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Über den Autor

Professor Dr. Hanno Beck, Professor für die Geschichte der Naturwissenschaften an der Universität Bonn und Leiter des Amtes für Forschung der Humboldt-Gesellschaft, gilt als bedeutendster Humboldt-Forscher der Gegenwart. Er hat sich durch zahlreiche Publikationen auf dem Gebiet der Geschichte der Geographie und der Reisen international einen Namen gemacht. Er ist Träger der Goldenen Humboldt Medaille.

Zum Buch

Der Begründer der neueren Humboldt-Forschung, Professor Hanno Beck, hat hier die gesamte amerikanische Forschungsreise Humboldts rekonstruiert. Dies ist umso bemerkenswerter, als Humboldt seine berühmte Reise nur zu einem Drittel selbst geschildert hat. Der Leser wird deshalb bei der Lektüre eine große Überraschung erleben, da er nun die maßgebende Forschungsreise der Neuzeit in einem Zug nachvollziehen kann. Er erlebt das Abenteuer der sechsjährigen Vorbereitung und der fünfjährigen Forschungsreise Humboldts auf den Kanarischen Inseln und im Gebiet der heutigen Staaten Venezuela, Kuba, Kolumbien, Ecuador, Peru, Ecuador (2. Aufenthalt) und der Vereinigten Staaten von Amerika. Ein faszinierendes Leseabenteuer.

Viele von Humboldts wissenschaftlichen Forschungsergebnissen haben Eingang in die moderne Geographie gefunden: so zum Beispiel seine Beschreibung der Vegetation des tropischen Südamerikas, der Schwarz- und Weißwasserflüsse, des Casiquiare, der natürlichen Verbindung zwischen Orinoko und Rio Negro, seine Profile und Pflanzengeographie. Humboldt war vielseitiger Geograph und Forschungsreisender. Auch den Menschen sah er immer als Teil seiner Physikalischen Geographie, und von seinem Reisewerk gingen geographische und politische Impulse aus. So brandmarkte er die Menschenschinderei in den Bergwerken und Manufakturen Mexikos, verteidigt die menschliche Würde der tropischen Indianer oder schildert das Leben der Gesellschaft und den Stand der Wissenschaften in den Hauptstädten Lateinamerikas. Es ist ein farbiger Bericht aus einem Guß entstanden, der dem Leser Vergnügen bereitet und ihn gleichzeitig mit dem neuesten Stand der Humboldtforschung vertraut macht.

ALTE ABENTEUERLICHE REISEBERICHTE

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Alexander von Humboldt nach einem Porzellanrelief von Friedrich Christian Tieck

Alexander von Humboldt

AMERIKANISCHE
REISE

Rekonstruiert und kommentiert

von

Hanno Beck

Mit 36 Illustrationen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

ISBN: 978-3-8438-0072-3

www.marixverlag.de

INHALT

Inhalt

Alexander v. Humboldts amerikanische Forschungsreise 1799 bis 1804

Eine Einführung

Die fragmentarischen Ausgaben des unvollendeten Humboldtschen Reiseberichtes und die einzige vollständige deutsche Übersetzung

Kurzer Blick auf Humboldts Leben und das Werden seiner Leitwissenschaft

Kurze Hinweise zur Forschungsreise A. v. Humboldts

Alexander v. Humboldts Vorbereitung einer Forschungsreise in die Tropen Amerikas

1. Die Gestalt des Forschungsreisenden

Der Forschungsreisende: ein von der Vernunft legitimierter Abenteurer der Aufklärung

2. Humboldts Reiseziel »Westindien«: Die Tropen der Neuen Welt

Sechsjährige Vorbereitung

3. Spezielle und allgemeine Vorbereitung in Jena

Zur Übung wird die Höhe jedes Hügels gemessen

4. Begegnung mit Amalie v. Imhoff

»Schön, klug und talentvoll«

5. Reisevorbereitungen in Dresden

Wagen – Kinder – Gepäck

6. Aufenthalt in Wien 1797

Prof. Barth, »das genialischste Wesen in ganz Wien«

7. Schönbrunn und die österreichischen Forschungsreisenden

Österreich kommt um einen Bonpland

8. Wissenschaftliche Arbeiten in Salzburg

Humboldt wachsen tausend Hände

9. Die »Versuche über die gereizte Muskel- und Nervenfaser«

Gegen jede Tierquälerei

10. Die Abkehr von der »Lebenskraft«

Erfahrung, keine Spekulation

11. Pasigraphische Ideen und Schillers Kritik

Humboldts drittes Forschungsprogramm

12. Der innere Zweck der Wissenschaft

Rechtfertigung reiner Forschung

13. Anregungen für Forschungsreisen in den »Versuchen«

Umriss einer medizinischen Geographie

14. Der Plan der ägyptischen Reise

Der Sinn einer »Zwischenzeit« – »Die Ausrottung des Feudalsystems«

15. Humboldt in Paris

Die wissenschaftliche Hauptstadt der Welt

16. Aimé Bonpland. Reisepläne nach Nordafrika

Ein Mann mit einer zerbeulten Botanisiertrommel

17. Grundlegende geographische Forschungen auf der Reise nach Spanien

Humboldt profiliert erstmals ein europäisches Land

18. Die Verwirklichung der Forschungsreise in Madrid

Humboldt spricht spanisch und erreicht alles

19. Letzte Vorbereitungen in Madrid

Leistungen spanischer Forscher

20. Die letzten Tage in Europa. Ausblick

»Der Mensch muß das Große und Gute wollen!«

Alexander v. Humboldts Forschungsreise in den Tropen Amerikas

1. Geschichte und wissenschaftliche Erschließung Südamerikas im Überblick

Oft kompromisslose Schärfe der Urteile

DER ERSTE ABSCHNITT DER REISE

2. Die Kanarischen Inseln und die Überfahrt

Erstmals auf außereuropäischem Boden

3. Humboldts Ankunft in Südamerika: Cumaná

Erstes Erlebnis tropischen Landes: Tanz mit Negerinnen

4. Die Kapuziner-Missionen bei Cumaná

Bei christianisierten Indianern

5. Publizistische Wirksamkeit Humboldts in Reisebriefen

Publicity – Jägerlatein – Abenteuer

6. Caracas und die Täler von Aragua

Blick aus der Theaterloge in den Sternenhimmel

7. Fahrt zum Orinoco

Zitteraale sind »lebendige elektrische Batterien«

8. Auf dem Orinoco zur brasilianischen Grenze

Ernte von Schildkröteneiern – Die Leiden einer indianischen Mutter

9. Rückreise vom Casiquiare über Nueva Barcelona

Moskitoplage – Schwüle – Curare

10. »Skizze einer geologischen Schilderung des südlichen Amerika«

»Ein Riß vom Gezimmer der Erde«

11. Abreise von Cumaná

Französische Soldaten verbreiten revolutionären Geist

DER ZWEITE ABSCHNITT DER REISE

12. Der Aufenthalt in Kuba

Begegnung mit John Fraser und seinem Sohn

13. Cartagena. Humboldts Vermessungsmethode

»Barbarisches Schauspiel« in Cartagena

14. Auf dem Magdalenenstrom nach Bogotá

»Eine schreckliche Tragödie« – »Schneekoppe plus Brocken«

15. José Celestino Mutis. Die Lage der Wissenschaft in Bogotá

Der größte Gelehrte Südamerikas

16. Humboldts Forschertätigkeit in Bogotá

Geograph und Forschungsreisender

17. Überquerung der Anden von Popayán nach Quito

Ablehnung des Missbrauchs der Menschenwürde

18. Treffen mit Caldas und Aufenthalt in Quito

Der begabteste junge Naturforscher Südamerikas

19. Die Besteigung des Pichincha

»Stechender Geruch von schwefliger Säure«

20. Humboldts Verhältnis zu Caldas

Caldas will Humboldts Begleiter werden

21. Besteigung des Chimborazo

»Stille Größe und Hoheit« – der Naturcharakter tropischer Landschaft

22. Spuren der Inkas auf dem Weg nach Peru

Reste der Inkastraße – Durch Páramos

23. Humboldt in Lima. Thaddäus Haenke

»Weder prunkvolle Häuser, noch überaus luxuriös gekleidete Frauen«

24. Reise über Guayaquil nach Mexiko

Erster Entwurf des »Naturgemäldes der Tropenländer«

DER DRITTE ABSCHNITT DER REISE

25. Humboldts Aufenthalt in Mexiko-Stadt

Vorzügliche wissenschaftliche Einrichtungen – Unwissenheit ist keine Folge des Klimas

26. Reisen in das nördliche Mexiko

Querétaro – Guanajuato – Menschenschinderei in Manufakturen und Bergwerken

27. Das Colegio de Minería und der »Essay de Pasigraphie«

Profile: »Höhenkarten« und »Formationskarten«

28. Humboldts Abschied von Mexiko

Messung klassischer Vulkane – Nochmals auf Kuba

29. Humboldts Aufenthalt in den Vereinigten Staaten von Amerika. Heimkehr nach Europa

Dolley Madison: »All the ladies say they are in love with him«

30. Die Bedeutung der amerikanischen Forschungsreise und ihre Auswertung

Das größte private Reisewerk der Geschichte – Der erste selbständige große deutsche Forschungsreisende

Anmerkungen

Alexander v. Humboldts Vorbereitung einer Forschungsreise in die Tropen Amerikas

Alexander v. Humboldts Forschungsreise in den Tropen Amerikas

Literatur-Ergänzung

Bildnachweis

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ALEXANDER V. HUMBOLDTS AMERIKANISCHE FORSCHUNGSREISE 1799 BIS 1804

EINE EINFÜHRUNG

Nur der Naturforscher ist verehrungswert, der uns das Fremdeste, Seltsamste mit seiner Lokalität, mit aller Nachbarschaft jedes Mal in dem eigensten Elemente zu schildern und darzustellen weiß. Wie gern möchte ich nur einmal Humboldten erzählen hören! Goethe: Die Wahlverwandtschaften (1809)

Nicht zufällig begründete die amerikanische Forschungsreise von 1799 bis 1804 den Weltruhm Alexander v. Humboldts, und der Leser wird nicht mit Unrecht annehmen, dass der größte Geograph der Neuzeit, der zugleich der maßgebende Forschungsreisende seiner Epoche war, diese Unternehmung selbst vollständig dargestellt habe. Dieser Irrtum wird durch die Humboldt-Ausgaben genährt, die dem Leser den oft sogar mehrfach fragmentarischen Charakter ihrer Darstellungen verschweigen wie einst die Phönizier ihrer Mitwelt die Entdeckung ferner Welten. Es wurden z. B. stets die beiden zugehörigen Atlanten unterschlagen.

Während seine »Reise durchs Baltikum, nach Rußland und Sibirien 1829« (Edition Erdmann, Stuttgart 1983, zweite verbesserte Auflage 1984) völlig rekonstruiert werden musste, lernt der Leser der Reihe »Alte abenteuerliche Reise- und Entdeckungsberichte« nun in kurzem zeitlichen Abstand mit diesem vorliegenden Werk einen durchaus ähnlichen Versuch kennen.

Tatsächlich hat Humboldt seine klassische amerikanische Forschungsreise nur zum kleineren Teil geschildert:

nämlich den Beginn in La Coruña, in Nordwest-Spanien, am 5. Juni 1799, die Atlantik-Fahrt über die Kanarischen Inseln bis zur Landung in Cumaná (an der Küste des heutigen Venezuelas), die Fahrt zum Orinoco und Casiquiare, die Überfahrt und den ersten Aufenthalt auf Kuba, die Seereise von dort zur Küste des heutigen Kolumbiens und den anfänglichen Aufenthalt in diesem Land bis Barrancas Nuevas am Río Magdalena.

Nicht geschildert hat Humboldt:

den Aufenthalt im Gebiet der heutigen Anden-Staaten Kolumbien, Ecuador, Peru, die Überfahrt von Callao (Peru) und den zweiten Aufenthalt in Ecuador, die Seereise von dort nach Mexiko, den Aufenthalt in diesem damals führenden Land Lateinamerikas, die Überfahrt von dort und den zweiten Aufenthalt auf Kuba, die Überfahrt nach den Vereinigten Staaten von Amerika, den Aufenthalt in diesem Land und die Rückfahrt über den Atlantik bis zur Landung in der Garonne bei Bordeaux am 3. August 1804.

Humboldts zum weitaus größten Teil unvollendeter Reisebericht stellte deshalb längst die lohnende Aufgabe einer erstmals reisegeschichtlich begründeten Rekonstruktion, die ich 1959 und 1961 in meiner zweibändigen Biographie ausgeführt habe (Hanno Beck: Alexander von Humboldt. Band I: Von der Bildungsreise zur Forschungsreise 1769–1804; Band II: Vom Reisewerk zum »Kosmos« 1805–1859, XVIII und 742 Seiten, 2555 Anmerkungen, Humboldt-Bibliographie, Personenregister, mit 28 Tafeln, 4 Abbildungen und 6 Karten, Franz Steiner, Wiesbaden 1959 und 1961). Diese erste zusammenhängende Darstellung habe ich 1971 für die spanische Übersetzung (Fondo de Cultura, México 1971) überarbeitet und bringe sie in dieser Ausgabe – praktisch in dritter Auflage – auf den neuesten Forschungsstand, um sie einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Ich danke meinem Schüler Wolf-Dieter Grün für die Anregung zu diesem Unternehmen. Merkwürdigerweise hatte es bis 1959/61 einen solchen Rekonstruktionsversuch nicht gegeben.

DIE FRAGMENTARISCHEN AUSGABEN
DES UNVOLLENDETEN
HUMBOLDTSCHEN
REISEBERICHTES UND DIE EINZIGE
VOLLSTÄNDIGE DEUTSCHE
ÜBERSETZUNG

Einige wenige Kenner meinen, Humboldts »eigentlicher Reisebericht« fände sich in der Relation historique (3 Bde. Paris 1814–1817, 1819–1821 u. 1825–1831, Neudruck mit Einführung und Register von Hanno Beck, Stuttgart 1970), verbunden mit dem Atlas Pittoresque. Vues de Cordillères, et monumens des peuples de l’Amérique (Paris 1810–1813) sowie dem Atlas géographique et physique des régions équinoxiales du Nouveau Continent (Paris 1814–1838, zitiert nach dem von Hanno Beck herausgegebenen Neudruck: Amsterdam u. New York 1971–1973). In den genannten drei Bänden hat Humboldt seine Reise bis zur Landung und den ersten Aufenthalt im Gebiet des heutigen Kolumbiens geschildert. Noch in Amerika hatte er einen allgemeinen Reisebericht geplant, sich dann aber für die Form seiner Relation historique entschieden, in welcher der rote Faden meist regelrecht unter der physikalisch-geographischen Problemfülle verschwindet. Die Relation historique ist gewiss immer noch ein Reisebericht; dennoch hat sie dessen Form zu einem großartigen Vollzugsorgan physikalisch-geographischen Denkens ausgeweitet. Alles ist Bruchstück geblieben, wie wir schon erwähnt haben. Oft wird mit Humboldts Worten belegt, der »vierte Band« sei nicht erschienen. Diese gelegentliche Angabe entscheidet das Problem nicht, da die drei Bände der Relation historique nur ein gutes Drittel der gesamten Expedition enthalten; wenn Humboldt sein Werk in der Art der vorliegenden drei Bände vollendet hätte, wäre weit, weit mehr Raum nötig gewesen.

So ergeben sich immer neue Probleme, die nun endlich auch von einer größeren Zahl von Lesern gesehen werden sollten.

Dies alles hat noch zu Humboldts Lebzeiten den Verleger Cotta zum Handeln veranlasst. Er beauftragte Hermann Hauff (1800–1865), den Bruder des Dichters Wilhelm Hauff, mit einer deutschen »Bearbeitung«: Alexander von Humboldt’s Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents. In deutscher Bearbeitung von Hermann Hauff. Nach der Anordnung und unter Mitwirkung des Verfassers. Einzige von A. v. Humboldt anerkannte Ausgabe in deutscher Sprache. 4 Bde. J. F. Cotta, Stuttgart 1859 u. 1860; später: 6 Bde. ebendort 1861–1862.

Wer wirklich einmal den französischen Originaltext mit der Hauffschen Bearbeitung verglichen hat, weiß, dass den sehr werbewirksamen Sprüchen des Titelblattes nicht zu trauen ist. Der Bibliothekar Hauff hat nur eine teilweise Übersetzung geliefert, ließ aber trotz der ausdrücklichen Vereinbarung mit Humboldt viel, oft einfach zu viel aus, während das Titelblatt sich schwer durchschauen ließ und dem Leser die Überzeugung aufdrängte, hier sei ein Problem mit Humboldts Einverständnis gelöst worden. Das war gewiss nicht der Fall. So brach Hauff die Schilderung der Reise einfach mit der Ankunft in Havanna auf Kuba am 19. Dezember 1800 ab, während Humboldt sie bis zum Beginn der Befahrung des Río Magdalena weiterführte. Schon vom Geist des Spezialistentums bestimmt, verstand Hauff die Reise von allen möglichen Einzelwissenschaften her und übersah Humboldts wegweisende Leitidee, ja er ließ die alles entscheidende Passage mit Humboldts „Einführung“ einfach fort und löschte sie damit im Gedächtnis der folgenden Zeit aus. Es sei hier auf ein Register seiner Untaten verzichtet, wissen wir doch ohnehin nicht, auf wen die schwersten Verstümmelungen zurückgehen: auf ihn oder seinen Verleger? Vieles mag an Hauff gelegen haben, während anderes und vielleicht sogar das meiste vom Verlag manipuliert wurde, so etwa der merkwürdige Satz am Schluss in der »Vorrede des Herausgebers«, Humboldt und er, Hauff, seien übereingekommen, »das Buch als literarisches Product möglichst unversehrt zu erhalten, nirgends auszugsweise zu verfahren, sondern im Ganzen überall dem Texte treu zu bleiben« und nur gar zu wissenschaftliche Betrachtungen »abzulösen«. So mag es vereinbart worden sein, allein der Verlag hat sich nicht daran gehalten. Humboldts Vorwort für die Ausgabe vom 26. März 1859 ist 42 Tage vor seinem Tod unterzeichnet worden, d. h. doch, dass Hauff und nicht zuletzt der Verlag »freie Hand« hatten.

Hauff setzte die einzige vollständige Übersetzung von Ferdinand Gottlieb Gmelin (Band 1) und vor allem von Paulus Usteri (Band 2 bis 6, Teil 1) sehr herab: Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 und 1804. J. G. Cotta, 6 Theile, Stuttgart u. Tübingen 1815–32). Sie ist nie sehr einflussreich gewesen und seither zu Unrecht vergessen worden, ein Vorgang, den Hauff leider sehr gefördert hat.

Von Hauff leiteten sich die meisten späteren Ausgaben ab, deren Verfassern offenbar nie bewusst war, dass ein französisches Original existierte. Erst die Darmstädter Ausgabe A. v. Humboldt Hanno Becks hat mit drei Bänden, 1306 Seiten und einem Kommentar von 119 Seiten das Problem für den Leser der Gegenwart gelöst. Insgesamt jedenfalls ein wahrhaft niederschmetterndes Ergebnis, und das 145 Jahre nach dem Tod Alexander v. Humboldts am 6. Mai 1859 in Berlin!

Um die hier vorliegende reisegeschichtliche Rekonstruktion verstehen zu können, werden die eben gewonnenen Einsichten nun zunächst mit Humboldts Leben verbunden.

KURZER BLICK AUF HUMBOLDTS LEBEN UND DAS WERDEN SEINER LEITWISSENSCHAFT

Alexander v. Humboldt wurde am 14. September 1769 in Berlin geboren. Bis zum Alter von 30 Jahren kränkelte er nach eigenem Bekenntnis oft. Seine Eltern, der preußische Major Alexander Georg v. Humboldt und Marie Elisabeth, geb. Colomb, vertrauten seine Erziehung Hauslehrern an, die den für die frühe Kindheit recht erheblichen Altersunterschied zwischen den Brüdern Wilhelm (1767–1835) und Alexander (1769–1859) nicht ausglichen. Da der Unterricht philologisch-geisteswissenschaftlich bestimmt war, kam er der Begabung des älteren Bruders mehr entgegen, so dass auch deshalb der jüngere als der weniger begabte galt.

Beide Brüder begannen ihr Studium an der Universität Frankfurt a. d. Oder, mussten es jedoch nach kurzem Anlauf wieder abbrechen. Wilhelm durfte sein Studium sofort in Göttingen fortsetzen, während Alexander, der sich nicht bewährt zu haben schien, in Berlin von Hauslehrern weiterunterrichtet wurde.

Bis dahin waren die Brüder von Gottlob Johann Christian Kunth auf Wunsch der Mutter mehr als behütet worden, ähnlich wie der Emile in Jean Jacques Rousseaus beispielgebendem Roman.

In dieser Zeit nach der Heimkehr aus Frankfurt an der Oder im Jahr 1788, beriefen die Mutter und Kunth den in Berlin bestens bekannten Oberkonistorialrat Johann Friedrich Zöllner (1753-1804) als neuen Hauslehrer. Damals war Anton Friedrich Büsching als führender Geograph der Epoche der Spätaufklärung 1750 bis 1799 Kollege Zöllners. Dieser war allerdings der entschieden modernere geographische Denker: Mitglied der berühmten „Mittwochsgesellschaft“, offener Gegner des Wüllnerschen Religionsediktes und Besucher des Salons der Henriette Herz. Kunth und die Brüder Humboldt dürften Zöllner hier schon begegnet sein.

In ihm erlebte der jüngere Humboldt erstmals einen Hauslehrer anderer Art: Einen Lehrer, der ihn ernstnahm, ihn anerkannte und sein Freund wurde. Alexander lebte damals förmlich auf. Der neue Hauslehrer ging mit seinem Zögling z.B. in die Akademie der Künste, um dort ein bedeutsames Reliefmodell des Riesengebirges zu bewundern, das ein einfacher Schlesier geschaffen hatte, den der Lehrer bald persönlich kennenlernen sollte. Und als Zöllner sich auf eine gut geplante Reise nach Schlesien vorbereitete, notierte er sich Fragen, die der Schüler gern beantwortet sehen wollte. Während dieser Reise schrieb der Lehrer ausführliche Briefe an Humboldt und an seine Frau. Diese Briefe vereinigte er 1792 und 1793 in den beiden hochinteressanten Bänden seines Reisewerkes: Briefe über Schlesien, Krakau, Wieliczka und die Grafschaft Glatz auf einer Reise im Jahr 1791 (Berlin).

Er schrieb über die Eigenheiten des Riesengebirges unter Berücksichtigung des Geographischen Anordnungsschemas und aller Geofaktoren und über die Geomorphographie der Reliefmodelle. Er berichtete vom anbrechenden Fremdenverkehr in Badeorten, von ersten Umweltschäden, von Wasseranalysen und einer Tabelle mit Höhenmessungen. Er schilderte die Not der vom verantwortungslosen Adel unterdrückten Bauern und die Armut der Weber. Kein Wunder, dass Humboldt von diesem Mann schrieb, »er könnte der erste Naturforscher unter den Sterblichen werden«.

Mit der Entdeckung Zöllners ist mir wahrscheinlich der letzte große Fund im Rahmen meiner Humboldt-Forschung gelungen (siehe »H. Beck: Erkenntnissgewinne des jungen Alexander v. Humboldt« in: Abh. d. Humboldt-Gesellschaft, Band 16, Mannheim 200, Seite 13-44).

Kurze Zeit später, immer noch im Jahr 1788, erlaubte man dem 19-jährigen Alexander v. Humboldt den ersten freien Ausgang. Er begab sich, wohl mit Wissen Zöllners, sofort zu Karl Ludwig Willdenow, dem nur fünf Jahre älteren, talentiertesten Botaniker Berlins. Und wieder begegnete er einem Gelehrten, der ihn, wie Zöllner, schließlich als Freund betrachtete.

Aufflammende Freundschaft und Begabung rissen ihn erneut aus dem bisherigen Trott. Willdenow stieß ihm das Tor zur wissenschaftlichen Botanik auf, wies ihn auf Japan hin und ermöglichte ihm, gerade als niemand an ihn glaubte, die Formulierung eines ersten Forschungsprogramms: »Geschichte der Pflanzen«. In ihm sollten Ausbreitungsvorgänge von Pflanzen von einem Heimatgebiet aus über die Erde verfolgt werden. Humboldt hat in diesem Rahmen bald an das Substrat, den Boden und an Pflanzenfossilien gedacht, um der migrativen (auf Wanderungen bezogenen) Idee gerecht zu werden. Bald weitete sich das Programm zur Pflanzengeographie aus.

Erstmals lenkte Alexander sein Leben diplomatisch zu einem weiteren Ziel hin, als er die Mutter und Kunth für ein Bergbaustudium in Freiberg gewinnen konnte und damit endlich das ihm auferlegte Allerweltsstudium der Kameralistik (Volkswirtschaft) unterbrach, dem er andererseits doch sehr vieles verdankte.

Als »Bergmann« erlebte er eine stürmische Karriere und bald die Schöpfung eines zweiten Forschungsprogramms, das ein Strukturgesetz der Erde beweisen sollte.

Ein drittes Forschungsziel galt dem Entwurf geographischer und geologischer Profile; die Letzteren sollten mit Symbolen und Buchstaben pasigraphisch (im Sinne einer allgemein verständlichen Schrift-Zeichensprache) erläutert werden. Die bis dahin fast nur zweidimensionale Geographie und Kartographie gewann seit Humboldt mit nachhaltigem Erfolg die dritte Dimension der Höhe und ermöglichte auch kartographisch die Wiedergabe des Reliefs der Erdoberfläche.

Dies alles vertiefte Humboldt, als er 1793 in geistiger Auseinandersetzung mit Kants Physischer Geographie eine Methodologie schuf.

Es genügt hier der Hinweis auf seinen erstmaligen Versuch der Bezeichnung einer Leitwissenschaft. Er nannte sie 1793 merkwürdigerweise »geognosia«; das ist der ältere, zunächst noch beherrschende Begriff, den J. A. de Luc (1778) und H. B. de Saussure (1779), Humboldts wesentlichstes Vorbild in der Hochgebirgsforschung, schließlich mit dem Terminus Geologie ersetzen sollten. Das aber – in letzter Konsequenz Erdgeschichte – hatte Humboldt nicht gemeint. Was er wollte, ergibt sich erst, wenn wir sehen, dass er »geognosia« in Klammern mit drei gleichbedeutenden Begriffen erläuterte: »(Erdkunde, Theorie der Erde, physikalische Geographie)«. Damit wird klar, dass keinesfalls »geognosia« in der üblichen Bedeutung gemeint war, und man wird sich fragen müssen, warum der junge Humboldt überhaupt diesen doch bereits vergebenen Begriff beanspruchte. Wie Herder ersehnte Humboldt »eine philosophische Physische Geographie« (Herder), d. h. eine Geographie höherer Art. Deshalb wurde der Ausdruck Geographie, der zu erwarten war, regelrecht desavouiert, weil er ihn mit Recht an die damals zum Schlafmittel degenerierte Registratur der politischen Geographie erinnerte. In seinem begrifflichen Denken erwies sich Humboldt als überempfindlich; daher auch der Versuch, jeden Begriff seiner Methodologie mehrfach zu erläutern, ein Verfahren, das der Geographiegeschichte andererseits den Weg zur Lösung des Problems wies.

1796 ersetzte Humboldt dann den ohnehin bereits festliegenden und vergebenen Begriff »geognosia« durch »physique du monde«, einen Ausdruck, den er oft und ausnahmslos mit »Physik der Erde« übersetzt hat. Darunter verstand er jedoch keineswegs die frühe »Kosmos«-Idee, in der sich, wie in diesem späteren Werk selbst, »Himmel und Erde«, und zwar in dieser Reihenfolge, vereinigten.

Viele und auch ich selbst haben dennoch zunächst in »physique du monde« einen frühen Hinweis auf den »Kosmos« gesehen, obgleich dies nur teilweise zutrifft.

»Physique du monde« war zunächst nichts anderes als der neue Leitbegriff, der das eindeutig vergebene Leitwort »geognosia« ersetzte. Das zeigte sich klar, als Humboldt 1814 sein Ziel als »Physik der Erde, Theorie der Erde oder Physikalische Geographie« erläuterte, in einer Passage, die den Charakter seiner Forschungsreise offen klären sollte; eben diesen Text hat Hermann Hauff unverständlicherweise gelöscht; er steht in diesem Buch als Motto vor der Rekonstruktion von Humboldts Reise. Da »Physikalische Geographie« (eigentlich Naturgeographie) bereits im 18. Jahrhundert die wichtigste Wachstumsspitze der Geographie (Saussure, Kant, Herder, Johann Reinhold Forster, Saussure) bezeichnete, hatte der Begriff die größeren Aussichten, von Humboldt auf die Dauer benutzt zu werden. Dennoch hat er oft von »Physik der Erde« gesprochen; in all diesen Fällen können wir allerdings eindeutig und mühelos »Physik der Erde« durch den Terminus »Physikalische Geographie« ersetzen, und schließlich hat Humboldt selbst jeden Zweifel aufgehoben, weil er oft darauf hingewiesen hat, die eigentliche Sphäre seiner Kenntnis sei auf »Physikalische Geographie und Geognosie« beschränkt. Dazu hat er einen wesentlichen Teil der Geognosie zur Physikalischen Geographie gerechnet und keineswegs klare Grenzen gezogen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Das dreistufige, im Sinne Kants raumwissenschaftliche, d. h. geographische Forschungsprogramm war der Nährboden einer im Sinne der Zeit »philosophischphysischen [oder physikalischen] Geographie« (Herder), die den Menschen einschloss.

Dreistufiges Programm als Nährboden, Methodologie von 1793 und sechsjährige Vorbereitung der amerikanischen Forschungsreise (seit 1793/94) offenbaren einen inneren Zusammenhang, der sich begrifflich bereits seit 1793 als Einheit verstand und 1796 nur neu, und zweifellos besser, bezeichnet wurde.

Dass Humboldt ein großer Geograph war, haben schließlich auch sämtliche bedeutenden Geographen, von Carl Ritter über Oskar Peschel, Ferdinand v. Richthofen, Friedrich Ratzel, Elisée Reclus, Paul Vidal de la Blache, Sir Halford Mackinder, Albrecht Penck, Alfred Hettner, Otto Schlüter bis zu Hermann Lautensach und Carl Troll, bestätigt. Seine vergleichbare Größe als Mediziner, Chemiker, Mathematiker und Astronom hat sich dagegen keineswegs erweisen lassen. Das muss endlich zu denken geben.

Der junge Humboldt hat vielfältig publiziert, doch beweisen seine zahlreichen gedruckten Beiträge bis 1799 seine Größe allein keineswegs. Gerade das nicht Publizierte, d. h. seine Forschungsprogramme, und das im Druck nur Angedeutete, in Briefen kurz Geschilderte, war das »Triebrad« (Goethe). Es trieb ihn förmlich aus Europa hinaus auf die Bahn des Forschungsreisenden. Es war allein schon deshalb im Vergleich zu allem bis dahin meist schnell Publizierten bedeutender, eben weil an seine Veröffentlichung überhaupt noch nicht gedacht werden konnte. Erst aus ihm und aus den mit ihm zusammenhängenden Denkbewegungen ergab sich, dass Humboldt schon im Augenblick seines Aufbruchs nach Amerika über die bedeutendste geographische Konzeption seiner Zeit verfügte. Nach der Reise wurde dann deutlich, worauf seine Klassizität beruhte:

Mehr als alle seine Vorgänger war er Geograph (und Kartograph) und Forschungsreisender. Er hatte damit ein Forschungsvorbild (Paradigma) geschaffen, dem keiner widersprochen hat, das aber nur wenige (Ferdinand v. Richthofen, Friedrich Ratzel, Carl Troll, Hermann Lautensach, Albert Kolb und Herbert Wilhelmy in Deutschland) erreicht haben.

KURZE HINWEISE ZUR FORSCHUNGSREISE
A. V. HUMBOLDTS

Das nach und nach zwischen 1788 und 1797 entfaltete dreistufige Forschungsprogramm und die mit ihm verbundenen Gedanken drängten Humboldt nach mehrfachem Reisen förmlich aus Mitteleuropa hinaus, wie schon gesagt wurde. Die amerikanische Reise war auch insofern ein notwendiges Forschungsinstrument, dessen Exaktheit Humboldt in sechsjähriger Vorbereitung geformt hatte. Ohne sie konnte sein physikalisch-geographisches Denken nicht fortschreiten. Dabei hatte er die schwingenden Schalen der Waage seines Lebens gleichmäßig gefüllt: die eine Schale mit den schwerwiegenden Resultaten seines physikalisch-geographischen Forschens, die andere mit dem menschenrechtlich-humanitären Gedankengut, wobei das eine ohne das andere nicht denkbar war. Wissenschaft war ihm stets auch ein Mittel zur Behauptung oder Durchsetzung der Menschlichkeit. Die hier vorgelegte Rekonstruktion beweist diese Verbindung immer wieder.

Beleuchten wir weitere Charakterzüge dieser Reise:

Alexander Solschenizyn hat auf die Erfahrung hingewiesen, die jeder, der einmal Gefangenschaft erlebte, leicht bestätigen kann: So gut wie nie seien in der Literatur die Gefäße der Notdurft erwähnt worden. So sei etwa der spätere Graf v. Monte Christo im Verlies des Château d’If eingekerkert worden, doch wir erführen nur, dass ihm Essen gebracht worden sei. Der zeitgenössische literarische Geschmack verbat sich eben »Peinliches«, das andererseits eine solche Kerkerhaft noch wahrer und deutlicher werden lassen musste. Ebenso hat die Reiseliteratur damals in ihren führenden Werken Entbehrungen, von geringen Ausnahmen und kurzen Einblicken abgesehen, nur angedeutet. Man transpirierte höchstens, man schwitzte kaum, und so könnte der Leser meinen, Humboldts Reise sei gefahrlos wie das Unternehmen eines heutigen Globetrotters oder Touristen verlaufen. Sehr oft werden nicht einmal die Überanstrengungen des hart arbeitenden Humboldt im Tropischen Regenwald deutlich. In seinem Tagebuch hat er die üblen Ausdünstungen unterdrückter Arbeiter in mexikanischen Manufakturen immerhin erwähnt, die beiden Gefährdungen seines Reisebegleiters Aimé Bonpland festgestellt, eigene Erschöpfung und Bedrohung aber nahezu übergangen.

Wir können heute (und längst) beweisen, dass Humboldt mehrfach in Lebensgefahr schwebte, ja, dass er selbst einmal einem Brief anvertraute, er glaube, Bonpland und er würden wahrscheinlich nicht als Lebende zurückkehren. Während der Alexander-v.-Humboldt-Gedächtnisexpedition im Jahre 1958 haben sich Volkmar Vareschi und Karl Mägdefrau oft über seine unwahrscheinliche Leistungsfähigkeit gewundert, die beim Vergleich mit den heutigen Bedingungen immer wieder deutlich wurde. Er kam gesund aus den Tropen zurück. Fast war es ein Wunder. Er hatte am Casiquiare die dichtesten Moskitoschwärme überlebt; Karl Mägdefrau stellte fest: »Der Mensch ist hier ununterbrochen, Tag und Nacht, den Angriffen der verschiedensten Stechmücken, Ameisen, Wespen usw. ausgesetzt. Humboldts Schilderungen entsprechen auch in diesem Punkte vollauf den Tatsachen. Einer der Expeditionsteilnehmer zählte einmal auf dem linken Handrücken 170, auf dem rechten 102 Moskitostiche!« Deshalb und infolge des Sogs der Hauptstadt Caracas sind diese Gegenden heute menschenleer (Caracas 1927: 127 000 Einwohner; 1958: 1 Million).

Überhaupt stellt sich nach solchen Hinweisen die Frage nach dem heutigen Zustand der von Humboldt bereisten Landschaften. Hierüber gibt das von Ortwin Fink und mir bearbeitete Buch Loren Alexander McIntyres (Hamburg 1982) Auskunft. Einige Einblendungen wird der Leser im Text und in den Anmerkungen finden.

In meinem reisegeschichtlichen Denken sind die Stufen der Vorbereitung, Ausführung und Auswertung notwendige Schritte, die aus Gründen der Klarheit der Darstellung und als sukzessive Erkenntnisstufen im rekonstruierenden Bericht getrennt werden sollten. Dem Erkenntnisgewinn des Lesers zuliebe musste in wenigen Fällen bewusst davon abgewichen werden: so z. B. als Humboldt das überraschende Urteil über die Schönheit der (subtropischen!) Landschaft Teneriffas natürlich nicht während seines dortigen Aufenthalts, sondern erst später aus dem Vergleich mit den Tropen gewinnen konnte (siehe Seite 120). Hier brächte die strikte Trennung der unmittelbar vor Ort erzielten Einsicht von dem erst in der Auswertung sichtbar werdenden Ergebnis dem Leser nichts ein, weil ihm nämlich ein wichtiges Bekenntnis Humboldts an der richtigen Stelle praktisch vorenthalten würde. Ähnlich zu bewerten sind einige Einschaltungen heutiger Ergebnisse auch in Anmerkungen: etwa Schilderungen des Verhaltens der Guácharo-Vögel, der erneute Nachweis einer von Humboldt entdeckten Wild-Tomate oder Bemerkungen zur Chimborazo-Besteigung.

Als früher Kenner der (für die Geschichte der Geographie wichtigen) Reisen, hatte Humboldt beobachtet, dass Expeditionen mit vielen Teilnehmern an Bord eines Schiffes oder als Unternehmungen auf dem Festland fast immer unter dem Streit der Teilnehmer zu leiden hatten. Er beschäftigte sich mit der außerordentlich schlecht organisierten Forschungsreise der Französischen Akademie 1735-1743 und mit der dänischen Expedition 1761-1767, die unter der völligen Unfähigkeit Ihre Leiters zu leiden hatte. Der schließlich einzig Überlebende, Carsten Niebuhr, hatte die Forschungsergebnisse der Expedition mit seinem Reisebericht gerettet.

Auch James Cook, der größte maritime Entdecker überhaupt, kam mit Gelehrten wie Sir Joseph Banks (und, auf seiner zweiten Weltumsegelung 1772-1775), nicht immer gut zurecht. Besonders schwierig war das Verhältnis zu Johann Reinhold Forster, dessen Sohn Georg sich aus diesem Streit diplomatisch heraushielt und Cook besonders achtete. Humboldt zog daraus verständliche Konsequenzen:

Er wollte die Reise selber gründlich und speziell vorbereiten und wollte seine Forschungsergebnisse mit anatomischen Beobachtungen und mit umfangreichen Ausführungen der Elektrophysiologie noch bereichern. Dass er als Aufklärer auch daran dachte, sich mit diesen Leistungen ein bleibendes Andenken zu schaffen, bezeugt allein schon die große geistige Anstrengung, die er nie scheute. Es ist besonders hervorzuheben, dass Ingo Schwarz und Klaus Wenig im Kommentar ihrer Ausgabe des Briefwechsels Humboldts mit Emil du Bois-Reymond (Berlin 1997) diese besondere Leistung wissenschaftsgeschichtlich nachgewiesen haben. Selbstverständlich haben diese Forschungen mit der Geographie nicht das Geringste zu tun. Sie müssen aber, zusammen mit den wichtigen, tief in die Analyse von Humboldts »Versuche über die gereizte Muskel und Nervenfaser« (2 Bde., Posen 1797) eindringenden Recherchen Brigitte Hoppes auch als Aufgaben der Vorbereitung der Forschungsreise Humboldts verstanden werden. Dies wird bis heute allerdings zu wenig zur Kenntnis genommen, obwohl er alle nötigen Utensilien zu den entsprechenden Versuchen vor Ort mitgenommen hatte. Alles hatte sich bereits angedeutet, als die beiden Brüder Keutsch von der damals noch dänischen Jungferninsel Sankt Thomas bereits als Mitarbeiter in das eben genannte zweibändige Werk hineinspielten als zwei Dänen aus Westindien.

Ich hatte schon 1959 darauf hingewiesen, dass große Expeditionen immer mehrere, thematisch oft weit voneinander getrennte Aufträge zu erfüllen hatten. Ganz in diesem Sinne suchte Humboldt lange nach einem geeigneten Mitarbeiter. Er dachte zunächst an Nicolaus Diederich Boethlingk, an die Brüder Keutsch oder an Joseph van der Schot. Seine Wahl fiel schließlich auf Aimé Bonpland. Er war Mediziner und stand vor einer wissenschaftlichen Karriere als Botaniker. Sie ergänzten sich hervorragend und blieben Freunde bis zuletzt.

Körperliches Training wie spätere Forschungsreisende (Fridtjof Nansen, Alfred Wegener, Heinrich Harrer) hat Humboldt nicht gekannt. Kam es darauf an, so holte er die notwendige Kraft ohne Weiteres aus sich heraus und wurde ähnlich wie später Sven Hedin mit allen Strapazen fertig; er hätte ebenso wie der große Schwede von sich sagen können, er habe sich nie überanstrengt. Noch 1829 ist dem 60-jährigen Humboldt in Russland und Sibirien körperliche Gewandtheit bescheinigt worden (siehe: Alexander von Humboldts Reise durchs Baltikum, nach Rußland und Sibirien 1829, 6. Aufl. 2009, S. 162). Seine erstaunliche Tropenfestigkeit erlaubte ihm volle Messprogramme, Pflanzenbestimmungen, Zeichnungen und Tagebucheintragungen in oft zeitlich dichter Folge. Andererseits bin ich mit vielen einig, dass er eine Glückshaut trug: Eine Chimborazo-Besteigung im Alltagsanzug mit Straßenstiefeln, ohne kundigen Führer und ohne jede Bergausrüstung ist nur einmal einem Humboldt gelungen, der, von einem kaum in Worte zu kleidenden geistigen Schwung beflügelt, nur wissenschaftliche Forschung im Sinne seines Leitmotivs betreiben wollte. Es ging ihm zunächst nur um Messungen in großer Höhe – und doch erlag auch er der »geheimen Ziehkraft« des 6310 m hohen Tropenbergs. Als der Nebel zerriss, erblickte er den Dom des Gipfels. Er sagte zwar nicht mit Johann Joachim Winckelmann »edle Einfalt und stille Größe«, sondern stellte in Übereinstimmung mit ihm fest: »Es war ein ernster und großartiger Anblick.« Und: »Am 25. Junius erschien uns in Riobamba Nuevo der Chimborazo in seiner ganzen Pracht, ich möchte sagen in der stillen Größe und Hoheit, die der Naturcharakter der tropischen Landschaft ist.«

Als erster Geograph hat Humboldt das Problem der Schwarz- und Weißwasserflüsse erkannt, wie wir noch im Text sehen werden. Der gebildete deutsche Facharzt und bekannte Sportler Dr. Max Stern wurde 1938 von Hitler zur Emigration gezwungen. Er hat von 1939 bis 1945 als Land- und Wanderarzt das Forschungsgebiet Humboldts in Venezuela intensiv bereist und ab 1942 27-mal den Casiquiare befahren. 1943 bis 1945 begleitete er die Ingenieur-Mission des Colonels der US-Armee, H. G. Gerdes, und konnte dabei weitere Einsichten gewinnen.

Vor den grundlegenden Beobachtungen internationaler Gelehrter (unter ihnen Harald Sioli) hat er bei der Lösung des Problems der Schwarz- und Weißwasserflüsse, der – wie er richtig meinte – mit Pflanzensaft eingetieften Felszeichnungen und der Casiquiare-Entstehung sehr Erhebliches geleistet. Dr. Stern hat mich vor seinem Tod um Wahrung seiner Interessen gebeten. Daher ist die erstmalige Publikation seiner vor Ort gezeichneten Landschaftsskizzen eine Verpflichtung, der sich Verlag und Autor nicht entziehen wollen. Gerade der skizzenartige Charakter dieser schwierig zu reproduzierenden Bilder gewährt einen wahren Einblick in tropische Landschaft.

Natürlich war Humboldt oft vom Kenntnisstand seiner Informanten abhängig. So hat er keine der Guano-Inseln betreten, die damals noch bis 50 m hoch von den Exkrementen der Vögel überzogen waren! Das anschaulichste ökologische Bilderbuch zur Lehre von »Zusammenhängen« konnte er nicht aufblättern. Er sah auch das Herzland der Inka-Kultur zwischen Cuzco und dem Titicacasee nicht, und der vorzügliche Landes- und Humboldt-Kenner Prof. Georg Petersen hatte wohl recht, als er mir gegenüber den mangelnden Informationswillen einheimischer Gelehrter der Humboldt-Zeit bedauerte. Andererseits konnte Humboldt kaum mehr bewältigen, als er tatsächlich erreichte. Er wusste von Cuzco und hat auch das Guano-Problem richtig gesehen.

Der Leser sollte sich darüber im Klaren sein, dass die gesamte Wiederholung der Humboldtschen Route in Amerika heute gar nicht mehr möglich ist. Einige Wegstrecken sind von Bergstürzen verschüttet worden. Prof. Georg Petersen hat für den Nachvollzug der Route allein in Peru viele Jahre benötigt, und doch waren die inneren Schwierigkeiten schließlich zu groß; es blieben Lücken. Loren Alexander McIntyre hat die Route vor wenigen Jahren weitgehend nachvollzogen; eine vollständige Abdeckung erschien ihm unmöglich.

Um den vollen reisegeschichtlichen Dreiklang abzurunden, wird am Schluss dieses Buches die Auswertung der Reise kurz umrissen.

Nun kann auch der Leser geistig die maßgebende Forschungsreise der Neuzeit antreten. Doch sei er herzlich eingeladen, sich zunächst mit Humboldt vorzubereiten. Er benötigt dazu nicht sechs Jahre, sondern nur einige Stunden der Lektüre. Mit Hilfe dieser besonderen und allgemeinen Präparation wird er die Reise viel besser verstehen. Deren Ausführung und Auswertung runden dann den harmonischen reisegeschichtlichen Dreiklang ab, dem in der Historie der Entdeckungs- und Forschungsreisen leider auch viele Missklänge und Unmenschlichkeiten vorangegangen und gefolgt sind. Die humanitäre Größe dieser Reise, die selbst Goethe verehrte und der alte Kant noch verfolgte, ließ manche späteren Gräuel umso schmerzlicher werden.

Diesem einführenden Text wurden Sätze aus Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften vorangestellt. Welcher Leser wäre nicht neugierig, jetzt den Zusammenhang des Textes zu kennen? Denn Zitate können verfälschen, und tatsächlich könnte hier ein solches Beispiel vorliegen, wenn man weiterliest:

»Ein Naturalienkabinett kann uns vorkommen wie eine ägyptische Grabstätte, wo die verschiedenen Tier- und Pflanzengötzen balsamiert umherstehen. Einer Priesterkaste geziemt es wohl, sich damit in geheimnisvollem Halbdunkel abzugeben; aber in den allgemeinen Unterricht sollte dergleichen nicht einfließen, um so weniger, als etwas Näheres und Würdigeres sich dadurch leicht verdrängt sieht.

Ein Lehrer, der das Gefühl an einer einzigen guten Tat, an einem einzigen guten Gedicht erwecken kann, leistet mehr als einer, der uns ganze Reihen untergeordneter Naturbildungen der Gestalt und dem Namen nach überliefert; denn das ganze Resultat davon ist, was wir ohnedies wissen können, dass das Menschengebild am vorzüglichsten und einzigsten das Gleichnis der Gottheit an sich trägt.

Dem Einzelnen bleibe die Freiheit, sich mit dem zu beschäftigen, was ihn anzieht, was ihm Freude macht, was ihm nützlich deucht; aber das eigentliche Studium der Menschheit ist der Mensch!«

Wir scheinen tatsächlich vor einer großen Schwierigkeit zu stehen. Galt die Physikalische Geographie, die »physique du monde«, als Leitwissenschaft Humboldts nicht allein der Natur?

Humboldt hat den Wert der Reiseliteratur wie wenige gekannt und z. B. immer wieder auf die bezaubernden Berichte seines »Lehrers und Freundes« Georg Forster hingewiesen. Waren diese Schilderungen noch Bücher über den Menschen, so zog Humboldt erstmals die Natur selbst breiter und zugleich wissenschaftlich begründet in die geographische Perspektive, ohne indessen den Menschen, seine Wirtschaft, seinen Wohlstand, seine Not, seine Sklaverei, seine Unterdrückung und seine Befreiung zu übersehen. Wenn Herder, Johann Reinhold Forster und Kant von »Physischer« oder »Physikalischer Geographie« sprachen, so fehlte in ihrer »Naturgeographie« (wörtliche Übersetzung von Physikalische Geographie) der Mensch ebenso wenig wie bei ihrem geistigen Schüler Alexander v. Humboldt. Das von Goethe zitierte Wort Alexander Popes findet sich auch beim älteren Forster und war allen hier Genannten wesentlich. Natur und Mensch waren damals noch nicht getrennt wie im Weltbild der meisten heute führenden jüngeren Geographen.

Bonn und Eschwege, im Dezember 2008 Prof. Dr. Hanno Beck

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Anmerkung: Die historische Orthographie und Zahlenschreibweise der Humboldt-Zitate wurde bewusst so belassen, um den Charakter der Originaltexte nicht zu verändern. Eine Ausnahme bilden die Textstellen, die vom Autor aus dem Französischen übersetzt werden mussten.

Eine Tabelle der von A. v. Humboldt gebrauchten Maße findet sich auf S. 318, Anmerkung 28. – Hilfreich bei der Lektüre ist allgemein die »Karte der Jahreszeiten-Klimate der Erde« von Carl Troll und Karlheinz Paffen. In: Erdkunde (Bonn) 18. 1964, S. 5–28 (Erläuterungstext); die Karte findet sich auch im Atlas »Unsere Welt« (Velhagen & Klasing u. Hermann Schroedel), Berlin 1970, S. 128. – Im vorliegendem Werk werden die Zitate aus der überholten Übertragung Hermann Hauffs (siehe oben S.11) vergleichsweise mit denselben Passagen der Darmstädter Ausgabe (= DA) A. v. Humboldt zusammengestellt. So wird der Leser auf deren einzige vollständige deutsche Übersetzung des eigentlichen Reisetextes hingewiesen.

 

»Ich hatte mir bei der Reise, deren Beschreibung ich nun folgen lasse, ein doppeltes Ziel gesetzt. Ich wollte die besuchten Länder kennenlernen, und ich wollte Tatsachen zur Erweiterung einer Wissenschaft sammeln, die noch kaum skizziert ist und ziemlich unbestimmt Physik der Erde, Theorie der Erde oder Physische Geographie genannt wird. Von diesen Zwecken schien mir der zweite der wichtigste zu sein. Ich liebte die Botanik und einige Teile der Zoologie mit Leidenschaft. Ich durfte mir schmeicheln, daß unsere Forschungen die bereits beschriebenen Arten um einige neue vermehren würden. Da ich aber die Verbindung längst beobachteter [Tatsachen] der Kenntnis isolierter, wenn auch neuer Tatsachen von jeher vorgezogen hatte, schien mir die Entdeckung eines unbekannten Geschlechtes weit minder wichtig als eine Beobachtung über die geographischen Verhältnisse der Vegetabilien, über die Wanderungen der geselligen Pflanzen und über die Höhenlinien, zu der sich die verschiedenen Arten derselben gegen den Gipfel der Kordilleren erheben.«

Alexander v. Humboldt:
Relation historique, I, 1814–1817

ALEXANDER V. HUMBOLDTS VORBEREITUNG EINER FORSCHUNGSREISE IN DIE TROPEN
AMERIKAS

1. DIE GESTALT DES FORSCHUNGSREISENDEN

Der Forschungsreisende: ein von der Vernunft
legitimierter Abenteurer der Aufklärung

Jede Entdeckungsreise bedeutete ein Abenteuer und musste dem Rationalismus der Aufklärung verdächtig erscheinen, denn der Ausgang einer derartigen Unternehmung blieb stets mehr dem Wagemut als der Vernunft überlassen. Daher genügte der vorwiegend auf Abenteuer bedachte Entdeckungsreisende dem 18. Jahrhundert nicht mehr, und die Aufklärung schuf im Forschungsreisenden den von der Vernunft legitimierten Abenteurer, der nicht einfach hinauszog, sondern aufgrund wissenschaftlicher Vorbereitung gründlichere geographische Arbeit leistete und gleichzeitig seine eigene Sicherheit erhöhte. Darin liegt die Bedeutung dieser Epoche für die Geschichte der Reisen, und Alexander v. Humboldt sollte bald all diese Tendenzen vorbildlich verkörpern.

Der Begriff des Forschungsreisenden wurde durch das Ziel konstituiert, das sich eine Persönlichkeit setzte, und durch die darauf eingestellte besondere Vorbereitung; sie wurde bald geradezu das Kennzeichen einer Forschungsreise. Carsten Niebuhr, James Bruce, Peter Simon Pallas, Louis Antoine de Bougainville, James Cook und Alessandro Malaspina wären ohne Vorbereitung nicht zu ihren großen Erfolgen gekommen. Wer Forschungsreisender sein wollte, musste bestimmte vorbereitende Aufgaben erfüllen, vor allem: ein Ziel haben, um seine Vorbereitungen darauf abzustellen.

Dieses Ziel war in jedem Fall schon literarisch behandelt worden. Brach also der Reisende nach einer terra incognita auf, etwa in die Sahara, so gab es auch darüber bereits eine ausgiebige theoretische Literatur.

Einen erheblichen Fortschritt bedeuteten gegenüber früheren Reisen auch die besseren Instrumente, mit denen man die räumliche und geistige, d. h. die geographische Erschließung eines unbekannten Landes sofort und viel gründlicher als die früheren Entdeckungsreisenden eröffnen konnte. Mehr und mehr kamen Forschungsreisende auch in Länder, die räumlich bereits entdeckt waren, geistig aber noch erschlossen werden mussten. Über russische, asiatische, südamerikanische und afrikanische Landschaften gab es um 1800 bereits eine erstaunlich umfangreiche Literatur. Indem der Forschungsreisende sie auswertete, ergänzte er die allgemeine Vorbereitung des Entdeckers um die spezielle Präparation, die auf einen bestimmten Ausschnitt der Erdoberfläche zielte. Dieser historisch verfolgbare Prozess bezeugt die Intensivierung der Forschung, die sich zunächst freilich auf die Literatur beschränkte und sich noch nicht auf die Instrumente erstrecken konnte. Übungen mit Beobachtungswerkzeugen gehörten damals ausschließlich in den Bereich der allgemeinen Vorbereitungen des Reisenden, erst die spätere wissenschaftliche Entwicklung hat das Instrumentarium verfeinert.