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Über den Autor

Professor Dr. Hanno Beck,

Professor für die Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Bonn und Leiter des Amtes für Forschung der Humboldt-Gesellschaft, gilt als bedeutendster Humboldt-Forscher der Gegenwart. Er hat sich durch zahlreiche Publikationen auf dem Gebiet der Geschichte der Geographie und der Reisen international einen Namen gemacht. Er ist Träger der Goldenen Humboldt Medaille.

Zum Buch

Aus dem Kapitel Reise von Miask nach Orenburg.

„Humboldt setzte noch in der Nacht [18. September 1829] die Fahrt nach Orenburg fort und erhielt hier erstmals, wie jeder Reisende, eine stärkere Kosaken-Eskorte als Schutz. Die Grenze von Orsk bis Orenburg galt damals als eine der unsichersten Russlands. Kirgisen fielen oft in das russische Gebiet ein und raubten Menschen ixnd Vieh. Die Menschen wurden nach China als Sklaven verkauft, wo Russen als Arbeiter in den Bewässerungsanlagen besonders geschätzt wurden. Zwischen den Redouten und Festungen waren noch hölzerne Warttürme aufgestellt worden, deren Posten weit in die Steppen hineinsehen und Kirgisenhorden durch Feuerzeichen oder Boten melden konnten“

Alexander Freiherr von Humboldt wurde am 14. September 1769 in Berlin geboren. 1787 ging er an die Viadrina nach Frankfurt an der Oder und belegte Kameralistik, Altertumswissenschaften, Medizin, Physik und Mathematik. 1789 wechselte er nach Göttingen und studierte dort Physik und Chemie, u.a. bei Georg Christoph Lichtenberg. Mit dem Ziel des Erkenntnisgewinns studierte er in Hamburg Wirtschaft und Fremdsprachen, in Freiberg Geologie und in Jena Anatomie und Astronomie. Von 1799 – 1804 war er auf seiner berühmten Südamerika-Expedition mit Aimé Bonpland. 1805 wurde Humboldt zum königlich-preußischen Kammerherrn ernannt und in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen.

1829 folgte er einer Einladung des russischen Zaren Nikolaus I. und bereiste Gebiete östlich des Urals, nach Sibirien bis zur chinesischen Grenze, von der sich der Zar Informationen über Verbesserungen im Bergbau versprach. Er legte mit C.G. Ehrenberg und G. Rose innerhalb eines halben Jahres rund 15.000 Kilometer zurück – in Kutschen! Das Ergebnis der Expedition war eine Fülle neuer Erkenntnisse. Alexander von Humboldt starb am 06. Mai 1859 in Berlin.

ALTE ABENTEUERLICHE REISEBERICHTE

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Alexander von Humboldt

Alexander von Humboldt

REISE DURCHS
BALTIKUM NACH
RUSSLAND UND
SIBIRIEN 1829

Rekonstruiert und kommentiert

von

Hanno Beck

Mit 36 Abbildungen und 3 Karten

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Der Text wurde behutsam aktualisiert und revidiert nach der Ausgabe Beck, Hanno: Alexander von Humboldts Amerikanische Reise durchs Baltikum nach Russland und Sibirien 1829/aufgezeichnet von Hanno Beck – Lenningen: Edition Erdmann, 2004 (Alte, abenteuerliche Reiseberichte)
Korrekturen : Dietmar Urmes, Bottrop
Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH, nach der Gestaltung von Nele Schütz Design, München
Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin
eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0073-0

www.marixverlag.de

INHALT

Einleitung

Die russisch-sibirische Reise
Alexander von Humboldts 1829

Eine Einführung

Alexander von Humboldt – kurzer Blick auf den Lebensweg

Charakterzüge der Russland- und Sibirien-Reise A. v. Humboldts

A. v. Humboldts schwieriger Weg nach Russland und Sibirien

Voraussetzungen der russisch-sibirischen Reise

Briefwechsel mit Cancrin

Die Anreise: Berlin – Königsberg – Dorpat – St. Petersburg (Leningrad)

»Liebenswürdige Einförmigkeit« der Gegend

Aufenthalt in St. Petersburg

Beim Zaren Nikolaus I.

Auf der Kaiserstrasse von St. Petersburg nach Moskau

Wasserscheide Ostsee – Kaspi-See

In Moskau

»Ewige Repräsentation«

Die Route Moskau – Kasan – Ural – Jekaterinburg

Der erste Transport von Verbannten

Aufenthalt in Jekaterinburg

»Wie ein Kranker unter der Achsel geführt«

Von Jekaterinburg nach Tobolsk

Humboldt: »Eine kleine Erweiterung unserer Reisepläne«

Zum Altai

Mücken- und Fliegenplage – sibirische Pest

Im Altai

Erzbergbau – »schreckhafter Silber-Verlust«

Von Ust-Kamenogorsk zur chinesischen Grenze

»Orinoco Plus Epauletten« – In China

Vom Altai zum südlichen Ural

Kosaken-»Linien« – Eine Kosakenschule

Aufenthalt in Miask – Exkursionen in die Umgebung und nach Slatoust

Erster Diamantenfund – Lenins Großvater

Reise von Miask nach Orenburg – Aufenthalt in Orenburg

J. Witkiewicz: Mit 14 Jahren verbannt

Von Orenburg zum Elton-See, nach Zarizyn (Wolgograd) und Astrachan

Erneute Routenänderung – Wolgadeutsche

Aufenthalt in Astrachan – Fahrt auf dem Kaspi-See

Rückreise von Astrachan – Zweiter Aufenthalt in Moskau

Moskau: »Wie Spandau«

Zweiter Aufenthalt in St. Petersburg

Das Schicksal polnischer Verbannter · Rückfahrt nach Berlin

Erscheinung und Auftreten Humboldts in Russland – Wirkung auf das Volk

»Ein Mann, der alles weiß«

Lage nach der Rückkehr aus Russland

»Voll wie ein siedender Topf«

Briefwechsel mit Cancrin und Eschwege – Schicksal der Verbesserungsvorschläge in Russland

Humboldt: Freie Arbeiter auf freiem Boden

Die Auswertung der russischen Reise

Ein Höhepunkt physikalischer Geographie

Briefe und Dokumente

I.

Historischer Bericht über Herrn A. v. Humboldts Reise nach Sibirien

II.

Alexander v. Humboldt schreibt seinem Bruder Wilhelm:

III.

Alexander v. Humboldt schreibt an den russischen Finanzminister Georg Grafen v. Cancrin:

IV.

Widmung für den Zaren

V.

Aus der »Vorrede« Wilhelm Mahlmanns

VI.

Aus A. v. Humboldts »Einleitung«

Anhang

Anmerkungen

Literatur-Ergänzung

Nachtrag zur zweiten Auflage

Nachtrag zur sechsten Auflage

Bildnachweis

EINLEITUNG

Am 6. Mai 2009 jährt sich der Todestag Alexander von Humboldts zum 150. Mal. Erneut haben wir uns zu fragen, was er uns heute noch immer ist, was er uns sein kann und welche Bedeutung ihm allgemein zukommt.

Von großer Toleranz, mit großer Hilfsbereitschaft unermüdlich tätig, ein Causeur von weltmännischem Charme, »vielleicht unser größter Redner« (Goethe), der maßgebende Forschungsreisende und der größte Geograph der Neuzeit, der hilfreichste Mäzen seiner Epochen, hatte er doch schon früh geübt, was heute in unserem Land, seit der Weimarer Republik, Aufgabe der Deutschen Forschungsgemeinde ist –, ihn können wir nie vergessen. Er hat begabte Frauen, Gelehrte, Künstler, Komponisten, den Sohn eines königlichen Kaffeekochs, den jungen jüdischen Mathematiker Gotthold Eisenstein und den Sohn eines preußischen Wachtmeisters gefördert; weit über die Grenzen Deutschlands hinaus hat er Begabungen zu ihrem Ziel verholfen.

Trotz enger Verbindung zu zwei preußischen Königen war er Demokrat und alles andere als ein Monarchist. Sein großes ererbtes Vermögen hat er für die Wissenschaft, für seine amerikanische Forschungsreise und deren Auswertung im »größten privaten Reisewerk der Geschichte« geopfert – und auch für die Hilfe anderer. Er ließ beispielsweise die demotische Grammatik des Schülers Heinrich Brugsch auf seine Kosten drucken. Später, ab 1840, hat vor allem Friedrich Wilhelm IV., der seine politische Gesinnung hinnahm, immer wieder seine Privatschatulle geöffnet, wenn er zur Hilfe anderer eintrat. Ging es gar nicht anders, hat er den Beistand eines Zuckerindustriellen und sehr wahrscheinlich auch August Borsigs in Berlin erhalten.

Im Potsdamer Schloss sagte er zu dem geographisch hochgebildeten Julius Fröbel im Mai 1843: »Der größte Fehler der deutschen Geschichte ist, dass die Bewegung des Bauernkrieges nicht durchgedrungen ist.« (Hanno Beck, Gespräche Alexander von Humboldts, Berlin 1959, S. 192). Dieses Zitat hat die eben angeführte Ausgabe der Gespräche Humboldts gerettet, nachdem ihr Druck im Druckhaus Maxim Gorki in Altenburg in Thüringen wegen der vielen Namen von Königen und Adligen, die auch in dem Werk vorkamen, zu scheitern drohte. Die Herausgabe des Werkes in der DDR erfolgte übrigens mit Genehmigung der Deutschen Forschungsgemeinschaft in Bad Godesberg bei Bonn für die Alexander von Humboldt-Kommission der Deutschen Akademie der Wissenschaften, ebenfalls mit Bewilligung der DFG.

Dass ein solcher Mann nun vom Zaren Nikolaus I., dem »Gendarmen Europas« (regierend 1825 – 1855) eingeladen wurde, und zwar zu einer Unternehmung, die seine letzte Forschungsreise wurde, verurteilte ihn zu besonderer Vorsicht. Die Ehefrau des Zaren, Charlotte Prinzessin von Preußen, war die älteste Tochter König Friedrich Wilhelms III. und der Königin Luise. Auch dieser König war Humboldt zweifellos entgegengekommen. Dies alles brachte uns nun um den kritischen Reisebericht, den gerade jene letzte Forschungsreise verdient hatte. Notgedrungen vertraute Humboldt seinem Reisebegleiter Gustav Rose (1798 – 1843), einem durchaus fähigen Mineralogen, diesen Bericht an. Wenn der Leser auf Seite 31 sein Bild betrachtet, ahnt er wohl, dass er seine Feder samtweich um alle brennenden Probleme geführt hat. Gerade einmal hat sich seine schwache Feder ein wenig gesträubt, als er den unwürdigen Zustand eines Leuchtturmes auf einer Insel im Kaspi-See kritisierte. Später haben beide Reisebegleiter ihre Berichte maßlos vertrödelt und hinausgezögert.

Jetzt wird wieder die Frage vor allem von jenen gestellt werden, die nicht mehr lesen, aber über Humboldt urteilen: Was denn diese Russlandreise des Jahres 1829 nun eigentlich noch wert sei? Liege sie nicht im Schlagschatten der amerikanischen Expedition?

Seit der Rückkehr aus Amerika hatte sich Humboldt immer wieder mit Fragen der asiatischen Geographie beschäftigt. An Kenntnis der großartigen englischen Himalaya-Forschung kamen ihm nur sehr wenige gleich. So hatte er zuerst die Höhe der Schneegrenze an der Nord- und Südseite des Himalaya geklärt und überraschenderweise auf der Nordseite höher gefunden als auf der Südseite – was heute noch immer häufig angenommen wird! Dies war eine fantastische Leistung, die schließlich allgemeine Anerkennung fand. Ebenso ist die Anteilnahme Humboldts an der frühen bedeutsamen Russlandforschung deutscher und zunehmend russischer Forscher sowie das sich andeutende Bemühen das Russische zu erlernen (vgl. dazu: Ingo Schwarz und Werner Sundermann, 1999) leicht nachweisbar. Ohne eine lange geistige Vorbereitung hat Humboldt seine Reise nicht angetreten.

Seit 1959 habe ich in mehreren Werken und Aufsätzen auf die Bedeutung der Russlandreise hingewiesen, brachte sie doch die Krönung der Physikalischen Geographie, deren Gehalt sich aus der gesamten Lebensarbeit Humboldts schon bis 1828 konstituiert hatte.

Meine erste Rekonstruktion der Reise 1829 war im zweiten Band meiner Humboldt-Biografie 1961 erschienen. Sie hatte zu vielen Anrufen und Briefen geführt, und das Echo verstärkte sich weiter, als die erweiterte und verbesserte Fassung 1983 in der EDITION ERDMANN erschien. Schon ein Jahr später kam eine erneut überarbeitete Auflage, der bis 1999 weitere drei Auflagen folgten, sodass nun im Jubiläumsjahr 2009 die 6. Auflage herauskommt.

Das alles ergab sich, weil seit 1959 endlich die geringe oder gar ablehnende Bewertung sukzessive einer neuen Einschätzung wich. Seit dieser Zeit hatte ich immer wieder auf jenen Wandel hingewiesen, der nun im Zuge der Renaissance Humboldts auch der Beurteilung der Russlandreise zugute kam. Diese Forschungsreise führte Humboldt schließlich zur Höhe seiner Physikalischen Geographie, die ihm erst die Idee seines Physikalischen Atlasses und die spät entstandene »Kosmos«-Idee erleichterte.

Die neue Bewertung der Russlandreise hat sich seit 1959 stufenweise vollzogen:

Schon zum Gedenkjahr 1959 hatten sich mehrere Gelehrte mit der Russlandreise in Festschriften und Aufsätzen beschäftigt.

Bereits 1959 hatte ich vom russischen Reisewerk A.v. Humboldts gesprochen, worunter ich den Inbegriff aller von ihm selbst und seiner beiden Reisebegleiter publizierten Darstellungen verstand. Das wurde erst nach der Jahrhundertwende aufgegriffen. Nötig wäre hier zunächst eine exakte bibliographische Übersicht, die zur Vergegenwärtigung eines zusammengehörigen Ganzen beitragen würde.

Vielen neueren Autoren wurde noch nicht deutlich, dass Humboldt die Diamantenfunde im Uralgebiet nur voraussagen konnte, weil er sich bei Wilhelm Ludwig von Eschwege, den er seit 1821 persönlich kannte, entsprechende Hinweise brieflich beschafft hatte. Der Hesse galt neben Prof. Moritz Engelhardt in Dorpat als bester Diamantenkenner seiner Zeit. Beide Gelehrte sprachen stets im Zusammenhang von Brasilien von den möglichen Funden (siehe dazu meinen Beitrag in der Festschrift der Deutschen Akademie, 1959).

In balten- und russlanddeutschen Familien existierten Berichte von Vorfahren, denen Humboldt begegnet war. Manches erwies sich als Legende: So hat sich etwa nicht bestätigen lassen, dass der Zeichner Hermann Friedrich Waeber, ein Pfarrerssohn (1761-1835), von Humboldt zur Teilnahme an der Reise aufgefordert wurde. Anderes wiederum hat sich durchaus bewahrheiten lassen: In seinem Tagebuch hat z.B. der fähige polnische Geologe Tomasz Zan mitgeteilt, er sei am 25.09.1829 während eines Gastmahles in Orenburg Humboldt empfohlen worden, der ihn dann auch ansprach. Leider konnte Zan mit dem Deutschen nur über seinen Reisegefährten Ernst Hofmann (1801 – 1871) kommunizieren und ihn fragen, »ob Polen ihre Dienste bei meteorologischen Beobachtungen anbieten dürften«, was Humboldt »höflich entgegennahm«. Wir erfahren nichts über durchaus mögliche gemeinsame Messungen, und wahrscheinlich hat der sympathische und viel zu zurückhaltende Pole aus Bescheidenheit nicht gesagt, dass seine Landsleute Adamzy Suzin, Alojzy Pielak und er selbst bereits jahrelang Beobachtungen und Messungen in der Orenburger Natur durchgeführt und Gregor von Helmersen und Ernst Hofmann zur Verfügung gestellt hatten –, damit konnten sie auch Humboldt zugänglich gewesen sein (siehe dazu die vorzügliche Studie von Krzystof Zielnicas in den Literaturergänzungen). T. Zan hätte durchaus eine größere Hilfe von Humboldt erwarten dürfen, wäre nicht zu seiner Bescheidenheit noch die Sprachbarriere hinzugekommen. Einer seiner Freunde, Jan Witkiewicz, dagegen hat diese Hilfe tatsächlich erfahren, wie der Leser des vorliegenden Buches feststellen wird. Den eindeutigsten Hinweis auf eine klare Beziehung erhielt ich von der Leiterin des Ortsverbandes der Humboldt-Gesellschaft in Göttingen, Frau Medizinaldirektorin Dr. Maria von Nerée-Loebnitz, deren Mutter eine geborenen Gräfin Polier war. Der Graf Adolph Compte de Polier (1795-1830) war mit der Fürstin Varvara (Barbe, Barbara) Schachowskoi (1795-1830) verheiratet. Die Frau brachte einen stattlichen Grundbesitz in die Ehe mit »ganz in der Nähe der Gouvernement-Stadt Perm liegt Werchne Mulinsk, ein größeres Dorf. Hier befand sich die Hauptverwaltung der gesamten Uralischen Besitzungen der Gräfin Polier« (Darüber Graf Ferdinand von Polier 1963 in den Literaturergänzungen). Den Graf Polier kannte Humboldt aus Paris und traf ihn 1829 in Sankt Petersburg wieder, wo er ihm »eine Sammlung von Sanden« zeigte, die »kostbare Metalle« im Distrikt der Hüttenwerke Bissersk enthielten. »Herr von Humboldt fand, dass diese Sande eine große Analogie mit denen haben, die, in Brasilien, Diamanten enthalten«. (H. Beck, Gespräche Alexander von Humboldts, 1959, S. 100). Auch dem Grafen Polier wird der Leser wiederbegegnen.

Ein Bericht über einen besonders törichten Polizeimeister der kleinen Stadt Ischim wurde später sogar in der Bundesrepublik Deutschland als Herabsetzung Russlands und als Fälschung bezeichnet. Alle, die darin Antirussisches sehen wollen, müssen daran erinnerst werden, dass Dummheit zu den unausrottbaren Phänomenen aller Kulturvölker gehört. Die heutigen Kulturstaaten kennen z.B. alle einen leider stetig wachsenden Analphabetismus und Menschen, die den Dreisatz mit einer Sportart verwechseln, oder Studenten, die nach nunmehr zwei Dezennien der Wiedervereinigung nicht die Namen der neuen Bundesländer kennen, und, und, und…(siehe hierzu in den angeführten Gesprächen Alexander von Humboldts meine ausführliche Anmerkung zum Thema des Polizeimeisters, S. 40; im vorliegenden Band S. 164 f).

Die fünf Reisen des eingetragenen Vereins „Deutsche Assoziation der Absolventen und Freunde der Moskauer Lomomossow Universität“ (DAMU). 1994, 1995, 1997, 1999 und 2001 folgten den Spuren Alexander von Humboldts und waren wissenschaftlich erfolgreich. Sie haben nicht nur Wegmarken und Häuser, die erhalten blieben, dokumentiert, sondern auch noch erstaunliche Quellenfunde gesichert. Bis 1999 haben auf den Routen vom Ural bis zum Altai neun russische und vierzehn deutsche Gelehrte im Geist der Versöhnung vorbildlich zusammengearbeitet. Als damaliger Projektleiter der Alexander von Humboldt-Forschungsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin habe ich noch am 7. Juli 1995 die Teilnahme Dr. Christian Suckows an der zweiten Exkursion genehmigen können. Route: Petersburg – Jekaterinburg – Perm mit Untersuchungen im Ural. Das Auswärtige Amt, der Deutsche Akademische Auslandsdienst, die Humboldt-Universität, die Stiftung West-Östliche Begegnungen, die Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin, die Firma Camping-Ausstatter Albatros, der Russische Kulturfonds und die Lomonossow-Universität haben die Reisen gefördert. Bis dahin hatten 23 Frauen und Männer daran teilgenommen, darunter waren neun Geographen, ein Geologe, zwei Biologen, ein Hydrologe, fünf Mineralogen, zwei Historiker, ein Physiker, ein Fotograf, ein Germanist; es waren sieben Professoren, elf Doktoren und zwei Diplomierte beteiligt.

Angesichts der Aufwertung der Russlandreise ab Ende der 50-er-Jahre sollte unser bedeutendster Vorgänger, der hervorragende russische Geograph Dimitri Nikolajewitsch Anutschin nicht vergessen werden. Er hatte 1915 in Moskau, während des Ersten Weltkrieges (sic!), eine russische Übersetzung herausgebracht und im Vorspann eine vorzügliche Darstellung der russischen Reise Humboldts gegeben. Dr. Christian Suckow wird gewiss in dem von ihm geplanten Dokumentenband aus diesen 234 Seiten das Wichtigste darbieten, oder sollte nicht vielmehr eine deutsche Übersetzung erforderlich sein?

Es gab 1996/97 den ersthaften Ansatz Herrn Thomas Langers aus Detmold, der, begünstigt durch seine russische Ehefrau, die gesamte Route Humboldts von Berlin bis Baty und zurück wiederholen und in einem Bildband dokumentieren wollte. Obgleich er schon, noch ohne Wissen von der DAMU, Vorbereitungen getroffen hatte, und im Ural gereist war, so ist er doch, nicht an sich selbst, sondern an den Umständen der Zeit gescheitert und, vor allem, an mangelnder Unterstützung. Auch aus seinem Brief vom 15.02.1997 ergab sich die Anregung aus dem Band der „Edition Erdmann“ und das Bekenntnis zur Versöhnung von Russland und Deutschland, das alle eint, die in diesem Forschungsfeld arbeiten.

So wird nun der vorliegende Band der EDITION ERDMANN in seiner 6. Auflage fortsetzen, was 1959 und 1961 mit den beiden Bänden einer Humboldt-Biographie und einer Gesprächsausgabe begann: Eine gerechte Bewertung der russischen Forschungsreise Alexander von Humboldts 1829!

DIE RUSSISCH-SIBIRISCHE REISE
ALEXANDER VON HUMBOLDTS 1829

EINE EINFÜHRUNG

Der Leser der Reihe »Alte abenteuerliche Reise- und Entdeckungsberichte« des Erdmann-Verlags lernt mit diesem Werk eine Expedition kennen, die der maßgebende Forschungsreisende und Geograph der Neuzeit, Alexander v. Humboldt (1769–1859), nach jahrzehntelanger vergeblicher Bemühung doch noch 1829 ausführen konnte, aber leider aus politischen Gründen nicht selbst schildern wollte. Nach der von mir 1951 erprobten Methode musste auch diese Reise rekonstruiert werden, basierend auf den vorliegenden Berichten und Dokumenten.

Der Leser wird zunächst kurz in Leben und Werk A. v. Humboldts eingeführt, damit die Grundlage der Reise von 1829 und der zunächst immer wieder verstellte Weg nach Asien deutlich werden können. Die dann folgende Rekonstruktion erlaubt die geistige Begleitung Humboldts von Woche zu Woche: von Berlin durch das damals noch weitgehend von Deutschen kulturell bestimmte Baltikum, über St. Petersburg, Moskau, den Ural, tief nach Sibirien hinein bis zur chinesischen Grenze bei Baty, von da auf anderem Weg zurück über Semipalatinsk bis Astrachan, von dort Befahrung des Kaspi-Sees, zurück durch das wolgadeutsche Gebiet nach Tula und Moskau, von dort Rückfahrt auf derselben Route bis Berlin. Ein Dokumenten-Anhang vereinigt wichtige Original-Quellen.

Eine wissenschaftlich unterbaute Darstellung der Expedition von 1829 gab es bis 1960 nicht. Die erste reisegeschichtlich begründete Gesamtrekonstruktion habe ich 1961 im zweiten Band meiner umfangreichen Biographie geboten (Alexander von Humboldt. 2 Bde. Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1959 u. 1961). Diese Schilderung ist bis heute durch nichts ersetzt worden, so dass ihre Überarbeitung die Grundlage des vorliegenden Buches bildet. In dieser zweibändigen Darstellung und ihren 2555 Anmerkungen habe ich 1959 und 1961 der Forschung die Bresche geschlagen. Ich bin Herrn Verleger Horst Erdmann und dem Altmeister der deutschen Sahara-Forschung, Herrn Dr. Heinrich Schiffers, dankbar, dass sie mich zu dieser Bearbeitung aufforderten, weil es mir ein Anliegen ist, einem breiteren Leserkreis die Bedeutung Humboldts als Asienforscher darlegen und dokumentieren zu können.

In der genannten Biographie wurde erstmals die bis dahin andauernde Unterschätzung der Russland- und Sibirien-Reise von 1829 widerlegt. Als Humboldt im April 1829 seine Reise antrat, wirkte sich nämlich die große Erfahrung der amerikanischen Expedition höchst günstig aus und ebenso eine unermüdliche Vorbereitung von über zwei Jahrzehnten (s. S. 174). Diese Voraussetzung kam der Auswertung zugute, die zuerst in seinem Werk »Central-Asien« (französisch: Paris 1843 in 3 Bänden, deutsch: 1844 3 Teile in 2 Bänden), dann im »Kosmos« (5 Bde. Stuttgart 1845–62) den Gipfelpunkt seiner Leitwissenschaft, der »Physikalischen Geographie«, erreichte.

Die Grundlagen der Routenkonstruktion ergeben sich aus 438 Anmerkungen und einer Literatur-Ergänzung.

ALEXANDER VON HUMBOLDT – KURZER
BLICK AUF DEN LEBENSWEG

Alexander v. Humboldt wurde 1769 in Berlin geboren. Sein optimistischer Vater starb leider schon 1776, so dass die zurückhaltende, etwas kalt wirkende Mutter zusammen mit dem Hofmeister Christian Gottlob Kunth an Einfluss gewann. Der lebensfreudige Vater hatte nämlich zum Hof gedrängt, die Erziehung dagegen wies die Brüder auf den Weg der bürgerlichen Elite, die Wissenschaften. Alexander wurde zusammen mit seinem Bruder Wilhelm (1767–1835) von Hauslehrern auf die Universität vorbereitet. Da der in der frühen Jugend erhebliche Altersunterschied von zwei Jahren zwischen den Brüdern nicht zugunsten Alexanders ausgeglichen wurde und die vorwiegend geisteswissenschaftliche Bildung ohnehin mehr Wilhelm entgegenkam, wurde der Jüngere benachteiligt. Nur ein späteres Kompliment Wilhelms könnte für seine frühe Begabung sprechen. Er schien sich denn auch im ersten akademischen Anlauf an der Universität Frankfurt an der Oder nicht bewährt zu haben.

Das Studium wurde abgebrochen. Während Wilhelm v. Humboldt in der führenden Göttinger Universität schon sein Studium fortsetzen durfte, wurde Alexander zunächst in Berlin von Hauslehrern weitergefördert. Jetzt wurde I. H. Zöllner sein geographischer Anreger. Als man ihm 1788 den ersten freien Ausgang gestattete, suchte er den Botaniker Carl Ludwig Willdenow auf. In einem ungeahnten, von Willdenow wissenschaftlich gezügelten Ansturm drang Alexander erstmals tiefer in eine Naturwissenschaft ein. Begeisterung und Freundschaft verbanden sich und erweckten seinen Genius.

Als niemand an ihn glaubte, fand er von Willdenows Anregungen ausgehend sein erstes raumwissenschaftlich geographisches Forschungsprogramm, das ihn schließlich zur Ausbildung der Pflanzengeographie führte. Ein zweites Programm galt der Aufdeckung vermeintlicher geologischer Strukturgesetze, ein weiteres war der Darstellung der dritten Dimension (= Höhe) in geographischen und geologischen Profilen sowie einer damit verbundenen wissenschaftlichen Symbolsprache (= Pasigraphie) gewidmet.

Dieses dreistufige raumwissenschaftliche Forschungsprogramm zeugt von Humboldts eigenem Erkenntnisdrang. 1793 schuf er sich die von Kant ausgehende sachgerechte Methode. Seit 1796 fasste er dies alles unter dem Leitmotiv einer Physique du monde (Physik der Erde) zusammen. Diesen Ausdruck setzte er mit den Begriffen Theorie der Erde und Physikalische Geographie gleich. Den zuletzt genannten Begriff hat er später im Deutschen meist bevorzugt. Zur Physikalischen Geographie rechnete er wesentliche Teile der Geologie, des Erdmagnetismus, der Klimatologie, die Hydrographie, die Pflanzen- und Tiergeographie sowie den Menschen. Seine sechsjährige Reisevorbereitung auf die Tropen der Neuen Welt disziplinierte und konzentrierte dies alles: Vorbereitung, Ausführung und Auswertung ergaben einen vollendeten reisegeschichtlichen Dreiklang, der Humboldts Weltruhm allerdings erst dann erklärt, wenn der menschenrechtliche Anteil gesehen wird, der seine Physikalische Geographie zu einer Waffe formte, die gegen Unterdrückung, Sklaverei und Hochmut gerichtet war.

Urteile über Humboldt wurden und werden noch bis heute vordergründig mit Publikationen begründet, die nur deshalb für die Interpretation Übergewicht gewannen, weil sie zugänglich sind. So ist sein »Kosmos« gewiss sein bekanntestes, und die »Ansichten der Natur« sind sein volkstümlichstes Buch. Er selbst stellte allerdings sein amerikanisches Reisewerk höher. Noch wichtiger für eine Bewertung ist die Erkenntnis der drei Forschungsprogramme des jungen Humboldt als der »Triebräder« in Goethes Sinn, gerade weil sie vorwärts zwangen, auch nach Erprobung in fernen Ländern verlangten, weil sie nicht von heute auf morgen erfüllt werden konnten, weil über sie zunächst überhaupt nichts publiziert werden konnte. Diese Programme, die den Nährboden der Physikalischen Geographie gebildet haben, waren das Entscheidende. Die Publikationen Alexanders bis 1799 sind bei aller Würdigung auch ihres Wertes demgegenüber vordergründig. Sie wurden als Gelegenheitsarbeiten veröffentlicht, weil sie sich publizieren ließen. In ihnen hat der vielfältig suchende und experimentierende Humboldt Ziele kurzfristig verfolgt, gleichsam erprobt, ob er ihnen auch in der Zukunft folgen könnte. Mit ihnen hat er sich bekannt gemacht und bestätigt, in ihnen wollte er auch Spuren hinterlassen, die an ihn erinnern sollten für den Fall seines Todes während einer Forschungsreise. Zwei Bücher hat er damals von einem Freund und seinem Bruder nach vorhandenen Aufzeichnungen zusammenstellen lassen – ein Vorgang, der auch nur für eins seiner Forschungsprogramme undenkbar ist. Nie lässt sich aus diesen zeitgebundenen Gelegenheitsarbeiten eine die Zeiten überdauernde Leistung erweisen.

Nach seiner Heimkehr aus Amerika dachte Humboldt immer wieder an Reiseziele in Asien. Die Voraussetzung für ein volles Verständnis dieser Pläne und der Russland- und Sibirien-Reise von 1829 haben wir nun gewonnen.

CHARAKTERZÜGE DER RUSSLAND- UND
SIBIRIEN-REISE A. V. HUMBOLDTS

Jedem Leser, der dieses Buch aufschlägt, ist gewiss bewusst, dass Humboldt aufgrund seiner Expedition in die Tropen Amerikas 1799 bis 1804 der maßgebende Forschungsreisende seiner Zeit wurde. Die ideale Erfüllung des reisegeschichtlichen Dreiklangs ließ ihn zum allgemein bewunderten Vorbild werden, wie wir bereits gesehen haben. Dies alles wurde zusammengehalten von der führenden geographischen Konzeption der Zeit, die auch kartographisch kongenial verwirklicht worden ist, der Idee einer Physikalischen Geographie. Gerade als Forschungsreisender und Geograph schuf Humboldt das Paradigma (= Vorbild oder Muster), das sich aus notwendigen Gründen erst in unserer Zeit abschwächte. Doch haben ihm die in die Gegenwart hineinwirkenden Geographen Hermann Lautensach (1886–1971), Carl Troll (1899–1975) und die unter uns weilenden Herbert Louis, Herbert Wilhelmy, Albert Kolb, Julius Büdel und Martin Schwind noch entsprechen dürfen.

Viel weniger bekannt als die klassische Amerika-Expedition ist Humboldts russisch-sibirische Forschungsreise vom 12. April bis 15. Dezember 1829. Sie wurde in ihrem Wert nicht nur unterschätzt, sondern regelrecht herabgestuft, obwohl sie zu einer besonders hochstehenden geographisch-physikalischen Auswertung vor allem im »Central-Asien«-Werk geführt hat (s. S. 174). Gerade hier vermisste die Kulturwelt allerdings den persönlichen Reisebericht, den Humboldt leider nicht geschrieben hat. Er hatte diese Aufgabe seinem Mitreisenden, dem Berliner Mineralogen Gustav Rose, anvertraut, und diesem fehlte einfach die literarische Gewandtheit, mehr zu geben als ein mineralogisches Itinerar. Humboldt hat den Wert der Reiseliteratur wie wenige gekannt und z.B. immer wieder auf die bezaubernden Berichte seines »Lehrers und Freundes« Georg Forster hingewiesen. Waren diese Schilderungen noch Bücher vom Menschen, so zog Humboldt erstmals die Natur selbst breiter und zugleich wissenschaftlich begründet in die geographische Perspektive, ohne indessen den Menschen, seine Wirtschaft, seine Sklaverei, seinen Wohlstand, seine Not und seine Unterdrückung zu übersehen.

Trotz der pflichtschuldigen Dankbarkeit einem spanischen König gegenüber, der ihm die Amerika-Reise gewährte, hat er in seinen Berichten weder an Anerkennung noch an Kritik gespart. Seine russische Reise war ebenso politisches Ereignis wie die amerikanische, nur dass Humboldt diesmal weit mehr die Hände gebunden waren, wie wir noch sehen werden. Wenn er auf eine echte literarische Chance verzichtete und große Erwartungen einer internationalen Leserschicht nicht erfüllte, so sind politische Hintergründe dafür verantwortlich gewesen, die er diesmal nicht umgehen konnte. Er durfte diesmal nicht kritisieren und wollte dennoch die Wahrheit nicht verleugnen. So musste er schweigen.

Reiseliteratur war im 18. und im 19. Jahrhundert in ihren besten Stücken Literatur der Freiheit und der Befreiungoder sie wurde zum Zerrspiegel der Wahrheit. Das zaristische Russland war ein Land starrer Klassentrennung, kannte ein kastenartiges Beamtensystem, leibeigene Bauern und nach Sibirien Verbannte. Dies war Humboldt wohl bewusst. Als Staatsbürger und Kammerherr Friedrich Wilhelm III. von Preußen, der in dieser Reise einen erfreulichen Akt zur Stärkung der Freundschaft mit Russland erblickte, wurde ihm die kritische Feder regelrecht aus der Hand genommen; denn das russische und das preußische Herrscherhaus waren nahe verwandt. Humboldt musste notwendigerweise auf den eigenständigen Bericht verzichten, musste jeden Gedanken daran aufgeben und bat stattdessen einen Reisegefährten um eine Darstellung, die dann leider noch eintöniger und langweiliger geschrieben wurde, als er es erwartet haben mochte.

A. V. HUMBOLDTS SCHWIERIGER WEG
NACH
RUSSLAND UND SIBIRIEN

Es ließe sich nun vermuten, dass Humboldt seine russische Reise von 1829 auf Knall und Fall angetreten und insofern auch der wichtigen reisegeschichtlichen Kategorie der Vorbereitung, deren Beobachtung wir vom Forschungsreisenden nun einmal verlangen müssen, nicht entsprochen habe. Das ist überhaupt nicht der Fall.

1. Ein Kommilitone der Freiberger Bergakademie, der Russe Wladimir Jurevic Sojmonov, hatte Alexander 1793 in einem Schreiben gefragt, ob es wohl jemals möglich sein werde, ihn in Sibirien, wohin er von Deutschland gehen wolle, zu besuchen. In einem der wenigen dekuvrierenden Briefe, die der junge Humboldt schrieb, enthüllte er seinem Freund, er habe drei Jahre an eine solche Reiserichtung gedacht. Es beherrsche ihn der Ehrgeiz, am Fortschritt der Naturgeschichte zu arbeiten. Er ergreife jede Gelegenheit, die Welt zu sehen. In der Erforschung der Natur kämen ihm an Ausdauer wenige gleich. Er denke an eine Reisemöglichkeit, die sich in 20 Jahren ergeben könnte »nach Sibirien, in den Taurus, zum Kaukasus« – dann sollte Sojmonov seinen alten Freund nicht vergessen. Er bereite sich »unermüdlich auf ein großes Ziel vor«, das er nicht nannte. Es waren die Tropen der Neuen Welt. Er wolle die Natur im Großen sehen und betonte seine materielle Bedürfnislosigkeit. Er sah seine zukünftige Reise gegründet auf die mächtige Familie oder die Karriere seines Freundes.

Dieser Brief, den der Oberbergmeister v. Humboldt am 11. Juli 1793 aus Goldkronach geschrieben hat, spricht vermutlich erstmals von einer sibirischen Reise, die einer Expedition in die Neue Welt folgen sollte.

Die Änderungen, die dieser Plan erfahren hat, seien kurz verdeutlicht:

2. 1801, während seiner Amerika-Reise, äußerte Humboldt einmal, er werde von Mexiko aus über die Philippinen, Surate, Bassora und Palästina nach Frankreich zurückkehren. So hätte seine amerikanische Reise in eine asiatisch-nahöstliche ausmünden können.

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A. v. Humboldts Reiseroute

3. Während seines Kordilleren-Aufenthalts plante er 1801/02 eine innerasiatische Reise zum Vergleich der Anden mit dem Kunlun.

4. Schon bald nach der Rückkehr aus Amerika im August 1804 ließ Humboldt den Verleger Cotta wissen, er werde nach Beendigung seines amerikanischen Reisewerks eine neue Expedition antreten. Da Alexander mehrfach im preußischen Auftrag diplomatische Missionen ausführte und den Zeitaufwand für sein amerikanisches Reisewerk zunächst erheblich unterschätzte, werden mehrere innere Gründe der Verzögerung einer neuen Expedition von Anfang an deutlich.

5. In einem Brief an D. L. G. Karsten sprach Humboldt 1805 von einer Reise in das nördliche Asien zu Beobachtungen in der langen Polarnacht.

6. Seit 1807 war Zentralasien sein Hauptziel, wenn es dieses nicht überhaupt immer seit der Festlegung in Punkt 3 gewesen ist. Jahrzehntelang hat sich Humboldt auf eine solche Expedition vorbereitet. Hierbei hat ihn das mehr und mehr erscheinende Riesenwerk seines Berliner Kollegen Carl Ritter über Asien und eine umfangreiche Korrespondenz mit Philologen, Orientalisten, Sinologen und englischen Himalaya-Forschern unterstützt. Er hat die Literatur über den Himalaya und Tibet erstaunlich gut gekannt.

1810 bis 1812 schien das Ziel Tibet und die Indus-Quellen greifbar nahe. Ende 1808 glaubte er an den Reisebeginn in 1810. Er war in Paris dem russischen Minister Grafen N. P. Rumjancev begegnet, der ihm die Hilfe seiner Regierung anbot. Alexander hat diese Verlockung vermutlich nicht abgewiesen. Am 7. Januar 1812 hat er für diese Reise ein ausführliches Forschungsprogramm entworfen. Eindeutig wurde hier erneut die physikalisch-geographische Klammer deutlich. Die Napoleonischen Kriege und die schon erwähnten inneren Gründe haben das Unternehmen verhindert.

7. Nun warf sich Humboldt auf das Studium der persischen und arabischen Sprache. Er wollte wie später Sven Hedin auf dem Landweg Indien erreichen. Vorderindien und Insulinde wurden fortan wichtig.

Vergeblich zwischen Hardenberg und dem Bruder Wilhelm in einem unnötigen Streit um die preußische Verfassung vermittelnd, erreichte Alexander die grundlegende Unterstützung des preußischen Staatskanzlers. Preußen bewilligte ihm 1818 erhebliche Mittel. 1814, 1817 und 1818 hatte er in London die Durchsetzung seiner Reise nach Indien versucht. Alles war vergeblich, weil wahrscheinlich die Englisch-Ostindische Kompanie sich weigerte. Sie fühlte sich vor einer künftigen Kritik Humboldts vermutlich nicht sicher. Und doch schien sich damals alles erfüllen zu wollen. Der Botaniker C. S. Kunth und der Geodät J. J. Bayer, der Vater des späteren Nobelpreisträgers, standen bereits als Reisebegleiter fest.

Er wollte über Persien nach Indien gehen, wurde von Briefen und Teilnahmewünschen gequält und gab den Seeweg an, um Dilettanten abzuschütteln, wie er meinte.

Nie wieder war Humboldt vergleichbar niedergeschlagen, als ihm das Scheitern seiner Wünsche bewusst wurde. Er verschwieg die Hintergründe und verglich entmutigt das, was er bis dahin geleistet hatte, mit dem, was er hätte leisten können. Diese Verhinderung der Expedition nach Zentralasien des größten Forschungsreisenden und Geographen seiner Zeit ist eine der kulturfeindlichsten Machenschaften des 19. Jahrhunderts.

So blieb praktisch nur noch der riesige russische Länderraum. Russland hatte Humboldt stets begünstigt. Am 19.11.1827 ließ er den russischen Finanzminister, Grafen Georg v. Cancrin, wissen, sein »heißester Wunsch« sei, ihm in Russland selbst seine Aufwartung zu machen. Die Verwandtschaft des preußischen und des russischen Herrscherhauses erleichterte alles. Diese Gesamtkonstellation hat gewiss 1827 zu Humboldts Heimkehr nach Berlin beigetragen.

Jetzt im 60. Lebensjahre verwirklichte sich tatsächlich doch noch die asiatische Reise, wenn auch in zuvor nie geahnter Form. Ein Finanzminister, der loyal zu seinem Zaren stand und deutscher Herkunft war, wollte Humboldt alles erleichtern, um ihn zugleich besser kontrollieren zu können.

Wer glaubt, dass Humboldt nur wegen der Geologie, Klimatologie und des Erdmagnetismus sowie wegen »Bergwerksbesichtigungen« nach Russland strebte, wie man es bis heute noch lesen kann, übersieht sein brennendes Interesse am Menschen, verkennt zudem, dass auch diese Reise durch Humboldts Gespräche, seine Briefe und gelegentlichen Mitteilungen zum Politikum geworden ist. Humboldt hat das russische Volk geliebt, seine Unterdrücker verabscheut, seine offiziell festgelegten Reisewege erheblich erweitert und Verbannten praktisch geholfen – auch wenn sich ein allmächtiger staatstreuer Finanzminister das alles verbeten hatte.

So hat die Englisch-Ostindische Kompanie doch wohl recht gehabt, als sie Humboldt nicht ins Land ließ? Sie hat sich die vermutlich gewichtigste Kritik erspart, die ihr in dieser oder in jener Form, frontal oder zwischen den Zeilen, zuteil geworden wäre.

Humboldt wäre nicht der gewandte Diplomat gewesen, wenn er aus dem großen Misserfolg des Scheiterns seiner indisch-zentralasiatischen Reise nicht noch zwei große Erfolge abgeleitet hätte: der eine war seine russisch-sibirische Forschungsreise von 1829 mit all ihren moralischen und physikalisch-geographischen Folgen bis zur großartigen Auswertung (siehe S. 174).

Der andere Erfolg war die Indien- und Himalaya-Reise der drei Brüder Adolf, Robert und Hermann v. Schlagintweit 1854 bis 1857; sie wurde von Humboldt ermöglicht und gemäß seiner physikalisch-geographischen Leitvorstellung durchgeführt.

Es gibt Gelehrte, die alles verwerfen, wenn ihnen der Erfolg nicht selbst beschieden ist. Humboldt dagegen konnte entsagen wie der alte Goethe, und er konnte zeitlebens jüngeren Gelehrten Erfolge ermöglichen, die ihm nicht beschieden waren.

Aus den folgenden Ausführungen ergibt sich der Charakter der Humboldtschen Russland- und Sibirienreise von 1829 noch mehr. Der Leser wird eingeladen, den Spuren Humboldts zu folgen.

Bonn und Eschwege / Werra, 24. März 1983

Prof. Dr. Hanno Beck

Anmerkung: Eine Umrechnungstabelle für russische Maße und Gewichte findet sich auf S. 250 f. in Anmerkung 62.

VORAUSSETZUNGEN DER RUSSISCH-
SIBIRISCHEN
REISE

BRIEFWECHSEL MIT CANCRIN

Der fast sechzigjährige Alexander v. Humboldt wirkte noch jung, obgleich sich Falten in seinem Gesicht zeigten und sein Haar längst ergraut war. Nach der damaligen Lebenserwartung und vor allem in der eigenen von daher rührenden psychologischen Überzeugung galt er als alt. Das Element des Jugendlichen bestimmte ihn nicht mehr, mochten seine blauen Augen auch noch voller Ironie blitzen. Die Entschlossenheit, die sich in seinem Selbstbildnis von 1814 ausdrückte, als er neben der Auswertung seiner amerikanischen Reise eine asiatische Expedition anstrebte, war einer gewissen Resignation gewichen. In seinen Plänen klaffte trotz aller Erfolge eine große schmerzliche Lücke: die asiatische Forschungsreise hatte sich nicht verwirklicht.

1822 wurde im Ural Platin gefunden. Bald gelangen den Bergleuten Verbesserungen in der Aufbereitung, so dass sich in staatlichen Depots eine beträchtliche Menge des edlen Metalls, scheinbar sinnlos, anhäufte. Der russische Finanzminister Graf Georg v. Cancrin war sparsam und auf jede Kopeke bedacht.1 Er war 1774 in Hanau in Hessen geboren worden. Sein Vater hatte das hessische Bergbau- und Salinenwesen geleitet und war 1783/84 nach Russland gegangen. Vermutlich war er zu Unrecht in Verbindung mit einem Hofmarschall finanzieller Untreue beschuldigt worden (siehe Literatur-Ergänzung am Schluss der Anmerkungen). Während der Vater die Saline von Staraja Russa leitete, an der Münzreform unter Paul I. mitarbeitete und verschiedene Ämter bekleidete, wuchs der Sohn in Deutschland heran. Er studierte in Gießen und Marburg Rechts- und Staatswissenschaften und veröffentlichte 1797/98 seinen Roman »Dagobert«, dessen Helden republikanische Offiziere waren. Eine Verwaltungsstelle befriedigte ihn nicht. So ging er 1797 nach Russland und musste sehr um seine Existenz kämpfen, da ihn der Vater nicht unterstützte. Seit 1800 im Staatsdienst, entwickelte er sich zu einem bedeutenden Militärschriftsteller, der z.B. eine »cunctatorische Strategie« entwickelte, die Raum und Klima Russlands im Falle einer Auseinandersetzung mit Napoleon berücksichtigte. Im März 1813 wurde er Generalintendant des russischen Heeres. Sein Name wurde anerkennend genannt, als er 1815 die Forderungen der Verbündeten an sein Land auf ein Sechstel herunterdrückte, weil er sämtliche Rechnungen als Beweisstücke gesammelt hatte.2 In einem Werk über die Bauernbefreiung war Cancrin für die Sicherung der Bauern eingetreten, hatte sich dabei vermutlich etwas die Finger verbrannt und dann 1821 in einem in Russland sehr beachteten Werk Physiokratismus und Merkantilismus oft zu hitzig angegriffen. Eine »möglichst gleichförmige wohlhabende Bevölkerung« war nach ihm höchster Staatszweck. Dieses Werk trug wesentlich zu seiner Berufung zum Finanzminister Ostern 1823 bei. Er übernahm das herabgewirtschaftete Erbe Gurevs und kämpfte seither um eine aktive Bilanz. Zur Finanzverwaltung gehörte damals auch das Salinen- und Bergwesen, dessen Verbesserung er betrieb. Russland kannte keine Münzeinheit und duldete drei verschiedene Kurse. Hier versuchte er, Ordnung zu schaffen.

Der sparsame Cancrin dachte auch, das in steigenden Mengen gehortete Platin auszuwerten. Er fragte Humboldt brieflich am 15. August 1827 um Rat.3 Er erwartete im Grunde genommen dessen Zustimmung und war seiner Sache sicher. Nicht so Alexander, der einst bei Büsch ein Kolleg über Geldumlauf gehört und als Leiter des preußischen Bergbaus in Franken die Lösung schwieriger Währungsprobleme beeinflusst hatte. Alexander riet grundsätzlich ab, da der Münzwert des Platins bei den unsicheren Preisen im Handel nicht festgestellt werden konnte. Er teilte Cancrin sehr unterschiedliche Preise mit.4 Er glaubte nicht an eine isolierte Münze und befürchtete, die russische Platinwährung werde den Weltmarktpreis des Metalls zwar modifizieren, aber nie bestimmen.5 Cancrin wandte sich auch an mehrere ausländische Fachleute. Nur Humboldt scheint widersprochen zu haben. Cancrin wollte diese Lieblingsidee nicht einfach aufgeben und schloss einen Vergleich zwischen der strikten Ablehnung Humboldts und den wohl zustimmenden Urteilen ausländischer Persönlichkeiten. In einem Ukas vom 24. April 1828 wurde eine Platin-Luxus-Währung dekretiert. Niemand war verpflichtet, die Münze anzunehmen. Ausfuhr und Verarbeitung wurden nicht verboten. Schon am nächsten Tage unterrichtete Cancrin den sich klug zurückhaltenden Humboldt und sandte ihm einen »weißen Dukaten«.6 1829 und 1830 folgten Münzen im Wert von 6 und 12 Rubeln. 1828 war der Metallwert für das Pud Platin zu 4746 Rubeln angenommen worden. Es dauerte nicht lange, bis Handels- und Nominalwert erheblich differierten, 1844 bereits um 137%. 1845 wurde das Prägen von Platinmünzen verboten.7 Humboldt hatte recht behalten, aber er ließ es Cancrin nie spüren. Als im November 1858 eine russische Finanzkommission eine Münzreform beriet, berief sie sich auf Humboldts Argumente, ohne seinen Namen zu nennen, und widersetzte sich 1863 einer neuen Platinwährung.8

Die Kunde von der neuen Währung war auch nach Kolumbien, dem größten Platinproduzenten, gedrungen und hatte neue Diskussionen ausgelöst. »Männer von politischem Einfluss in Colombia«, die sich in England aufhielten, hatten Humboldt geschrieben. Cancrin war sofort damit einverstanden, als sich sein Briefpartner bemühen wollte, dort eine Anpassung der künftigen Währung an die russische zu erreichen. Humboldt hatte auf seinen Einfluss bei Bolívar hingewiesen, »den eine gewisse Vorliebe« ihm »dort erhalten« habe.9 Er wollte versuchen, einen Verfall der russischen Währung durch einen plötzlichen Metallausstoß des südamerikanischen Landes zu verhindern.