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Ian McEwan

Am Strand

Roman

Aus dem Englischen von
Bernhard Robben
 

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel der 2007 bei Jonathan Cape,
London, erschienenen Originalausgabe:
›On Chesil Beach‹
Copyright © 2007 by Ian McEwan
Die deutsche Erstausgabe
erschien 2007 im Diogenes Verlag
Covermotiv: Gemälde von Félix Vallotton,
›Weißer Strand, Vasouy‹,
1913 (Ausschnitt)
Foto: Copyright © Gerhard Howald,
Kirchlindach

 

 

Für Annalena

 

 

Alle deutschen Rechte vorbehalten
Copyright © 2011
Diogenes Verlag AG Zürich
www.diogenes.ch
ISBN Buchausgabe 978 3 257 23788 7
ISBN E-Book 978 3 257 60026 1

[5] Eins

 

[7] Sie waren jung, gebildet und in ihrer Hochzeitsnacht beide noch unerfahren, auch lebten sie in einer Zeit, in der Gespräche über sexuelle Probleme schlicht unmöglich waren. Einfach sind sie nie. In der Hochzeitssuite eines georgianischen Landhaushotels setzte sich das Brautpaar zum Abendessen an den Tisch. Nebenan sah man durch die offene Tür ein ziemlich schmales Himmelbett, dessen Überwurf so makellos weiß und so erstaunlich glatt gestrichen war, als hätte ihn nie eine Menschenhand berührt. Edward erwähnte mit keinem Wort, daß er zum ersten Mal in einem Hotel übernachtete, wohingegen Florence, die ihren Vater als Kind auf vielen Reisen begleitet hatte, als Dame von Welt gelten konnte. Auf den ersten Blick schienen sie beide gehobener Stimmung zu sein. Ihre Hochzeit in der Kirche St. Mary in Oxford war reibungslos verlaufen, der Gottesdienst erbaulich gewesen, der Empfang vergnügt, der Abschied von Studien- und Schulfreunden fröhlich und turbulent. Anders als befürchtet, hatten sich die Eltern von Florence nicht herablassend gegenüber Edwards Eltern benommen, und Edwards Mutter war auch nicht aus der [8] Rolle gefallen, hatte sogar den Anlaß der Feier nicht völlig vergessen. In einem kleinen Auto, das der Mutter von Florence gehörte, waren die Frischvermählten davongefahren und am frühen Abend im Hotel an der Küste von Dorset angekommen, das Wetter ließ sich zwar weder den Umständen angemessen noch ideal für Mitte Juli nennen, war aber ganz passabel: Es regnete nicht, doch fand Florence es auch nicht warm genug, um auf der Terrasse vor dem Haus zu essen, was sie eigentlich gern getan hätten. Edward war anderer Ansicht, aber viel zu rücksichtsvoll, als daß er auch nur daran gedacht hätte, ihr zu widersprechen, schon gar nicht an diesem Abend.

Also aßen sie auf ihrem Zimmer – die Glastür einen Spalt geöffnet, so daß sie auf den Balkon sehen konnten, auf den Ärmelkanal und den endlosen Kieselstrand von Chesil Beach. Von einem Servierwagen im Flur bedienten sie zwei junge Männer im Smoking, bei deren Kommen und Gehen durch die Hochzeitssuite die gebohnerten Eichendielen in der Stille komisch knarrten. Der stolze, fürsorgliche Bräutigam aber achtete eifersüchtig darauf, daß die Bewegungen und Mienen der Bediensteten nur ja keine Belustigung verrieten. Er hätte nicht das leiseste Kichern geduldet. Doch die Burschen aus dem nahe gelegenen Dorf bedienten sie mit gebeugtem [9] Rücken und verschlossenem Gesicht; ihr Benehmen wirkte zaghaft, und ihre Hände zitterten, wenn sie etwas auf dem gestärkten Leinentischtuch abstellten. Sie waren selbst nervös.

In der Geschichte der englischen Kochkunst war dies nicht gerade eine ruhmreiche Zeit, doch bis auf Besucher aus dem Ausland störte sich damals niemand daran. Und wie seinerzeit so viele Festessen begann auch dieses Dinner mit je einem Stück Melone, verziert von einer einzigen Cocktailkirsche. Im Kerzenlicht der Warmhalteplatten warteten auf silbernen Tellern bereits seit längerem gebratene Rindfleischscheiben in einer Mehlschwitze, dazu gab es weichgekochtes Gemüse und bläulich schimmernde Kartoffeln. Der Weißwein kam aus Frankreich, woher genau, war nicht zu erkennen, da das Etikett einzig eine pfeilschnelle Schwalbe zierte. Einen Rotwein zu bestellen wäre Edward nicht in den Sinn gekommen.

Während nun Edward und Florence sehnsüchtig darauf warteten, daß die Kellner sie allein ließen, wandten sie sich auf ihren Stühlen dem Ausblick zu und betrachteten den breiten, moosigen Rasenstreifen mit der dahinterliegenden Wildnis blühender Bäume und Büsche, die sich an die steile Küstenböschung klammerten. Sie konnten einige [10] schlammige Stufen erkennen, einen Pfad, gesäumt von in die Höhe geschossenen Gewächsen, die wie gigantischer Rhabarber oder Riesenkohl aussahen und deren Stengel sich unter dem Gewicht dunkler, dickadriger Blätter beugten. In ganzer Pracht breitete sich der Garten vor ihnen aus, sinnlich, beinahe tropisch, eine üppige Fülle in dem grauen, weichen Licht vor dem hauchzarten Dunstschleier über dem Meer, das in stetigem Wechsel von Angriff und Rückzug wie leiser Donner grollte und dann wieder über die Kiesel zischelte. Nach dem Essen wollten sie ihr festes Schuhwerk anziehen und auf der berühmten Landzunge von Chesil Beach zwischen dem offenen Meer und der Fleet-Lagune spazierengehen. Sollten sie den Wein bis dahin noch nicht ausgetrunken haben, würden sie ihn mitnehmen und sich wie verwegene Seeräuber gelegentlich einen Schluck aus der Flasche gönnen.

Sie hatten so viele Pläne, hochfliegende Pläne für die neblig verhangene Zukunft, vielfältig ineinander verwoben wie die Sommerflora an der Küste von Dorset – und ebenso schön: wo und wie sie leben wollten, wer ihre engsten Freunde sein würden, seine Stelle in der Firma ihres Vaters, ihre musikalische Karriere und was sie mit dem Geld anfangen würden, das Florence von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte, aber auch, warum sie nicht wie [11] andere Leute sein wollten, innerlich jedenfalls nicht. Zu jener Zeit – sie würde später in diesem legendären Jahrzehnt zu Ende gehen – empfand man Jungsein noch als Bürde, als ein Kainsmal der Bedeutungslosigkeit, einen leicht peinlichen Zustand, der mit der Hochzeit ein Ende fand. Einander beinahe fremd standen sie in noch ungewohnter Zweisamkeit vor einem Höhepunkt ihres Lebens, froh, daß ihr neuer Status versprach, sie von ihrer ewigen Jugend zu erlösen – Edward und Florence, endlich frei! Dabei gehörte die Kindheit zu den Themen, über die sie sich gern unterhielten, doch drehten sich ihre Gespräche weniger um deren Freuden als um den Nebel komischer Mißverständnisse, aus dem sie nun aufgetaucht waren, die überholten Erziehungsmethoden und die vielen Irrtümer ihrer Eltern, die sie ihnen nun vergeben konnten.

Von ihrer neuen Höhe herab hatten sie eine klare Sicht, doch konnten sie einander gewisse sich widerstreitende Empfindungen nicht beschreiben: Beide fürchteten auf je eigene Weise jenen Moment nach dem Abendessen, in dem ihre neugewonnene Reife auf die Probe gestellt werden sollte und sie sich voreinander vollständig entkleiden würden, um gemeinsam ins Himmelbett zu steigen. Seit mehr als einem Jahr war Edward von dem Gedanken daran wie benommen, daß der empfindlichste Teil seiner [12] selbst an einem bestimmten Tag im Juli für eine gewisse Zeit, und sei sie noch so kurz, in der natürlichen Höhlung dieser fröhlichen, liebenswerten und so außerordentlich intelligenten Frau weilen würde. Die Frage, wie dies ohne Enttäuschungen oder Peinlichkeiten zu bewerkstelligen war, ließ ihm keine Ruhe. Dabei rührten seine Bedenken vor einer möglichen Übererregung, dem, was jemand einmal »zu früh kommen« genannt hatte, von einem einzigen unglückseligen Vorfall her. Schon der bloße Gedanke daran verfolgte ihn, doch so große Angst er auch vor dem Versagen hatte, sein Verlangen nach Glückseligkeit, nach dem Ende aller Zweifel, war weit größer.

Die Sorgen von Florence wogen schwerer, so schwer, daß sie auf dem Weg von Oxford nach Dorset immer wieder kurz davor gewesen war, all ihren Mut zusammenzuraffen und sich Edward anzuvertrauen. Doch was sie beunruhigte, ließ sich nicht in Worte fassen; sie konnte es sich selbst kaum verständlich machen. Während Edward bloß an der üblichen Nervosität vor der ersten Nacht litt, plagte Florence eine tiefsitzende Furcht, ein hilfloser Widerwille so heftig wie die Seekrankheit. Eine Zeitlang– während all der Monate, in denen sie voller Vorfreude ihre Hochzeit planten – gelang es ihr, diesen Schatten über ihrem Glück zu ignorieren, [13] doch sooft sie sich in Gedanken jener engen Umarmung näherte – wie sie es lieber nannte –, zog sich ihr der Magen zusammen, und sie spürte Brechreiz in sich aufsteigen. In einem fortschrittlichen, modernen, für angehende Bräute angeblich hilfreichen, in fröhlichem Ton verfaßten Handbuch mit vielen Ausrufezeichen und numerierten Illustrationen war sie auf Übelkeit erregende Worte und Wendungen gestoßen: Schleimhaut etwa oder das bösartig glitzernde Wort Penisspitze. Andere Ausdrücke beleidigten ihre Intelligenz, vor allem jene, bei denen es ums Eindringen ging: Kurz bevor er in sie eindringt… oder nun endlich dringt er in sie ein und erlöst läßt sie, gleich nachdem er in sie eingedrungen ist… Wurde von ihr etwa erwartet, daß sie sich in dieser Nacht für Edward in ein Portal verwandelte, eine Art Vorhalle, durch die er Einzug hielt? Vor allem ein Wort schien ihr nichts als Schmerz zu verheißen: Penetration, ein Wort, als ob jemand Fleisch mit einem Messer zerteilte.

In optimistischeren Momenten redete sie sich ein, sie leide bloß an einer ausgeprägten Form von Überempfindlichkeit, die sich gewiß bald legte. Allerdings ließ allein der Gedanke an Edwards unter dem erigierten Penis – noch so ein abscheulicher Ausdruck – baumelnde Hoden ihre Oberlippe zittern; und schon die bloße Vorstellung, »da unten« [14] von jemandem angefaßt zu werden, und sei es von dem Mann, den sie liebte, fand sie ebenso widerwärtig wie etwa den Gedanken an eine Augenoperation. Babys aber waren von ihrer Überempfindlichkeit ausgenommen. Sie hatte Kinder gern, hatte sich gelegentlich auch schon um die kleinen Jungen ihrer Kusine gekümmert und durchaus Gefallen an ihrer Aufgabe gefunden. Es würde ihr sicherlich gefallen, von Edward schwanger zu sein, und zumindest theoretisch hatte sie auch keine Angst vor der Geburt. Wenn sie doch bloß wie die Jungfrau Maria durch ein Wunder in diesen anschwellenden Leibeszustand versetzt werden könnte.

Florence vermutete, daß mit ihr irgend etwas grundsätzlich nicht stimmte, daß sie schon immer anders gewesen war und daß diese Andersartigkeit nun zutage trat. Ihr Problem war größer, sinnierte sie, es reichte tiefer als unmittelbarer, physischer Ekel; ihr ganzes Sein rebellierte bei dem Gedanken an nackte Haut und körperliche Liebe; es war ein Angriff auf ihre Person, ihren innersten Seelenfrieden. Sie wollte einfach nicht, daß in sie »eingedrungen«, daß sie »penetriert« wurde. Sex mit Edward konnte nicht der Gipfel ihrer Freuden, sondern nur der Preis sein, den sie zahlen mußte.

Sie hätte längst mit ihm reden müssen, das wußte sie, schon als er ihr den Antrag machte und noch [15] vor dem Besuch beim freundlichen Pfarrer mit der sanften Stimme und vor den Essen bei ihren jeweiligen Eltern, auch lang ehe die Hochzeitsgäste eingeladen, die Geschenklisten zusammengestellt und bei einem Warenhaus hinterlegt, das große Zelt sowie der Fotograf bestellt und all die übrigen nicht mehr rückgängig zu machenden Vorkehrungen getroffen worden waren. Aber was hätte sie schon sagen, welche Worte wählen können, da sie sich das Problem doch nicht einmal selbst zu erklären wußte? Außerdem liebte sie Edward, zwar nicht mit jener heißen, schwülen Leidenschaft, von der sie gelesen hatte, doch tief und innig, manchmal wie eine Tochter, dann wieder fast mütterlich. Sie hielt ihn gern umschlungen, und es gefiel ihr, seine kräftigen Arme um ihre Schultern zu spüren und von ihm geküßt zu werden, auch wenn sie seine Zunge in ihrem Mund nicht mochte, was sie ihm übrigens wortlos zu verstehen gegeben hatte. Sie fand, er war einzigartig, anders als alle Männer, die sie kannte. Für den Fall, daß er in einem Wartezimmer sitzen oder in einer Schlange anstehen mußte, hatte er in seiner Jackentasche stets ein Taschenbuch dabei, meist eines über Geschichte. Was er las, unterstrich er mit einem Bleistiftstummel. Er war fast der einzige Mann aus ihrer Bekanntschaft, der nicht rauchte. Nie paßten seine Socken zusammen. Und [16] er besaß nur einen einzigen Schlips, schmal, gestrickt, dunkelblau, den er nur umtat, wenn er ein weißes Hemd anhatte. Sie mochte seinen wachen Verstand, seine Zuvorkommenheit, den leicht ländlichen Akzent sowie seinen kräftigen Händedruck, und sie mochte es, wenn er im Gespräch abschweifte und sie auf verblüffende Umwege lockte. Wenn sie redete und er sie dabei mit seinen sanften braunen Augen ansah, fühlte sie sich wie in einer lichten Wolke der Liebe geborgen. Folglich zweifelte sie im Alter von zweiundzwanzig Jahren auch nicht daran, daß sie den Rest ihres Lebens mit Edward Mayhew verbringen würde. Wie hätte sie es da riskieren können, ihn zu verlieren?

Es gab niemanden, mit dem sie reden konnte. Ruth, ihre Schwester, war zu jung und ihre zweifellos wundervolle Mutter viel zu intellektuell, zu spröde, ein altmodischer Blaustrumpf. Wenn Violet mit einem intimen Problem konfrontiert wurde, flüchtete sie sich in ihre Dozentenrolle, gebrauchte zunehmend längere Worte und verwies auf Bücher, die man ihrer Meinung nach gelesen haben sollte. Erst wenn sie die knifflige Angelegenheit damit für geregelt hielt, gestattete sie sich bisweilen ein freundliches Wort, wenn auch selten, und meist war man hinterher auch nicht klüger als vorher. Bei ihren Freundinnen im Musikkolleg und an der [17] Universität stellte sich Florence das gegenteilige Problem: Sie liebten es, sich endlos über Intimes auszulassen, und schwelgten in ihren Schwierigkeiten. Außerdem kannten sie sich viel zu gut und bombardierten einander geradezu mit Anrufen und Briefen. Doch auch wenn sie ihren Freundinnen kein Geheimnis anvertrauen konnte, machte sie ihnen das nicht zum Vorwurf, sie gehörte ja selbst zur Clique und hätte sich selbst auch nichts anvertraut. Sie war allein mit einem Problem, für das sie keine Lösung kannte, doch vielleicht half ihr das Handbuch weiter. Dessen grellroter Einband zeigte ein lächelndes, Händchen haltendes Strichmännchenpaar mit kugelrunden Augen, eine weiße Kreidezeichnung, so naiv gemalt wie von einem unschuldigen Kind.

Sie hatten die Melone in kaum zwei Minuten verzehrt, während die Burschen, statt auf dem Korridor zu warten, sich im Hintergrund hielten und an ihren Fliegen, an den engen Kragen oder den Manschetten zupften. Ihre Mienen blieben ausdruckslos und änderten sich auch nicht, als Edward seiner Braut mit galanter Geste die kandierte Kirsche darbot. Verspielt saugte sie ihm die Frucht von den Fingern, biß zu und hielt dabei seinen Blick gefangen, ließ ihn sogar ihre Zunge sehen, obwohl sie Angst [18] davor hatte, wie es weitergehen sollte, wenn sie auf diese Weise mit ihm flirtete. Sie durfte nichts anfangen, was sie nicht auch zu Ende bringen konnte, doch wollte sie, so gut sie konnte, ihr Bestes geben: Sie fühlte sich dann nicht ganz so nutzlos. Wenn es doch genügen würde, eine klebrige Kirsche zu essen.

Um zu beweisen, daß ihn die Gegenwart der Kellner nicht störte – obwohl er sich wünschte, sie würden endlich verschwinden – lächelte Edward, während er sich mit seinem Glas Wein zurücklehnte und ihnen über die Schulter zurief: »Gibt’s noch mehr von den Dingern?«

»Keine mehr, Sir. Bedaure.«

Die Hand aber, mit der Edward das Weinglas hielt, zitterte, während er sein plötzliches Hochgefühl, seine überschäumende Freude zu bändigen versuchte. In seinen Augen glühte Florence nahezu, sie war einfach wunderbar – schön, sinnlich, begabt und über die Maßen attraktiv.

Der Junge, der ihm geantwortet hatte, stürzte vor und räumte den Tisch ab. Sein Kollege ging auf den Korridor, um den zweiten Gang, das Rindfleisch, auf ihren Tellern anzurichten. Den Servierwagen in die Hochzeitssuite zu fahren und das Essen dort mit dem Silberbesteck vorzulegen war unmöglich wegen der zwei Stufen zwischen [19] Zimmer und Flur, die sich einer Fehlplanung aus jenen Tagen verdankten, als das elisabethanische Landhaus Mitte des achtzehnten Jahrhunderts dem georgianischen Zeitgeschmack angepaßt worden war.

Das Paar hörte Löffel über Platten schaben und die beiden Jungen an der offenen Tür murmeln, war aber für einen kurzen Moment allein. Edward legte seine Hand auf die von Florence und flüsterte ihr zum hundertsten Mal an diesem Tag zu: »Ich liebe dich«, woraufhin sie ihm augenblicklich von ganzem Herzen und aus tiefer Überzeugung dasselbe versicherte.

Edward hatte sein Geschichtsstudium am University College in London mit »sehr gut« abgeschlossen und in drei kurzen Jahren Kriege studiert, Rebellionen, Seuchen und Hungersnöte, den Aufstieg und Fall von Weltmächten, Revolutionen, die ihre Kinder fraßen, das Elend der Landarbeiter, die Verarmung der Fabrikarbeiter und die Grausamkeit der herrschenden Klasse – ein farbenfrohes Historienspiel über Unterdrückung, Leid und enttäuschte Hoffnungen. Er wußte, wie beengt und kärglich das Leben Generation um Generation verlaufen konnte. Von seiner höheren Warte aus gesehen, schienen friedliche Zeiten des Wohlstandes in England eher selten gewesen zu sein, und vor diesem Hintergrund bedeutete ihrer beider Glück etwas [20] Außergewöhnliches, wenn nicht gar Einzigartiges. Im letzten Studienjahr konzentrierte er sich auf die Theorie der großen Persönlichkeiten in der Geschichte – war es wirklich eine überholte Vorstellung, daß tatkräftige Individuen das Schicksal ihrer Nation prägen konnten? Der Dozent hegte daran keinen Zweifel: Seiner Ansicht nach trieb die Geschichte, nüchtern betrachtet, von unwiderstehlichen Kräften bestimmt einem unausweichlichen, notwendigen Ende zu und würde daher gewiß schon bald zu den Naturwissenschaften gerechnet werden können. Die Lebensläufe, die Edward im besonderen studierte – Cäsar, Karl der Große, Friedrich der Große, Katharina die Große, Nelson und Napoleon (Stalin hatte er auf Drängen seines Dozenten fallenlassen) –, schienen ihm jedoch eher das Gegenteil nahezulegen. Ein rücksichtsloser Charakter, blanker Opportunismus und ein Quentchen Glück konnten das Schicksal von Millionen ändern, eine eigensinnige Schlußfolgerung, die Edward eine »zwei minus« eintrug und beinahe seinen Einser-Abschluß gefährdet hätte.

Fast nebenbei entdeckte er, daß selbst legendärer Erfolg nur selten Glück, wohl aber wachsende Ruhelosigkeit und quälenden Ehrgeiz mit sich brachte. Am Morgen, beim Ankleiden zur Hochzeit (Frack, Zylinder, dazu ein ordentlicher Schuß Eau de Cologne), war er der festen Überzeugung gewesen, daß [21] keine der Berühmtheiten auf seiner Liste solche Zufriedenheit gekannt haben konnte. Allein seine Hochstimmung war schon etwas Großartiges. Da stand er, ein herrlich wunschloser oder doch fast wunschlos glücklicher Mann. Bereits im Alter von zweiundzwanzig Jahren hatte er sie alle übertrumpft.

Er betrachtete jetzt seine Frau, ihre fein gesprenkelten, haselnußbraunen Augen und deren zartes, milchigblau schimmerndes Weiß. Die Wimpern waren lang und dunkel wie die eines kleinen Mädchens, und auch der würdevolle Ernst ihres Gesichtes strahlte etwas Kindliches aus. Es war ein hübsches, markantes Gesicht, das in bestimmtem Licht an eine Indianerin erinnerte, an eine edle Squaw. Florence hatte ein ausgeprägtes Kinn, und ihr offenes, natürliches Lächeln strahlte bis in die Augenwinkel. Zudem war sie kräftig gebaut – während der Hochzeitsfeier hatten einige Matronen vielsagend von einem gebärfreudigen Becken gesprochen –, und ihre Brüste, die Edward berührt und sogar schon geküßt hatte, wenn auch nicht annähernd oft genug, waren klein. Ihre Violinistenhände waren sehnig und blaß, ebenso die langen Arme; beim Schulsport hatte sie als gute Speerwerferin gegolten.

Für klassische Musik hatte Edward noch nie viel übrig gehabt, doch lernte er jetzt deren so fröhlich [22] klingende Sprache kennen – legato, pizzicato, con brio. Allmählich und allein durch stupide Wiederholung prägten sich ihm bestimmte Stücke ein, und er begann sogar, sie zu mögen; eines, das Florence oft mit ihren Freunden spielte, ging ihm ganz besonders nah. Wenn sie daheim Läufe und Arpeggios übte, trug sie ein Stirnband, ein reizender Anblick, der ihn von der Tochter träumen ließ, die sie eines Tages vielleicht einmal haben würden. Das Spiel von Florence war geschmeidig, präzise und für seinen satten Ton bekannt. Ein Lehrer versicherte ihr, er habe noch nie zuvor eine Studentin gehabt, die eine Leersaite so warm anklingen lassen konnte. Ob sie vor ihrem Notenständer im Londoner Probenraum oder im Schlafzimmer daheim in Oxford stand und Edward sich auf dem Bett rekelte, sie beobachtete und begehrte – immer hielt sie voller Anmut den Rücken gerade und den Kopf stolz gereckt, während sie die Noten mit herrischer, ihn immer wieder erregender, fast arroganter Miene ablas. Ihr Gesicht strahlte eine solche Gewißheit aus, auf dem Weg zu höchster Erfüllung.

Wenn es um Musik ging, waren ihre Bewegungen fließend und bestimmt, sei es, daß sie den Geigenbogen kolophonierte, das Instrument neu bespannte oder das Zimmer umräumte, damit Platz für die drei Freunde vom College war – denn dem [23] Streichquartett galt ihre ganze Leidenschaft. Dort gab sie unangefochten den Ton an und behielt auch in musikalischen Fragen stets das letzte Wort. Im sonstigen Leben wirkte sie hingegen überraschend ungelenk und unsicher, verstauchte sich bald einen Zeh, stieß etwas um oder schlug irgendwo mit dem Kopf an. Ihre Finger, denen in Bach-Partiten ohne weiteres Doppelgriffe gelangen, waren ebenso begabt darin, eine Tasse Tee auf dem Leinentischtuch umzukippen oder ein Glas auf die Fliesen fallen zu lassen. Wenn sie sich beobachtet glaubte, stolperte sie über ihre eigenen Füße – Edward gestand sie, welche Qual es für sie sei, einer Freundin auf offener Straße aus einiger Entfernung entgegenzugehen. Und wann immer sie besorgt oder schüchtern war, strich sie sich unwillkürlich eine unsichtbare Strähne aus der Stirn, eine fahrige, flatterige Geste, die sie auch dann noch wiederholte, wenn die Aufregung längst vorüber war.

Wie hätte er sie nicht lieben können mit all ihren rührenden Eigenheiten, ihrer außerordentlichen Ehrlichkeit und Offenheit, sie, deren Gedanken und Gefühle so unmittelbar in ihr Mienenspiel und ihre Gestik einflossen wie ein Strom elektrisch geladener Teilchen? Selbst wenn sie nicht von derart schöner, kräftiger Statur gewesen wäre, wäre er ihrem Zauber erlegen. Doch mit welcher Intensität [24] liebte sie ihn erst, welch quälende, körperliche Zurückhaltung legte sie sich auf. Nicht bloß sein Verlangen wurde dadurch noch gesteigert, daß es nicht ausgelebt wurde, sie weckte auch seinen Beschützerinstinkt. Aber war sie wirklich so wehrlos? Einmal hatte er einen Blick in ihr Schulzeugnis geworfen und das Resultat des Intelligenztestes gesehen: einhundertzweiundfünfzig, siebzehn Punkte über seinem eigenen Ergebnis. Und in jenen Tagen hielt man diese Werte noch für ebenso aussagekräftig wie Gewicht oder Körpergröße. Wenn er dem Quartett beim Proben zuhörte und sie hinsichtlich Phrasierung, Tempo oder Dynamik eine andere Meinung hatte als Charles, der pausbäckige, schnöselige Cellist, dessen Gesicht vor Akne glänzte, faszinierte Edward, wie bestimmt Florence auftreten konnte. Sie ließ sich auf keine Diskussionen ein, hörte nur ruhig zu und gab anschließend ihre Entscheidung bekannt. Nichts erinnerte dann an die fahrige Geste, mit der sie sich jene unsichtbare Strähne aus der Stirn strich. Sie beherrschte ihr Metier, und sie war fest entschlossen, das Quartett zu leiten, wie es einer Ersten Geigerin zustand. Selbst ihren furchterregenden Vater schien sie herumdirigieren zu können. Viele Monate vor der Hochzeit hatte er Edward auf ihren Wunsch hin eine Stelle angeboten. Ob Edward sie wirklich wollte oder es wagen [25] könnte, sie abzulehnen, stand nicht zur Debatte. Außerdem wußte sie dank ihrer weiblichen Intuition genau, was für das Hochzeitsfest gebraucht wurde, kannte die nötige Zeltgröße ebenso wie die erforderliche Puddingmenge oder die Summe, die man vernünftigerweise als Zuschuß von ihrem Vater erwarten durfte.