Kapitel 1

Lockende Schatten

Die Süße des Cocktails hatte sich auf ihre Lippen gelegt, und obwohl Meta sie unauffällig abzulecken versuchte, blieb sie hartnäckig an Ort und Stelle. Es fühlte sich glatt an, wenn Meta mit der Zungenspitze darüberfuhr. Kandiert – viel besser als jeder Nachtisch, der auf der Speisekarte des kleinen Restaurants gestanden hatte.

Meta lachte leise in sich hinein und legte im nächsten Moment schützend die Hand vor den Mund. Wenn eine ihrer Freundinnen mitbekommen sollte, dass sie beschwipst genug war, um albern zu kichern, würden sie sie kurzerhand ins nächste Taxi setzen. Aber allein nach Hause zu fahren, war so ziemlich das Letzte, was Meta sich an diesem Abend wünschte. Nein, sie wollte hierbleiben, die flirtenden Menschen beobachten und noch mehr Cocktails trinken.

Es war schon seltsam, dass dieses mondäne Vierer-Kleeblatt von Freundinnen ausgerechnet in einer Tapas-Bar gelandet war. Auf die rot getünchten Wände waren Kakteen gemalt, deren Umrisse unter der Sonnenglut flimmerten. Wer auch immer dieses Kunstwerk zustande gebracht hatte, hatte genau gewusst, was er tat. Diese Meinung behielt Meta allerdings tunlichst für sich, denn die drei anderen Frauen hatten sich erst nach mehreren Gläsern Wein mit dieser doch recht gewöhnlichen Umgebung abgefunden. Es war auch nicht besonders hilfreich gewesen, dass die anderen Gäste keine Chance ungenutzt hatten verstreichen lassen, um die edel gekleideten Freundinnen ungeniert zu mustern. Oder dass sie die Frauen amüsiert dabei beobachteten, wie sie kerzengerade auf den Holzstühlen saßen und ihr Essen weitgehend unangetastet wieder zurückgehen ließen. Nicht, dass es etwas an der Tapas-Auswahl zu mäkeln gegeben hätte – sie war nur schlicht und ergreifend tödlich für jede schlanke Linie.

Die Galerie-Eröffnung, die die vier Frauen zuvor besucht hatten, hatte sich als gnadenlos überlaufen entpuppt. Was sich kaum anhand der ausgestellten Werke erklären ließ – Pyramiden von kleinen blauen Plexiglasschachteln mit verderblichem Zeug im Inneren, das sicherlich schon bald unangenehm riechen würde. Dass die Gäste trotzdem dicht an dicht standen und sich nach einigen Gläsern Sekt nicht mehr sonderlich darum kümmerten, wenn sie die Kunstwerke umstießen, hatte sicherlich viel mit der Lage der neuen Galerie zu tun: Sie war im Herzen einer der lebendigsten Amüsiermeilen der Stadt eröffnet worden. Das Paar, das die Galerie leitete und selbst der Künstlerszene entstammte, hatte sich zu diesem Einfall gratuliert, denn in diesem Viertel mussten sie kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie die Ausstellungsräume erst zur Dämmerstunde öffneten – vorher ließ sich hier sowieso kein Mensch blicken.

Nachdem die vier Frauen sich mit allen Gästen, die von Bedeutung waren, über die laute Musik hinweg angeschrien hatten, war beschlossen worden, sich in eins der vielen kleinen Restaurants dieser Straße zu flüchten. Dabei fühlte sich der Besuch dieser Tapas-Bar wie das Betreten von Neuland an und zeigte Meta nur, wie sehr sie und ihre Freundinnen sich in den letzten Jahren zu Snobs entwickelt hatten. Sie selbst hatte sich dabei erwischt, wie sie kritisch den Holzstuhl begutachtet hatte, bevor sie sich mit ihrem hellen Seidenkleid darauf niederließ. Die Nächte, in denen sie Bier aus Flaschen in irgendwelchen Hinterhäusern getrunken hatte, wo sich mittellose Künstler herumtrieben, waren nicht nur passé, sondern auch schon eine ganze Weile her.

Es ist wirklich mal an der Zeit für ein wenig Abwechslung, dachte Meta, während sie unauffällig Salzreste vom Glasrand leckte. Immer nur schicke Restaurants und zu Tode geplante Dinners bei Bekannten, deren Wohnungen mit jedem Jahr mehr wie Ausstellungsräume aussahen, war auf die Dauer doch nicht das Wahre.

Derartig beschwingt, ließ Meta sich dazu hinreißen, Eve, deren gelangweilter Blick sie gerade streifte, ein Lächeln zu schenken. Einen Moment funkelte so etwas wie Abneigung in Eves sorgfältig geschminkten Augen auf, dann erwiderte sie das Lächeln und rückte mit ihrem Stuhl näher. Marie und Sue, die gerade in einer mit vielen Ausrufezeichen versehenen Unterhaltung versunken waren, sahen gleichzeitig auf.

Als Eve sich über die Stuhllehne zu ihr hinüberbeugte, bereute Meta ihre Charmeoffensive sofort. Denn in einem Augenblick von Aufrichtigkeit musste sie sich eingestehen, dass sie schon ordentlich angetrunken war und sich deshalb viel lieber hätte weiterhin treiben lassen, als sich mit der scharfzüngigen Eve auseinanderzusetzen. Außerdem fühlte sie sich unwohl, wenn ihr die Frau mit ihrem aufdringlichen Parfüm zu dicht auf den Leib rückte. Als ahnte Eve etwas von dieser Abneigung, rutschte sie dichter an Metas Seite und legte ihr einen Arm um die Taille. Reine Schikane. Metas Lächeln zerfiel zu einigen kläglichen Resten, während sie das Bedürfnis unterdrückte, nach Luft zu schnappen.

Wenn Meta ganz ehrlich war – und nach vier Margaritas auf fast nüchternen Magen war sie das –, gab sie zu, dass sie Eve ebenfalls nicht ausstehen konnte. Sie misstraute dem Ehrgeiz, der die drahtige Eve wie ein Schutzpanzer umgab. Der abschätzende Blick, mit dem sie ihr Umfeld unentwegt taxierte, um alles umgehend in etikettierte Schubladen zu stecken. All das weckte in Meta den Wunsch, irgendetwas Unerwartetes zu tun, das Eves starre Weltsicht wenigstens für einige Sekunden ins Schwanken brachte. Allerdings blieb es lediglich bei der befriedigenden Vorstellung von einer Ms. Eisblock, die die Fasson verlor. Denn Meta war nicht sonderlich erfahren darin, aus der Rolle zu fallen.

»Du bist wirklich ein tapferes Mädchen, das muss ich dir einmal sagen«, zwitscherte Eve ihr ins Ohr. Als Meta sie fragend anblickte, zeigte sie ihre Zähne, die trotz des rötlichen Dämmerlichts ungewöhnlich weiß aufleuchteten. »Dass du mit Karl weiterhin befreundet sein kannst – ich finde, das zeugt von deiner reifen Persönlichkeit. Nein, eigentlich mehr von ... na, du weißt schon ... Großmut.«

Allein Karls Name führte nun dazu, dass Metas Magen androhte, die Cocktails wieder retourzuschicken. Obwohl sie fest damit gerechnet hatte, dass Karl auch an diesem Abend ein Thema sein würde, irritierte sie etwas an Eves Wortwahl.

Mittlerweile täuschten Marie und Sue nicht einmal mehr vor, ein Gespräch zu führen, und sahen Meta mit Kummerfalten auf der Stirn an. Wenn sie nicht ein so gut erzogenes Mädchen wäre, dann hätte Meta jetzt einfach mit den Schultern gezuckt und ihr Gesicht hinter dem Rand des Cocktailglases versteckt, um alle unfreundlichen Gedanken fortzuschieben. Doch ihre Freundinnen hatten sie längst mit ihrer Fürsorge umzingelt und warteten auf eine Antwort.

»Nun, es ist ja nicht das erste Mal, dass Karl und ich uns eine Auszeit nehmen, deshalb bin ich eigentlich auch nicht sehr unglücklich. Bislang ging es uns danach jedes Mal ein wenig besser. Ab und zu braucht es etwas Distanz, um sich neu zu entdecken.«

Diese Erklärung hatte Meta im Lauf der gemeinsamen Jahre mit Karl immer mehr verfeinert. Sie waren beide anspruchsvolle, intellektuelle Menschen, da war es nicht weiter verwunderlich, dass sie sich nicht wie ein verheiratetes Paar aus der Vorstadt aufführten. Wie viel Schlaf sie diese regelmäßigen und von vielerlei Diskussionen begleiteten Auszeiten kosteten und wie oft sie sich dabei ertappte, allein und einsam an ihrem Esstisch zu sitzen und in ein Weinglas zu starren, bedachte sie dabei lieber nicht. Vielleicht fiel es ihr auch einfach nicht mehr auf, denn der Glanz der gemeinsamen Zeit mit Karl war inzwischen verblasst.

»Du hast ja Recht, Meta«, erwiderte Marie sofort. Trotzdem presste sie ihre mit Cocktailringen geschmückte Hand gegen die Brust, als fühle sie dort einen tiefen Schmerz. »Immerhin amüsierst du dich ja auch gut, nicht wahr?«

»Amüsieren?« Meta drehte das Wort in ihrem Mund wie einen Fremdkörper. Nun, sie hatte sich nach einem anstrengenden Tag, den sie größtenteils in der Gesellschaft eines grauenhaft ordinären Geschäftsmanns und dessen Anlageberaters verbracht hatte, ordentlich einen angetrunken und wollte nun einfach nur entspannt dasitzen. Warum auch nicht? Schließlich hatten sich ihre Freundinnen seit dem Verlassen der Galerie nur noch über ihre Inneneinrichtungen und den neuesten Klatsch der Kunstszene unterhalten. Desto unvermittelter traf Meta jetzt dieser Themenwechsel. Doch für einen Absprung war es zu spät, wie die mitleidigen Blicke, die zwischen den drei Freundinnen ausgetauscht wurden, bezeugten.

»Karl amüsiert sich also gut?«, fragte Meta in unsicherem Ton. »Meinen Segen hat er.«

»Tatsächlich, ist das so?« Eve machte keinen Hehl daraus, dass sie ihr diese glattzüngige Reaktion nicht abnahm. Die Lippen verzogen sich zu einem schmalen Strich, der Klammergriff um Metas Taille wurde merklich gelockert. »Dann müssen wir uns ja keine Gedanken machen, wenn er sich mit der guten Reese Altenberg in der Horizontalen vergnügt, anstatt diese albernen Ölschinken zu bewerten, die sie von irgendeinem ihrer unzähligen Verwandten geerbt hat.«

Im letzten Augenblick schluckte Meta die ungläubige Frage, die ihr schon auf der Zunge lag, wieder hinunter. Die Gesichter ihrer Freundinnen verrieten sowieso die Antwort. Eves Mund glich nach wie vor einem Strich, was nichts anderes bedeutete, als dass Meta nur bekommen hatte, was sie verdiente. Während Sue mit dem Fingernagel die Kanten des Tisches abfuhr, schaute Marie sie unverändert mit sorgenvoller Miene an.

Wie nett, dachte Meta. Und damit kommen sie mir erst jetzt, nachdem wir den ganzen Abend miteinander verbracht haben. War es ihnen die Stunden zuvor entfallen? Oder haben sie mein Gesicht nach Spuren abgesucht, ob ich es nicht vielleicht schon wusste? Obwohl es ihrem Stolz zuwiderlief, nahm sie die frische Margarita an, die Sue fürsorglich geordert hatte, und trank sie aus. Ihr Magen zog sich kurz und schmerzhaft zusammen, aber dann war auch er zu betrunken, um sich weiter zu beschweren.

»Karl kann sich amüsieren, mit wem er will. Schließlich sind wir zurzeit kein Paar.« Herausfordernd schob Meta das Kinn vor, aber selbst in ihren Ohren klangen diese Worte nach kindischem Trotz. Schlimmer jedoch war, dass sie ihre Verletztheit nur schlecht verbergen konnte.

»Nun, das tut er ja auch ausgiebig, wie man so hört«, erklärte Eve mit einem schnippischen Ton, für den Meta ihr nur allzu gern den Cocktail über den Kopf gegossen hätte, wenn davon noch etwas im Glas gewesen wäre.

»Wir wollten nur vermeiden, dass du es hintenherum erfährst. Außerdem war es uns wichtig, herauszufinden, ob dich Karls Affäre nicht allzu sehr belastet.« Während Sue sprach, widmete sie die ganze Aufmerksamkeit ihren Fingernägeln, unter denen offensichtlich ein Splitter vom Tisch hängen geblieben war. Dabei übertönte ihre im Auktionshaus geschulte Stimme spielend leicht den Geräuschpegel des Restaurants, einer Mischung aus Salsamusik, Geschirrgeklapper und Gesprächsfetzen.

Wahrscheinlich haben euch Karls Affäre und meine Unwissenheit die Feierabende am Telefon versüßt, dachte Meta bissig. Doch im nächsten Augenblick schossen ihr Tränen in die Augen, und als Marie ihr tröstend übers Haar strich, hätte Meta sich fast gehenlassen. Wie leicht wäre es gewesen, einfach zu weinen und sich von ihren Freundinnen beschwichtigende Worte ins Ohr flüstern zu lassen, während sie ihr den Rücken tätschelten. Wie gut hätte ihr das Gefühl von Nähe und Vertrautheit getan, genau wie die Bestätigung, dass sie unter Karls Herzlosigkeit leiden durfte, ganz gleich, ob sie nun ein Paar waren oder nicht. Doch Meta kannte ihre Freundinnen zu gut und zu lange und erriet daher mühelos ihre Meinung zu diesem Thema: Ein Mann wie Karl gehörte an die lange Leine, und Meta standen überbordende Gefühle nicht gut zu Gesicht.

Als wolle sie Metas Überlegungen bestätigen, sagte Marie sanft: »Es ist ja so, wie du sagtest: Karl und du – im Augenblick seid ihr kein Paar.«

»Ja«, erwiderte Meta leise und ärgerte sich über das Zittern in ihrer Stimme. Ohne einen weiteren Kommentar abzuwarten, stand sie auf und griff nach ihrer Clutch, um ein paar Geldscheine hervorzuholen. »Nehmt es mir nicht übel, aber ich möchte jetzt gehen.«

»Warte«, sagte Marie und versuchte, eilig aufzustehen, aber ihr hautenger Rock machte ihr einen Strich durch die Rechnung. »Wir können uns doch ein Taxi teilen, so wie sonst auch immer.«

Meta war bereits auf dem Weg in Richtung Ausgang. »Lass nur. Die Nacht ist schön, und ich will noch ein paar Schritte laufen.«

»Laufen? Das ist doch wohl nicht dein Ernst.«

Meta ignorierte das ungläubige Schnaufen ihrer Freundinnen und eilte aus der Tapas-Bar.

Die Nacht war wirklich schön. Zwischen den Straßenschluchten hatte sich die Wärme des Tages gehalten, aber zu dieser späten Stunde ging ein leichter Wind, der die vielen erhitzten Nachtschwärmer ein wenig abkühlte. Alle Gedanken beiseitedrängend, tauchte Meta in die Menge ein und ließ sich treiben. Die vielen funkelnden Lichter fesselten sie, sorgten jedoch zugleich dafür, dass ihr zusehends schwindliger wurde. Ihre Sinne überschlugen sich, und inmitten des ausgelassenen Trubels sehnte sie sich plötzlich nach Halt. Halt, den es in ihrem Leben nicht gab, obwohl sich nach außen hin alles in perfekten Bahnen bewegte. Ihre Vorzeigefamilie, ihr spannender Beruf als Galeristin, Karl, der sicherlich bald wieder an ihre Türe klopfen würde.

Bevor das Unglück der letzten Wochen auf sie einstürmen konnte, beschleunigte Meta ihren Schritt, als sie plötzlich eine Lücke im Gedränge ausmachte ... als träten die Menschen, ohne es selbst zu bemerken, beiseite, um ihr einen geheimen Weg zu offenbaren. Ein Kellergang ... ein dunkler Ort, der sie magisch anzog ... Während Meta noch über diese märchenhafte Vorstellung staunte, fand sie sich an einer Bar wieder, mit einer halbleeren Margarita vor sich. Leicht verwirrt blickte sie sich um. Offensichtlich war sie in einem der vielen Clubs gelandet, die in den Kellerräumen dieser Straße zu finden waren. Auch hier war kaum mehr ein Fuß an den Boden zu kriegen, die zum Rhythmus wippenden Schatten standen dicht an dicht gedrängt. Zwar war der Raum – von einem gelegentlich blitzartigen Licht einmal abgesehen – in Dämmerlicht getaucht, laut und unerträglich stickig, aber genau das gefiel Meta. Ein wunderbarer Gegenentwurf zu ihrer Alltagswelt der Galerie und ihrem gestylten Apartment, in dem jeder Schritt hallte. Selbst die Farbe des Cocktails zauberte ihr ein Lächeln aufs Gesicht.

Da ihre Hände zitterten und ihr bereits ein Schwung des Getränks über die Finger gelaufen war, versuchte sie, jeden Anflug von Melancholie zu unterdrücken. »Amüsieren«, sagte sie zu sich selbst. Ein gutes Motto. Amüsieren klang so viel besser, als sich zu Hause allein die Augen auszuweinen.

Sie spürte eine Berührung am Arm und glaubte schon, dass Marie ihr vor lauter Sorge bis in den Club gefolgt war. Doch es war ein Fremder, der neben ihr an der Bar gestanden hatte und sich nun zum Gehen abwandte. Meta erhaschte nur noch einen Blick auf sein dunkles Haar und ein ebenso dunkles T-Shirt, aber eine Spur seines Geruchs blieb zurück und rief in ihr eine Flut von Impressionen wach. Frisch geschlagenes Holz und Laub, aber auch etwas Schwereres, das von einem Körper in Bewegung erzählte. Eindringlich, vielleicht sogar ein wenig zu herb, meinte ihre Nase, die von dem Duft prickelte. Meta schüttelte unbewusst den Kopf. Nein, er war perfekt. Obwohl der Geruch ihr ungewöhnlich intensiv erschien, hielt sie es keinesfalls für ein raffiniertes Aftershave mit der Note Moschus. Es roch echt, sehr echt.

Metas Mund verzog sich zu einem Lächeln, während ihr unzählige Bilder durch den Kopf wirbelten, hervorgerufen durch den Duft des fremden Mannes. Einige Vorstellungen waren derart sinnlicher Natur, dass sie sich fast verlegen umgeschaut hätte, ob nicht jemand sie beobachtete und die schmutzigen Gedanken von ihrem Gesicht ablesen konnte.

Herrgott, dachte sie. Keine Margarita mehr für die Lady, oder sie fängt noch an, sich an fremden Männern zu reiben. Doch halt: Warum eigentlich nicht? Ein bisschen Vergnügen konnte schließlich nicht schaden – sagte sie sich und schaute sich um. Der Club war inzwischen in ein gedämmtes goldenes Licht getaucht, in dem sich die umherschwirrenden Gäste als weiche Schatten abzeichneten. Außerdem fiel es Meta schwer, den Blick geradeaus gerichtet zu halten. Alles war in Bewegung, ein einziges Durcheinander, in dem vereinzelt Gesichter und glitzernder Schmuck auftauchten und sofort wieder verschwanden. Von einem leichten Schwindel gepackt, widmete Meta sich wieder ihrem Cocktail.

Doch lange hielt es sie nicht an der Bar. Der Duft dieses Mannes hatte ihre Lebensgeister geweckt, und unruhig rutschte sie auf dem Barhocker hin und her. Als sie sich schließlich einen Weg durch den überfüllten Club bahnte, stellte sie fest, dass sie das mittlerweile leere Cocktailglas immer noch in der Hand hielt. Sie versuchte, es auf einem der Stehtische abzustellen, verfehlte die Platte aber, so dass das Glas zu Boden fiel und zersprang. Eine junge Frau, die von einer Scherbe am Bein getroffen worden war, schimpfte laut. Meta nuschelte eine halbherzige Entschuldigung, dann verschwand sie zwischen den tanzenden Leibern. Sie war heilfroh über die allgegenwärtige Enge, denn sie war sich nicht sicher, ob sie sich ohne sie lange allein auf den Beinen gehalten hätte.

Sie bewegte sich zum treibenden Rhythmus der Musik, wobei sich vor ihrem geistigen Auge das Bild eines sich sanft wiegenden Algenteppichs verdichtete. Obwohl Meta arge Probleme mit ihrem Gleichgewichtssinn hatte, streckte sie ihre Arme in die Höhe und glaubte einen Augenblick lang zu sehen, wie die Sonne sich an der Wasseroberfläche brach und ein blaues Schimmern auf sie niedersank. Sie schwankte leicht nach hinten und lachte dabei. Jemand stützte sie am Ellbogen ab, und noch bevor Meta sich bedanken konnte, stieg ihr wieder dieser markante Duft in die Nase, der von dem dunklen Stoff eines T-Shirts direkt auf ihrer Augenhöhe aufstieg.

»Hallo«, sagte Meta gedehnt und schmiegte kurzerhand die Wange an das T-Shirt, um diesem übersinnlichen Geruch noch näher zu sein. Es fühlte sich gut an, warm und verschwitzt. Und darunter schien sich ein männlicher Oberkörper zu verbergen, der es durchaus mit dem anregenden Duft aufnehmen konnte.

Meta schloss die Augen und überließ sich dem leichten Schwindel, während ein Mann in ihrer unmittelbaren Nähe verwirrt auflachte. Sie spürte noch, wie sie bei den Oberarmen gepackt wurde, dann geriet hinter ihrer Stirn alles durcheinander.

Es war ihr unmöglich, zu sagen, wie lange sie einfach so mit geschlossenen Augen dagestanden hatte. In der samtigen Dunkelheit fühlte sie sich geborgen, während sich ihre Glieder seltsam schwerelos anfühlten. Sie zwang ihre Augenlider erst wieder auf, als sie das Kratzen von Bartstoppeln auf ihrer Wange spürte. Die Musik war nicht mehr laut, sondern ein vibrierendes Pochen im Hintergrund, das ihren Körper erbeben ließ, während das Licht mit einem Mal sanft und diesig war.

Meta versuchte, sich zu konzentrieren, vor allem, weil die Umarmung, die sie eben noch auf den Füßen gehalten hatte, gelockert wurde. Nur einen Hauch von ihr entfernt streifte sich der Unbekannte das schwarze T-Shirt über den Kopf, wie sie erstaunt feststellte. Noch mehr erstaunt war sie allerdings, als der körperwarme Stoff ihren nackten Busen streifte. Benommen bemerkte sie, dass ihr Kleid um ihre Fußknöchel drapiert dalag und sie allem Anschein nach nur in Slip und T-Straps auf der Tanzfläche stand.

Vor Schreck hätte sie sich beinahe auf den Boden sinken lassen, dann wurde ihr bewusst, dass sie schon längst nicht mehr in dem überfüllten Club tanzte. Vor ihr zeichnete sich im Gegenlicht ein muskulöser Oberkörper ab, dessen Brust mit dunklen Haaren übersät war. Wow, schoss es Meta durch den Kopf. Dabei hatte sie so etwas eigentlich nie ausstehen können. Leicht wankend, streckte sie die Hand aus, um mit den Fingern durch die Brusthaare zu fahren.

Das Nächste, woran sie sich entsinnen konnte, waren kräftige Finger in ihrem Mund, an denen sie leidenschaftlich leckte. Sie schmeckten nach Margarita und etwas anderem. Aber bevor Meta hinter dieses Geheimnis kommen konnte, kitzelte sie eine Zunge unterhalb ihres Bauches. Vor Überraschung spannte sie die Bauchmuskeln an. Augenblicklich stieg Übelkeit ihre Kehle hoch, und die Ahnung von Margaritas weckte überhaupt keine aufregenden Bilder mehr.

Stöhnend richtete Meta sich auf und begriff erst in diesem Moment, dass sie auf dem Rücken lag, splitternackt, mit angewinkelten Beinen. Sie griff in das dunkle Haar des Fremden und schob seinen Kopf fort, so dass sie sich auf die Seite legen konnte. Dabei atmete sie tief ein und krallte ihre Finger in einen rot gebatikten Bettbezug, den sie noch nie in ihren Leben gesehen hatte. Hinter ihr geriet die Matratze in Bewegung, und ein verschwitzter Körper drängte sich an ihren Rücken, streifte ihren Hintern. Sie spürte den Atem des Fremden in ihrem Nacken, den er voller Leidenschaft zu küssen begann. Dazwischen biss er immer wieder einmal leicht zu, während seine Hand über ihre Hüfte wanderte.

Trotz der Übelkeit gab Meta sich den Liebkosungen hin, bis der Arm, auf dem sie sich abstützte, nachgab und ihr unbekannter Liebhaber, der ihr Verhalten missverstand, sie kurzerhand auf den Bauch drehte. Bevor sie protestieren konnte, sank sie benommen in die Kissen.

Als sie wieder auftauchte, hatte er sie schon auf alle viere hochgezogen, und Metas Arme drohten unter seinen Stößen erneut nachzugeben. Trotzdem war der eben noch rebellierende Magen vergessen. Ihr ganzer Körper war ein einziges Glühen und Pochen, das sich nach den Erschütterungen des Fremden sehnte. Meta gab sich ihrer Lust hin und nahm ihren Gespielen erst wieder wahr, als er auf sie niedersank. Sie spürte seinen prickelnden Bartschatten auf ihrer Schulter, auf die er seinen Kopf gebettet hatte. Sie spürte die verschwitzte Hitze seiner Haut, mit der er sie bedeckte, den tiefen Atem, als seine Brust sich vor Erschöpfung hob und senkte. Dann schlief Meta ein.

Kapitel 2

Herbsterwachen

Aus einer Musikanlage dudelte, unterlegt mit einem feinen Knacken, Gesang.

Jesus walking an the water, sweet Jesus walking in the sky.

Wer war das, die Violent Femmes?

Einen Augenblick lang geisterte der wirre Gedanke an eine Zeitreise durch Metas Kopf – war sie vielleicht wieder die Kunstgeschichtsstudentin, deren WG-Genossinnen nicht einmal am frühen Morgen vor Rockmusik zurückschreckten? Doch diese Vorstellung wurde sofort von einem dumpf pochenden Schmerz beendet, der Meta gut vertraut war. Genau wie der ausgetrocknete Mund und die Säuregrube in ihrem Bauch. Das Pochen zwischen ihren Schenkeln erinnerte sie daran, dass ihr nicht nur ein grauenhafter Kater, sondern auch die Begegnung mit ihrem unbekannten Liebhaber der letzten Nacht bevorstand. Denn dass die Nacht vorbei war, verriet das monotone Verkehrsrauschen, das mit der kühlen Luft ins Zimmer getragen wurde.

Widerwillig öffnete Meta die Augen und blinzelte ins graue Morgenlicht. Zu ihrer Erleichterung fand sie sich allein auf dem Bett wieder. Auf einer Matratze auf dem Boden, wie sie sich sogleich korrigierte. Ein schmaler Raum mit hohen, roh verputzten Wänden und altersschwachen Doppelfenstern, von denen eins einen Spalt weit geöffnet war. In einer Ecke stand neben einer Stereoanlage, aus der die anstrengende Musik erklang, ein Karton, der bis obenhin mit Kleidung vollgestopft war. In was für einer Absteige war sie bloß gelandet?

Auf dem Dielenboden entdeckte Meta zu ihrer Erleichterung einen Zipfel ihres Kleides. Als sie sich jedoch hastig aufsetzen wollte, um danach zu greifen, überkam sie schlagartig Übelkeit, und sie ließ sich langsam wieder in das Kissen zurücksinken.

Während sie mit ihrem widerspenstigen Körper um die Gewalthoheit kämpfte, wanderte ihr Blick zu einer offen stehenden Tür, aus der Wasserdampf wallte. Mit pochendem Herzen erblickte sie die seitliche Körperlinie eines Mannes. Ein nackter Oberkörper, Jeans, barfuß. Angezogen von diesem Anblick, richtete Meta sich ein wenig auf, bis sie einen Oberarm zu sehen bekam, über dessen Ellbogen eine dunkelviolette Prellung aufblitzte. Dann blickte sie in das Gesicht des Mannes, indem sie in den Spiegel schaute, vor dem er stand und sich rasierte.

Er hatte den Kopf leicht in den Nacken gelegt und schabte mit der Rasierklinge den Schaum von der Kehle weg. Eine langsame, selbstversunkene Bewegung, die Klinge von unten nach oben führend. Obwohl seine Augen auf den Spiegel gerichtet waren, schien er sich nicht zu sehen. Auch dass Meta sich im Zimmer regte, entging ihm wohl. Konzentriert spülte er die Klinge unter dem fließenden Wasser ab, bevor er sie erneut ansetzte.

Meta raffte die Decke vor der Brust zusammen und nahm den Anblick in sich auf, denn sie befürchtete, später keinen direkten Blick, von Angesicht zu Angesicht, mehr wagen zu können – nicht nach dieser Nacht. Sollte sie die Neugierde auch noch so sehr quälen.

Die Art, wie dieser halbnackte Mann sich vor dem Spiegel rasierte, irritierte sie. Sie versuchte, sich diesen Anblick als Gemälde vorzustellen. Kein Bild, für das ihre Kollegen einen Markt gesehen hätten: zu altmodisch und auch einen Tick zu archaisch, eine Art rauer Eros. Was konnte man heutzutage mit einem so antiquierten Bild von Männlichkeit schon anfangen?, hörte sie sie philosophieren. Die Männer, mit denen sich Meta für gewöhnlich umgab, waren von einem ganz anderen Schlag: gebildet, schmal und biegsam – Männer von Welt, moderne Männer eben. Trotzdem konnte sie ihren Blick nicht von diesem seltsamen Exemplar lösen.

Der Mann hatte dunkles, etwa streichholzkurzes Haar, das vor Nässe strubbelig abstand. Beim Rasieren vernachlässigte er die Konturen seiner Koteletten, so dass sie eigentlich viel zu lang und zu breit waren. Die Gesichtszüge waren ausgesprochen scharf geschnitten, hohe Wangenknochen, schwarze gerade Brauen und eine markante Nase dominierten das Gesicht. Die Augen standen eine Spur zu dicht beisammen, und gemeinsam mit dem schwarzen Wimpernkranz strahlten sie eine Eindringlichkeit aus, der Meta sich nicht entziehen konnte. Im Gegenteil – sie waren so aufsehenerregend, dass sie ihr einen Schauer über den Rücken jagten. Die untere Augenpartie war leicht geschwollen und dunkel verfärbt, was nach der letzten Nacht jedoch kein Wunder war. Das passte auch zu dem blassgrauen Film, der die natürliche Bräune der Hautfarbe abschwächte. Doch als der Mann den Kopf zur Seite drehte, erkannte Meta, dass es keineswegs nur Augenschatten waren. Unter dem linken Auge prangte ein Bluterguss, der von einer verschorften Platzwunde gekrönt wurde. Überrascht vom Anblick dieser Verletzung ließ Meta sich zurück ins Kissen fallen.

Einen Augenblick später legte der Mann die Rasierklinge beiseite, griff sich ein Handtuch und trat ins Zimmer. Während er sich die letzten Schaumspuren aus dem Gesicht wischte, sah er Meta schweigend an. Sattgesehen?, schien er sie zu fragen. Er hatte ihren neugierigen Blick also doch bemerkt und ihr die Zeit zugestanden, ihn ausgiebig zu beobachten.

Wortlos hängte er das Handtuch über einen Holzstuhl neben der Tür, dann ging er zu dem Karton hinüber. Metas Blick hing unverwandt an ihm, aber als sie einige vernarbte Striemen auf seinem Rücken entdeckte, griff sie nach ihrem Kleid und floh ins Badezimmer.

Immer schön durchatmen, redete Meta auf sich ein, während sie sich hastig abduschte und dabei mit zittrigen Fingern ihren Körper inspizierte. Alles noch an Ort und Stelle, stellte sie erleichtert fest. Und so wird es auch bleiben. Wenigstens hatte der Adrenalinschub ihrem Kater ein Ende bereitet.

Mit den Fingerspitzen wischte sie den Wasserdunst vom Spiegel und musterte sich rasch, bevor er wieder beschlug. Ihr schmales Gesicht war bleich wie immer, nur ihre Lippen waren eine Spur geschwollen. Mit den Fingern kämmte sie durch ihr Haar, das ein Stück über das Kinn reichte, und strich es sich hinter die Ohren.

Du ziehst dir jetzt dein Kleid an, schnappst dir Handtasche und Schuhe, rufst noch einmal »Ciao« über die Schulter und suchst dir auf der Straße ein Taxi, versprach sie ihrem zerrüttet aussehenden Spiegelbild. Und danach wird diese Nacht unter dem Motto »One-Night-Stand – nicht zum Weitererzählen geeignet« abgelegt.

Als Meta durch den Türspalt linste, war von dem dunkelhaarigen Mann keine Spur zu sehen. Auf der glattgestrichenen Bettdecke lag ihre mit Kristallen besetzte Clutch, davor standen ihre T-Straps, als müsse sie nur noch in sie hineinspringen und durch die Tür am anderen Ende des Zimmers ins Freie flüchten.

Aus dem Raum neben dem Badezimmer erklang das Scheppern von Geschirr, und Meta sog Kaffeeduft ein. Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, stand sie im Türrahmen und spähte in die Küche, die einem Verschlag glich, obwohl durch eine Fensterluke Sonnenlicht einfiel. Zu ihrer Enttäuschung hatte sich der Mann ein Hemd übergezogen. Er warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu, dann holte er von einem Regal eine zweite Tasse herunter und schenkte Kaffee ein. Offensichtlich hatte er nicht damit gerechnet, dass Meta sich zu ihm in die Küche verirren würde, da er ihr doch den Fluchtweg freigehalten hatte.

»Guten Morgen«, sagte er, als er ihr die Tasse hinhielt. Er versuchte sich an einem Lächeln, das seine Augen jedoch nicht erreichte. Diese leuchteten in einem tiefen Blau, eingegrenzt von einem Band, das von seinem schattigen Farbton her an jene Linie erinnerte, die den Horizont markiert. Eine betörende Komposition.

»Der Kaffee macht ihn auf jeden Fall besser«, erwiderte Meta und wusste dann nicht weiter. Um ihre Verlegenheit zu überwinden, trank sie einen Schluck und stellte erleichtert fest, dass ihr Magen die warme Flüssigkeit gnädig aufnahm. »Ich heiße übrigens Meta.«

»David.« Eine tiefe Stimme mit einem leicht verhaltenen Ton, der vermuten ließ, dass dieser Mann lieber leise sprach.

Meta musste sich eingestehen, dass David auch frisch geduscht noch sehr anziehend roch. Während sie ihn dabei beobachtete, wie er einen Schluck Kaffee trank, durchfuhr sie plötzlich eine Erkenntnis: Dieser Mann war definitiv ein paar Jahre jünger als sie, höchstens Mitte zwanzig. Sein dunkler Typ und die ernsthafte Ausstrahlung mochten zunächst darüber hinweggetäuscht haben, aber nun im Morgenlicht blieb kein Zweifel. Ein Student, dachte Meta. Oder schlimmer: irgendein heruntergekommener Schläger, wenn man seine alten und frischen Verletzungen bedachte.

Während sie vor lauter Verlegenheit ihre Aufmerksamkeit dem Schlafzimmer zuwandte, in dem noch immer die Musik von Violent Femmes lief, blieb ihr Blick an einem Bild hängen, das unter einem der Fenster an der Wand lehnte.

Ein streng geometrisch aufgeteiltes Bild mit exakt umrissenen Flächen, die wie mit einem Chirurgenbesteck herausgeschnitten und fein säuberlich zusammengesetzt wirkten. Blasse Farben, kaum Akzente oder gar ein Lichtspiel. Meta glaubte, von einer ungewöhnlichen Perspektive aus auf den Ausschnitt eines modernen Bauwerks zu blicken. In dem Bild gab es etwas Vertrautes, und sie war kurz davor, es zu fassen zu bekommen.

»Das ist interessant – von wem ist das?«, fragte sie und wollte schon auf das Bild zugehen. Dann spürte sie, dass die Stimmung mit einem Mal von einer Anspannung in nur mühevoll verborgene Ungeduld umgeschlagen war. Augenblicklich bereute sie ihren Abstecher in die Küche.

David stellte die Tasse in die Spüle, dann rieb er sich mit der flachen Hand über den Mund und sah Meta nachdenklich an. »Es tut mir wirklich leid ...«, setzte er an. »Ich weiß, es klingt wahrscheinlich wie eine billige Ausrede, aber ich bin noch verabredet und muss jetzt wirklich langsam los. Etwas Wichtiges.«

Meta fuhr zusammen, als habe er ihr eine Unflätigkeit an den Kopf geworfen. Ihre Mundwinkel zuckten zu einem künstlichen Lächeln nach oben, aber selbst dies misslang. Mit einer fahrigen Geste stellte sie die Tasse ab und ging zu ihren Sachen.

David blieb mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen. »Wenn ich nicht verabredet wäre, könnten wir ruhig –«

»Nein, lass gut sein«, schnitt Meta ihm das Wort ab und ging mit schnellen Schritten auf die Ausgangstür zu.

»Warum lässt du mir nicht einfach deine Telefonnummer da?«, fragte David, der nun hinter ihr herlief.

Meta warf ihm einen spöttischen Blick zu, den sie sogleich bereute. Anscheinend tat ihm der grobe Korb, den er ihr erteilt hatte, leid. Ich sollte wirklich nicht eingeschnappt reagieren, sagte sich Meta, während sie in der offenen Tür stand. Schließlich habe ich mich aufgedrängt.

»Mach’s gut«, sagte sie so freundlich, wie es ihr unter diesen Umständen möglich war, und gönnte sich noch einen Blick in seine ausdrucksstarken blauen Augen. Dann zog sie die Tür hinter sich ins Schloss, bevor David noch etwas sagen konnte, und hastete die verwahrloste Treppe hinunter. Draußen wehte ihr ein kühler Wind entgegen. Der Sommer war endgültig vorbei.

Kapitel 3

Die Abrechnung

David bog um die Häuserecke und war froh, trotz der Eile nach seiner Jacke gegriffen zu haben. Irgendwann in der Nacht hatte der Wind deutlich aufgefrischt und wehte ihm jetzt so herb ins Gesicht, dass die bohrenden Kopfschmerzen vom Wodka mit einem Schlag vergessen waren.

Unwillkürlich fuhr David mit den Fingerspitzen über seine geschwollenen Lippen und war sich dabei nur allzu bewusst, wie der Stoff des Hemdes bei jeder Bewegung über seine wundgebissene Brust rieb – vor lauter Leidenschaft war sie nicht gerade sanft mit ihm umgesprungen. Wenn er nicht so betrunken gewesen wäre, hätte er sich vielleicht verblüfft zurückgezogen. Aber letzte Nacht hatte sich einfach alles richtig angefühlt, seit dem Moment, in dem sie sich gegen seine Brust geschmiegt hatte.

Bei der Erinnerung daran wurden Davids Schritte langsamer, bis er versunken stehen blieb. Er sah wieder, wie sie nackt auf seinem Bett lag, die Arme weit über den Kopf gestreckt, den Rücken durchgebogen. Ein blasser, viel zu filigraner Körper. Das Geflecht von Adern, dicht unter ihrer Haut, pulsierend. Alles an ihr hatte nur darauf gewartet, dass er sich endlich niederließ und sie berührte. Keinen einzigen Gedanken hatte er daran verschwendet, wie unwirklich es war, einer fremden Frau so nahe zu kommen, wie sehr sein Gefühl, als sei ihm jeder Zentimeter ihrer Haut vertraut, der Wirklichkeit widersprach. Er hatte nicht mal einen Anflug von Hemmung verspürt.

Als David plötzlich eine Berührung am Oberschenkel wahrnahm, machte er vor Überraschung einen Satz nach hinten. Doch im nächsten Moment fasste er sich wieder und warf dem Hund einen strafenden Blick zu, der winselnd die Ohren anlegte und verlegen dreinblickte.

»Burek, wenn du dich noch einmal so anschleichst, gibt es einen Tritt. Dasselbe gilt auch für dich, Jannik«, begrüßte David seinen Freund, der in diesem Moment vor ihm zum Stehen kam.

»Du bist verdammt spät dran«, erklärte Jannik, der seinem Hund kurz über den Kopf strich und sich dann an Davids Seite gesellte. Den Reißverschluss seiner Jacke hatte er bis zum Anschlag hochgezogen, so dass der aufgestellte Kragen sein Kinn verdeckte. Die Hände steckten in den Taschen, und den Kopf hatte er zwischen die Schultern gezogen, als wäre er kurz vorm Erfrieren. Doch das war keineswegs der Fall: Jannik hielt diese Körperhaltung für einen Ausdruck von Coolness, während sie bei David den Eindruck hervorrief, es mit einem Schuljungen zu tun zu haben.

Jannik grinste. »Außerdem riechst du immer noch nach Sex und Alkohol – eine seltene Mischung in der letzten Zeit.«

»Ich weiß.« David setzte sich in Bewegung, wobei er sich zwingen musste, nicht zu laufen. Er brauchte auf keine Uhr zu blicken, um zu wissen, dass er schon zu viel Zeit verloren hatte. In seinem Nacken hatte sich ein drohendes Kribbeln ausgebreitet, das sich rasch zu einem festen Griff verdichten konnte, wenn er nicht endlich einen Schritt schneller ging.

»Sie werden dich mit diesem heißen Ritt aufziehen.«

»Ich weiß«, erwiderte David ruppig. »Aber ich kann es nun einmal nicht ändern, okay?«

Jannik lachte verhalten, während er versuchte, mit David Schritt zu halten. »Die letzte Nacht hat sie alle total wild gemacht, diese alten Scheißer. Ich war noch nicht mal richtig wach, da haben die sich schon die Mäuler zerfetzt. Muss ja ganz schön gebumst haben bei dir, wenn ich das richtig mitbekommen habe. Wie wäre es mit einer kleinen Berichterstattung?«

»Nun gib schon Ruhe«, blockte David ab, stimmte dann aber selbst leise ins Gelächter ein, obwohl er versuchte, es hinter dem Schild seiner Baseballkappe zu verbergen.

Jannik hingegen machte es nichts aus, der Welt sein Lächeln zu zeigen. Seine Züge schienen wie gemacht für ein gut gelauntes Strahlen. Während David darüber nachdachte, verging ihm der Frohsinn. Schließlich lebten sie beide nicht in einer Welt, in der man ungestraft über die Straßen schlenderte und über erotische Ausschweifungen plauderte. Janniks unkompliziertes Wesen mochte zwar dazu einladen, aber David kam es so vor, als spränge er vor lauter Übermut auf einer Falltür herum, die jeden Moment aufschnappen und ihn in die Tiefe stürzen lassen konnte. Als ihr Ziel sich im unablässigen Nebeneinander der Hausfassaden abzeichnete, hätte er dem immer noch unbekümmert lächelnden Jannik am liebsten den Ellbogen in die Seite gerammt.

Obwohl die Straße abseits der Hauptschlagadern der Stadt lag, fuhren auch hier unentwegt Autos entlang. Nur die Gehwege waren verwaist – ein Kennzeichen dieser Stadt, in der sich kaum jemand zu einem Spaziergang berufen fühlte. Lieber rottete man sich in den Bussen und U-Bahnen zusammen, als könnte der Herdenschutz alles Unangenehme aufwiegen. Doch in der Straße, auf die David und Jannik zuhielten, nahm auch der Straßenverkehr auf unerklärliche Weise ab. Sie lag verlassen. Trotz der unzähligen Fenster erschien der Gedanke seltsam, dass sich hinter den Scheiben tatsächlich Leben abspielte. Es war, als gäbe es nur Asphalt und Mauerwerk. Selbst der Himmel zeigte sich inzwischen in einem Grau, das an schmutzigen Putz erinnerte.

Als die beiden jungen Männer vor dem Stadtpalais hielten und verlegen von einem Bein aufs andere traten, musterte David es voller Argwohn: Die meisten Gebäude der Stadt sahen wenig einladend aus, weil der Schmutz und die Abgase sich wie eine Patina über alle Fassaden legte. Aber dieser Palazzo, der sich zu beiden Seiten an gewöhnliche Mietblöcke lehnte, wirkte wie ein Fremdkörper. Das lag zum einen an seiner optischen Erscheinung. David zog jedes Mal die Nase kraus, wenn er davorstand. Der Bauherr hatte wahrscheinlich unter einem Überschuss an Nostalgie gelitten und dem Architekten seine verschwommene Vorstellung von einem venezianischen Palais aufgezwungen. Das Ergebnis, reichlich Stuckwerk und verzierte Bogenfenster, sah in diesem Sozialbau-Viertel wie ein schlechter Witz aus. Ein sich langsam auflösender Witz, wie die bröckelige Fassade belegte. Zum anderen aber war das Gebäude von einer selbst für diese Stadt unvergleichlich düsteren Aura umgeben. Hier hinein setzte niemand freiwillig einen Fuß.

»Du bist wirklich spät dran«, sagte Jannik, und seine großen Kinderaugen blinzelten David an.

Nur mit Mühe gelang es David, eine grobe Entgegnung für sich zu behalten. Schließlich hatte Jannik Recht. Trotzdem zögerte er und rieb seine feuchten Handflächen an der Jeans trocken. »Willst du nicht drinnen auf mich warten?«, fragte er Jannik noch, während er schon die Treppen zur Eingangstür hinaufstieg. Aber Jannik winkte nur ab, setzte sich mit Burek zwischen seinen Knien auf die unterste Stufe und machte sich daran, eine Zigarette zu drehen. David warf ihm noch einen neidischen Blick zu, weil sein Freund nicht mit hineingehen musste, dann schob er die schräg in den Angeln hängende Tür auf und verschwand im dunklen Hausflur.

»Na, du Penner«, begrüßte ihn Malik, der unten im Foyer auf einem Stuhl saß und in einer Sportillustrierten blätterte. »Was war denn das für eine Party letzte Nacht? Eure Herrlichkeit kann es gar nicht erwarten, dich in die Finger zu kriegen. Er bittet dich in den Audienzsaal. Hoffentlich hast du dir eine gute Ausrede zurechtgelegt. Aber so, wie du riechst, wirst du wohl kaum dazu gekommen sein.«

David nickte ihm kurz zu und stieg dann die sanft geschwungene Treppe hinauf – oder besser: die verbliebenen Reste davon. Irgendwann einmal hatte jemand beschlossen, das Innenleben des Palais umfassend zu überholen, aber die Arbeiten waren nie zu Ende geführt worden. Bei der breiten Treppe, dem Herzstück des Gebäudes, fehlte das Geländer, und was auch immer die Stufen einmal bekleidet haben mochte, hatte nur einige Klebespuren auf dem Zement hinterlassen. Die hohen Wände waren früher einmal in hoheitlichem Blau erstrahlt, aber jemand hatte ohne System Farbkleckse auf ihnen verteilt, als habe man nach einer passenden Farbe gesucht, sie aber nie gefunden. Flure, Foyer und Treppenschacht waren erst halb fertig und doch schon wieder verwahrlost.

Als David den Audienzsaal betrat, der einen Großteil des ersten Stocks einnahm, stellte er erleichtert fest, dass er verlassen dalag. Dankbar für jede Minute Aufschub sah er sich um, während ihm der Widerhall seiner eigenen Schritte unangenehm auffiel. Er war erst einige Male hierherbestellt worden und hatte nie die Gelegenheit gehabt, sich eine Vorstellung von diesem großen, nahezu leeren Raum zu machen.

Trotz der vielen hohen Fenster fiel nur spärliches Licht ein, da das gegenüberliegende Haus das Palais überragte. Die Wände zeigten sich in einem rauchigen Lavendelton, wo sie nicht von offen liegenden Leitungen durchbrochen waren. Inmitten des Raums stand ein gewaltiger Tisch, über dem eine Pelzdecke mit Brandlöchern und Schmutzflecken ausgebreitet lag.

Gegen die Kühle des Raumes arbeitete ein Heizlüfter an. Die umhergewirbelte Luft war schwer von einem Strauß Lilien, der neben einer Designer-Musikanlage an der Wand stand. Der süßliche Duft nach Verwesung setzte sich in Davids Nase fest, so dass er automatisch ein Würgegefühl verspürte. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch von einer Decke angezogen, die zerwühlt in der Ecke lag. Oder etwas abdeckte. David wollte es nicht so genau wissen. Doch je länger er im Audienzsaal stand, desto mehr setzte ihm der penetrante Geruch zu, bis er schließlich begriff, dass er noch etwas anderes wahrnahm ... etwas Verbranntes.

Gerade als David sich dabei ertappte, wie er langsam rückwärts zum Ausgang schritt, öffnete sich eine Seitentür, und Hagen trat ein. Ohne erkennen zu lassen, was ihm durch den Kopf ging, musterte er David eingehend. Dann schloss er die Tür und stellte sich hinter die Breitseite des Tisches. Er hielt den Blick nach wie vor auf David gerichtet, der mit einem störrischen Zug um den Mund zurückstarrte.

Durch die Seitentür drang die helle Stimme einer Frau, die ununterbrochen etwas erzählte. Amelia führte offensichtlich ein Telefonat, und David war äußerst dankbar dafür. Es reichte ihm vollkommen, Hagens Missmut ausgeliefert zu sein – auf Publikum konnte er gern verzichten. Vor allem wenn es sich dabei um die Gefährtin seines Anführers handelte, die für ihre schneidenden Kommentare berüchtigt war.

Hagens außergewöhnlich kräftige Finger strichen durch den verdreckten Pelz, während David regungslos auf den ersten Zug seines Gegenübers wartete. Doch Hagen verlor sich in der Liebkosung des Fells, und je länger David auf die streichelnde Hand blickte, desto stärker wurde das Kribbeln in seinem Nacken. Als streichle ihn jemand, jemand, der ihn erregen wollte. Gereizt biss er die Zähne aufeinander, und als Hagen ihn endlich anlächelte, war sein Kiefer so verspannt, dass er es kaum erwidern konnte.

»Ist dir vielleicht kalt, David? Nein? Und warum ziehst du dann deine Jacke nicht aus und kommst ein wenig näher?«

Hagens Bariton klang wie immer zu laut in Davids Ohren, und die Vorstellung, sich diesem Mann zu nähern, ließ ihn innerlich zusammenzucken. Seine Erscheinung mit der zur Schau gestellten Virilität schürte sein Misstrauen: das stoppelige Gesicht, die dunkle Kleidung und die derben Lederstiefel. Seht her, schien die Verkleidung zu sagen, ich bin ein ganzer Kerl, ein geborener Anführer, geradlinig und respektabel – ihr könnt mir vertrauen. All das glaubte David ihm nicht. Das seltsame Palais und die verschmutzte Pelzdecke sagten viel mehr über Hagens Wesen aus. Allerdings etwas, das David nur bruchstückhaft in Worte fassen konnte.

Plötzlich sprang Hagen mit einem Satz über den Tisch und landete gezielt vor David. Vor Zorn zog er die Oberlippe hoch und entblößte seine Zähne, während er ihn herausfordernd anstierte. Dann versetzte Hagen ihm blitzartig einen Schlag mit der geballten Faust ins Gesicht. Seine Fingerknöchel schlugen gegen Davids Wangenknochen und ließen die gerade erst verheilte Wunde unter dem Auge erneut aufplatzen.

David taumelte einen Schritt zurück, unterdrückte allerdings den Impuls, nach der brennenden Stelle zu tasten oder sich gar zur Wehr zu setzen. Demonstrativ ließ er seine Arme hängen, denn er wollte Hagen auf keinen Fall herausfordern. Doch der hatte seinen Zorn bereits wieder unter Kontrolle und sah David abermals nut einem prüfenden Blick an, der fast noch unangenehmer war als seine leicht auflodernde Gewalttätigkeit.

»Wirst du jetzt bitte so höflich sein und die Jacke ausziehen?«, fragte Hagen, wobei er sich die Fingerknöchel massierte.

Widerwillig zog David seine Lederjacke aus und ließ sie neben sich auf den Boden fallen. Hagen lächelte zufrieden, dann ging er zum Tisch hinüber und lehnte sich rücklings dagegen. Als Hagen ihn zu sich winkte, folgte David der Aufforderung dieses Mal ohne Zögern, auch wenn er einen gewissen Abstand wahrte. Er hatte nun erkannt, dass der brennende Geruch, der ihm zunehmend zu schaffen machte, von Hagen ausging, als habe der Mann gerade noch neben einem Feuer gestanden. David vermutete jedoch, dass dieser Gestank von etwas ausgelöst wurde, das weitaus unangenehmeren Ursprungs war als ein loderndes Feuer.