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Hermann Ploppa

Die Macher hinter den Kulissen

Wie transatlantische Netzwerke heimlich
die Demokratie unterwandern

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© Nomen Verlag, Frankfurt am Main 2014
Alle Rechte vorbehalten

www.nomen-verlag.de

Umschlaggestaltung: Blazek Grafik, Frankfurt am Main
Printed in Germany

ISBN 978-3-939816-22-5

Inhalt

Ein rauer Wind weht von West

Es war einmal – und ist immer noch

Die Geburt des Neoliberalismus aus dem Corporate State

Runde Tische erobern die Welt

Die Atlantik-Brücke als Mutter aller US-Netzwerke in Deutschland

Die gut erzogenen Kinder der Amerikaner

Deutschland fest in transatlantischer und marktradikaler Hand?

Neue Generation – Neue Herausforderungen

Zusammenschweißen, was nicht zusammenwachsen will

Was tun? Deutschland instandbesetzen!

Literaturverzeichnis

Register

Abkürzungsverzeichnis

ACUE

American Committee for a United Europe

AFL

American Federation of Labor

AI

Atlantische Initiative

AICGS

American Institute for Contemporary German Studies

ATA

Atlantic Treaty Association

BDI

Bundesverband der Deutschen Industrie

BDA

Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände

BRT

Business Roundtable

BRUEGEL

Brussels European and Global Economic Laboratory

CEO

Chief Executive Officer

CETA

Comprehensive Economic and Trade Agreement

CFR

Council on Foreign Relations

CHE

Centrum für Hochschulentwicklung

CHK

Centrum für Krankenhausmanagement

CIA

Central Intelligence Agency

CKM

Centrum für Krankenhausmanagement

DAG

Deutsche Atlantische Gesellschaft

DGAP

Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik

EABC

European American Business Council

ECFR

European Council on Foreign Relations

EIF

European Internet Foundation

ERT

European Round Table of Industrialists

GESA

German European Security Association

GMF

German Marshall Fund of the US

INSM

Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft

ISDS

Investor-State Dispute Settlement

IWF

Internationaler Währungsfonds

MAI

Multilaterales Abkommen über Investitionen

MIT

Massachusetts Institute of Technology

NATO

North Atlantic Treaty Organization

NCF

National Civic Federation

NSC

National Security Council

OSS

Office of Strategic Services

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

TABC

Transatlantic Business Council

TABD

Transatlantic Business Dialogue

TLD

Transatlantic Legislators’ Dialogue

TPN

Transatlantic Policy Network

TTIP

Transatlantischen Freihandelsabkommen

Ein rauer Wind weht von West

Die Politik „… darf sich nicht abhängig fühlen und sich am Nasenring durch die Manege führen lassen von Banken, von Ratingagenturen oder sprunghaften Medien.“

Ex-Bundespräsident Christian Wulff1

Es ist schon erstaunlich, wie schnell in den letzten Jahren Politiker an die Macht gekommen sind – und wie schnell sie dann wieder gegangen wurden.

Da ist zum Beispiel unser ehemaliger Bundespräsident Christian Wulff. Jahrelang wurde Wulff von den Medien aufgebaut und gefeiert als großes Talent. Selbst dass er neben seiner Noch-Ehefrau bereits eine Geliebte hatte, wurde ihm nachgesehen. Dann hält Wulff als Bundespräsident ein paar Reden, die so gar nicht zum Mainstream passen: da sagt der christliche Fundamentalist Wulff, auch der Islam sei ein integraler Bestandteil Deutschlands. Die Banken griff er an, vor allem aber die Europäische Zentralbank, weil diese Schuldtitel von Nationalstaaten aufkauften, was sie nicht dürfen.

Und dann sagte der Darling der deutschen Mainstreampresse noch etwas, das man ihm nun gar nicht zugetraut hätte:

„Wer heute die Folgen geplatzter Spekulationsblasen allein mit Geld und Garantien zu mildern versucht, verschiebt die Lasten zur jungen Generation und erschwert ihr die Zukunft. All diejenigen, die das propagieren, handeln nach dem Motto: Nach mir die Sintflut.“2

Von da an war Wulff nicht mehr der Darling der Mainstreampresse. Es dauerte gar nicht lange, da hagelte es Gerichtsverfahren gegen Wulff. Es handelte sich durchweg um Vorwürfe minderer Explosivität. Die Verfahren wurden längst alle eingestellt oder sie endeten mit einem Freispruch für Wulff. Doch Wulff ist nicht mehr Bundespräsident. Seltsam. Die Delikte, die Wulff zur Last gelegt wurden, könnte man so ziemlich jedem Individuum aus der Kaste der Privilegierten zur Last legen. Es war die Rede von Unverhältnismäßigkeit der staatsanwaltlichen Verfolgung.

Handelte es sich womöglich um einen Komplott gegen Wulff, weil er einige Dinge gesagt hatte, die manche Leute nicht so lustig finden? Wulff hat ein Buch über seine Demontage geschrieben – oder von einem Ghostwriter schreiben lassen –, in dem er aber solchen Vermutungen kein Futter gibt.

Der Pressemensch, der Wulff erst so glamourös zum Supertalent aufgebaut hatte in dem Boulevardblatt Bild und ihn dann so spektakulär bloßstellte in demselben Presseorgan, heißt Kai Diekmann. Sowohl Diekmann wie Wulff sind Mitglied in der noblen Gruppe Atlantik-Brücke. Sein Amtsnachfolger Joachim Gauck ist ebenfalls Mitglied in der Atlantik-Brücke.

Schneidig und dynamisch eilte der junge Karl-Theodor Freiherr von und zu Guttenberg an die Spitze der Politiker-Charts. Mit seinem gegelten Haar stiefelte er in Lederjacke und in Begleitung seiner jungen Frau Stefanie zum Heavy Metal Konzert. Cool! Überall wurde der geborene Multimillionär und Forstbesitzer als neuer Messias und Nachfolger von Angela Merkel im Bundeskanzleramt gefeiert. Im Gegensatz zu Wulff hat Guttenberg nie etwas von sich gegeben, was das Missfallen der Mächtigen erregte.

Gegen die Schwadronen der Guttenberg-Fans aus der Mainstreampresse schien kein Kraut gewachsen. Wachsame Bürger fanden jedoch heraus, dass Guttenbergs Doktorarbeit aus unzähligen anderen Texten zusammengestoppelt war. Ein wissenschaftliches Patchwork sozusagen. Man könnte sich vorstellen, dass Guttenberg einen hungernden Akademiker mit der Abfassung einer Doktorarbeit für die eigenen Zwecke beauftragt hat, und der hat ihn mit so einem Mix aus fremden Texten gelinkt und auf diese Weise schnelles Geld verdient. Wie auch immer: es waren im Prinzip politikferne Gründe, die den Medienhype um den jungen Freiherrn gestoppt haben. So war der Erkenntnisgewinn für die Allgemeinheit auch eher mager.

Die Geschichte mit den aufgehenden und rasch wieder verglühenden Politiker-Sternschnuppen wirkt auf uns in etwa wie dumpfer Kopfschmerz: es tut was weh, aber wir wissen nicht genau, wo der Schmerz herkommt. Wir wissen, das kann alles nicht mit rechten Dingen zugehen, hier passiert nichts zufällig, hier wird massiv an einem Rad gedreht. Aber wer dreht? Und wie? Wer gegen wen? Das ist kein behagliches Gefühl in einer Demokratie.

Der Kopfschmerz tritt auch auf, wenn wir Politikerdebatten im Fernsehen oder im Radio verfolgen. Ja, warum um alles in der Welt sind da immer wieder dieselben Experten am Reden? Gibt es nicht viel mehr kluge Leute, die was zum Thema zu sagen hätten? Abwechslung belebt das Geschäft, heißt es doch immer. Aber das gilt nicht im Eintopf unseres Medienalltags. Zu Außen- und Sicherheitspolitik spricht oft der grüne Politiker Omid Nouripour. Auch sein Parteifreund Cem Özdemir ist dabei. Da gibt es gar keine großen inhaltlichen Unterschiede zu dem CDU-Mann Ruprecht Polenz. Irgendwie sind sie sich alle so schrecklich einig, egal zu welcher Partei sie gehören.

Es ist ein Geschrei in den Talkrunden wie beim Kindergeburtstag, wenn es zu viel Kaba-Kakao zu trinken gab. Dennoch sind in den Grundpositionen fast alle einer Meinung. Und die lautet bei außenpolitischen Fragen: zu einem engen Bündnis mit den USA gibt es keine Alternative. Punkt. Nur der uralte, aber immer energetische Peter Scholl-Latour, der mittlerweile leider verstorben ist, durfte mal anderer Meinung sein. Der frankophile Hofnarr war eben von gestern. Und ansonsten: es gibt keine Alternative zu Sozialabbau, Steuersenkungen, Lohnsenkungen, Privatisierung der Renten- und Krankenkassen, Auslagerung von Staatsleistungen an private Firmen und so weiter. Sie kennen das ja aus dem Effeff.

Es gibt einen wenig bekannten Generalnenner dieses eintönigen Chores: nahezu alle diese Leute, fast alle diese Meinungen stammen aus diskreten Netzwerken, von deren Existenz die meisten Mitmenschen noch nichts oder bestenfalls den Namen gehört haben. Oder kennen Sie den Business Roundtable, das European Policy Network, die Körber-Stiftung, den German Marshall Fund of the US, die Atlantische Initiative, die Stiftung Neue Verantwortung, um nur einige wenige Namen aus dem sich rasch weiter metastasierenden Netzwerk zu nennen? Wahrscheinlich nicht. Herumgesprochen hat sich die Kunde von einigen geheimnisvollen logenartigen Honoratiorenklubs wie Atlantik-Brücke, Bilderberger, Trilaterale Kommission oder Aspen-Institut.

Und schon kursieren im Internet unausgereifte Verschwörungstheorien. Wieder einmal werden die oben genannten Namen in Verbindung gebracht mit bösen Verschwörungen der Juden, Aliens, Jesuiten, Templer und Freimaurer. Und weil das Internet auf den ersten Blick nichts weiter hergibt als nur die Namen von Prominenten in Verbindung mit geheimnisvollen Klubs, erschöpft sich die „Recherche“ darin, wer mit wem und wann im Herrenklo des New Yorker Waldorf Astoria gewesen ist. Und das ist dann schon der „Beweis“ für – wer weiß für was Böses. Der Phantasie sind bezüglich Geheimzirkeln naturgemäß keine Grenzen gesetzt.

Durch Kaffeesatzleserei gerät ein wirklich ernstes Thema in ein schiefes Licht. Denn leider fördert eine vertiefte Analyse der diskreten Netzwerke alarmierende Befunde zutage. Eine Gruppe von Unternehmern, Bankern, Unternehmensberatern, Wirtschaftsanwälten, Politikern, Wissenschaftlern und Medienleuten arbeitet weitgehend im Verborgenen daran, die Bundesrepublik Deutschland unwiderruflich als Juniorpartner an die USA festzuschweißen. Zum anderen geht es darum, Deutschland und Europa nach amerikanischem Modell marktradikal umzukrempeln.

Das bedeutet: der Staat wird herunter gestutzt auf die Funktion, den freien Fluss des Kapitals zu sichern und das Privateigentum zu schützen. Alle anderen Funktionen, die jetzt noch der Staat übernimmt, übernehmen in Zukunft Privatbetriebe. Dieses Projekt vollzieht sich bereits seit Generationen. In geduldiger Kleinarbeit wurden bereits enorme Terraingewinne für die Netzwerke erarbeitet. Das sind heftige Vorwürfe. Es bedarf einer geduldigen Recherchearbeit, um diesen Vorgang angemessen erfassen und beschreiben zu können.

Zunächst wird beleuchtet, wie die Gesellschaft, in der wir leben, strukturiert ist. Welche Weltanschauung liegt der deutschen Gesellschaft zugrunde? Wodurch unterscheidet sie sich fundamental von der amerikanischen Gesellschaft? Ist unser Sozialstaat wirklich nicht mehr zukunftstauglich? Die deutsche Wirtschaftsordnung gründet auf drei Säulen: auf Genossenschaften, auf öffentlich-rechtlicher Ordnung und auf privatem Unternehmertum. Das hat sich in den letzten Wirtschaftskrisen als großer Standortvorteil gerade gegenüber den USA erwiesen.

Im dritten Kapitel geht es um den Neoliberalismus. Zunächst wird jedoch analysiert, wie überhaupt – im Vergleich zu Deutschland – die US-Gesellschaft funktioniert. Wenn es auch paradox klingt, war die US-Gesellschaft nach dem Börsencrash von 1929 zunächst organisiert als privatwirtschaftliche Planwirtschaft. Dann jedoch kam als Reaktion auf den New Deal des überraschend eigenwilligen Präsidenten Franklin D. Roosevelt die große Kehrtwendung. Die Losung eines kleinen, aber mit der Zeit immer mächtiger werdenden Kreises von Ökonomen hieß: zurück zum Liberalismus des Neunzehnten Jahrhunderts! Modifiziert auf die neue Zeit angewendet, aber auf jeden Fall: so wenig Staat wie möglich.

In der heutigen Zeit ist viel die Rede von Governance und wenig von Government. Soll heißen: es hat sich auch bei uns zunehmend der angelsächsische Regierungsstil durchgesetzt. Es gibt zwar demokratisch gewählte Regierungen und Parlamente. Aber die Richtlinien der Politik werden an so genannten Runden Tischen gemacht. Eine handverlesene Schar von Wirtschaftslenkern, Wissenschaftlern und Politikern trifft sich in geheimer Runde, diskutiert locker über die anstehenden Aufgaben und was in der Zukunft getan werden muss. Das wird dann an die Politiker herunter gereicht. Diese Politik der Runden Tische ist das Thema des vierten Kapitels.

Wie kam es dazu, dass sich diese Art der diskreten, privatisierten Politik seit dem Bestehen der Bundesrepublik bei uns durchsetzen konnte? Damit befassen sich die Kapitel fünf bis acht. Am Anfang war die Schar der Transatlantiker in Deutschland noch überschaubar. Geheimdienste aus den USA mussten massiv anschieben. Doch mit der Zeit gewannen die Transatlantiker eine Schlacht nach der anderen um Einfluss in der Regierung, unter anderem gegen die so genannten „Gaullisten“. Die bestehenden transatlantischen Organisationen förderten die Gründung immer neuer Schwesterorganisationen, und die Förderung des Nachwuchses trug immer mehr Früchte. Unabhängig von den traditionellen Netzwerken drängten sich eine Reihe neuer Stiftungen in den inneren Kreis, wie die ungeheuer mächtige Bertelsmann-Stiftung. Der Knoten für marktradikale Privatisierer und USA-Lobbyisten platzte erst so richtig mit dem Fall der Mauer. Durch die Privatisierungsgewinne aus der Abwicklung der DDR entstand eine neue Kaste von Glücksrittern. Die Verspeisung des DDR-Volksvermögens machte Lust auf mehr: nämlich das Volksvermögen der gesamten Bundesrepublik.

Das neunte Kapitel schließlich erweitert den Blick auf Europa. Die europäische Einigung war zunächst ein geopolitisches Vorhaben der USA, um die westeuropäischen Staaten zu immunisieren gegen angebliche Übernahmegelüste der Sowjetunion. Nachdem Westeuropa als Festung gegen den Kommunismus etabliert war, entstand so langsam eine neue Agenda: den Apparat der Europäischen Gemeinschaft und später der Europäischen Union als Werkzeug für die Durchsetzung der marktradikalen Schwächung der Nationalstaaten zu nutzen. Seitdem wacht die EU mit Argusaugen darüber, dass die Nationalstaaten auch brav ihre eigene Amputation durchführen.

Doch schon bevor diese Variante der europäischen Einigung richtig vollendet ist, geht es an die Zwangsvereinigung von Europa mit den USA. Die Eile und Heimlichkeit, in der dies geschieht, lässt es zu, von einem Putschversuch zu reden. Die USA haben überall Kopien ihrer selbst produziert. Es geht darum, diesen angelegten Garten sauber zu halten durch zuverlässige Bündnissysteme, die auch dann noch intakt sind, sollten die USA doch eines Tages mal implodieren.

Die Aktivitäten, Deutschland und Europa auf diese Agenda festzuzurren, sind gerade wegen der Geheimhaltung der Akteure und ihrer Pläne so erfolgreich und widerstandslos durchgeführt worden. Es ist also enorm wichtig, über diese Mechanismen aufzuklären. Im zehnten und letzten Kapitel dieses Buches werden ein paar Gedanken ausgebreitet, wie der oberste Souverän dieser repräsentativen Demokratie, das Volk nämlich, wieder die Oberhand gewinnen könnte und welche Agenda man dem transatlantischmarktradikalen Programm entgegensetzen kann.

Es war einmal – und ist immer noch

„Im Besonderen fällt der öffentlichen Wirtschaft die Aufgabe zu, in Unterstützung der staatlichen Wirtschaftspolitik den Ausgleich gegenüber den durch die private Wirtschaftsbetätigung geschaffenen Einseitigkeiten und Härten herbeizuführen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen soll sie die Kräfte entwickeln, die ein Gegengewicht gegen die großkapitalistischen Monopolisierungstendenzen bilden.“

Josef Hoffmann, ehemaliger Hauptgeschäftsführer des Sparkassen- und Giroverbandes Deutschland

„There is no Alternative!“, es gibt keine Alternative zum sozialen Kahlschlag des Marktradikalismus!

So verkündete es Anfang der Achtzigerjahre die „Eiserne Lady“ Margaret „Maggie“ Thatcher unverkennbar britisch näselnd der eifrig mitschreibenden Presse. Die resolute Dame kündigte jegliche Schonung der unteren Gesellschaftsschichten auf, zwang die dereinst starke Bergarbeitergewerkschaft in die Knie, verscherbelte Staatsbetriebe für ’n Appel und ’n Ei. Im verschärften globalisierten Wettkampf um Marktanteile könne man sich keine Kultur des Mitgefühls und der Rücksichtnahme mehr leisten. Die Radikalrasur der Frau Thatcher hat im Laufe der Jahrzehnte immer mehr Nachahmer gefunden. Fast scheint es, als gäbe es tatsächlich nichts anderes mehr als die bitteren Pillen des Neoliberalismus.

Es fand sich jedoch ein Häuflein Aufrechter, zusammengesetzt aus Alt-Achtundsechzigern und jungen Leuten, die sagten: Doch, es gibt Alternativen zum TINA-Syndrom („There Is No Alternative!“). Sie organisierten sich in der Gruppe Attac. In Seminaren und Kongressen hält man Ausschau nach Alternativen zum zerstörerischen Neoliberalismus. Hier erfährt man Interessantes über das Bioenergiedorf Jühnde bei Göttingen oder die Energiegenossenschaft Schönau im Schwarzwald. Dann gibt es Regionalwährungen wie den Chiemgauer, wo das Geld nicht als Spekulationskapital auf Amokfahrt gehen kann, sondern allein den Menschen im Chiemgau dient.

Das ist alles wunderschön und durchaus zukunftweisend. Was ich aber nie verstanden habe: warum sagt kein Mensch aus dieser Alternativwelt, dass wir in Deutschland, der Schweiz, Österreich und Skandinavien schon seit über hundert Jahren über Kräfte und Strukturen verfügen, die so ganz anders sind als der Radikalkapitalismus angloamerikanischer Prägung?

Die Alternative zum Neoliberalismus ist keineswegs ein Nischen-Phänomen einer Handvoll Exzentriker mit Studienabschluss.

Die Wirtschaft besteht in Deutschland aus drei Teilen: neben dem privatwirtschaftlichen Sektor mit seiner Profitorientierung haben wir den öffentlich-rechtlichen Sektor und dazu als dritte Komponente die zahlreichen Genossenschaften. Daran zu erinnern, mag zunächst wie Nachhilfeunterricht in Staatsbürgerkunde klingen. Jedoch sind diese Binsenweisheiten aus dem Bewusstsein der Bevölkerung verdrängt worden. Es wird so getan, als seien diese Errungenschaften, die unsere Vorfahren in geduldiger Kleinarbeit in die Welt gebracht haben, überflüssige Blinddärme, die man mal eben so weg operieren kann.

Ein Beispiel: Da werden in einem Handstreich öffentliche Landesbanken liquidiert. „Wozu brauchen wir DIE denn?“, fragt sich dann auch die Öffentlichkeit und applaudiert. Da werden unfähige Landesbankchefs wie Dirk Jens Nonnenmacher vorgeführt, und mit ihrer Entmachtung werden auch gleich deren Opfer, die dem Volk gehörenden Landesbanken nämlich, mit entsorgt. Wie ist so viel Unwissenheit möglich? Landesbanken sind nämlich nicht um ihrer selbst willen da. Landesbanken sollen Geld für die Wirtschaft aus der Region bereitstellen. Geld, das Privatbanken, die den großen internationalen Konzernen verpflichtet sind, nicht zur Verfügung stellen wollen. Landesbanken sind ein Schutzdeich gegen die Übernahme einer ganzen Region durch übermächtige Konzerne!

Dasselbe gilt für Sparkassen oder Raiffeisenbanken. Es gäbe in Deutschland schon lange keine bäuerliche Landwirtschaft mehr, wenn nicht Genossenschaftsbanken den Bauern in schwierigen Zeiten Geld vorstrecken würden. Wir hätten dann schon lange keine kleinen Äcker mehr mit ihren Schutzräumen für vielfältige Flora und Fauna. Sondern riesige agroindustrielle Monokulturen wie in den USA. Im Mittelwesten der USA werden Landschaften nämlich einfach verbraucht, bis sie unwiderruflich ruiniert sind. Dann ziehen die Farmer weiter. Oklahoma ist schon seit den Dreißigerjahren des letzten Jahrhunderts ausgelaugt und wird als „Sandbüchse der USA“ belächelt. Oklahoma ist seitdem ein Schauplatz sich abwechselnder Naturkatastrophen. Und das Gleiche zeichnet sich auch für andere US-Bundesstaaten ab.

In Deutschland ist noch Platz und flüssiges Kapital da für kleinräumige Landwirtschaft. Saftige Äcker und Wiesen führen uns vor Augen, was wir an unserer so ganz anders gearteten Wirtschaftsform immer noch haben. Lassen wir uns durch das immer gleiche Lied vom Vorbild Amerika, das uns die Mainstreampresse unermüdlich vorsingt, nicht die Sinne vernebeln: unser Modell der Dreiteilung der Wirtschaft ist eindeutig dem angloamerikanischen Marktradikalismus überlegen! Überlegen, wenn wir den Menschen und seine natürlichen Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellen und nicht die optimalen Profitmöglichkeiten einiger weniger Elitemenschen.

Unsere belächelte „Konsensgesellschaft“

Die Segnungen der Dreiteilung sind uns ja auch nicht durch einen feudalen Gnadenakt zugefallen. Die Arbeiterbewegung hat Kolossales geleistet mit ihren Arbeiterbildungsvereinen, Konsumgenossenschaften, Gewerkschaften und Wohnungsbaugenossenschaften. Die Bauern haben sich zusammengetan, gemeinsam Saatgut eingekauft und gemeinsam ihre Ernteerträge vermarktet. Hinzu kommt der glückliche Umstand, dass diese Basisbewegungen tatkräftige Unterstützung aus dem aufgeklärten Bildungsbürgertum erhielten. Hermann Schulze-Delitzsch stellte den jungen Genossenschaftsgründern seine Kenntnisse in der Organisation und Verwaltung zur Verfügung. Und er betrieb mächtig Lobbyarbeit für die neue Bewegung bei den Mächtigen im Preußen des Neunzehnten Jahrhunderts. Friedrich Wilhelm Raiffeisen tat dasselbe aus christlichem Antrieb, Ferdinand Lassalle aus sozialistischer Perspektive.

Die Obrigkeit in Preußen benötigte gewiss eine gehörige Zeit, bis der Groschen gefallen war. Bis man in Berlin begriff, dass man sich den Ast absägt, auf dem man sitzt, wenn man den unteren Ständen nicht entgegenkommt. Doch schon 1869 wurde ganz offiziell ein Gesetz angenommen, das den Genossenschaften einen anerkannten Platz in der preußischen Gesellschaft garantierte. Und die Initiative zu öffentlich-rechtlichen Sparkassen ging sogar von preußischen Ministerialbeamten aus. „Kleinvieh macht auch Mist“, wird man sich wohl gedacht haben. Die „Sparbüchse des kleinen Mannes“ ermöglichte segensreiche Investitionen in der Region, aus der das Geld stammte. Das Ersparte kam den Leuten direkt wieder zugute, zum Beispiel durch saubere Straßen mit Abwasserkanälen. Das gestiegene Bewusstsein für Hygiene und das Wissen um die Gefahr durch Bakterien verlängerte die Lebenserwartung und verbesserte die Lebensqualität.

Es herrschte in den aufgeklärten Kreisen des deutschen Adels durchaus eine Sensibilität für die Probleme der unteren Schichten, wie man sie in gehobenen Kreisen der USA und Englands nie wahrgenommen hat. Als im Jahre 1888 in Westdeutschland schwere Auseinandersetzungen zwischen streikenden Bergarbeitern und Streitkräften auszubrechen drohten, griff der gerade ins Amt gekommene blutjunge Kaiser Wilhelm II., der Nationalökonomie studiert hatte, in das Geschehen ein. Der Kaiser traf sich mit Delegierten der Bergarbeiter. Er forderte Bismarck auf, Gesetze zur Begrenzung der Arbeitszeit und für den Arbeitsschutz auf den Weg zu bringen. Bismarck entgegnete dem Kaiser, was auch Otto Graf Lambsdorff nicht anders gesagt hätte: wir verlieren unseren Wettbewerbsvorteil, wenn wir den Arbeitern zu sehr entgegen kommen. Woraufhin Wilhelm eine internationale Konferenz in Paris einberufen ließ, auf der die Arbeitszeit und die Sicherheitsnormen international verbindlich geregelt werden sollten.3 Wenn auch jene Konferenz keine sichtbaren Ergebnisse zeitigen sollte, so ist Wilhelms Initiative trotzdem bemerkenswert. Von Wilhelms Großmutter, Königin Victoria von England, oder vom amerikanischen Präsidenten ging niemals eine solche Initiative aus.

Zu dieser von neoliberalen Milchbärten als „Konsenskultur“ mokant belächelten Sensibilität der deutschen Regenten gehört auch folgende Episode: Kaiser Wilhelm wagte es im Jahre 1890, die Ikone Bismarck fristlos zu feuern, weil dieser einen Bürgerkrieg von oben gegen die Arbeiterbewegung auf den Weg bringen wollte. Seit jenem Zeitpunkt hatte Kaiser Wilhelm II. in den angloamerikanischen Oligarchien eine durchweg negative Presse. Und Bismarck ist zum Heiligen der Neoliberalen erhoben worden. Die bereits erwähnte Maggie Thatcher bekam in Anlehnung an den „Eisernen Kanzler“ Bismarck von der neoliberalen Presse den Ehrentitel „Eiserne Lady“ verliehen.

In Deutschland war bis in die Achtzigerjahre des Zwanzigsten Jahrhunderts klar, dass in den Kernbereichen des gesellschaftlichen Lebens das Profitprinzip nichts zu suchen hat. Ich liste im Folgenden der Kürze halber einmal die bedeutendsten Wohltaten unserer bespöttelten „Konsenskultur“ auf, die vor dem Profitstreben geschützt waren:

Bildung, Forschung und Lehre

Gesundheit und Versorgung der Schwachen

Öffentliche Personenbeförderung

Öffentliche Infrastruktur: Straßen, Schienennetze, Stromtrassen, Telefonleitungen, Post

kommunale Stadtwerke

öffentlicher Wohnungsbau

existentielle Vorsorge durch Renten- und Krankenkassen

Justiz, Polizei und Strafvollzug.

Unschwer erkennen wir, dass bis auf den letzten Punkt alle Bereiche dem Zugriff der profitorientierten Privatwirtschaft ausgeliefert sind. Und bei genauerem Hinsehen bleibt bislang nur die Justiz in staatlichen Händen. Unsere Polizisten tragen mittlerweile keine friedfertigen grünen Uniformen mehr. Mit den neuen schwarzen Uniformen sehen die verbeamteten Ordnungshüter nicht nur ungleich martialischer aus. Zudem sind sie jetzt von den privat bezahlten Sicherheitsmännern, den so genannten „Schwarzen Sheriffs“ auf den ersten Blick nicht mehr zu unterscheiden. In England wird bereits über die Privatisierung der Polizei laut nachgedacht.

Der Strafvollzug wird auch in Deutschland privatisiert. Es gibt in Hessen und in Mecklenburg-Vorpommern zwei privat betriebene Gefängnisse. Die Privatisierung der Gefängnisse in den USA führte übrigens zu einer Vermehrung der Gefängnisinsassen um den Faktor elf: von 1970 bis heute nahm die Anzahl der Strafgefangenen von damals 200 000 auf heute 2,2 Millionen zu! Der Gefängnisindustrie ergebene Politiker ließen immer neue Straftatbestände in das Gesetzbuch hineinschreiben, um die Gefängnisse und Arbeitslager immer weiter aufzufüllen.4

Viele Zitadellen des Sozialstaats sind bereits vom Dauerbeschuss der neoliberalen Sturmtruppen stark gezeichnet. Doch geschleift sind sie noch nicht. Unsere Daseinsvorsorge zum Beispiel erfreut sich trotz aller Störmanöver noch guter Gesundheit. Gerade nach den Finanzdesastern der letzten Jahre wollen viele Leute zurück in die gesetzlichen Krankenkassen. So hielten die gesetzlichen Krankenkassen im Jahre 2013 einen Marktanteil von 86,5 Prozent, die privaten Versicherungen lediglich von 11 Prozent.5 Die gesetzlichen Krankenkassen verfügen über ein enormes Geldvolumen, was man daran ermessen kann, dass sie 2012 über 300 Milliarden Euro an Leistungen ausgezahlt haben.6 Diese Potenz möchten sich private Finanzhaie gerne aneignen. Und so sind die von ihren marktradikalen Einflüsterern beeinflussten Politiker fest entschlossen, trotz zu erwartender höherer Versorgungsansprüche an die gesetzlichen Krankenkassen den Beitragssatz zu senken und auf niedrigem Niveau festzunageln.7

Das alles frei nach Shakespeare: Ist es auch Schwachsinn, so hat es doch Methode!

Was wir an unserer öffentlichen Wirtschaft haben

Wer Verwandte oder Bekannte hat, die in die USA ausgewandert sind, fühlt sich manchmal etwas klein und mickrig, wenn diese neuen US-Bürger damit angeben, was für hohe Gehälter sie dort beziehen. Gewiss, wer jung, flexibel und kerngesund ist, kann in den USA schnell viel Geld verdienen. Aber wehe, es geht irgendetwas schief! Ein Unfall, eine ernstere Krankheit oder auch ein Knick in der Konjunktur der US-Wirtschaft können aus Menschen des gehobenen Mittelstandes schnell Obdachlose machen. Denn für die eigene Daseinsabsicherung muss man selber sorgen. Und das geht richtig ins Geld. „Wird schon irgendwie gut gehen!“, sagen sich viele Amerikaner und sparen sich die Vorsorge.

So kommt es, dass der Finanzcrash von 2008 eine massenhafte Obdachlosigkeit in den USA verursacht hat. Menschen aus der Mittelschicht mussten von gestern auf heute ihre schicken Häuser räumen und in Zeltlager vor den großen Städten überwechseln. Entlassene Autoarbeiter in Detroit mussten Kartoffeln anpflanzen, um nicht zu verhungern.

Es ist davon auszugehen, dass unsere Opel-Arbeiter in Bochum, deren Werk geschlossen wurde, nicht auf der Straße schlafen und auch keine Kartoffeln im Stadtpark anbauen müssen. Sie haben über Jahre in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt und bekommen jetzt ihren Anteil wieder. Sie müssen auch nicht ihr Häuschen verkaufen und im VW-Bus nach Baden-Württemberg fahren, im Auto hausen und ihre Arbeitskraft jedem anbieten, der gerade des Weges kommt. Vielmehr werden der Bund und das Land Nordrhein-Westfalen zusammen mit dem „Mutter“konzern General Motors Pläne zur Weiterbeschäftigung in der Region oder eine Vorruhestandsregelung für die dreieinhalbtausend Opelaner erarbeiten.

Während in den USA Rentner bei Wal Mart Regale befüllen müssen, um nicht zu verhungern, hat man bei uns von dem Finanzcrash von 2008 im Alltag nicht viel bemerkt. Es herrscht eben in Deutschland, in der Schweiz, in Österreich und in Skandinavien immer noch eine viel menschlichere Sozialkultur als in den Paradiesen des Neoliberalismus, namentlich in den USA oder England. Der Staat ist bei uns trotz Merkel, Gabriel und Co. immer noch eine Gestaltungsmacht.

Genossenschaften sind die wichtigsten Finanzpartner der Bundesbürger. Mehr als jemals zuvor. Nach dem offensichtlichen Versagen der Privatbanken im Börsencrash 2008 sind die Leute in Scharen zu den Sparkassen, Raiffeisen-, Volks- und Spardabanken übergelaufen. 17 Millionen Bundesbürger sind Genossenschaftler bei diesen Banken. Ungefähr zwei Drittel der Bundesbürger wickeln ihre Geldbewegungen über diese Banken ab. Hier kann man zwar nicht über Nacht Millionär werden. Aber das Geld ist absolut sicher angelegt und bleibt in der Region.

Genossenschaften und öffentlich-rechtliche Einrichtungen sind im Prinzip immun gegen die Auswüchse des Kapitalismus. Von ihrer Struktur her werden Gelder aus der Region in die Region reinvestiert. Risikospekulationen sind im Prinzip ausgeschlossen. Mein Onkel Dr. Josef Hoffmann war von 1924 bis 1933 und dann wieder von 1947 bis 1966 Hauptgeschäftsführer des öffentlich-rechtlichen Sparkassen- und Giroverbandes. Den Plänen der Nazis, das immense Kapital der Sparkassen der Kriegswirtschaft zuzuführen, hatte sich Hoffmann entgegengestellt und musste deswegen für 14 Jahre seinen Posten räumen. Und was er über die Aufgaben der Sparkassen zu sagen hat, sollte in goldenen Lettern in sämtlichen Sparkassen aushängen:

„Im Besonderen fällt der öffentlichen Wirtschaft die Aufgabe zu, in Unterstützung der staatlichen Wirtschaftspolitik den Ausgleich gegenüber den durch die private Wirtschaftsbetätigung geschaffenen Einseitigkeiten und Härten herbeizuführen. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen soll sie die Kräfte entwickeln, die ein Gegengewicht gegen die großkapitalistischen Monopolisierungstendenzen bilden.“8

Der Sparkassendirektor und seine schlüpfrigen Aktien

Dr. Hoffmann ist schon lange außer Diensten. Es ist anzunehmen, dass ihm heutzutage nicht die Nazis, sondern die neoliberalen Seilschaften das Arbeiten unmöglich machen würden. So mancher Sparkassenfunktionär träumt nämlich heutzutage davon, seine regionale Sparbüchse zum „Global Player“ aufzupusten.

So auch Frerich Eilts, ehemaliger Direktor der Flensburger Stadtparkasse, die im Jahre 2008 nach 189-jährigem Bestehen ihr Leben aushauchte.9 Herr Eilts hatte die Öffentlichkeit beeindruckt mit einem schwindelerregenden Wachstum der Flensburger Sparkasse. So war auch nicht recht zu verstehen, dass im Februar 2008 der Flensburger Oberbürgermeister an die Öffentlichkeit trat und die rasche Fusion der Flensburger Sparkasse mit der Nord-Ostsee Sparkasse, kurz: Nospa, bekanntgab. Erst mit der Zeit kam in kleinen Häppchen ans Tageslicht, dass die Flensburger Stadtsparkasse vollständig pleite war und durch eine Notoperation in der Nospa aufgehen musste, um die Einlagen der Kunden zu retten.

Direktor Eilts hatte seine Sparkasse schlicht zweckentfremdet. Anstatt solide die Einlagen seiner Kunden in den regionalen Geldkreislauf einzuspeisen und in kleinen Portionen zu streuen, hatte er Großkredite auch außerhalb der Region vergeben und damit ein so genanntes „Klumpenrisiko“ auf die Schultern der Bank geladen. Soll heißen: er hatte das Geld an einige wenige Kunden gegeben. Wenn die dann ins Straucheln kommen, strauchelt sofort auch die Kredit gebende Bank. Eilts hatte zudem weit mehr Geld verliehen, als die Bank überhaupt an Einlagen hatte. Das musste er von außen holen. Alles Dinge, die für eine Sparkasse grundsätzlich tabu sind.

Und an dieser Stelle muss man leider sagen: alle diese Verstöße gegen die guten Sitten öffentlicher Geldbewirtschaftung sind nur möglich, wenn die Öffentlichkeit schläft. Wenn die Aufsichtsorgane aus Bequemlichkeit alles abnicken. Warum hatte die Stadtregierung von Flensburg als Vertreter der Flensburger Bürgerschaft, denen die Sparkasse ja schließlich gehört, kein Veto eingelegt, als Eilts einen Megakredit an den Erotikkonzern Beate Uhse auf den Weg brachte? Als Sicherheit für die Kredite bot der Konzern nur ein Aktienpaket an, das sich in den Händen des Besitzers Ulrich Rotermund befand und das nie zuvor den Crashtest an der Börse absolviert hatte. Als Rotermund dann ein Aktienpaket auf den Markt warf, stürzte der Kurs der Erotik-Aktie ins Bodenlose von 200 Euro auf 35 Cent.

Erst nachdem die Flensburger Stadtsparkasse in der Nospa aufgegangen war, erfuhr die Öffentlichkeit Scheibchen für Scheibchen, dass die Flensburger Sparkasse einen gigantischen Schuldenberg von 181 Millionen Euro in die Ehe mit der Nospa eingebracht hatte. Nun geriet auch die Nospa in Schieflage. Das Flensburger Stadtparlament, in das nach den Kommunalwahlen eine basisorientierte Bürgerliste „Wir-in-Flensburg“ als stärkste Fraktion eingezogen war, setzte keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein, sondern lediglich eine „Arbeitsgruppe“ unter Vorsitz des frisch gewählten WIF-Stadtpräsidenten Christian Dewanger. Die AG hatte keine Befugnisse, Akteneinsicht einzufordern oder Akteure des Skandals zum Erscheinen vor der Arbeitsgruppe zu zwingen.

Unglaublich: gewählte Vertreter der Flensburger Bürgerschaft, die die legitimen Eigentümer der Sparkasse sind, dürfen keinen Einblick nehmen in die Akten ihrer eigenen Firma!

Den Mitgliedern der Arbeitsgruppe blieb nur übrig, jenen Personen zu danken, die freiwillig zu erscheinen geruhten. Die Amateurpolitiker ließen sich, auf Deutsch gesagt, einseifen. Der Abschlussbericht bringt dafür Verständnis auf, dass Sparkassendirektor Eilts und seine Mitstreiter sich von der Börseneuphorie mitreißen ließen und findet lobende Worte für Oberbürgermeister Tscheuschner, der erst im Amt war, als das Kind schon in den Brunnen gefallen war, nämlich im Jahre 2005. Kein Wort darüber, dass Tscheuschner dann noch gute vier Jahre die heranreifende Erkenntnis, dass die Flensburger Sparkasse gerade untergeht, für sich behalten und die Motive für die Fusion allein mit Synergie-Effekten begründet hat. Die Arbeitsgruppe kam zu folgendem Urteil: „Jedenfalls waren die damaligen Geschäfte mit dem herkömmlichen Geschäft einer Sparkasse, die für die Kreditversorgung des regionalen Mittelstands sorgen soll, allenfalls teilweise zu vereinbaren.“10

Ich habe diese Posse aus dem hohen Norden deswegen so ausführlich geschildert, weil man hier sehen kann, wie weit sich Sparkassenchefs von den Grundsätzen der öffentlich-rechtlichen Geldwirtschaft entfernt haben; sich quasi nur noch als Artgenossen der Ackermann, Fitschen und Co. von der Deutschen Bank wähnen. Und wie ihnen dieser Größenwahn und Verrat an der Sparkassenidee leicht gemacht wird durch eine Öffentlichkeit, die aufgrund jahrzehntelanger Gehirnwäsche längst vergessen hat, wozu die deutsche Dreiteilung der Wirtschaft eigentlich gut ist. Die Ratsmitglieder aus der Sparkassen-Arbeitsgruppe sind schlicht zu gutmütig, um ihre Bürgerrechte mit einem energischen Faustschlag auf den Tisch zu verteidigen.

Die wackeren Bürgersleut‘ können sich einfach nicht vorstellen, wie abgebrüht und skrupellos die Gegenseite zuschlagen kann. Wie strategisch hier vorgegangen wird: getrennt marschieren, vereint zuschlagen. Das werde ich jetzt in einem weit größer dimensionierten Maßstab aufzeigen.

Genossenschaftsbanken auf der Todesliste der neoliberalen Seilschaften

Wir erfuhren aus den Nachrichten bereits ausführlich, wie es großen öffentlich-rechtlichen Banken ergangen ist. Die WestLB hat das ihr anvertraute Geld unter anderem bei umweltzerstörenden Projekten in der Dritten Welt verloren und ist jetzt von der Bildfläche verschwunden. Die meisten Landesbanken sind im Kern ruiniert und stehen als Förderer der regionalen Wirtschaft nicht länger zur Verfügung.

In ruhigerem Fahrwasser schwimmen bislang noch die Genossenschaftsbanken. Doch auch hier werden die Messer bereits gewetzt. Die Messer kommen diesmal aus der Europäischen Union. Die europäischen Bankenaufsichtsbehörden bekommen nämlich neue Regulierungsinstrumente für die nationalen Kreditinstitute an die Hand. Angeblich möchte man nach den Finanzkatastrophen der letzten Jahre jetzt alles besser machen. Die Banken sollen mehr Einlagen bereithalten im Verhältnis zu den Krediten, die sie gewinnbringend vergeben. Jede noch so unbedeutende Maßnahme einer Bank soll zudem bürokratisch penibel dokumentiert werden. Regelwerke wie Basel II und Basel III geben haarklein vor, wie Banken immer Treu‘ und Redlichkeit üben sollen.11

Das alles klingt ja recht löblich und ergibt bei privaten, renditeorientierten Bankhäusern durchaus einen Sinn. Leider spielt die europäische Aufsichtsbürokratie blinde Kuh, wenn sie auch öffentlich-rechtliche und genossenschaftliche Banken in dieses neue Regelwerk mit einbezieht. Bei privaten Bankhäusern, die in globalem Maßstab agieren, wo Kredite oft anonym vergeben werden; da ist es recht und billig, die Kredithändler an die kurze Leine zu nehmen. Ganz anders sieht es bei öffentlich-rechtlichen Sparkassen sowie Raiffeisen- und Volksbanken aus. Die Mitarbeiter der Raiffeisenkassen agieren in einer überschaubaren Region, sie kennen ihre Kunden persönlich und werden mit ihnen zusammen älter. Wenn der selbständige Dachdeckermeister Material einkaufen muss für einen Großauftrag, dann wird sein Partner von der Raiffeisenbank nach kurzem Gespräch das nötige Geld schnell bewilligen.

Doch damit, so suggerieren manche Studien, könnte es bald vorbei sein. Wenn die neuen Verordnungen europaweit durchgepeitscht werden, könnte der Verwaltungsaufwand derart zunehmen, dass viele kleine Banken fusionieren müssen, Mitarbeiter entlassen werden und statt Filialen im Dorf nur noch Geldautomaten stehen. Wenn überhaupt. Wo ist da auf lange Sicht noch der Unterschied zu den Direktbanken, die schon jetzt günstigere Konditionen anbieten, da sie ohne Filialen zentral und online ihre Kredite vergeben? Werden Sparkassen, Raiffeisen- und Volksbanken gezwungen, zu anonymen Online-Banken zu mutieren?

Wieder einmal haben sich unsere Volksvertreter einen Tiefschlaf gegönnt. Dabei ist es doch offenkundig, dass wesentliche Filetstücke unserer Lebensqualität, unseres menschlichen Miteinanders, unserer Kultur ohne erkennbare Notwendigkeit auf dem Brüsseler Altar geopfert werden. Warum haben Politiker, die sich ja angeblich für die Belange des Mittelstandes einsetzen, diese administrative Hinrichtung unserer Lebensgrundlagen nicht verhindert? Man hätte sich energisch für eine Gesetzgebung stark machen müssen, die zwischen privaten und öffentlichen Banken Unterschiede kennt.

Das Mitgefühl des Fuchses für das flügellahme Huhn

Die DZ Bank ist in einem schicken futuristischen Hochhauskomplex in Frankfurt am Main untergebracht, eingebettet zwischen bombastischen Wolkenkratzern privater Banken. Die DZ Bank ist sozusagen Herz und Hirn der 900 Genossenschaftsbanken mit 12 000 Filialen in Deutschland. Die DZ Bank vertritt die Kreditgenossenschaften nach außen, stellt internationale Kontakte her, reguliert Geldströme zwischen den einzelnen unabhängigen Genossenschaftsbanken.

Auf der Webseite der DZ Bank findet man allerdings keine Stellungnahmen zu den bedrohlichen neuen EU-Regulierungen öffentlicher Banken.12