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F. Scott Fitzgerald

Der letzte Kuss

Erzählungen

Herausgegeben von Silvia Zanovello

Aus dem Amerikanischen

von Christa Hotz, Renate Orth-Guttmann,

Harry Rowohlt, Alexander Schmitz,

Walter Schürenberg und Melanie Walz

Mit einem Nachwort von Verena Lueken

 

 

 

 

 

 

 

 

Nachweis der einzelnen Erzählungen

am Schluss des Bandes

Umschlagillustration:

George Barbier, ›Das Feuer‹, 1925

 

 

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24184 6 (1. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60143 5

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Sieh nur, der arme Pfau!  [9]

›Lo, the Poor Peacock!‹, deutsch von Christa Hotz und Alexander Schmitz

Die intimen Fremden  [41]

›The Intimate Strangers‹, deutsch von Christa Hotz und Alexander Schmitz

Das Bild im Herzen  [78]

›Image on the Heart‹, deutsch von Melanie Walz

Einfach süß  [110]

›Too Cute for Words‹, deutsch von Melanie Walz

Nachmittag eines Schriftstellers  [139]

›Afternoon of an Author‹, deutsch von Melanie Walz

Die Mutter eines Schriftstellers  [149]

›An Author’s Mother‹, deutsch von Melanie Walz

Ein Fall von Alkoholismus  [155]

›An Alcoholic Case‹, deutsch von Walter Schürenberg

Der langsame Abgang  [169]

›The Long Way Out‹, deutsch von Walter Schürenberg

[6] Der Gast aus Zimmer neunzehn  [178]

›The Guest in Room Nineteen‹, deutsch von Melanie Walz

Finnegans Finanzen  [187]

›Financing Finnegan‹, deutsch von Walter Schürenberg

Drei Stunden zwischen zwei Flügen  [202]

›Three Hours Between Planes‹, deutsch von Renate Orth-Guttmann

Ausgemustert  [212]

›Discard‹, deutsch von Melanie Walz

Ausführung in Gips  [235]

›Design in Plaster‹, deutsch von Walter Schürenberg

Das verlorene Jahrzehnt  [245]

›The Lost Decade‹, deutsch von Walter Schürenberg

Der letzte Kuss  [251]

›Last Kiss‹, deutsch von Melanie Walz

Pat Hobbys Wunschzettel  [280]

›Pat Hobby’s Christmas Wish‹, deutsch von Harry Rowohlt

Ein Mann steht im Wege  [295]

›A Man in the Way‹, deutsch von Harry Rowohlt

»Kochend heißes Wasser – jede Menge kochend heißes Wasser!«  [304]

››Boil Some Water – Lots of It‹‹, deutsch von Harry Rowohlt

[7] Pat Hobby und das Genie  [314]

›Teamed with Genius‹, deutsch von Harry Rowohlt

Pat Hobby und Orson Welles  [329]

›Pat Hobby and Orson Welles‹, deutsch von Harry Rowohlt

Pat Hobbys Geheimnis  [342]

›Pat Hobby’s Secret‹, deutsch von Harry Rowohlt

Pat Hobby, vermeintlicher Vater  [353]

›Pat Hobby, Putative Father‹, deutsch von Harry Rowohlt

See the Stars at Home  [365]

›The Homes of the Stars‹, deutsch von Harry Rowohlt

Pat Hobby spielt mit  [376]

›Pat Hobby Does His Bit‹, deutsch von Harry Rowohlt

Pat Hobbys Premiere  [389]

›Pat Hobby’s Preview‹, deutsch von Harry Rowohlt

…so ist doch der Wille zu loben  [401]

›No Harm Trying‹, deutsch von Harry Rowohlt

Ein patriotischer Kurzfilm  [417]

›A Patriotic Short‹, deutsch von Harry Rowohlt

Auf den Spuren von Pat Hobby  [424]

›On the Trail of Pat Hobby‹, deutsch von Harry Rowohlt

Die Freuden der Kunst (ein Blick ins Atelier)  [432]

›Fun in an Artist’s Studio‹, deutsch von Harry Rowohlt

[8] Zwei Oldtimer  [443]

›Two Old-Timers‹, deutsch von Harry Rowohlt

Die Macht des geschriebenen Wortes  [451]

›Mightier than the Sword‹, deutsch von Harry Rowohlt

Pat Hobby geht aufs College  [461]

›Pat Hobby’s College Days‹, deutsch von Harry Rowohlt

Der Zusammenbruch  [472]

›The Crack-Up‹, deutsch von Melanie Walz

Das Zusammenflicken  [482]

›Pasting It Together‹, deutsch von Melanie Walz

Vorsicht, zerbrechlich  [491]

›Handle with Care‹, deutsch von Melanie Walz

Nachwort von Verena Lueken  [499]

Leben und Werk  [519]

Editorische Notiz  [523]

[9] Sieh nur, der arme Pfau!

I

Miss McCrary stülpte den Lederschutz über die Schreibmaschine. Da es das letzte Mal war, kam Jason herüber und half ihr in den Mantel, was sie eher verlegen machte.

»Mr. Davis, denken Sie daran, falls irgendetwas anfällt, an das ich in meinem Memo nicht gedacht habe, rufen Sie mich einfach an. Die Post ist erledigt; die Akten in Ordnung. Am Montag wird wegen der Maschine angerufen.«

»Sie waren sehr freundlich.«

»Oh, nicht der Rede wert. Es war mir eine Freude. Es tut mir nur leid, dass –«

Jason murmelte die übliche Floskel: »Wenn die Zeiten wieder besser werden –«

Kaum war sie gegangen, da tauchte ihr Gesicht noch einmal im Eingang auf:

»Alles Liebe für die Kleine. Und ich hoffe, dass es Mrs. Davis wieder bessergeht.«

Augenblicklich war es einsam im Büro. Nicht etwa aufgrund von Miss McCrarys körperlicher Abwesenheit – ihre Gegenwart war ihm oft lästig –, sondern weil sie für immer gegangen war. Als er sein Jackett anzog, fiel Jasons [10] Blick auf ihr letztes Memorandum – nichts war dabei, was noch heute erledigt werden musste – auch nicht in drei Tagen. Es war angenehm, einen aufgeräumten Schreibtisch zu haben, aber er erinnerte sich an Zeiten, da ihn das Geschäft derart in Atem, ja auf Trab hielt, dass er seine Anweisungen telefonisch aus der Eisenbahn durchgab oder von Schiffen hierher telegraphierte.

Als er nach Hause kam, spielten Jo und zwei andere kleine Mädchen im Wohnzimmer Greta Garbo. Jo wirkte so glücklich und so rührend lächerlich, so clownesk mit dem kindlichen Klecks Rouge und Mascara, dass er beschloss, bis nach dem Lunch zu warten, ehe er ihr die Tragödie verkündete.

Auf dem Weg durch die Diele warf er den immer noch verkleideten kleinen Mädchen einen verkniffenen Blick zu und begriff, dass er schon bald eine Phantasieblase würde zum Platzen bringen müssen. Das Mädchen, das Mae West spielte – bis hin zu dem Spruch »Come up and see me sometime« –, gestand, dass man ihr noch nie erlaubt hatte, Mae West auf der Leinwand zu sehen; dieses Privileg war ihr zu ihrem vierzehnten Geburtstag versprochen worden.

Jason war alt genug gewesen für den Krieg; er war achtunddreißig. Sein Schnurrbart war grau meliert, er war mittelgroß und machte sich gut in dem ersten Anzug von der Stange, den er je besessen hatte.

Jo kam zu ihm und fragte in schnellem Französisch: »Dürfen die Mädchen zum Essen bleiben?«

»Pas aujourd’hui.«

»Bien.«

[11] Doch jetzt musste sie es erfahren. Er wollte ihr die schlechten Nachrichten nicht am Abend überbringen, wenn sie müde sein würde.

Nach dem Lunch, als sich das Hausmädchen zurückgezogen hatte, sagte er:

»Ich muss jetzt mit dir etwas besprechen, etwas Ernstes.«

Die Ernsthaftigkeit seines Tonfalls ließ sie ihren Blick von einem herumliegenden Krümel abwenden. »Es ist wegen der Schule«, sagte er.

»Wegen der Schule?«

Er stürzte sich in seinen Vortrag.

»Es gab viele Rechnungen vom Krankenhaus, aber im Geschäft wenig zu tun. Ich habe einen Haushaltsplan aufgestellt – du weißt, was das ist: Da steht drin, wie viel man hat, und auf der anderen Seite, wie viel man ausgeben kann. Für Kleidung und Essen und Schule und so weiter. Miss McCrary hat mir dabei geholfen, bevor sie gegangen ist.«

»Sie ist gegangen? Warum denn?«

»Ihre Mutter ist krank, und sie hatte das Gefühl, sie sollte besser zu Hause bleiben und sich um sie kümmern. Und jetzt, Jo, ist der größte Posten in unserem Haushaltsplan die Schule.«

Ohne recht zu begreifen, worauf er abzielte, nahm Jos Gesicht langsam den unglücklichen Ausdruck ihres Vaters an.

»Es ist eine teure Schule mit all den Extras und so weiter – eine der teuersten Tagesschulen hier im Osten.«

Er kämpfte sich an sein Hauptanliegen heran, und der ihr bevorstehende Schmerz schnürte ihm selbst die Kehle zu.

[12] »Es sieht ganz so aus, als könnten wir sie uns in diesem Jahr nicht mehr leisten.«

Jo begriff noch immer nicht recht, aber im Esszimmer herrschte Totenstille.

»Du meinst, ich kann dieses Halbjahr nicht zur Schule gehen?«, fragte sie endlich.

»O doch, zur Schule schon. Aber nicht mehr nach Tunstall.«

»Also gehe ich am Montag nicht nach Tunstall in die Schule«, sagte sie mit leiser Stimme. »Aber wohin denn dann?«

»Du machst das zweite Halbjahr in einer ganz normalen, öffentlichen Schule. Die sind heute sehr gut. Mama ist nie in eine Privatschule gegangen.«

»Daddy!« Endlich begriff sie, ihre Stimme klang schockiert.

»Wir dürfen aus einer Mücke keinen Elefanten machen. Wahrscheinlich kannst du ja nächstes Jahr schon wieder in deine alte Schule zurück und dort abschließen –«

»Aber, Daddy! Tunstall gilt als die beste. Und du hast selbst gesagt, dass du dieses Semester mit meinen Zensuren zufrieden warst –«

»Das hat doch damit nichts zu tun. Wir sind zu dritt, Jo, und wir müssen an alle drei denken. Wir haben sehr viel Geld verloren. Wir haben einfach nicht genug, um dich weiter dorthin schicken zu können.«

Zwei überquellende Tränen passierten die Grenze ihrer Augen und erkundeten ihre Wangen.

Unfähig, ihren Kummer zu ertragen, sprach er automatisch weiter: »Was ist denn wohl besser – zu viel ausgeben [13] und Schulden machen – oder den Gürtel für einige Zeit etwas enger schnallen?«

Noch immer weinte sie leise. Auf der ganzen Fahrt zum Krankenhaus zu ihrem wöchentlichen Besuch vergoss sie unfreiwillig Tränen.

Jason hatte sie zweifellos verwöhnt. Zehn Jahre lang hatte der Haushalt der Familie Davis verschwenderisch in Paris gelebt; von dort war Jason von Stockholm bis nach Istanbul gereist, um amerikanisches Kapital in viele Unternehmen zu investieren. Es war ein prächtiges Unterfangen – solange es von Dauer war. Sie bewohnten ein schönes Haus in der Avenue Kleber oder eine Villa in Beaulieu. Es gab eine englische Kinderschwester und später eine Gouvernante, die Jo das Gefühl einimpfte, ihr Vater verfüge über fast unbegrenzte Macht. Sie wurde mit der gleichen kostspieligen Einfachheit erzogen wie die Kinder, mit denen sie auf den Champs-Élysées spielte. Genau wie sie akzeptierte auch Jo die Vorstellung, dass man für Luxus im Leben nichts weiter tun musste, als hineinzuwachsen – für das Recht auf eine privilegierte Stellung, auf große Motoren, schnelle Boote, Logen in der Oper und beim Ballett; Jo hatte sich schon früh angewöhnt, heimlich das meiste des Übermaßes an Geschenken wegzugeben, mit denen sie überhäuft wurde.

Vor zwei Jahren dann begann sich alles zu ändern. Die Gesundheit ihrer Mutter verschlechterte sich, und ihr Vater war nicht mehr länger der mysteriöse Mann, der immer gerade aus Italien zurückkehrte, mit einer ganzen Familie Lenci-Puppen für sie. Doch sie war jung und anpassungsfähig und fügte sich in das Leben in der Tunstall-Schule, [14] ohne sich bewusst zu werden, wie sehr sie an dem alten Leben hing. Jo versuchte aufrichtig, auch das neue Leben liebzugewinnen, denn sie liebte Dinge und Menschen, und sie war auch bereit, diese neueste Veränderung zu mögen. Allerdings dauerte das eine gewisse Zeit aufgrund der Tatsache, dass sie liebte, dass sie geschaffen war zu lieben, tief und auf ewig zu lieben.

Als sie beim Krankenhaus ankamen, sagte Jason:

»Sag Mutter nichts von der Schule. Sie könnte merken, dass es dich ziemlich getroffen hat, und das würde sie unglücklich machen. Wenn du dich ein bisschen daran gewöhnt hast, können wir es ihr immer noch sagen.«

»Ich sage nichts.«

Sie folgten einem ihnen mittlerweile bekannten gekachelten Durchgang zu einer offenen Tür.

»Dürfen wir hereinkommen?«

»Ob ihr dürft

Gemeinsam nahmen Vater und Tochter sie, fast eifersüchtig, von beiden Seiten des Bettes aus in die Arme. In tiefer Stille drängten sie Arme und Hals aneinander.

Annie Lees Augen füllten sich mit Tränen.

»Setzt euch doch. Nehmt euch doch Stühle. Miss Carson, wir brauchen noch einen Stuhl.«

Sie hatten die Anwesenheit der Schwester kaum bemerkt.

»So, und jetzt erzählt mir alles. Nehmt euch Pralinen. Tante Vi hat sie geschickt. Sie kann sich nie merken, was ich essen darf und was nicht.«

Ihr Gesicht veränderte sich selten – elfenbeinkalt im Winter, im Frühling vor Schmerzen zart wildrosa, dann im [15] Sommer bleich wie die weißen Tasten eines Klaviers. Nur die Ärzte und Jason wussten, wie krank sie wirklich war.

»Alles in bester Ordnung«, sagte er. »Wir halten das Haus in Schwung.«

»Was ist mit dir, Jo? Was macht die Schule? Hast du deine Prüfungen bestanden?«

»Natürlich, Mama.«

»Gute Zensuren, viel besser als letztes Jahr«, fügte Jason hinzu.

»Was ist mit dem Stück?«, fuhr Annie Lee ahnungslos fort. »Wirst du jetzt die Titania spielen?«

»Ich weiß noch nicht, Mama.«

Jason wechselte das Thema auf »die Farm«, einem Überbleibsel der einst ausgedehnten Besitzungen von Annie Lee.

»Ich würde sie verkaufen, wenn ich könnte. Ich verstehe einfach nicht, wie deine Mutter es geschafft hat, damit etwas zu verdienen.«

»Das hat sie aber. Bis zu dem Tag, an dem sie starb.«

»Es war die Wurst. Und es sieht so aus, als gäbe es dafür heute keinen Markt mehr.«

Die Krankenschwester ermahnte sie, dass die Besuchszeit zu Ende sei. Als wollte sie die kostbaren Minuten bewahren, streckte Annie Lee beiden eine weiße Hand entgegen.

Als sie in den Wagen stiegen, fragte Jo:

»Daddy, was ist eigentlich mit unserem Geld passiert?«

Nun – man sagte es ihr besser, als sie darüber brüten zu lassen.

[16] »Das ist ziemlich kompliziert. Die Europäer konnten keine Zinsen mehr auf das bezahlen, was wir ihnen geborgt hatten. Du weißt, was Zinsen sind?«

»Natürlich. Hatten wir schon im zweiten Jahr.«

»Meine Aufgabe war es zu beurteilen, ob ein Geschäft Gewinn versprach, und wenn ich das glaubte, haben wir ihnen Geld geliehen. Als schlechte Zeiten kamen und sie nicht mehr zahlen konnten, haben wir ihnen auch nichts mehr geliehen. Deshalb wurde mein Job überflüssig, und wir kamen nach Hause.«

Er erzählte weiter, dass das Geld, das er in das Unternehmen investiert hatte – oh, Tausende von Dollar, ach egal, wie viel genau, Jo – und jetzt war das ganze Geld »gebunden«.

Unter dem Schutz des alten Schrotturms hielten sie bei einer Werkstatt an, um zu tanken.

»Warum hältst du so gern an dieser Tankstelle, Daddy? So nah an diesem hässlichen alten Schornstein da drüben?«

»Das ist kein Schornstein. Weißt du denn nicht, was das ist? Während des Unabhängigkeitskriegs mussten sie Blei heruntertropfen lassen, aus dem sie die Kugeln machten, mit denen sie dann auf die Briten geschossen haben. Das ist ein historisches Monument.«

…Sie umrundeten das Denkmal für die Opfer des Sezessionskrieges. Plötzlich sprach Jo wieder:

»Amerikaner haben es schwer, nicht, Daddy? Lauter Kämpfe um nichts.«

»Ach, weißt du, wir sind nun mal ein kämpferischer Menschenschlag. Darum haben wir es ja überhaupt bis hier hinüber geschafft.«

[17] »Aber man ist nicht glücklich hier – wie in Europa.«

»Die haben auch ihre Sorgen. Aber du warst auch nur ein Kind und von allem abgeschirmt.« Und als sie vor ihrem Haus hielten, fügte er hinzu: »Und nun?«

»Mami ist herzkrank, und du hast dein Geld verloren, und –«

»Um Himmels willen, fang bloß nicht an, dir selber leidzutun!«, sagte er schroff. »Das verdirbt den Charakter. Wir haben ja schließlich immer noch ein hübsches Haus.« Er verspürte bei diesen Worten heftige Gewissensbisse, denn er wusste, dass sie auch das würden aufgeben müssen, aber er wollte ihr an einem einzigen Tag nicht zu viel zumuten.

Doch auch im Flur war Jo noch in die Geschichte versunken, die sich in ihrem Innern abzeichnete.

»Daddy, wir sind wie die Figuren in Kleine Waise Annie, nur dass wir nicht diesen Hund haben, der immerzu ›Arp‹ sagt. Ich hab noch nie einen Hund ›Arp‹ sagen hören, du etwa? Jetzt haben sie in den Comicstrips immer solche Hunde, die ›Arp‹ oder ›Wuff‹ sagen, und ich hab noch keinen Hund gehört, der eins von beiden sagen kann.«

Er war erleichtert über die Wendung, die das Gespräch genommen hatte.

»Ich finde sowieso nur die Gumps gut. Außer wenn ich mich schlecht fühle, dann finde ich auch Dick Tracy und X-9 gut.«

Jo seufzte, als sie auf ihr Zimmer zusteuerte.

»Nichts ist so richtig schlimm – wenn man nur darüber lesen muss«, sagte sie bekümmert.

[18] II

Fast noch bevor sich Jo an die öffentliche Schule gewöhnt hatte, erfuhr sie vom bevorstehenden Umzug. Es war ein himmelweiter Unterschied zwischen dem geräumigen Haus mit den gemeinsamen zaunlosen Rasenflächen der neuen Vorstädte und dem kleinen Apartment – in das das große Sofa und das große Bett einfach nicht hineinpassen wollten und deshalb eingelagert werden mussten, wie so viele andere Dinge auch. Jo schöpfte melancholischen Trost aus der Erlaubnis, als Innendekorateurin fungieren zu dürfen. Mit einiger Mühe hielt ihr Vater seine Erheiterung im Zaum.

»Ich finde, es sieht wunderschön aus, Baby.«

»Oh, ich weiß, dass du das nicht tust. Aber Daddy, ich dachte, ich hole im Laden Stanniol und mache das ganze Zimmer silbrig, wie ein Zimmer in Schöner Wohnen. Aber es ist zerknittert. Und jetzt geht es nicht mehr runter – ich kann machen, was ich will – es wird nur noch schlimmer!«

Am Feiertag zu Washingtons Geburtstag strich sie ihre Möbel neu. Der Mann von der chemischen Reinigung betrachtete fassungslos den Teppich, den er restaurieren sollte. Und an diesem Abend in der Tanzschule befahlen die Mütter ihren Kindern, sich von dem schlimmen Ausschlag auf ihren Armen fernzuhalten, und waren entsetzt – eine Untertreibung ist nicht möglich – über das eindeutig lepröse Aussehen der grünen oder rosafarbenen Flecken, die wie drohende Augen – stumpfe und düstere Augen – aus ihrem Haar herausstarrten. Man hatte nichts dagegen ausrichten können; Haare werden von Tränen nicht sauber. [19] Die Flecken blieben, blieben sogar wochenlang. Nach vierzehn Tagen nahmen sie eine nicht unattraktive Färbung an – das heißt, attraktiv für jedermann außer für Jo selbst –, die Färbung der Dächer in vielen europäischen Dörfern, von einer Lawine heruntergewaschen. Und sie variierte. Variierte extrem.

Die Katastrophe entmutigte Jo dermaßen, dass sie den Tanzunterricht in Beacon’s Barn aufgeben wollte.

Jason aber machte sich dafür stark – er war nicht teuer.

»Aber es hat keinen Sinn«, sagte sie, »– jetzt, wo ich nicht mehr in meine alte Schule gehe. Sie haben Geheimnisse vor mir. Ich mag jetzt viele von den Leuten in der neuen Schule.«

»Solltest du auch«, sagte ihr Vater.

»Wieso sagst du, ich sollte

In ihrer neuen Isolation sprachen und kämpften die beiden miteinander wie Erwachsene, fast den alten, immerwährenden Disput zwischen Mann und Frau.

Jason hasste es, dass es so sein musste, hasste es, dass sie ihn immer wieder so mutlos erlebte.

»Lass uns raus zur Farm fahren«, sagte er an einem Samstag beim Frühstück. »Du warst noch nie dort.«

»Können wir uns denn den Wagen überhaupt noch leisten?«

»Jo, kannst du nicht mal eine Minute vergessen, dass ich arm bin? Ich hab’s dir doch erklärt; in der Textilbranche gibt es nur drei oder vier Vertretungen, die Provision bringen. Das ist ungefähr so was wie Zinsen. Du hast doch gesagt, du hättest das verstanden.«

[20] »Ja.«

»Und die Agenten, die sie haben, halten sie natürlich zurück – sie hatten sie schon, bevor ich hierherkam. Solange ich zweitklassige Ware verkaufen muss an – …vergessen wir das Ganze und genießen die Fahrt.«

»Der ist aber ganz schön schnell, Daddy. Können wir es uns wirklich leisten, ihn zu fahren?«

»Es ist billiger, wenn man schnell fährt. Ich möchte gerne dort sein, bevor sie den ersten Schub Würste fertig haben.«

Vor ihnen lagen siebzig Meilen zwischen Feldern voll reifüberzogenen Gerölls, zwischen der ewigen Grenze der purpurnen Schultern der Appalachen, zwischen Dörfern, deren Namen er nie hatte erfragen wollen, so sehr liebte er ihr Bild in seinem Herzen…

Jos Herz jedoch war immer noch in Frankreich. Sie dachte nach, anstatt sich umzusehen.

»Daddy – warum können wir eigentlich nicht einfach mit der Farm einen Haufen Geld verdienen? So wie Großmutter. Und einfach davon leben. Und reich werden?«

»Aber ich sage dir doch, es gibt gar keine Farm mehr. Da gibt’s nur noch einen – nur noch einen großen Schweinestall!«

Er nahm seinen ruppigen Ton zurück, als er sah, wie sich ihr Gesicht verzog.

»Na, ganz so ist es nun auch wieder nicht, Baby. Der junge Seneca baut ein bisschen Gemüse an –«

»Wer ist der junge Seneca?«

»Es gab mal einen alten Seneca, und jetzt gibt’s eben einen jungen Seneca –«

[21] »Als sie noch eine große Farm war, wie groß war sie da, Daddy?«

»So weit man sehen kann.«

»Bis zu den Bergen?«

»Nicht ganz.«

»Es war eine große Farm, stimmt’s?«

»Schön und groß – sogar für diese Gegend«, antwortete er, in den hiesigen Dialekt verfallend.

Nach einer Weile fragte Jo: »Wie machen sie denn die Wurst, Daddy?«

»Habe ich schon fast vergessen. Ich glaube – wart mal –, ich glaube, das Rezept ist sechzehn Pfund mageres Fleisch auf sechzehn Pfund fettes Fleisch. Und dann drehen sie alles zusammen durch den Wolf. Dann kneten sie die Gewürze hinein – neun Esslöffel Salz, neun Pfeffer, neun Salbei –«

»Warum gerade neun

»So hat es deine Großmutter immer gemacht.«

– Jason hatte Jos unersättliche Neugierde mit allem gefüttert, was ihm von dem Vorgang in Erinnerung geblieben war, bis sie in den ausgewaschenen Pfad einbogen, der zur Farm führte.

Der junge Seneca, eben noch in seine Arbeit vertieft, eilte herbei, um sie zu begrüßen.

»Wie geht’s?«, fragte Jason.

»Grad angefangen, Mr. Davis. Wir haben gestern Abend geschlachtet. Dann dachten ein paar von den Jungs, sie hätten das Recht, den ganzen Tag zu verschlafen. Muss ich sie für diese Zeit auch bezahlen? Sie halten ja doch nur die Hunde ab.«

[22] »Die Hunde?«, wollte Jo wissen.

Erst jetzt bemerkte er sie.

»Richtig, Missy. Die Hunde hier unten sind nicht zu unterschätzen. Hier sagt man: ›Ein armer Hund ist der, der sich nicht selber erhalten kann.‹«

Sie stiegen aus dem Wagen und machten sich auf den Weg zum Räucherhaus.

»Wir bezahlen diese Handlanger gut«, sagte Jason. »Sie bekommen doch noch Gekröse und Grieben und Schweinsköpfe?«

»Sie kriegen das Übliche, Mr. Davis. Sogar die, die schaufeln müssen, arbeiten wirklich hart. Nehmen Sie nur mal Tante Rose, die schon für Ihre Schwiegermutter gearbeitet hat – die hat diese Würze da geknetet, bis ihr fast die Arme abgefallen sind.«

Die fragliche Schwarze grüßte sie fröhlich.

»Tag! Mr. Davis. Tag! Junge Dame.«

Sie unterbrach ihre Arbeit, um das Kind zu inspizieren, und wischte sich an einem großen alten Küchenhandtuch die scharfen Gewürze von den Händen.

»Und siehst du nicht genauso aus wie deine Mutter?«

Jo spazierte ins Räucherhaus hinein. Sie ging an Fässern voll Mehl, Salz, Schmalz vorbei – voll Rohzucker, gelbem Farinzucker, Kristallzucker. Im Hinausgehen stieß sie mit einem farbigen Mädchen zusammen, das einen Eimer Milch auf dem Kopf trug.

»Tut mir leid.«

Ohne im Geringsten aus dem Gleichgewicht zu geraten, lachte die junge Frau sie fröhlich an.

»Braucht dir nicht leidzutun. Ein paar Gören drohen [23] mir schon drei Jahre, sie würden mich umschmeißen, aber geschafft hat’s noch keine.«

…Jo kam aus dem Räucherhaus heraus und fand ihren Vater in eine Diskussion mit dem jungen Seneca verwickelt, der sich zwischendurch immer wieder unterbrach, um seinen Helfern Anweisungen zuzurufen.

»Das ist ein Mehlsieb, was du da hast, Tante Jinnie. Du musst ein Maismehlsieb nehmen, damit du die Salbeistiele rauskriegst.«

Jo konnte sich nicht entscheiden, ob sie das Gespräch ihres Vaters mit dem jungen Seneca verfolgen oder lieber zusehen sollte, wie das Fleisch durch den Wolf gedreht wurde.

»Wir machen hier schließlich keine Billigwurst, und hör dir mal das an.«

Er zog einen Brief aus der Tasche und las laut vor: »›Wir sehen uns wegen der zahlreichen Stornierungen außerstande, Ihr Produkt noch länger zu vertreiben.‹ Ich kann nicht mehr glauben, dass das nur an den schlechten Zeiten liegen soll. Früher war das die bekannteste Wurst dieser Art im ganzen Osten. Die Qualität hat nachgelassen. Wo ist dein Stolz geblieben, Mann? Früher konnten sie den Bestellungen kaum nachkommen. Irgendwas stimmt doch nicht.«

»Aber ehrlich, ich weiß nicht, was es ist, Mr. Davis.«

Als sie sich auf den Rückweg machten, flackerte ein Hickoryfeuer vor den weißen Platanen, und es war kalt.

»Daddy, wenn das hier meine Farm wäre, würde ich versuchen herauszufinden, was mit der Wurst los ist.«

Jeden Tag verlor Jo ein wenig mehr Vertrauen in ihren [24] Vater. Früher einmal war Vater »wunderbar« gewesen, und das behielt sie bei, weil man sie auf die Vorstellung geeicht hatte, Pflichterfüllung sei alles. Früh schon war ihr beigebracht worden, sich mit Haut und Haaren dieser großen Erkenntnis zu verschreiben – Arbeit besteht nicht nur aus Enthusiasmus, obwohl er ein wesentlicher Bestandteil ist; in der langen Hektik und Mühe des Lebens besteht die Arbeit häufiger aus etwas, das man nicht mehr länger tun möchte.

III

In der Highschool lag Jo zwar in einigen Fächern zurück, aber bei den Sprachen bestand ihre einzige Schwierigkeit darin, ihren Akzent auf das Niveau der anderen herunterzuschrauben; ihr schwächstes Fach war Alte Geschichte, die sie bis dahin noch nie belegt hatte – ihre Bemerkung, Julius Cäsar sei König von Ägypten gewesen, eine vage Erinnerung an eine flüchtige Lektüre von Antonius und Kleopatra, wurde zur Lieblingsanekdote des gesamten Lehrkörpers. Sie schloss nur wenige Freundschaften in der Schule; sie war in einem Alter, in dem man hauptsächlich in der eigenen Phantasie existiert.

Für Jason wiederum bedeutete es in diesem trüben Spätwinter nicht gerade eine Hilfe zu wissen, dass Jo ihren Glauben an ihn verlor. Ihr Recht auf Sicherheit und auch auf besondere Privilegien – diese Tatsache stellte ebenso einen Teil von ihr dar wie ihr Verantwortungsgefühl – [25] erzeugte Reibungen zwischen ihnen beiden. Doch etwas war nicht mehr da – Jos Achtung vor dem All-Wissenden, dem allzeit Gerechten, dem All-Versorgenden.

Er versuchte indessen, seine Moral durch Sport und unermüdliche Jagd nach besseren Textilvertretungen aufrechtzuerhalten. Der kärgliche Fluss von Provisionsgeldern reichte kaum aus, seinen Kopf über Wasser zu halten. Mit einer der ganz großen würde er wieder festen Boden unter die Füße bekommen; denn er genoss hier einen guten Ruf. Wohlgesonnene Großhändler versuchten ihm entgegenzukommen, doch sie wurden von einer Warenqualität abgehalten, auf die sie in ihrem Sortiment keinen Wert legten.

Dann kam der schwarze Tag, an dem er einbrach – der blauschwarze, violettschwarze, grünschwarze Tag für diejenigen, die nicht daran gewöhnt sind. Am Morgen kam die Frau des Lebensmittelhändlers; laut sagte sie im Wohnzimmer, sie und ihr Mann seien nicht länger bereit, für ihn anzuschreiben.

»Seien Sie doch leise!«, beschwor er sie. »Warten Sie doch, bis die Kleine zur Schule gegangen ist.«

»Ihre Kleine! Und was ist mit meiner? Hundertzehn Dollar –«

Jos Schritte waren auf der Treppe zu hören.

»Morgen, Daddy. Oh! Morgen, Mrs. Deshhacker.«

»Guten Morgen.«

Jos Unerschütterlichkeit hatte Mrs. Deshhacker einen Moment lang entwaffnet, aber sobald sie ins Esszimmer hinübergegangen war, stellte sie ihr Ultimatum umso resoluter. Jason konnte nur sagen:

[26] »Ich versuch’s… Mitte nächster Woche… Auf jeden Fall eine Teilzahlung.«

Es gab noch das Silber: Bestimmte Stücke waren unantastbar – die Schale vom Obersten Bundesgericht, die Teelöffel mit dem Wappen seines Großvaters –

Jason hatte das Ladenschild viele Male gesehen. Mr. Cale akzeptierte jede Art von Sicherheit – war äußerst großmütig, äußerst verlässlich.

»Wie geht es Ihnen, Sir?«

Mit den unfehlbar guten Manieren des Marylanders, die sogar unter den bescheideneren Ständen herrschten, wartete er ab. Seine Käuflichkeit drang kaum durch seine Maske hindurch.

Jason murmelte etwas mit beschämtem Gesichtsausdruck. Mr. Cale war das gewohnt und unterbrach ihn.

»Sie wollen Geld leihen?«

»Ja – auf etwas Silber.«

»Welcher Art?«

»Tafelsilber. Einige Pokale, die lange Zeit –« Er brach ab – die Schmach war unerträglich – »und ein Kaffeeservice.«

»Natürlich müssen Sie mir die Stücke erst zeigen.«

»Selbstverständlich. Vielleicht gibt es da auch noch anderes – einige Möbel. Ein paar wenige Stücke – ich werde sie in einem Monat etwa wieder einlösen.«

»Oh, bestimmt werden Sie das.«

Sicher, todsicher wird er das, fügte er in Gedanken aus Erfahrung hinzu…

Im Krankenhaus wurde er im Korridor von der Stationsschwester aufgehalten und aufgefordert, Platz zu [27] nehmen. Doktor Keyster sei gleich mit seiner Visite fertig und wolle mit ihm sprechen, bevor er zu seiner Frau hineingehe.

»Worüber denn?«

»Das hat er nicht gesagt.«

»Geht es ihr schlechter

»Ich weiß es nicht, Mr. Davis. Er will einfach mit Ihnen sprechen –«

Sie reinigte Fieberthermometer, während sie mit ihm sprach.

Eine halbe Stunde später sagte ihm Dr. Keyster in einem kleinen Aufnahmezimmer die Wahrheit.

»Nichts schlägt bei ihr an. Sie hat nichts mehr vor sich, außer jahrelanger Bettruhe, das ist alles, was ich sagen kann – jahrelange Bettruhe. Wir haben sie hier alle sehr liebgewonnen, aber ich würde Ihnen keinen Dienst erweisen, wenn ich Ihnen etwas vormache.«

»Sie wird nie wieder gesund?«

»Wahrscheinlich nicht.«

»Sie glauben nicht, dass sie je wieder gesund wird?«, fragte Jason noch einmal.

»Es hat schon solche Fälle gegeben –«

…Dann gab es in seinem Leben keinen Frühling mehr. April, Mai und Juni, das alles war vorbei.

…April, als sie zu ihm kam wie ein Bach voll Liebreiz. Mai, als sie ein Berghang war. Juni, als sie sich so eng umschlungen hielten, dass es nichts anderes mehr gab als die Wimpern an ihren Augen…

Dr. Keyster sagte:

[28] »Sie können sich ebenso gut damit abfinden, Mr. Davis.«

Wieder einmal auf dem Heimweg von einer der vielen Pietas zu seiner Liebe, durchquerte Jasons Taxi einen wimmelnden Fleischmarkt; ein Agitator der Gewerkschaft sprach zur Menge; als er Jason in seinem Taxi erblickte, wälzte er die Last seiner Rede auf ihn ab:

»Da haben wir so einen! Und hier sind wir! Wir werden sie umdrehen und so lange schütteln, bis die Pfennige und Groschen nur so herausrollen!«

Jason fragte sich, was wohl aus ihm herausrollen würde. Er hatte gerade noch genug, um das Taxi zu bezahlen.

Oben in seinem Schlafzimmer prüfte er zum dritten Mal die Ausbalancierung des 38er Revolvers – die Lebensversicherung war voll bezahlt.

»Hilf mir, mich umzubringen!«, betete er. »Jetzt nicht schlappmachen. Steck ihn in den Mund.«

– Das Telefon schrillte durchdringend, und er warf die Waffe auf das leere Doppelbett.

Eine Frauenstimme sagte: »Sind Sie Mr. Davis? Hier spricht die Sekretärin von Rektor McCutcheon. Einen Moment, bitte.«

Dann die Stimme eines Mannes, ruhig und direkt.

»Hier spricht Mr. McCutcheon von der Highschool. Eine unangenehme Sache, Mr. Davis. Wir müssen Sie ersuchen, Ihre Tochter Josephine von unserer Schule zu nehmen.«

Jasons verkrampfter Atemzug blieb ihm in der Kehle stecken.

»Ich hielt es für besser, Sie davon zu unterrichten, bevor [29] sie nach Hause kommt. Ich habe es zuerst in Ihrem Büro versucht. Es entspricht zwar gar nicht unserem Feingefühl, aber wir sind gezwungen, drei der Mädchen von der Schule zu verweisen, wegen eines Verhaltens, das nicht mehr entschuldigt werden kann. Wenn ein Schüler unter das Niveau der Schule fällt, dann muss das Individuum zugunsten der Mehrheit geopfert werden. Ich habe eine Lehrerkonferenz einberufen, Mr. Davis, und sie waren der gleichen Ansicht wie ich.«

»Welcher Art war das Vergehen denn?«

»Das möchte ich am Telefon nicht näher erläutern, Mr. Davis. Ich stehe Ihnen gerne nach Absprache an irgendeinem Nachmittag außer donnerstags zwischen zwei und vier zur Verfügung. Ich muss hinzufügen, dass wir alle mehr als überrascht waren, dass ausgerechnet Josephine in diese Sache verwickelt war. Sie war immer – also, ich muss sagen, eher reserviert; sie hat auch nicht versucht, sich bei den Lehrern lieb Kind zu machen, aber – nun ja, da haben wir’s.«

»Ich verstehe«, sagte Jason trocken.

»Guten Tag, Sir.«

Jason griff nach dem Revolver und begann, die Patronen aus dem Magazin herauszunehmen.

– Ich muss es noch – ein bisschen länger aushalten, dachte er.

Jo kam eine halbe Stunde später nach Hause, ihr sonst so lebendiger Mund zu einer harten Linie zusammengepresst. Dunkle Tränenspuren liefen kreuz und quer über ihre Wangen.

[30] »Hallo.«

»Hallo, mein Schatz.« Er hatte unten auf sie gewartet; er wartete, bis sie Hut und Mantel abgelegt hatte.

»Worum geht’s eigentlich überhaupt?«

Wütend drehte sie sich zu ihm herum.

»Das sag ich dir nicht. Du kannst mich schütteln, Daddy! Du kannst mich verhauen!«

»Um Gottes willen – was soll denn das alles? Wann hab ich dich jemals verhauen?«

»Das wollten sie heute Morgen, weil ich nicht gesagt habe, was sie wissen wollten.«

Jo warf sich in eine Ecke der großen Couch und weinte hinein. Er ging im Zimmer auf und ab, besorgt und verlegen.

»Ich will’s ja gar nicht wissen, Jo. Was du auch tust, ich bin damit einverstanden. Ich vertraue dir, Baby, ganz und gar. Ich werd mich nicht einmal erkundigen.«

Sie schaute mit müden Augen zu ihm auf.

»Bestimmt nicht? Versprichst du’s, Ehrenwort?«

»Ja. – Ich habe eine Idee, eine wirklich gute Idee. Falls ich nicht – oder, sagen wir mal, bis ich die Gehrbohm-Vertretung bekomme, habe ich nachmittags jede Menge Zeit. Wie wär’s, wenn ich eine Zeitlang dein Privatlehrer wäre? Ich war früher in Latein und Algebra ganz gut. Und für die Sprachen holen wir uns eine Bücherliste aus der Bücherei.«

Wieder schluchzte sie tief in die großen Kissen hinein.

»Oh, Baby! Hör auf. Wir sind doch keine Miesmacher, du und ich. Nimm erst mal ein Bad, und dann machen wir uns was zum Abendessen.«

Als sie in ihr Zimmer gegangen war, versuchte Jason an [31] irgendetwas anderes als an sich selbst zu denken. Dann fiel ihm wieder ein, was Annie Lee ihm in der kurzen Viertelstunde an diesem Morgen gesagt hatte.

»Ich kann das mit der Farm überhaupt nicht begreifen – es war doch alles so einfach. Da war die Gewürzmischung – neun Esslöffel Salz, neun Löffel Hickory-Asche, dann der Pfeffer und der Salbei. Und natürlich immer das Lendenstück –«

»Hickory-Asche?«, hatte Jason ausgerufen. »Lendenstück?«

Aufgeschreckt durch seine Bestürzung, hatte sie sich im Bett aufgesetzt, so dass er sie wieder sanft in die Kissen schob. »Jetzt sag bloß nicht, der junge Seneca nimmt kein Lendenstück – tut nicht die Esslöffel Hickory-Asche dazu?«

– Im Wohnzimmer des Apartments setzte Jason sich hin und schrieb an den jungen Seneca.

Als Jo herunterkam, sagte er: »Bring das hier hinüber zur Post, ja? Es geht um die Farm.«

Nachdem sie die Adresse studiert hatte, wollte Jo wissen:

»Vater – meinst du das ernst, dass du mich unterrichten willst?«

»Und ob! Jede Wette! Ich bringe dir alles bei, was ich weiß.«

»In Ordnung.«

Doch in der grauen Abenddämmerung saß er noch immer über das zerfledderte Lehrbuch gebeugt.

»Cäsar«, sagte er angesichts des ersten Textes. »Das richtet sich auch noch an die verdammten Helvetier!«

Er übersetzte:

[32] »In der Schweiz neckten sie die Götter und die Männer –«

»Was, Daddy?«

»Moment mal. Nein, so: In der Schweiz neckten sie die Männer, und dann neckten sie die Götter – Das ist jetzt aber schwierig – Latein scheint auch nicht mehr das zu sein, was es zu meiner Zeit mal war.«

Ärgerlich wandte Jason sich an Jo. »Geben sie euch denn nicht so Sätze zum Konstruieren? Helvetii qui nec Deos nec homines verebantur – das heißt Zittern, glaube ich – magnum dolorem. Das heißt, dass die Geschichte sehr traurig ausgeht. Warum hast du mich überhaupt gebeten, das zu übersetzen?«

»Das hab ich nicht. Den Teil kenne ich. Das heißt, die Helvetier, die weder Götter noch Menschen fürchteten, gerieten in großen Kummer, weil sie von allen Seiten von Bergen eingekesselt waren.«

Er las noch einmal: »Patiebantur quod ex omnibus partibus, und das heißt ein Wall von zehn Fuß«, rief er frohlockend im Schein der Lampe.

»Jaha! Das hast du in einer Fußnote gelesen.«

»Habe ich nicht«, log er.

»Ehrenwort?«

»Reden wir von was anderem.«

»Und du hältst dich für einen Lehrer.«

Damit endete am ersten Abend die Lateinstunde.

Jo blätterte in ihrem Buch, fand die gesuchte Stelle und las laut und langsam vor:

»›Wenn die Staatseinnahmen aus Steuern von einer Milliarde Dollar im Jahre 1927 auf fünfhundert Milliarden [33] Dollar im Jahre 1929 stiegen, wie groß ist dann der prozentuale Zuwachs?‹«

»Weiter«, sagte Jason.

»Mach du weiter, Daddy. Du bist doch der tolle Mathematiker. Und versuch mal die hier!«

»Lass mich selber lesen: ›Wenn die Summe der Kehrwerte zweier aufeinanderfolgender gerader Zahlen Null ist; und wenn die Summe zweier anderer aufeinanderfolgender Zahlen 11/60 ist – wie lauten dann die Zahlen?‹«

Jason sagte: »Für einen unbekannten Wert setzt man immer ein x. Man muss die Sache ja schließlich mit System angehen, nicht?«

»Tolles System.«

»Irgendwo muss man ja anfangen.« Er beugte sich wieder darüber: »Wenn die Staatseinnahmen von fünf Milliarden im Jahre 1927 auf –«

Vorläufig war er am Ende seiner Weisheit angelangt.

»Liebling«, sagte er. »In einer Woche weiß ich mehr darüber –«

»Ja, Daddy.«

»Zeit für dich. Ab ins Bett.«

Bedeutungsschwangere Stille.

»Ich weiß.«

Sie kam zu ihm herüber und küsste ihn flüchtig auf eine alte Baseballnarbe an der Stirn.

[34] IV

Um diese Chronik voranzubringen, müssen die Tage übersprungen werden, an denen Annie Lees Farm zu neuem Leben erwachte – als der junge Seneca nämlich begriff, dass Mr. Davis tatsächlich Lende in der Wurst haben wollte – an dem Tag, an dem ihm ein wichtiger Zusatz wieder einfiel: neun Esslöffel Hickory-Asche.

Die Aufträge für große Mengen begannen wieder zuzunehmen. Nachdem sie sich lange Zeit lediglich noch selbst getragen hatte, begann die Farm tröpfchenweise Profit abzugeben.

V

Manchmal ging Jason nachts in ihr Zimmer und setzte sich zu ihr an den Bettrand. An diesem Abend jedoch nicht. Im Wohnzimmer nahm er die Ausgabe von Cäsar – Der Gallische Krieg zur Hand.

Die Helvetier, die weder Götter noch Menschen fürchteten, gerieten…

›Wer bin ich, dass ich mich fürchte?‹, dachte Jason. Er, der acht Bauernjungen aus Ohio in einen Stall in Frankreich und in den Tod geführt hatte und selbst wieder herausgekommen war, ohne mehr dabei zu verlieren als die Spitze seines linken Schulterblatts!

Die Helvetier, die weder Götter noch Menschen fürchteten, gerieten

Er zog die Lampe näher heran.

[35] Die Nacht schleppte sich in einem Wirbel aus Verben und Partizipien voran. Gegen elf klingelte das Telefon.

»Hier spricht Mr. McCutcheon.«

»Oh, ja.«

»Ihrer Tochter ist ernsthaft Unrecht angetan worden. Es scheint, als habe ein wilder Streifzug in den Umkleideraum der Jungen stattgefunden – dazu wurde jemand zum Schmierestehen vor der Tür postiert. Dieses Mädchen war weggelaufen, aber Jo war dort und versuchte, sie genau in dem Augenblick zu warnen, als die beaufsichtigenden Schüler auftauchten.

Es tut mir aufrichtig leid, Mr. Davis. In solchen Fällen können wir leider nicht sehr viel tun – außer unser aufrichtiges Bedauern auszudrücken.«

»Ich weiß.«

Das Telefon schaltete nun auf die Stimme von Mr. Halklite um.

Da war sie! Die Vertretung von Pan-American Textile.

»Hallo, Mr. Davis! Ich bin gerade in Philadelphia. Wir stehen ja seit einiger Zeit in Briefkontakt – ich bin morgen in Ihrem Teil der Welt und dachte, ich komme mal auf einen Sprung vorbei. Entschuldigen Sie die späte Störung…«

Das Frühstück wartete, als Jason, der bereits eine Fahrt zu seinem Büro und zurück hinter sich hatte, sein Schlafzimmer betrat – fast augenblicklich klopfte Jo, die ihn kommen gehört hatte, an seine Tür und wollte aufgeregt wissen:

»Was ist los?«

»Ich bin einfach nur müde. Ich habe die ganze Nacht gearbeitet. Hör mal, wenn du deine Freundinnen hier hast [36] zum Mittahessn« – die Wörter schienen ihm außergewöhnlich schwierig und lang –, »dann räum nachher das Zimmer auf. Sehr wichtig. Geschäftliche Besprechung.«

»Verstehe, Daddy.«

Er schwankte bedrohlich, hielt sich am Bettpfosten fest. »Ganze Zukunft hängt von diesem Mann ab. Mach’s schön gemütlich für ihn.«

Ohne weitere Vorwarnung fiel er kopfüber vorwärts aufs Bett.

VI

Um elf Uhr öffnete das farbige Hausmädchen Mr. Halklite, der unerwartet vor der Tür stand. Auf seiner Inspektionsreise war Mr. Halklite gezwungenermaßen immer weniger und weniger freundlich geworden, obwohl er von Natur aus ein freundlicher Mensch war. Sein Scharfsinn war im Geschäftsleben ein großes Plus – wenn es auch zeitweilig langweilig wurde, diese Eigenschaft einzusetzen, so war es doch eine Notwendigkeit, Erschöpftes und Untaugliches auszumerzen. Halklite konnte die Toten von den Lebendigen unterscheiden, und das war auch der halbe Grund dafür, warum er gerade zum Vizepräsidenten von Pan-American Textile gewählt worden war. Allerdings, wie gesagt, nur der halbe. Die andere Hälfte erklärte sich durch seine Freundlichkeit.

Ein kleines Mädchen betrat das Zimmer.

»Guten Morgen. Ist dein Vater da? Ich glaube, er erwartet mich.«

[37] »Möchten Sie nicht hereinkommen? Vater hat sich erkältet – er hat sich hingelegt.«

In Jasons Schlafzimmer schüttelte und rüttelte Jo den erschöpften Körper vergebens. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück.

»Daddy steht sofort auf«, sagte sie. »Es tut ihm leid, dass er noch nicht angezogen ist, um Sie zu empfangen.«

»Oh, das ist schon in Ordnung. Du bist Mr. Davis’ kleine Tochter?«, fragte Mr. Halklite.

Fast beiläufig ging Jo zur Klavierbank hinüber und drehte sich, plötzlich entschlossen, zu ihm um.

»Mr. Halklite, Vater hat eine Grippe gehabt, und der Doktor möchte nicht, dass er aufsteht. Er versucht’s aber trotzdem.«

»Oh, das dürfen wir aber nicht zulassen!«

»Der Doktor wollte es nicht. Aber Daddy ist eben so. Wenn er sagt, dass er etwas tut, dann tut er’s auch. Daddy braucht eine Frau, die sich um ihn kümmert. Und ich muss so viel für die Schule machen –«

»Sag ihm, er soll nicht aufstehen«, wiederholte Mr. Halklite.

»Ich weiß nicht mal, ob er’s überhaupt schafft.«

»Dann sag ihm, das macht gar nichts.«

Sie ging in das Zimmer ihres Vaters und kam nach kurzer Zeit wieder zurück. »Er lässt Sie herzlich grüßen. Es tut ihm so leid, dass er Sie nicht sehen kann.«

Sie stand Todesqualen aus. Sich diese Qual nicht anmerken zu lassen war das Schwerste, das sie je hatte tun müssen.

»Ich bin doch gar nicht böse, es tut mir nur leid«, sagte [38] Mr. Halklite. »Ich wollte ihn nur mal sprechen. Wie alt ist denn dein Vater, kleines Fräulein?«

»Das weiß ich nicht genau. Ich glaube, so um die achtunddreißig.«

»Aber mit achtunddreißig kann ein Mann doch noch jung sein«, protestierte er. »Ist denn dein Vater nicht mehr jung?«

»Daddy ist jung, doch. Aber er ist sehr ernst.« Sie zögerte.

»Sprich ruhig weiter«, sagte Halklite. »Erzähl mir von ihm. Ich lasse dich wieder zu deinen Schulaufgaben, wenn ich die Zigarette hier aufgeraucht habe. Aber ich glaube, du solltest nicht in das Zimmer deines Vaters gehen, solange er krank ist.«

»Tue ich auch nicht.«

»Du hast deinen Daddy gern?«

»Ja – jeder hat ihn gern.«

»Geht er viel aus?«

»Nicht viel – oh, etwas schon. Einmal die Woche geht er Mama besuchen. Und dann geht er eine halbe Stunde spazieren, wenn ich ins Bett gehe. Er geht los, wenn ich mich fürs Bett bereitmache, und dann ruf ich runter, wenn ich höre, wie er beim Zurückkommen die Tür aufmacht – pour dire bonsoir.«

»Du sprichst Französisch?« Sie bedauerte, dass sie das preisgegeben hatte, aber dann räumte sie doch ein: »Ich bin in Frankreich groß geworden.«

»Und dein Daddy auch?«

»O nein, Daddy ist sehr amerikanisch. Eigentlich kann er auch gar nicht so viel Französisch.«

[39] Halklite stand auf, traf seine Entscheidung schnell, vielleicht irrational.

»Sag deinem Vater, dass wir ihm die Vertretung für unsere Firma übertragen. Vielleicht muntert ihn das ein bisschen auf, und er wird schneller gesund. ›Pan-Am-Tex‹. Kannst du das behalten? Er wird Bescheid wissen.«

VII

Und wieder war es April, und sie gingen in den Zoo.

»Das war ein hartes Jahr, Jo.«

»Ich weiß, Daddy. Aber schau doch mal! Die Pfauen!«

»Das ist deine Erziehung, Jo. Das meiste von dem, was du je über das Leben lernen wirst. Später einmal wirst du das verstehen.«

»Ich weiß, dass wir es schwer hatten, Daddy. Aber jetzt ist alles wieder besser, stimmt’s? Sieh dir die Pfauen an, mon père. Die machen sich keine Sorgen.«

»Na gut, wenn du unbedingt willst; setzen wir uns auf die Bank da und starren sie an.«

Jo saß eine Weile schweigend da. Dann sagte sie: »Wir waren auch mal Pfauen, nicht wahr?«

»Wie?«

»Wahrscheinlich haben sie auch manchmal Kummer und Sorgen, wenn ihre Schwänze nicht wachsen wollen.«

»Vermutlich. In welche Schule möchtest du eigentlich nächstes Jahr? Du kannst es dir aussuchen.«

»Ich glaube, das ist nicht mehr so wichtig. Sieh mal den Pfau da – sieh nur! Der eine da, der versucht, außerhalb des [40] Käfigs herumzupicken. Den mag ich besonders – du auch?«

Jason sagte: »Eigentlich war es, alles in allem gesehen, gar kein so schlimmes Jahr.«

»Was?« Jo wandte sich von dem Käfig ab, zu dem sie hinübergegangen war, um – erfolglos – zu versuchen, dem Vogel eine geschälte Erdnuss zu verfüttern.

»Daddy, wir wollen uns keine Sorgen mehr machen, ja? Ich dachte, damit hätten wir schon vor Monaten aufgehört. Mutter kommt nächste Woche nach Hause. Vielleicht sind wir ja irgendwann mal wieder drei Pfauen.«

Jason trat an den Zaun heran.

»Vermutlich haben Pfauen auch so ihre Probleme.«

»Vermutlich. Sieh mal, Daddy! Der hier frisst mein Popcorn.«

[41] Die intimen Fremden

War sie glücklich? Ihre Strandschuhe fühlten sich auf den Klavierpedalen eigenartig an; der Wind blies vom Sund herüber durch die offene Verandatür herein, blies ihr eine Locke übers Auge, blies auf die gewagt entblößten Knie über knallblauen Socken. Man schrieb das Jahr 1914.

»The key is in the door«, sang sie,

»The fire is laid to light

But the sign upon my heart, it says ›To let‹.«

›Blas nur, Brise des Sunds, Brise meiner Jugend‹, dachte sie und improvisierte Akkorde zu den Untertönen der Melodie, die ihr nicht aus dem Kopf ging. ›Hier kann ich mich all die Dinge fragen, die ich in Frankreich nie fragen kann. Ich bin einundzwanzig. Meine kleine Tochter ist am Strand und backt Kuchen aus nassem Sand, mein verlorenes Baby schläft auf einem Friedhof in der Bretagne; in zwanzig Minuten wird mein kleines Söhnchen zum letzten Mal von mir selbst genährt werden. Dann folgt eine Stunde voll von Himmel und Meer und den Rufen alter Freunde: ‘He, Sara! Hast du deine Ukulele mitgebracht, Sara? Du musst bald einmal wiederkommen, hörst du, Sara? Bitte, mach doch noch mal den alten Tanzlehrer nach, der uns den Turkey Trot zeigt!’‹

[42] Schreib an die Botschaft in Washington, sagte ein hartnäckiger Unterton in der Melodie. Sag Eduard, du wirst zu ihm kommen und dort bei ihm wie ein gutes kleines Eheweib leben, bis ihr wieder abreist. Du fängst an, dein Heimatland allzu gernzuhaben für jemanden, der aus eigenem freien Entschluss einen Franzosen geheiratet hat.

»I must ask you, Mr. Agent, ’bout a problem of today

And I hope that you can solve it all for me.

I have advertised with smiles and sighs in every sort of way

But there isn’t any answer I can see…«

[43] Menschen. » – zu vermieten« oder auch nicht, ihr Herz jedenfalls ergoss sich in ihre Stimme, die das lange helle Musikzimmer erfüllte, während sie das Lied beendete: