben, als wir einst waren, aber wir besitzen einige Vermögenswerte, die wir zu Geld machen könnten. Das hier …« Die Frau umfasste ein altes Medaillon, das an einer Kette um ihren Hals hing. »Ich kenne einen Händler, der mir fünfhundert Pfund dafür geben würde.«
»Es geht nicht ums Geld.« Kat schüttelte den Kopf. »Es ist nur so, dass … Sie wollen, dass wir den Kleopatra-Smaragd ausfindig machen und stehlen?«
»Den Kleopatra-Smaragd?«, betonte Hale.
»O ja.« Nun lächelte der Enkel zum ersten Mal. »Den, der verflucht ist.«
Es spielte keine Rolle, dass es regnete, als Kat und Hale den Diner verließen – sie winkten Marcus und das lange schwarze Auto fort. Irgendwie fühlte es sich gut an, mit hochgeschlagenem Kragen im kalten Wind spazieren zu gehen und im tristen Nebel zu zittern. In Gedanken waren sie schließlich im ägyptischen Sand.
Und bei Flüchen.
»Sie waren nett.« Hale behielt die Hände in den Taschen, hob aber das Gesicht zum Himmel, so dass der Regen ihm auf die Haut prasselte.
»Ja«, lautete Kats Antwort.
»Nett ist … erfrischend.«
Kat lachte und bog automatisch in eine schmale Straße ab. »Stimmt.«
»Und riskant.«
»Hm-hm.«
»Und sie wirken wie Leute, die wirklich Hilfe brauchen können.«
»Von jemand Gutem«, schlug Kat vor.
»Von jemand Dämlichem.« Hale blieb so unvermittelt stehen, dass Kat an ihm vorbeiging und sich zu ihm umdrehen musste. »Aber wir sind nicht dämlich, oder, Kat?«
»Nein. Natürlich –«
»Wir werden diesen Auftrag also unter keinen Umständen übernehmen?«
»Natürlich nicht«, sagte Kat gerade in dem Augenblick, als der Regen stärker wurde und wie eine Wand herabfiel, hart und kalt. Hale nahm ihre Hand und zog sie auf eine vertraute Treppe, unter den schmalen Überhang des Daches über ihnen. Zitternd stand sie mit der Holztür im Rücken da, während Hale sich zu ihr beugte, sie abschirmte, ihr prüfend in die Augen sah.
Die Fenster des Brownstone-Hauses waren dunkel, und die Straße war menschenleer. Da waren keine vorbeifahrenden Autos, keine Kindermädchen, die Sportwagen schoben, oder Fußgänger, die nach Hause rannten. Kat hatte das Gefühl, sie und Hale wären die einzigen Menschen in New York City. Sie konnten alles stehlen, was sie wollten.
Aber ich stehle nicht mehr, sagte Kat sich. Ich stehle überhaupt nicht mehr.
»Keiner zu Hause«, sagte sie.
Wassertropfen hingen an Hales Mundwinkeln. »Wir könnten einbrechen. Ein Fenster aufstemmen.«
»Weißt du, ich wette, hier ist irgendwo ein Schlüssel versteckt«, versuchte sie, Hale zu necken, doch er war noch näher an sie herangerückt. Sie konnte die Straße nicht mehr sehen. Sie spürte den Regen nicht mehr. Ihr Pass steckte in ihrer Tasche, und als Hale sich an sie drückte, hatte sie beinahe das Gefühl, die Stempel im Pass würden aufflammen und der ganzen Welt verkünden, wie lange sie nicht mehr zu Hause gewesen war.
Hales Hand lag in ihrem Nacken – warm und groß und tröstlich. Fremd und neu und anders.
Urplötzlich hatte Kat Angst, sie sei nicht lange genug fort gewesen.
»Kat«, flüsterte Hale. Sein Atem fühlte sich warm an auf ihrer Haut. »Wenn du diesen Auftrag übernimmst, dann denk nicht mal im Traum daran, den Smaragd ohne mich zu stehlen.«
Kat versuchte, sich von ihm zu lösen, doch in ihrem Rücken war die Tür. »Ich habe nicht vor –«
Weiter kam sie nicht, denn nun war nichts mehr in ihrem Rücken. Kat streckte die Hände nach Hale aus, bekam jedoch nur Luft zu fassen und stürzte auf den Rücken.
»Hallo, Kitty Kat.« Kat starrte auf ein vertrautes Paar langer Beine und einen kurzen Rock. Ihre Cousine Gabrielle verschränkte die Arme und sah auf sie hinab. »Willkommen zu Hause.«
Kat hatte gar nicht gemerkt, wie kalt ihr war, bis sie sich in der Diele des alten Brownstone-Hauses rücklings auf dem Boden wiederfand. Im Kamin brannte kein Feuer, im Wohnzimmer und im Treppenhaus kein Licht. Einen Augenblick lang fühlte es sich beinahe wie ein Job an, so, als dürfte sie gar nicht dort sein. Und vielleicht, erkannte sie, dürfte sie das wirklich nicht.
»Wir wussten nicht, dass jemand zu Hause ist«, sagte Kat.
Gabrielle lachte. »Das habe ich gemerkt.«
Sogar im Dunkeln entdeckte Kat ein Funkeln in ihren Augen. Welche Ursache dieses Funkeln hatte, wagte sie jedoch nicht zu fragen. Sie beobachtete nur, wie Gabrielle sich umdrehte und die lange Diele entlangschlenderte, sich so schwerelos wie ein Gespenst durch die Schatten bewegte.
Kat stand auf und folgte ihr, Hale im Schlepptau. Die Dielen knarrten, und das alte Haus ächzte im Unwetter. Es kam ihr zu groß vor. Zu dunkel. Zu leer.
»Wow. Er ist wirklich weg«, sagte Hale bestürzt.
»Ja.« Gabrielle erreichte die Küchentür und lachte kurz auf. »Ich glaube, Onkel Bobby war auch nicht allzu glücklich darüber – keiner hat geglaubt, dass Eddie wirklich bis nach Paraguay fahren würde. Aber das weißt du sicherlich alles schon.« Sie musterte ihre Cousine im schwachen Licht. »Du hast doch mit deinem Vater gesprochen?«
»Natürlich«, erwiderte Kat und betätigte den Lichtschalter.
Als die Lampen flackernd zum Leben erwachten, musste Kat die Augen zusammenkneifen, so grell war das Licht. Sie hatte halb damit gerechnet, ihr Onkel würde auf mysteriöse Weise erscheinen, den Löffel in der Hand, und sie tadeln, sie sei zu spät und die Suppe kalt geworden.
»Wie ist es denn in Paraguay?«, fragte Hale, der nichts von dem Gespenst ahnte, das Kat sah, und sich an ihr vorbei in die Küche drängte, als wäre er dort schon immer zu Hause gewesen.
»Okay, denke ich.« Gabrielle zuckte die Achseln. »Jedenfalls so okay, wie ein so großer Job sein kann. Alle Mann an Deck.« Sie setzte sich, knallte die Beine auf den Tisch und musterte ihre Cousine. »Na ja … fast alle Mann.« Dann zog sie ein Messer aus dem Stiefel, nahm einen Apfel aus einer Schale und begann, ihn in einer langen gleichmäßigen Spiralbewegung zu schälen. »Also, erzählt ihr zwei mir jetzt, was das große Geheimnis ist?« Sie sah von Kat zu Hale und wieder zu Kat. »Es sah nämlich ein bisschen nach trauter Zweisamkeit aus da draußen. Ihr habt über irgendwas geredet. Oder vielleicht habt ihr ja gar nicht geredet …«
Kat spürte, wie sie errötete, doch ehe sie etwas erwidern konnte, öffnete Hale den Kühlschrank und verkündete: »Kat wird den Kleopatra-Smaragd stehlen.«
»Guter Witz«, sagte Gabrielle. Mit einer gewissen Verzögerung verharrte ihre Hand mit dem Messer in der Luft. »Das ist doch ein Witz, oder?«
Kats Blick brannte sich in Hales Augen. »Ich habe nie gesagt, dass ich es mache«, erklärte sie. »Ich habe nie gesagt –«
»Natürlich wirst du es machen.« Die Kühlschranktür schlug zu, und Hale wandte sich um. »Ich meine, so was machst du doch jetzt immer, oder? Durch die Welt jetten, Unrecht wiedergutmachen. Eine Eine-Frau-Wiederbeschaffungscrew.«
Kat wollte ihm antworten, doch Gabrielle hatte bereits die Füße vom Tisch genommen und beugte sich zu Kat vor, das Messer noch in der Hand.
»Sag mir, dass er Witze macht, Kat. Sag mir, dass du nicht ernsthaft darüber nachdenkst, den Kleopatra-Smaragd zu stehlen.«
»Nein«, erwiderte Kat. »Ich meine … Na ja … wir haben gerade diese Frau getroffen, die sagt, dass den Smaragd eigentlich ihre Eltern gefunden hätten –«
»Constance Miller«, ergänzte Gabrielle.
»Du kennst sie?«, fragte Kat.
»Ich weiß alles, was es über den kostbarsten Smaragd der Welt zu wissen gibt, Kat. Ich bin eine Diebin.«
»Ich auch«, gab Kat zurück, doch ihre Cousine redete einfach weiter.
»Ich meine es ernst. Der Kleopatra-Smaragd, das ist siebenundneunzig Karat verrückt!«
»Ich weiß.«
Hinter Kat riss Hale Schranktüren auf. »Wo ist die Mikrowelle?«
»Onkel Eddie hat keine Mikrowelle!«, fuhren die beiden Cousinen ihn wie aus einem Munde an, doch keine von beiden lächelte. Keines der Mädchen machte Witze. Sie starrten einander über den verschrammten Holztisch hinweg an, der Zeuge von Anfang und Ende beinahe jedes größeren Coups gewesen war, den ihre Familie je gelandet hatte.
Er schien sich genauso gut wie jeder andere Ort für das zu eignen, was Gabrielle nun sagte: »Du darfst das nicht tun, Kat. Du darfst nicht vergessen, dass der Kleopatra-Smaragd der am schwersten bewachte Edelstein auf der Welt ist. Er ist seit dreißig Jahren nicht mehr zu sehen gewesen.«
»Ich weiß«, sagte Kat.
»Jeder, der auch nur einen Hauch gesunden Menschenverstand hat, weiß, dass Constance Miller eine alte Eigenbrötlerin ist, die fast kein Geld mehr hat.« Gabrielle musterte ihre kleinere, blassere Cousine von oben bis unten. »Und wenn sie zu dir kommt, muss sie wirklich verzweifelt sein.«
»Danke«, erwiderte Kat.
»Aber vor allem«, fuhr Gabrielle fort, »wir echten Diebe wissen, dass der Kleopatra-Smaragd verflucht ist, seit Kleopatra den größten Smaragd der Welt nahm und in ihrer Weisheit beschloss, ihn in der Mitte durchzuschneiden und die eine Hälfte Marcus Antonius zu geben, der dann auszog, die Römer zu bekämpfen –«
»Und starb«, mischte Hale sich von hinten ein.
»Kleopatra behielt die andere Hälfte«, fuhr Gabrielle fort.
»Und starb«, wiederholte Hale.
»Und bis die beiden Steine wieder vereint sind, bringen sie nur Tod und Verderben über jeden, der im Besitz eines der beiden ist«, schloss Gabrielle. Sie stand auf und trat näher an Kat heran. »Jeder gute Dieb weiß also, dass er verflucht ist, Kat.«
»So etwas wie Flüche gibt es nicht«, gab Kat versuchsweise zurück, doch das größere Mädchen stand bereits mit verschränkten Armen vor ihr und sah so auf sie herab, dass Kat sich besonders klein vorkam.
»Und wie erklärst du dir dann das, was passiert ist, als Onkel Nester ihm ’79 nachgejagt ist?«
»Laser verbrennen Dinge, Gabrielle. Es ist nicht die Schuld des Smaragds, wenn Onkel Nester nicht auf seine Finger aufpasst.«
»Und was war mit den Garner-Brüdern 1981?«
»Hey, jeder, der glaubt, dass ein nicht vom Militär zugelassenes Abseilkabel das Gewicht von zwei erwachsenen Männern und einem Miniaturesel trägt, verdient es, von einer Klippe abzustürzen.«
»Und dieses japanische Team im Jahr 2000?«
»Man sollte immer einen Ersatzdefibrillator dabeihaben, wenn man Dornröschen versucht. Jeder weiß das. Außerdem: Onkel Eddie hat das nichts ausgemacht, als er ihn ’67 stehlen wollte«, versuchte Kat, das alles zu entkräften.
Gabrielles wütender Blick wurde eisig. »Jetzt macht es ihm etwas aus.«
»Was ist denn ’67 passiert?«, fragte Hale, doch keines der Mädchen schien ihn zu hören oder auch nur einen Deut auf seine Frage zu geben.
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