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Andrea De Carlo

Arcodamore

Roman

Aus dem Italienischen von

Renate Heimbucher

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 1993 bei Bompiani, Mailand,

erschienenen Originalausgabe: ›Arcodamore‹

Copyright © 1993

RCS Libri S.p.A., Bompiani, Milano

Die deutsche Erstausgabe

erschien 1995 im Diogenes Verlag

Das Zitat aus I Ging, Das Buch der Wandlungen,

herausgegeben von Thomas Cleary,

in der Übersetzung von Ingrid Fischer-Schreiber,

Diogenes Verlag, Zürich 1995

Umschlagillustration: Amedeo Modigliani,

›Nudo sdraiato, con le mani dietro la testa‹,

1917 (Ausschnitt)

Privatbesitz

 

 

Für Cecilia

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22959 2 (4. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60227 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Eins

Mein Cousin hatte zehn Tage vor Weihnachten Geburtstag, und seine Frau wollte eine Überraschungsfete veranstalten, sie rief mich an und sagte, ich müsse unbedingt kommen. Seitdem ich mich von meiner Frau getrennt hatte und allein lebte, meldeten sie sich mindestens zwei-, dreimal im Monat und waren immer bereit, mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen und mich zu mondänen Parties mitzunehmen. Ich tat nichts, um sie zu entmutigen, obwohl wir uns jahrelang kaum gesehen hatten und nie viel gemein gehabt hatten. Ab und zu besuchte ich sie in ihrer schönen Wohnung in der Innenstadt zum Abendessen oder zu einem Drink und hielt sie darüber auf dem laufenden, wie es mir erging. Ich spielte den kleinen Bruder, obwohl wir ungefähr gleich alt waren; ihre scheinbar unverwüstliche Beziehung und ihre hochwertige Wohnzimmereinrichtung machten mir Mut, und die Neugier, die ich in ihren Blicken las, gab mir das Gefühl, daß sich trotz allem etwas tat.

So ließ ich mich am Geburtstag meines Cousins von seiner Frau in ihrem Schlafzimmer verstecken, zusammen mit zwanzig Freunden von ihnen, alles von Kopf bis Fuß durchgestylte junge Mailänder Freiberufler; ich horchte auf ihre Stimmen und beobachtete ihre Gebärden und empfand dabei ein intensives Gefühl der Fremdheit, das so zäh auf mir lastete, als wäre mein Blutkreislauf ins Stocken geraten.

Um neun kam die Frau meines Cousins herein, machte: [6] »Pssst«, löschte das Licht und schloß dann wieder die Tür; jetzt waren wir im Dunkeln, inmitten von Gekicher und Gehuste und geflüsterten Sätzen und dem Rascheln edler Stoffe und dem Geruch von teuren Parfums und regenfeuchten Schuhen und Körperausdünstungen. Müde war ich auch: Ich hatte den ganzen Tag eine Tischlampen-Kollektion fotografiert, mir brannten die Augen von den grellen Lampen im Studio. Am liebsten hätte ich mich auf das Ehebett meines Vetters gelegt und geschlafen – mich dem Getue seiner Freunde, den starren, geballten Erwartungen entzogen.

Dann ging plötzlich das Licht an, und mein Cousin war schon zwei Schritte im Zimmer, als alle »Herzlichen Glückwunsch!« brüllten, mit dem wohldosierten Sadismus einer Meute eleganter Lynchmörder; ich sah, wie sich sein blasses Gesicht vor Überraschung verzerrte.

Im darauffolgenden Sekundenbruchteil der Stille beobachtete ich ihn gebannt und wartete darauf, daß sich seine Züge zu dem gleichen Lächeln entspannten wie das Lächeln, das ihm von allen Seiten entgegenkam. Aber sein Gesicht blieb viel länger angespannt, als ich erwartet hatte, auch nach dem Aufprall der Woge von Gesten und Gelächter und ausgestreckten Händen und Knüffen und geistreichen Bemerkungen. Endlich lächelte er, umzingelt von forschenden Blicken aus nächster Nähe; lockerte sich den Krawattenknoten und sagte: »Danke.« Dennoch wirkte er, wie er so dastand, angespannt und ratlos.

Auch seine Freunde bemerkten es, während sie ihn von ihrer Vorfreude getrieben weiter umdrängten; sein seltsames Verhalten bremste ihren Schwung, ließ ihn beinahe gefrieren. Seine Frau stand neben ihm, starrte ihn an, als würde sie ihn nicht recht wiedererkennen.

Dann wurden die Bewegungen und Blicke und [7] Stimmen der Gäste wieder lebhafter, rissen meinen Cousin und seine Frau mit und lösten wenigstens teilweise die Spannung zwischen ihnen, breiteten sich in der Wohnung aus, bis sie jeden verfügbaren Winkel ausfüllten. Mein Cousin wurde ins Zentrum kleiner Strudel von Gratulanten und Geschenküberreichern gezerrt; er wickelte Päckchen aus, bedankte sich mit Umarmungen, wiederholte immer wieder die gleichen Worte. Im Wohnzimmer war das Essen eingetroffen, das seine Frau hatte zubereiten lassen, und eins der Kinder, das noch nicht eingeschlafen war, wurde herumgereicht und begrüßt, einer öffnete den Wein und legte eine Platte auf, das Fest brachte weitere Sätze und Gebärden hervor, ohne deshalb fröhlich oder lustig zu werden. Ich kannte diese Mailänder Salonstimmung ohne echte Begeisterung, ohne Ausgelassenheit, nichts als prüfende Blicke und Informationsaustausch und Insiderscherze und Ironie zwischen den Zeilen und die obligaten Anspielungen. Ich ging zwischen den Leuten hindurch von einem Zimmer ins andere und versuchte mich auf das Essen und auf den Wein zu konzentrieren und mich von meinem Cousin und seiner Frau fernzuhalten, aus Angst, daß sie mich jemandem vorstellen wollten; ich wartete nur darauf, mich verdrücken zu können, ohne unhöflich zu wirken.

Gegen halb elf bahnte ich mir durch die mäßig aufgekratzte Menge seiner Freunde einen Weg zu meinem Cousin: »Ich muß weg, noch mal alles Gute.«

Er schaute auf die Uhr, faßte mich am Unterarm und sagte: »Warte, ich komme mit hinunter.«

Es lag eine so sonderbare Dringlichkeit in seinen blauen Augen mit den geweiteten Pupillen, in seinen Fingern, mit denen er meinen Arm allzu fest drückte, daß ich einwilligte, ohne etwas zu begreifen. Ich wollte mich von seiner [8] Frau verabschieden, die am anderen Ende des Wohnzimmers war, aber er zog mich zur Tür, ich konnte ihr nur von weitem zuwinken. Auch er winkte ihr zu, deutete mit dem Zeigefinger nach unten und bewegte dazu die Lippen, wie um einer Tauben zu sagen: »Ich bringe ihn hinunter.« Sie steckte in einem Schwarm von plaudernden Leuten, nickte nur, und schon waren wir aus dem Zimmer, liefen mit halb angezogenen Mänteln durch den Flur und auf den Treppenabsatz hinaus.

Im Aufzug sah mich mein Cousin noch flehentlicher an als vorher: »Hör zu, Leo, du mußt mir zu einem Alibi verhelfen, nur für zehn Minuten, ich weiß sonst nicht, was ich machen soll.«

Im Neonlicht sah ich ihn aus wenigen Zentimetern Entfernung an, verwundert über die Unruhe in seinem Blick, in seinem hastigen, nach Wein riechenden Atem. Ich war so daran gewöhnt, ihn distanziert und ironisch und vernünftig zu sehen, Herr über sich selbst und über die Dinge bis an die Grenze zur Kälte; ich fragte ihn: »Alibi? Wieso das?«

»Ich muß mich mit einer treffen. Wir waren halb verabredet, ich war auf dieses Überraschungsfest überhaupt nicht gefaßt.« Er zog mich durch den Lichthof auf die kalte und neblige Straße hinaus; fragte: »Wo ist dein Auto?«, sah sich ängstlich um.

Ich brachte ihn zu meinem Auto, startete durch. Mein Cousin gab mir hektische Anweisungen, wohin ich fahren sollte: »Links, links. Nur fünf Minuten, Leo.« Er zeigte nach vorn, hob den Arm vors Gesicht, um zu sehen, wie spät es war, beugte sich zur Windschutzscheibe vor, als ließe sich dadurch der Weg verkürzen.

Ich fuhr rasch über den nassen Asphalt, versuchte durch die beschlagenen Scheiben die Straße zu erkennen, [9] während der Ventilator auf Hochtouren lief und den Motorgeruch ins Wageninnere blies. »Und deine Frau?« fragte ich. »Und die Gäste?«

»Das ist ihr Problem«, sagte mein Cousin vornübergebeugt, ohne mich anzusehen. »Jetzt rechts, fahr weiter, mach schnell.«

»Stop, bleib stehen!« schrie er ein paar Minuten später auf einer verkehrsreichen Allee bei einem schmalen, länglichen Gebäude, einem ehemaligen Schaffnerhäuschen der Straßenbahn zwischen den beiden Fahrbahnen, das vor ein paar Jahren in eine Bar umgewandelt worden war. Ich fuhr ein Stück weiter vorn auf den Gehsteig, und wir rannten durch die dichten Abgasschwaden, die sich im Scheinwerferlicht der Autos fahl über dem Boden abzeichneten.

Am Eingang zur Bar stand eine Gruppe schwarz gekleideter Leute, die sich unterhielten und rauchten und mit den Füßen scharrten und bald die Passanten, bald den zweifachen Verkehrsstrom auf der Allee beobachteten. Sie warteten auf jemanden oder warteten darauf hineinzugehen, scheinbar ohne Eile und ohne erkennbaren Grund. Mein Cousin ging zwischen ihnen hindurch, blickte nach rechts und nach links; trat ein, ich folgte ihm.

Drinnen war die Luft von Rauch und karibischer Musik und Stimmen gesättigt, Leute standen am Tresen oder lehnten an den Fenstern oder saßen weiter hinten an den kleinen Tischen und tranken, junge Kerle in schwarzen Lederjacken und andere in alten schwarzen oder grauen Mänteln, ein paar Mädchen mit Punkfrisuren, Afrikaner, die lachten und im verqualmten Dunkel tanzten. Jedesmal, wenn draußen auf der Allee ein Auto vorüberfuhr, zeichneten sich ihre Silhouetten gegen das Scheinwerferlicht ab. Es schien mir kein Ort zu sein, wo man allein hinging, um [10] Anschluß zu finden; es herrschte eine Atmosphäre wie in einer festen Clique, ein Einverständnis auf bereits gefestigter Basis.

Mein Cousin bahnte sich einen Weg durch das Getümmel, drehte sein Profil mit der geraden Nase nach rechts und nach links, in seinem schwarzen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen, der unter denen der anderen Gäste nicht weiter hervorstach. Dann kam er zu mir zurück, sagte: »Sie ist nicht da«, mit kaum kontrollierter Panik im Blick.

»Nur keine Aufregung«, versuchte ich ihn zu beruhigen. Doch er ließ sich keineswegs beruhigen, er hielt weiter in alle Richtungen Ausschau, und einen Augenblick später schob er sich gegen den Strom der Hereindrängenden zur Tür, legte einem jungen Mädchen die Hand auf den Arm. Sie war hochgewachsen, trug einen Hut; auch sie hatte einen schwarzen Mantel an; sie lächelte, als sie meinen Cousin erblickte, umarmte ihn stürmisch.

Mein Cousin ließ sich von einem plötzlichen Impuls aus dem Gleichgewicht bringen: er stolperte fast, als er sich vorbeugte und sie auf die Wange küßte. Gleich darauf machte er ein paar komische Gebärden, deutete auf seine Füße, sagte etwas, das sie zum Lachen brachte. Er wandte sich nicht zu mir um und stellte sie mir nicht vor; ich war ohnehin zwischen den Leuten viel weiter hinten eingekeilt. Ich sah zu, wie sie einander ins Ohr sprachen und umherschauten und von neuem lachten. Es schien mir unangebracht, mich einzumischen, ich ging hinaus und wartete draußen.

Es war zu kalt und zu feucht, um still dazustehen; die Hände in den Taschen, ging ich die Asphaltinsel entlang, zwischen den beiden Verkehrsströmen, in der vergifteten und von den Motoren vibrierenden Luft. Ich fühlte mich [11] wie ich mich immer fühle, wenn ich merke, daß ich aus irgend etwas ausgegrenzt werde, war teils verzweifelt,teils erfüllte mich eine träge und bittere Genugtuung. Ich atmete die mit Kohlenoxid geschwängerte Feuchtigkeit ein, betrachtete die Autos, das lange, schmale Gebäude, die Bewegungen der Leute drinnen hinter den beschlagenen Fensterscheiben. Es ärgerte mich, daß mich mein Cousin hierher geschleppt hatte, um ein Alibi zu haben, und gleichzeitig war es mir egal. Es kam mir vor, als hätte ich endlos so warten können, draußen vor der Kneipe, ausgeschlossen aus der Musik und den Gesprächen und den Gesten und den Blicken und den Gründen, die die Leute bewogen, sich nachts mit so viel Dringlichkeit zusammenzufinden. Ich folgte den Konturen der asphaltierten Verkehrsinsel und versuchte gar nicht erst herauszufinden, ob ich traurig oder gelangweilt oder neidisch oder müde war; ich schaute nicht mal auf die Uhr, um zu sehen, wie viele Minuten verstrichen waren.

Dann schlenderte ich zur Bar zurück, und da stand mein Cousin mit dem hochgewachsenen Mädchen an der Tür, rief mir entgegen: »Leo! Was machst du da draußen in der Kälte?«

»Ich bin ein bißchen spazierengegangen.«

Mein Cousin stellte mich in einer für die Situation fast zu förmlichen Weise dem Mädchen vor. »Manuela Duini, mein Cousin Leo.«

Wir gaben uns die Hand, auch wir beinahe förmlich, mit einer Art kleiner steifer Verbeugung. Manuela Duini meinte: »Nicht gerade der beste Ort zum Spazierengehen.« Sie hatte ein schönes Gesicht, große, lachende braune Augen, braune Haare mit blonden Strähnen; und sie wirkte sehr beweglich auf ihren langen Beinen in den ausgebleichten Jeans, sie hatte eine schöne Art, das [12] Gewicht von einem Fuß auf den anderen zu verlagern, während sie um sich blickte, die Hände in den Taschen des offenen Mantels vergraben.

Mein Cousin erklärte: »Manuela spielt Harfe, sie ist eine der besten Harfenistinnen der Welt.« Er mußte weiter getrunken haben und schien mit fast draufgängerischem Ungestüm nach den erstbesten Worten zu schnappen, die ihm durch den Kopf schwirrten.

Manuela Duini lächelte, blickte zur Seite. Jemand schlüpfte an ihr vorbei in die Bar, jemand anders kam heraus, sie grüßte mit einer Handbewegung.

»Top class«, sagte mein Cousin. »Eine, wie es sie in jeder Generation nur ein-, zweimal gibt.« Er hatte eine Werbeagentur, das merkte man gleich, wenn man ihn reden hörte; und er war ein paar Zentimeter kleiner als sie, ich spürte seine ständige Anspannung beim Versuch, sich mit Hilfe von Sätzen und Gebärden auf ihre Höhe zu schwingen, ihr ebenbürtig zu sein.

Manuela Duini sagte: »Du lieber Himmel. Vielleicht sollte ich mir langsam Starallüren zulegen.« In ihrer Stimme schwang Ironie mit, aber auch eine tieferliegende Empfindsamkeit und Schüchternheit, die im Widerspruch zu ihren Worten stand.

Mein Cousin zeigte mit dem Finger auf mich. »Leo ist Fotograf. Wir sind also unter lauter Künstlern.« Er lächelte Manuela zu und streifte ihren Arm und schaute zu mir, bemühte sich, das Gespräch in Gang zu halten, zu beleben. Gleichzeitig war er beunruhigt wegen seiner Frau und seinen Freunden und seiner Geburtstagsfeier, von der er sich weggestohlen hatte, trotz dem Alkohol und der freudigen Erregung und den Bemühungen, nicht daran zu denken. Die Unruhe stieg wie ein elektrischer Strom von den Beinen durch den Körper in ihm auf bis in die Arme, [13] wurde noch gesteigert vom Straßenlärm und der karibischen Musik, die jedesmal, wenn jemand hinaus- oder hineinging, in Wellen herausflutete.

»Was für Fotos machst du?« fragte mich Manuela Duini mit ihrer hohen, melodischen Stimme; und sie schien wirklich neugierig zu sein, sie fragte nicht nur, um etwas zu sagen.

»Stilleben. Lampen, Stühle et cetera«, sagte ich, und aus irgendeinem Grund klang es, als müsse ich mich rechtfertigen.

»Leute fotografierst du nie?« fragte Manuela Duini.

»So gut wie nie.«

»Besser so«, meinte sie. »Porträtfotografen sind fast alle widerliche Scheißkerle.« Sie lachte, wippte auf ihren langen Beinen, machte halbe und Viertelschritte aus natürlichem Bewegungsdrang und wegen der Kälte.

»Ich verstehe, was du meinst«, sagte ich; und es stimmte, ihre Art, sich mitzuteilen, war so direkt, daß ich ihr ohne jeden Vorbehalt zulächelte.

»Die haben alle diese besitzergreifende Art«, sagte Manuela Duini. »Sie wollen über dich verfügen und bauschen dich auf oder drücken dich platt, bis sie deine banalsten Seiten aus dir herausgeholt haben und du in eins ihrer vorgefertigten Muster paßt. Dann tragen sie die Negative nach Hause und verkaufen dich, als wärst du wirklich die, die sie aus dir gemacht haben. Die primitiven Völker haben recht, sich nicht fotografieren zu lassen, weil sie nicht wollen, daß ihre Seele gestohlen wird.«

»Ja«, sagte ich, angesteckt von der mühelosen Aufrichtigkeit und der Natürlichkeit und Lebendigkeit in ihrem Blick und in ihrer Stimme. »Stimmt. Deshalb fotografiere ich Gegenstände.«

Mein Cousin hörte zerstreut zu, abgelenkt von [14] Manuelas Mienenspiel und dem Hin und Her am Eingang und von der Uhr, auf die er mit einer raschen Handbewegung immer wieder blickte. Wir waren vor über einer halben Stunde von seinem Geburtstagsfest geflüchtet, und man sah ihm förmlich an, wie die Zeit ihn drängte, seine Bewegungen wurden immer hektischer, sein Blick immer gequälter. Irgendwann tat er, als merke er ganz plötzlich, wie spät es war, sagte zu mir: »Jetzt müssen wir aber schleunigst los, sonst verpaßt du das Flugzeug.«

Ich sah ihn komisch an, und er drückte meinen Arm wieder so nervös und fest wie vorhin, als wir seine Wohnung verlassen hatten.

»Wohin fliegst du?« fragte Manuela Duini.

»Leo fliegt in einer halben Stunde nach Rom, wir müssen uns beeilen. Schade«, sagte mein Cousin, und ich hörte aus seiner Stimme echtes Bedauern heraus, vermischt mit der Lüge und seiner Hast. Er küßte Manuela Duini auf beide Wangen, ließ mir kaum Zeit, ihr die Hand zu geben, und zog mich zum Auto; aus zehn Schritten Entfernung machte er ihr ein Zeichen, um zu sagen: »Ich rufe dich an.«

Sie antwortete mit einer etwas unbestimmteren Geste, selbständig und ungebunden, wie sie war, und kehrte in die Bar zurück.

Auf der Rückfahrt sah mein Cousin in einem fort auf die Uhr. »Tiziana bringt mich um«, sagte er. »Die glaubt mir nie, daß ich die ganze Zeit unten war, um dich zu verabschieden.«

»Denk dir irgendwas anderes aus«, sagte ich. »Du kannst das doch so gut.« Es ärgerte mich, wie er mich seiner Frau und Manuela Duini gegenüber benutzt hatte und wie er mich zum Auto gezerrt hatte; mit welcher Leichtigkeit ihm Lügen über die Lippen kamen. Ich dachte daran, wie wenig ich dazu imstande gewesen war, als ich [15] noch verheiratet war, wie ich es mir dadurch mit meiner Exfrau verdorben hatte.

Ihm schienen bald unangenehme, bald süße Gedanken durch den Kopf zu gehen, die abwechselnd die Oberhand gewannen. Ab und zu lehnte er sich lächelnd zurück, anstatt sich wie auf der Herfahrt ständig angespannt nach vorn zu beugen. »Sie ist nett, findest du nicht?« bemerkte er.

»Wer?« fragte ich; dabei war ganz klar, von wem er sprach. »Ja, sehr nett«, bestätigte ich.

Er schaute hinaus und wieder auf die Uhr. »An dem Abend, als ich sie kennenlernte, waren wir auf einem Fest bei todlangweiligen Leuten, wir sind bis halb drei Uhr morgens geblieben, saßen in einem Zimmer auf dem Boden und haben uns unterhalten, zusammen mit zwei, drei anderen, die sie auch kaum kannte, und trotzdem war sie so unglaublich spontan und natürlich. Sie hat über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen und über Träume und über Psychoanalyse und über ihr Leben geredet, und alles so vorbehaltlos, daß sie am Ende alle damit angesteckt hat. Du hättest uns sehen sollen, wie wir dasaßen, mit dem Hintern auf dem kalten Fußboden, aber wir konnten einfach kein Ende finden. Leute, die sonst von nichts als von ihrer Arbeit reden oder von dem, was sie in der Zeitung gelesen oder im Fernsehen gesehen haben. Ich bin noch nie so einer Frau begegnet, unter all diesen affektierten, bei lebendigem Leib einbalsamierten Mumien.«

»Ah ja?« sagte ich, ohne den richtigen anteilnehmenden Ton zu treffen. Ich fand, daß ich mich gegenüber seiner Frau ziemlich unfair verhalten hatte; fand, daß er recht hatte.

Er war ganz aufgewühlt von Manuela Duini und vom Alkohol und von der wilden Fahrt zu ihr und von der [16] Sorge, nur rechtzeitig wieder nach Hause zu kommen; er packte mich an der Schulter. »Leo, verdammt noch mal, ist dir klar, wie sehr wir uns vom Leben ausschließen, aus Bequemlichkeit und Gewohnheit oder einfach aus Mangel an Gelegenheiten? Wie wir uns in einem Winkel verbarrikadieren und dabei auch noch glauben, daß es uns gutgeht? Mit bequemen Sesseln und Sofakissen und echtem schottischen Whisky und Schlaftabletten, um nicht ins Grübeln zu kommen? Draußen findet derweil das Leben statt, und wir begnügen uns damit, es uns allenfalls vorzustellen oder es ab und zu gefiltert oder als Abklatsch in einem Film oder einem Buch anzusehen. Wir kriegen es nur ganz am Rande mit, und die Zeit läuft davon, während wir in unseren geschmackvoll eingerichteten Wohnzimmern sitzen. Ist dir das klar, Menschenskind, Leo?«

»Natürlich ist mir das klar«, sagte ich, ihm eilig beipflichtend, aber auch weil ich fand, daß er recht hatte. Es machte mich betroffen, ihn so ungewohnte Töne anschlagen zu hören; hinter dem Gesicht und der Stimme, die ich so gut zu kennen glaubte, daß ich keine Überraschungen mehr erwartete, tauchte ein ganz unbekannter Mensch auf.

»Und was machen wir, wenn wir es gemerkt haben?« fragte mein Cousin. »Finden wir uns damit ab? Oder bringen wir den Mut auf, nicht mehr bloß Voyeure zu sein, sondern uns selbst ins Leben zu stürzen?«

»Ich hab’s probiert«, sagte ich. »Aber es war eigentlich keine Frage des Muts, ich bin einfach so hineingeschlittert.« Ich sah ihn beim Fahren immer wieder an und konnte nicht genau erkennen, wieviel echte Substanz hinter seinen übererregten Worten steckte, welche Wurzeln seine Stimmung hatte. Ich hatte noch lebhaft die Lichter und Geräusche in der Bar mitten auf der Allee im Kopf [17] und Manuela Duini und ihre Stimme und ihren Hut und ihre Art zu lächeln und sich zu bewegen, das Verhalten meines Cousins ihr gegenüber, die letzten Blicke zurück, während wir auf der vom doppelten Strom des Nachtverkehrs umtosten Asphaltinsel zum Auto gingen.

Die Straße, in der mein Cousin wohnte, kam mir dagegen fast unerträglich leer und ruhig vor, es war, als kehrten wir in eine Zeit zurück, in der die Welt noch völlig unbelebt war. Auch mein Cousin verwandelte sich zurück: kaum hundert Meter weiter war er wieder fast der alte. Ich hielt vor dem Haus, und er warf erneut einen Blick auf die Uhr, ich sah, wie der Selbsterhaltungstrieb sich seiner bemächtigte. »Die haben sicher schon vor einer ganzen Weile die Torte angeschnitten, verdammter Mist. Was soll ich ihnen bloß erzählen?«

»Weiß ich nicht«, sagte ich, ohne mich auch nur mit dem Gedanken zu befassen. Ich bedauerte, daß sich sein Gleichgewicht wieder einpendelte und er beinahe nüchtern und klarsichtig wirkte, nur daß sein Blick träger und seine Stimme schleppender als sonst war.

Er straffte sich mit einem Ruck, wie ein Ringer in den Seilen. »Ich sage ihnen, daß du ein Loch im Reifen hattest und ich dir beim Radwechseln helfen mußte.«

»Aber wir waren eine Dreiviertelstunde weg«, wandte ich ein; ich sah ihn vor mir, wie er unter den Blicken der Gäste und seiner Frau die Wohnung betrat: ihre Gereiztheit und ihre gekränkten Worte, ihr humorloses Lächeln.

»Dann eben zwei platte Reifen«, sagte mein Cousin. Er stieg aus, ging in die Hocke und faßte mit den Händen unter das Auto, rieb sie an der Radnabe. Dann wischte er sich mit den schmierigen schwarzen Fingern über die Stirn und eine Wange. »Danke, Leo. Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte.«

[18] »Keine Ursache«, sagte ich.

Er ging auf die Haustür zu, mußte nicht einmal lang mit den Schlüsseln herumfingern und verschwand nach drinnen.

[19] Zwei

Ich hatte gerade eine ziemlich ereignislose Lebensphase hinter mir. Seit ich mich vor drei Jahren von meiner Frau getrennt hatte, schwankte ich fortwährend zwischen Schuldgefühlen, vergeblichen Anläufen und immer wiederkehrender Ratlosigkeit. Ich war weder zu meiner neuen Freundin nach Venedig gezogen noch hatte ich ihr vorgeschlagen, zu mir nach Mailand zu ziehen, und ich war auch nicht zu meiner ehemaligen Familie zurückgekehrt. Der brutale Einschnitt der Trennung hatte meine ganze Entscheidungsfähigkeit mit einem Mal aufgezehrt und mich unsicher und unschlüssig zurückgelassen, verloren in den zyklischen Rhythmen meines Tagesablaufs. Ich machte weiter meine Arbeit, ging zweimal wöchentlich in die Sporthalle zum Karate und jeden zweiten Tag in meine frühere Wohnung, um meine Kinder ins Bett zu bringen und ihnen vor dem Einschlafen eine Geschichte vorzulesen, während der Babysitter in der Küche wartete und meine Exfrau sich zum Ausgehen anzog, sich schminkte und mir vom Flur aus ratlose Blicke zuwarf. Ich war hin und her gerissen zwischen gegensätzlichen Impulsen, Gesten und Gedanken, die im Ansatz steckenblieben, Gefühlen, die auf halbem Weg wieder kehrtmachten.

Dann war der letzte Sommer tödlich heiß gewesen, und in der Hitze hatte sich der Leim aufgelöst, der das Aquarium zusammenhielt, in dem ich wie ein zaghafter Fisch umhergeschwommen war; ich trennte mich von dem Mädchen, um dessentwillen ich meine Frau verlassen [20] hatte, blieb allein und fing an, ständig Leute zu treffen. Ich nahm jede Einladung an, nur um ausgehen zu können, unterdrückte meinen Hang, mich zu verkriechen. Ich hatte es geschafft, mehr Mädchen kennenzulernen, als ich seit langem kannte, eine Bekanntschaft ergab sich aus der anderen, wie es manchmal so geht; und ich achtete darauf, verfügbar und zugänglich zu bleiben, mich nicht in den Sog von Ansprüchen und Erwartungen hineinziehen zu lassen. Ich hatte nicht die geringste Lust, irgendwelche Garantien oder Erklärungen oder Versicherungen zu geben; ich hatte keinerlei Absicht, mich von A bis Z erforschen zu lassen, um dann wegen jedem kleinen Charakterfehler angeklagt zu werden. Ich hielt mich von der Last des Lebens fern, machte mich aus dem Staub, sobald ich die leisesten Anzeichen von Gefahr witterte; ich hatte mir die Vorsicht eines Wüstenwanderers angeeignet. Ich suchte nicht einmal mehr nach einer Wohnung, ich schlief in einem Klappbett in meinem Studio inmitten von Scheinwerfern und Stativen und Papierrollen, und es gefiel mir; ich kam mir freier vor, mit einer unbestimmten Zahl offener Möglichkeiten rings um mich herum.

Unter den Mädchen, die ich kennengelernt hatte, war die leichtfertigste eine halbprofessionelle Journalistin namens Antonella Sartori. Sie hatte mich vor einem Monat angerufen und mir vorgeschlagen, für ein neu erschienenes Einrichtungsmagazin die Wohnungen von Schauspielern und Sportlern und anderen Prominenten zu fotografieren. Ihre Stimme klang dünn, ihre Beziehungen zur Redaktion waren hingegen recht solide: Es schien mir eine gute Gelegenheit, aus dem geschlossenen Kreislauf von Lampen und Möbeln und Schreibtischutensilien herauszukommen, die ich tagtäglich in meinem Studio fotografierte.

[21] Obendrein war diese Antonella Sartori erst zweiundzwanzig und blond und ziemlich hübsch, wenn auch mit einem Anflug von Ängstlichkeit, weshalb ihr Blick unstet wirkte und sie sich noch in der harmlosesten Situation wie auf einem Minenfeld bewegte. Sie hatte immer ein kleines Mobiltelefon in ihrer Handtasche und rief in regelmäßigen Abständen zu Hause an, um zu sagen, wo sie gerade war und wie lange sie bleiben und wohin sie danach gehen würde. Sie zog sich zu diesem Zweck zurück, als wolle sie eine Zigarette rauchen oder sonst etwas tun, was den anderen nicht genehm war, hockte sich in irgendeine Ecke oder stellte sich hinter eine Tür, klappte dann das kleine Telefon wieder zu, steckte es in die Handtasche, hustete, sah woandershin, versuchte den Gedanken daran wegzuschieben.

Wir hatten die Wohnungen eines Modeschöpfers und eines Komikers und einer Soubrette und eines Fernsehphilosophen fotografiert und zu einem nicht unangenehmen gemeinsamen Arbeitsstil gefunden. Ich prüfte mit ihr die Einstellungen für die Fotos, die wir von der Wohnungseinrichtung knipsen wollten, dann baute ich die Lampen auf und fotografierte, während sie das Interview machte; ich hörte dabei ihren nervösen Fragen zu, den Antworten und Ansichten ihrer Interviewpartner, ohne diese weiter zu beachten, außer am Ende, wenn sie zwischen ihren Möbeln posierten und ich zwei, drei Fotos von ihnen aufnehmen mußte.

Nachdem wir in der Wohnung des Komikers gewesen waren, hatte ich sie in ein ägyptisches Restaurant zum Essen eingeladen und danach zu einem russischen Film, der fast nur aus Pausen zwischen den Dialogen bestand. Als wir aus dem Kino kamen, sagte sie: »So öde war es gar nicht«, in ihrem spröden, kantigen Sparflammenton. Wir [22] gingen nebeneinanderher zum Auto, sie sah mich immer wieder mit ihren kleinen blauen Augen an, und ich spürte, wie ein Zittern durch ihren dünnen Arm lief. Ich fühlte mich fast verpflichtet, ihr einen Kuß zu geben, tat es aber doch nicht.

Dann hatten wir uns noch einmal beruflich gesehen, und ich hatte sie wieder eingeladen; wir waren uns ganz allmählich immer näher gekommen, vorangetrieben von einer schwachen, aber beständigen Strömung. Ich rief sie nur alle paar Tage an, ohne mir Gedanken zu machen, was sie in der Zwischenzeit tat. Wenn ich sie nicht sah, traf ich mich mit anderen Mädchen und versuchte weitere kennenzulernen, sobald sich die Gelegenheit bot; jedes zweite Wochenende verbrachte ich mit meinen Kindern, dann zog ich zwischen mir und dem Rest der Welt die Brücken hoch. Ich hatte keine Lust, irgend etwas zu überstürzen oder mich anzustrengen oder mich zu exponieren; ich hatte keine Lust, irgend etwas zu entdecken, zu riskieren oder aufs Spiel zu setzen.

[23] Drei

Ich hatte einen Anrufbeantworter und filterte alle Kontakte durch seinen Mechanismus; ich ließ ihn immer eingeschaltet, auch wenn ich zu Hause war, er wirkte wie ein feinmaschiges Netz, das alles abfing, was zu mir durchdringen wollte. Ich ließ es klingeln, die mit meiner Stimme gesprochene Antwort ertönen, dann setzte sich das Aufnahmeband in Bewegung. Nur hin und wieder hörte ich die Anrufe ab; das rote Lämpchen, das mit seinem Blinken die festgehaltenen Botschaften anzeigte, weckte eine seltsame Erregung in mir: zwei Drittel Freude über die Kontakte zur Außenwelt, ein Drittel Panik des Verfolgten.

Mittags um halb eins fand ich eine Nachricht meines Cousins: »Kannst du mich bitte im Büro zurückrufen?«

Ich rief ihn zurück; er fragte: »Hättest du Lust, mit mir irgendwo einen Happen zu essen?« In seiner Stimme war keine Spur mehr von dem beruhigenden, etwas väterlichen Ton, den er mir gegenüber am Telefon monatelang angeschlagen hatte; statt dessen klang sie ängstlich und unsicher, nach Einverständnis heischend.

»Von mir aus«, sagte ich, obwohl ich nicht die geringste Lust hatte, aus dem Haus zu gehen; wir verabredeten uns in einer Bar, die wir beide kannten.

Als ich ankam, stand er schon am Eingang, winkte mir zu, während ich die Straße überquerte. Er umarmte mich, dabei konnte ich mich nicht erinnern, daß wir uns je umarmt hätten, und ich spürte sein Mitteilungsbedürfnis an [24] der Art, wie er mir mit festem Druck die Hände auf die Schultern legte. »Gehen wir rein«, sagte er.

Wir setzten uns an einen Tisch ganz hinten in dem Saal voller Angestellter, die kaltes Fleisch und Sandwiches in sich hineinstopften, bevor sie in ihre Büros zurückeilten; wir bestellten zwei Bier und zwei Teigfladen mit Gemüse. Mein Cousin war anders gekleidet als sonst, mit einer schwarzen Jacke und einem bis oben zugeknöpften grauen Hemd ohne Krawatte; er hatte auch einen neuen Haarschnitt, an den Seiten kurz und oben hochgebürstet, in einem für sein rundes Gesicht fast zu jugendlichen Stil. Wir saßen einander gegenüber und sahen uns an; wir hatten Schwierigkeiten, zu der weinseligen und wirren Vertraulichkeit vom letzten Mal zurückzufinden. Schließlich fragte ich: »Was gibt’s?«

Er trank einen großen Schluck von dem Bier, das gerade gekommen war. »Ach nichts. Erinnerst du dich an das Mädchen, das wir neulich getroffen haben?«

»Manuela Duini?« fragte ich. »Die Harfenistin?«

»Ja, die«, sagte mein Cousin, unsicher auf einen Ellbogen gestützt. »Gestern habe ich sie wiedergesehen.« Er schaute mich nur ab und zu an, blickte in dem überfüllten Restaurant umher und durch das Fenster hinaus auf die Straße.

»Schön für dich, oder?« fragte ich. Ich war etwas bestürzt über diesen Rollenwechsel, nachdem ich mir monatelang bei ihm und seiner Frau Ratschläge geholt hatte; es gelang mir nicht, den richtigen Ausdruck in meinen Blick zu legen und den richtigen Ton zu treffen.

»Ja, aber ich fürchte, mich hat’s ganz schön erwischt.« Er hatte sein Bier schon fast ausgetrunken, bestellte ein zweites. »Sie gefällt mir, das ist es, verdammt noch mal. Ich glaube, ich hab den Kopf verloren.«

[25] »Nun ja«, antwortete ich. »So was kommt vor. Vielleicht solltest du dir nicht allzu viele Sorgen machen.« Ich lächelte, voll der lauen und zurückhaltenden Männersolidarität, die er sich möglicherweise von mir erwartete; aber ich dachte auch an das Gesicht seiner Frau und an die fürsorgliche Freundlichkeit, mit der sie mich immer behandelt hatte: ich fragte mich, ob ich nicht besser etwas anderes erwidert hätte.

»Es ist nicht so einfach, Leo. Sie ist eine sonderbare Frau.« Er schüttete einen weiteren großen Schluck Bier in sich hinein, sein Blick schweifte immer weniger umher, richtete sich jetzt mehr auf mich.

»Sonderbar in welcher Hinsicht?« fragte ich.

»Eben sonderbar«, sagte mein Cousin. »Sie ist eine Künstlerin, schön und gut, aber ich werde nicht aus ihr schlau. Mal kommt es mir vor, als wären wir uns ganz nah und auf genau derselben Wellenlänge und alles, und das nächste Mal behandelt sie mich wie einen x-beliebigen Bekannten, freundlich, aber distanziert.«

»Ist denn nichts zwischen euch gewesen?« fragte ich. »Körperlich, meine ich.«

Wir redeten jetzt laut, mitten im Geschwatze der Angestellten; der Kellner kam mit den warmen Teigfladen und dem zweiten Bier für meinen Cousin.

»Bis jetzt nur Küßchen auf die Wange. Ich bin ziemlich sicher, daß ich ihr gefalle, mir kommt es jedenfalls so vor, aber ich habe Angst, mich zu weit vorzuwagen. Sie schüchtert mich auch ein. Sie ist so kompliziert, es ist zum Verrücktwerden.«

»Wieso?« fragte ich, während mir die heiße Focaccia fast die Finger verbrannte.

Er rührte seine nicht einmal an, trank nur. »Sie ist ständig unterwegs und hat tausend Dinge zu tun, bereitet Gott [26] weiß was für ein Konzert vor und komponiert Stücke für eine Platte und unterrichtet in einer Musikschule und macht Joga, hat einen Shaolin-Kurs belegt und geht mit irgendwelchen ausgeflippten Afrikanern tanzen. Sie kommt um vier oder fünf Uhr nachts nach Hause, und an ihrem Telefon antworten immer irgendwelche komischen Leute. Außerdem sind mir die ganze Zeit die Hände gebunden mit der Arbeit und der Familie, abends muß ich zu Hause bleiben und kriege beinahe einen Herzanfall. Ich sitze vor dem Fernseher und könnte brüllen wie ein Verrückter.«

»Weiß sie, daß du verheiratet bist?« fragte ich mit vollem Mund. Ich hatte Hunger, ich konnte nichts dagegen machen.

»Natürlich nicht«, sagte er. »Das fehlte noch.« Er griff nach seinem Teigfladen, legte ihn wieder weg. Ich konnte das Gefühl des Gefangenseins spüren, das ihm die Muskeln fesselte, die Unruhe, die sie erzittern ließ. »Ich hab so was einfach noch nie erlebt, seit ich verheiratet bin. Ich hätte nie geglaubt, daß es mir passieren kann. Ich habe mich in meinem Leben ziemlich sicher gefühlt. Man glaubt seine Grenzen genau zu kennen, wenn du weißt, was ich meine. So wie die Maße eines Hauses. Und dann begegne ich dieser Frau, und alles droht in die Binsen zu gehen.«

»Gefällt sie dir so gut?« fragte ich.

»Verdammt gut«, sagte er. »Ich bin verrückt nach ihr. Manchmal schaffe ich es, die Dinge ein bißchen nüchterner zu sehen, und sage mir, Mann, du bist jetzt vierzig und hast deinen Job und mußt an deine Familie denken, du kannst dich nicht wie ein Idiot aufführen. Dann denke ich an sie und flippe wieder total aus.«

Ich nickte.

Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn, biß [27] zerstreut in seine Focaccia und legte sie wieder weg. »Schon allein wie sie dasteht! Sie macht Shaolin und Tai-Chi und ich weiß nicht was für Kampfsportarten, du siehst es an der Art, wie sie sich bewegt. Diese Ausgewogenheit und Disziplin. Jemand, der sich so elegant und mit einer solchen Körperbeherrschung bewegt, ist eine Seltenheit. Und trotzdem weiblich, findest du nicht? Wenn du sie in Jeans und Lederjacke siehst, wirkt sie männlich, wie ein Rowdy, und dann zieht sie sich einen Rock und hochhackige Schuhe an, schminkt sich ein bißchen, und wird dermaßen weiblich. Weich und sanft, zehnmal weiblicher als meine Frau mit all ihren Designerkleidern. Du bist überhaupt nicht darauf gefaßt, verstehst du? Du bist jedesmal völlig platt.«

»Toll«, sagte ich. Ich war beeindruckt, wie aufmerksam er sie beobachtet hatte, wie er Einzelheiten registriert und sich immer wieder durch den Kopf hatte gehen lassen und wie er mir davon erzählte, so als wolle er dadurch ihren Wert noch steigern.

»Einmal habe ich sie im Zentrum mit drei von ihren Negerfreunden getroffen, und sie hat mich auf so seltsame Weise gegrüßt, ich weiß nicht, ob sie gekifft hatte oder was, sie lachte in einem fort. Auch die Schwarzen lachten, wie Kinder, die nicht ganz bei Trost sind. Ein bißchen wild auch, im Grunde. Ich weiß nicht, ob sie mit einem von ihnen etwas hat, ich will gar nicht daran denken. Neulich habe ich sie gefragt, ob sie in festen Händen ist, und sie hat es verneint. Aber drei Viertel der Zeit ist sie so schwierig, ich kann ihr nicht viele Fragen stellen. Und dann ist sie auf einmal wieder ganz unkompliziert. Oder es sieht nur so aus, ich weiß nicht. Ich durchschaue sie einfach nicht.«

Ich fixierte ihn, und er sah zu mir herüber, keiner von [28] uns rührte mehr das Essen an, eine warme Woge der Vertrautheit hatte uns erfaßt.

Mein Cousin begann wieder: »Sie hat es immer schwer gehabt im Leben, mit ihrer Familie und der Arbeit und ihren Liebesaffären. Wenn du auf diesem Niveau Musik machst, bist du immer in einem wahnsinnigen Streß, du kannst es dir nicht vorstellen. Und ihre Familie hat ihr nie geholfen, mit der hat sie immer Probleme gehabt. Und obendrein ist sie immer mit Scheißkerlen zusammengewesen. Der letzte war Mimmo Cerino, dieser Typ mit den Therapiegruppen, du weißt schon.«

»Ach der«, sagte ich. Mir fiel ein Zeitungsartikel von vor ein paar Jahren ein, als er angeklagt war, eine seiner Assistentinnen vergewaltigt und andere, die aus der Gemeinschaft austreten wollten, blutig geprügelt zu haben.

»Ein ganz fieser Typ«, sagte mein Cousin. »Sie ist seinetwegen fast verrückt geworden. Sie haben sich bei einem Benefiz-Konzert in Cuneo kennengelernt, anfangs sah sie in ihm wohl so was wie einen verfolgten Heiligen. Oder sie suchte eine Art Vater, wo ihr eigener immer so wenig für sie dagewesen ist. Oder es war der Reiz des Geheimnisvollen, was weiß ich. Aber er ist ein Scheißsadist, er hat sie beinahe zum Selbstmord getrieben, das Schwein.«

»Die Ärmste«, sagte ich und versuchte mich zu erinnern, ob sie einen leidenden Eindruck auf mich gemacht hatte, als ich sie sah, aber es kam mir nicht so vor. Sie hatte so heiter und lebendig gewirkt, sie sah nicht aus, als würde sie sich irgend jemandem ausliefern.

Mein Cousin hatte ausgetrunken, schaute mich fragend an. »Wie dem auch sei«, sagte er, »ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Ich weiß es auch nicht«, antwortete ich. »Ich hab sie ja nur einmal gesehen. Und ich bin wohl auch nicht [29] sonderlich qualifiziert, Ratschläge in Herzensangelegenheiten zu geben. Bei meinen eigenen habe ich fast immer alles falsch gemacht, was man falsch machen konnte.«

»Ach ja?« meinte er, und mir wurde klar, daß er sich von mir in Wirklichkeit weniger einen Rat als Bestätigung erwartete. Seine einzigen Freunde waren die, die ich neulich abends an seinem Geburtstag kennengelernt hatte; ich war wohl von allen, die er gut kannte, derjenige, der Manuela Duini am nächsten stand. »Zu allem Überfluß hat meine Frau so was wie einen sechsten Sinn. Sie sagt zwar nichts, aber sie durchbohrt mich mit eigenartigen Blicken. Mit dieser Art Laserblick, du weißt schon, der dir durch und durch geht, während sie dir vielleicht eine ganz harmlose Frage stellt.«

»Ich kenne das«, sagte ich. Ich erinnerte mich noch gut an die Laserblicke meiner Frau, die paar Male, als ich versucht hatte, etwas vor ihr zu verbergen: die nackte Panik, die Schauer, die es mir den Rücken hinuntergejagt hatte.

Mein Cousin biß sich auf die Lippen. »Schöner Schlamassel, aber selbst wenn man mich totschlagen würde, ich würde nicht umkehren. Ich habe das Gefühl, als wäre ich bis vor einem Monat in einem Eisklotz eingeschlossen gewesen. Oder unter Beruhigungsmitteln gestanden. Ohne etwas zu fühlen und zu sehen. Verstehst du, was ich meine?«

»Ja«, sagte ich. »Ich dachte ungefähr das gleiche, als ich vor drei Jahren von Marina wegging.«

»Siehst du«, sagte er, ohne mir richtig zugehört zu haben und ohne sich zu erinnern, wie oft er und seine Frau mich angerufen und auf mich eingeredet hatten, ich solle mich wie ein erwachsener Mensch benehmen und zu meiner Familie zurückkehren. »Das Leben lief mir davon, und ich sah und hörte nichts«, sagte er. »Manchmal frage [30] ich mich, wo ich vorher war und wie ich es überhaupt ausgehalten habe.«

»Ich kenne das«, sagte ich; beinahe gerührt, wie sehr die Unruhe sich seiner Stimme und seinen Gesten mitteilte und ihn trieb, mir gegenüber so offen zu sein, ohne den Schutzschild seiner Attitüden und seiner Großspurigkeit, hinter dem er sich verschanzt hatte, seit wir uns kannten.

Dann schaute er auf die Uhr und stand auf. »Ich muß los.«

Draußen auf dem Gehsteig gaben wir uns die Hand; mein Cousin sagte: »Danke, Leo. Ich mußte einfach mit jemandem reden, verdammt. Ich war nah daran, verrückt zu werden.«

»Folge einfach deinem Instinkt«, riet ich ihm. »Tu, was dir gefällt. Das ist letztlich das einzige, glaube ich.«

Er nickte zustimmend; wir gingen auseinander, jeder in eine andere Richtung, mitten im tosenden Lärm einer verkehrsreichen Kreuzung.

Als ich wieder allein in meinem Studio war, fühlte ich mich sonderbar, so als fehle mir die so lebendige und unaufhaltsame Anspannung meines Cousins. Ich schaltete sämtliche Lampen an, schob eine CD in die Stereoanlage, versetzte dem in einer Zimmerecke von der Decke herabhängenden Punchingball ein paar Fausthiebe und Fußtritte, doch das merkwürdige Gefühl blieb. Ich kehrte zu meinen Arbeitslampen und meiner 13x18-Kamera zurück, arrangierte die Designer-Feuerzeuge, die ich fotografieren sollte, auf dem farbigen Untergrund; aber es fiel mir schwer, mich zu konzentrieren.

[31] Vier

Ich war mit Antonella Sartori zur Wohnung eines Theater-Regisseurs unterwegs. Während der Fahrt saß sie ziemlich angespannt da, mit ihrem Kassettenrecorder und dem Notizheft in der Hand, noch deutlicher als sonst innerlich zitternd.

»Beruhige dich«, sagte ich, während ich einparkte; ich versuchte zu erkennen, ob es sich bei ihr um Unsicherheit oder Furcht oder um einen beschleunigten Stoffwechsel oder sonstwas handelte.

»Ich bin ganz ruhig«, verteidigte sie sich, mit einer Spur Feindseligkeit in der Stimme.

Wir ließen uns vom Pförtner durch die Gegensprechanlage anmelden, und sie machte sich das Haar zurecht, als habe sie irgendeinen entscheidenden Test zu bestehen. Halblaut sagte ich zu ihr: »Ich bitte dich, wegen diesem alten Schaumschläger.«

Sie blickte mich mit einem kalten Glanz in ihren kleinen blauen Augen an.

Oben machte uns die Haushälterin auf; der Regisseur stand in dem großen, wie ein Museum eingerichteten Wohnzimmer und stieß mit geheuchelter Überraschung ein »Ach« aus, hatte sich aber für den Anlaß zurechtgemacht, mit türkisfarbenem Schimmer im Haar wie eine alte Dame. Als ich anfing, die Lampen aufzubauen, erklärte er mir in herrischem Ton, welches die besten Einstellungen seien, folgte mir in jedes Zimmer und beobachtete alles, was ich tat, aus Angst, ich könnte ihm etwas [32] kaputtmachen. »Vorsicht«, sagte er in einem fort. »Ruinieren Sie mir nicht wieder alles.«

Am Ende setzte er sich für das Interview auf eins der Sofas, in beinahe unerträglicher Weise auf seine Gestik und seine gurrende Stimme konzentriert. Er redete in künstlich liebevollen, schmerzlichen und empörten Tönen über seine Wohnung und über seine Beziehung zu Mailand: »Immer wenn ich daran denke, was sie aus dieser Stadt gemacht haben, fühle ich mich verletzt. Tief verletzt. Als Bürger noch mehr denn als Künstler. Ich hätte gute Lust, für immer ins Ausland zu gehen, und an Gelegenheiten dazu mangelt es mir beileibe nicht, doch dann denke ich, daß mein Platz hier ist. Was wir brauchen, ist eine moralische Wiedergeburt, jetzt, da die ganze Korruption ans Licht gekommen und bezwungen worden ist. Künstler und Intellektuelle müssen ihre Pflicht tun und sich an die Spitze der Erneuerungsbewegung in Mailand stellen.«

Ich hätte ihm gern ein paar Fragen über die Milliarden Lire gestellt, die sein noch immer nicht fertiggestelltes Mausoleum von einem Theater verschlungen hatte; über die weiteren Milliarden, mit denen Jahr für Jahr die von den Kritikern mit Vorschußlorbeeren bedachten Inszenierungen seines aufgeblasenen Ego subventioniert worden waren; über das Gerichtsverfahren wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder, das ihm noch bevorstand.

Antonella Sartori hörte ihm zu und nickte zustimmend, lächelte pflichtschuldig, wenn auch immer leicht verspätet, schob ihr kleines Gesäß auf dem Sessel hin und her, überprüfte alle paar Sekunden den Kassettenrecorder, aus Angst, er könne plötzlich nicht mehr funktionieren. Und doch spürte ich hinter ihrer Unschlüssigkeit und Ängstlichkeit immer deutlicher eine dünne, aber beständige [33] Sicherheit heraus: eine gegen alle Zweifel resistente Schicht ähnlich den Fasern in einem leichten Glasfibermaterial. Man merkte es allein schon an der Art, wie sie dem Regisseur zuhörte und ihm dann, ohne weiter auf seine Worte einzugehen, die nächste Frage stellte; oder wie sie sich rasch mit der Hand durch die Haare fuhr. Ich beobachtete sie aus einigen Metern Entfernung, während ich die Kamera auf dem Stativ hin- und herschob, und es war ein eigenartiges Gefühl, sie so aus der Distanz zu betrachten und ihr dabei trotzdem näherzukommen.

Dann war das Interview zu Ende, der Regisseur setzte sich an seinem Arbeitstisch in Pose. Er neigte den Kopf mit einer Bewegung, die er vermutlich eine Ewigkeit einstudiert hatte; behutsam, um die aufgebauschte und mit Lack fixierte Frisur nicht zu zerdrücken, bettete er die Schläfe in eine Hand. »Gehen Sie nicht so nah heran, daß ich wie ein Fisch aussehe«, sagte er. »Passen Sie bloß auf, daß ich auf dem Foto kein Doppelkinn kriege und daß Sie nicht überbelichten, sonst wirken meine Augen zu hell.«

Ich murmelte: »Keine Sorge«, und prüfte die Einstellung, genauso wie ich es bei einem Sessel oder einem schweren Sofa gemacht hätte.

Als wir später im Aufzug nach unten fuhren, meinte Antonella: »Du hättest vielleicht mal ein kleines bißchen freundlicher sein können.«

»Und du könntest dir vielleicht abgewöhnen, ›ein kleines bißchen‹ zu sagen«, antwortete ich, aber dann dachte ich, daß ihre Unart, immer die Verkleinerungsform zu benutzen, vielleicht von ihrem Bedürfnis herrührte, ihre Wahrnehmungen auf Maße zu reduzieren, die klein genug für ihren mageren Körper und ihre dünne Stimme waren.

Sie kam mit ins Entwicklungslabor, und danach holte ich mit ihr in einem Geschäft Kleider ab; als wir bei ihr zu [34] Hause ankamen, fiel ein feiner Regen, der in der kalten Luft hängenblieb. Sie zögerte, bevor sie ausstieg, fragte mich: »Willst du auf ein Gläschen mit hinaufkommen?«

Ebenfalls zögernd sagte ich: »Hm, vielleicht.« Sie hatte diese neutrale Art, die Dinge darzustellen; mir war nicht klar, inwieweit es Schüchternheit war, die aus jeder Geste die Wärme herausfilterte, und inwieweit echte, tiefere Kälte dahintersteckte.

Sie wohnte in einem Haus ganz aus Bögen und Terrassen und Glasfronten, das wie ein eben gelandetes Raumschiff aus einer Anlage mit kleinen flachen Wohnhäusern herausragte. Ich folgte ihr durch die mit einer gezackten Betonplatte überdachte Panzerglastür, und jedes Detail sah nach einem Verstoß gegen die Baubestimmungen aus, nach einer geheimen Absprache zwischen Bauunternehmern und Behörden, nach kaum bemäntelten Schiebereien in der letzten Phase der sozialistischen Herrschaft über Mailand.

Im Hof gab es eine Tiefgarage mit einer steilen Einfahrtsrampe; im Atrium und im Treppenhaus hing der Geruch nach Lacken, Kleber und noch fabrikneuen Materialien, ausgewählt nach Kriterien von Protz und Prunk. Ohne ein Wort fuhren wir mit dem Aufzug hinauf; Antonella Sartori verfolgte auf dem Flüssigkristall-Display die Nummern der Stockwerke, sie stand sehr aufrecht zwischen den Wänden aus geriffeltem Messing. In der obersten Etage fingerte sie lange an den vielen Schlössern einer gepanzerten Wohnungstür herum und in der Diele hob sie die dünnen Arme zu einer Art Rechtfertigungsgeste.

Ich ging um mehrere Ecken hinter ihr her durch den Flur, in dem eine für Mailand merkwürdige Stille herrschte; der vibrierende Lärm der Stadt wurde durch die schalldichten Doppelglasfenster ausgesperrt.

[35]