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Verdacht!

Werftgelände, Hafen von Andhakleia, Vormittag,
einen weiteren Tag später

Steuermann Lakshapheus stand in der kleinen Werkhalle, die der Werftmeister ihnen zugewiesen hatte. Er verstaute seinen Oktanten und das Fernrohr der Kapitänin in der neuen Seekiste, die Zimmermann Tarjixes für die Schiffsmesse gebaut hatte. Hinter ihm, auf dem großen Werftgelände Andhakleias, brummte es vor Betriebsamkeit.

Im gesamten Werftbecken sah man Schiffe auf Kiel liegen, darunter Fischerboote, Flußsegler und große Karacken, die von turbantragenden Arbeitern instand gesetzt wurden. Am Himmel ballten sich die ersten Wolken zusammen. In wenigen Tagen würde die Regenzeit beginnen. Die Luft roch nach heißem Kohlenteer und verbranntem Holz, und von überall her war geschäftiges Hämmern und Sägen zu vernehmen. Die Männer legten sich ins Zeug, ehe die schwüle Mittagshitze sie zur Mußestunde in den Schatten der Schiffsrümpfe vertreiben würde.

Neue Schiffe wurden derzeit nur wenige gebaut. Dafür hatte der Seehandel in den letzten Monden zu große Einbußen erlitten. Doch noch immer hatte man alle Hände voll mit den Nachwirkungen der Katastrophe zu tun, die auch die kurjamäische Handelsflotte nicht verschont hatte. Viele Schiffe warteten darauf, in der Werft ausgebessert zu werden.

In einiger Entfernung piekerten Zimmerleute das Unterschiff einer neuen Karacke der reichen andhakleischen Händlerfamilie Indranopaios mit Platten aus Blei. Diese Prozedur bot Schutz gegen den Pahlwurm, einen überaus lästigen Meeresbewohner, der überall an der Küste der Ehernen Liga die Außenhaut der Segler zerfraß. Und in den von Seesoldaten des Maharadschas abgeschirmten Bogenhallen im Osten des Hafens wurde an zwei neuen Kriegsgaleeren gebaut.

Lakshapheus griff gerade zu dem großen Kassenbuch, als er durch das laute Trompeten eines Arbeitselefanten aufgeschreckt wurde, der dicht bei der Werkhalle vorbeistapfte. Der Treiber beruhigte das Tier, und erst jetzt erkannte der Steuermann, daß der Elefant einen großen Karren mit Bauholz hinter sich herzog.

Da stürmte auch schon Zimmermann Tarjixes in die Halle.

»Ich habe es bekommen! Vier Klafter bestes Zypressenholz! Das ist mehr als genug, um die Aufbauten wieder in den alten Zustand zu bringen. Mit den richtigen Leuten schaffe ich das in einer halben Woche!«

Lakshapheus hob anerkennend eine Augenbraue. »Gut. Scheint so, als ob die Kapitänin vor hat, bald wieder auszulaufen. Jedenfalls hat sie mich angewiesen, mich um Mannschaft und Ausrüstung zu kümmern.«

»So bald schon?« Tarjixes schaute den Steuermann verblüfft an. »Will sie etwa wieder zurück ...?«

Lakshapheus zuckte mit den Schultern und strich sich dabei nachdenklich über seinen Wickelbart. Ihm war die Vorstellung ebenfalls unangenehm, noch einmal zu diesen verdammten Käferinseln segeln zu müssen. Niemand von ihnen würde diese Reise wohl je vergessen können.

»Die Stern von Andhakleia ist immerhin das letzte Schiff der Kapitänin. Vielleicht geht es auch nach Osten? Keramik aus Honaghȗsa, Teppiche aus Gautamar, Edelsteine aus Sadi – zur Zeit ist alles Mangelware. Und wenn diese verdammten Wolken da oben am Himmel die Navigation weiterhin erschweren, wird das so schnell nicht besser werden. Ein guter Seefahrer kann jetzt überall Gewinn machen.«

»Oder den Tod finden.« Der Zimmermann klang nicht sehr zuversichtlich.

»Wir werden sehen. Kommen die anderen Reparaturarbeiten voran?«

Tarjixes führte den Steuermann nach draußen und deutete zum nahen Dock, das nicht weit vom Hafenbecken entfernt war.

Dort lag sie. Etwas ramponiert, aber noch immer eines des schönsten Schiffe des Stadt: die Stern von Andhakleia.

Man hatte die Karavelle an Land gezogen. Der Rumpf des Seglers wurde von riesigen Balken abgestützt, und überall an der Außenhaut hingen Seile herab. Oben, an Deck, konnte man Arbeiter mit Pluderhosen und nackten Oberkörpern ausmachen, die unter Anleitung von Bootsmann Brahthos damit beschäftigt waren, das frische Bauholz an Deck zu ziehen. Selbst von hier unten war der kupferne Aionarsstern zu sehen, den Brahthos wie immer um den Hals trug.

Weitere Männer waren dabei, die schwarze Außenhaut des Unterschiffs der Karavelle nach Bohrwürmern abzusuchen. Doch die eigens zum Schutz vor diesen Würmern verkohlte Holzkruste hatte sich als dick genug erwiesen, um die Karavelle vor größeren Schäden zu bewahren.

»Vielleicht sollten wir eines Tages doch einmal darüber nachdenken, das Unterschiff mit Bleiplatten auszukleiden. So wie die da drüben.« Tarjixes deutete zu der neuen Karacke der Familie Indranopaios.

»Ich glaube kaum, daß sich die Kapitänin davon überzeugen läßt. Das mag zwar sicherer als die alte Röstmethode sein, macht das Schiff aber auch langsamer.«

»Wie Ihr meint.« Der Zimmermann hob bedauern die Schultern. »Kiel und Vorsteven sind jedenfalls wieder in gutem Zustand. Die meisten Schäden haben wir ja schon auf der insula dei ausbessern können. Nur bei den Aufbauten, da ist noch einiges zu tun.«

»Ihr habt freie Hand, Zimmermann.« Lakshapheus klopfte Tarjixes auf die Schulter, der jetzt zu der großen Rampe schritt, neben der Elefant und Arbeiter das angelieferte Holz aufschichteten.

Der Steuermann hatte soeben wieder die Werkshalle betreten, wo er sich endlich dem Kassenbuch zuwenden wollte, als er eine Gruppe von Knaben und Mädchen auf dem Gelände der Werft bemerkte, die sich in der Begleitung eines Aionarspriesters befanden. Sie kamen direkt auf die Halle zu.

Da entdeckte er unter ihnen den Schiffsjungen Tvashi, der bei seinen Freunden aus dem Waisenheim inzwischen sicher Heldenstatus genoß.

»Melde mich wieder zurück, Steuermann!« Der Junge grüßte ihn so zackig wie sonst nur selten – was ihm bei den anderen Kindern bewundernde Blicke einbrachte. Lakshapheus mußte wider Willen schmunzeln und entschloß sich, dem Jungen zuliebe ihn heute nicht zu duzen, sondern wie einen Erwachsenen und somit als gleichwertiges Besatzungsmitglied zu behandeln.

»Genießt Ihr Euren Landgang, Schiffsjunge Tvashareo?«

Tvashi strahlte ihn begeistert an. »Ja, wir basteln im Waisenheim Masken und Kostüme für das Fest übermorgen. Wir wollen beim Fest der Götzenschlacht den Kampf des Hochheiligen Malachias gegen den Anführer der bösen Götzendiener aufführen!«

»Was auch der Grund ist, der uns zu Euch geführt hat.« Der Aionarspriester, der die Knaben und Mädchen begleitet hatte, trat mit gefalteten Händen auf Lakshapheus zu und verneigte sich lächelnd. Etwas riet Lakshapheus beim Anblick des Priesters zur Vorsicht. Doch er konnte nicht sagen, ob es daran lag, daß das Lächeln des Priesters seine Augen nicht erreichte, oder ob es der schleimige Tonfall des Mannes war, der ihm so mißfiel. Lakshapheus musterte den Priester kühl. Er war von schlanker Gestalt und hatte eine Glatze, obwohl er die Dreißig sicher kaum überschritten hatte. Seine dünnen, fast blutleeren Lippen verliehen ihm überdies etwas Verkniffenes. Mit Sicherheit stammte er aus dem Merkantilischen Imperium.

Alles in allem nichts, was für ihn sprach.

»Ich bin pater Massimilio vom ordo nostrae dominae myrea. Ich unterrichte die Kinder des Waisenhauses. Da die Eignerin dieses Schiffes hier«, der Priester deutete auf die Stern von Andhakleia, »unseren Orden stets so großzügig beschenkt hat, dachten wir uns, wir könnten hier vielleicht ein wenig Holz und Tuche bekommen. Für den Umzug.«

Der Priester lächelte erneut und verneigte sich. Lakshapheus blickte zu Tvashi und ahnte, wer den pater auf diese Idee gebracht hatte. Der Junge schaute ihn mit schlechtem Gewissen an.

Lakshapheus seufzte resigniert und stieß einen lauten Pfiff aus. Er winkte Garuleos zu, dem dicken Schiffskoch, der gerade schwer atmend mit einem Korb Maisbrote angestapft kam. Dann wandte er sich an den Priester.

»Eigentlich haben Kinder hier nichts zu suchen. Und Ihr, pater, auch nicht.« Der Glatzköpfige musterte ihn ausdruckslos. »Aber gut. Fragt die Männer. Irgend etwas bleibt bei den Arbeiten immer liegen.«

Die Knaben und Mädchen tuschelten aufgeregt und starrten hinüber zu der stolzen Karavelle.

»Die heilige Myrea wird es Euch vergelten.« Der Priester lächelte wieder auf seine unangenehme Weise und zückte ein Holztäfelchen, auf dem ein von Kinderhand gemaltes Gesicht einer älteren Frau mit schräg stehenden Augen zu sehen war.

»Hier, nehmt ein Heiligenbild und tragt es am Herzen, guter Mann.«

Lakshapheus nahm das Heiligenbildnis Myreas widerwillig an sich. Endlich war Garuleos eingetroffen, der ebenfalls ein Täfelchen überreicht bekam und es verwundert anstarrte. Der Priester wandte sich an die Kinder, die, wie der Steuermann erst jetzt bemerkte, ebenfalls Heiligenbildnisse in Händen hielten.

»Und ihr, meine Lieben, sorgt dafür, daß auch die anderen schwer arbeitenden Männer ein Heiligenbild für ihre Mühe erhalten. Auf daß Myreas Segen jeden ereile.«

Lakshapheus ließ das kleine Bildnis unter seinem Hemd verschwinden.

»Garuleos, führt die Kinder herum und sorgt dafür, daß sich keines von ihnen verletzt.«

»Ja, sicher.« Garuleos wirkte sichtlich überfordert. Tvashi hingegen jubelte, und zusammen mit den anderen stürmte er auf die Rampe zu, über die man auf das Schiff gelangen konnte.

»He, so war das nicht gemeint! Doch nicht auf das Schiff...«, rief Lakshapheus den Kindern zu, doch von denen wollte offenbar niemand hören. Garuleos stürmte schnaubend hinter ihnen her.

»Laßt den lieben Kleinen doch die Freude. Wer weiß, ob sie je wieder Gelegenheit erhalten, ein Schiff so aus der Nähe zu sehen. Sie müssen doch etwas fürs Leben lernen.« Die Stimme des Priesters troff förmlich vor Ergebenheit. Der Steuermann winkte fluchend ab.

»Seht lieber zu, daß sich keiner Eurer Schützlinge da oben verletzt – oder gar die Arbeiten behindert.« Der Priester nickte, blieb aber stehen.

»Ein herrliches Schiff. Ihr habt eine große Entdeckungsreise hinter Euch, wie man hört.«

Was sollte das jetzt wieder? »Kann schon sein«, murmelte Lakshapheus und wandte sich wieder dem Kassenbuch zu.

»Wer hat schon in seinem Leben Gelegenheit, ein unbekanntes Land zu entdecken. Und das auch noch mit einer solch einzigartigen Fauna. Wie ich hörte, habt Ihr es Coleopa genannt?«

Mißtrauisch drehte sich Lakshapheus wieder zu dem Priester um. »Pater, habt Ihr nichts anderes zu tun?«

»Sicher, sicher. Ich werde wohl besser mal nach den Kindern schauen. Die lieben Kleinen ...«

Lakshapheus starrte dem Priester hinterher, bis dieser ebenfalls über die Rampe an Bord geklettert war. Dort wurde er umgehend von Bootsmann Brahthos in Empfang genommen, der sich demütig vor dem pater verneigte. Fast schien es, als kennten die beiden einander.

Der Steuermann schüttelte unwillig den Kopf und ging endlich das Kassenbuch durch. Es waren recht viele Ausgaben, die sie zu tätigen hatten. Er wunderte sich, wie die Kapitänin so schnell die Barschaft dafür hatte auftreiben können. Denn daß es um die Vermögensverhältnisse der Familie Kerishades, dessen letzte Vertreterin die Kapitänin war, derzeit nicht zum besten stand, war jedem Kaufmann in der Stadt bekannt.

Endlich klappte Lakshapheus das Buch zu und legte es in die neue Seekiste. Anschließend pfiff er zwei Arbeiter herbei und wies diese an, die Kiste aufzunehmen und ihm zu folgen.

Er hatte die Werkhalle kaum hinter sich gelassen, als er bereits lautes Kinderkrakeelen vernahm, zwischen das sich schwach die erschöpften Rufe des Schiffskochs mischten. Offenbar war es wirklich keine gute Idee gewesen, die Kinder auf das Schiff zu lassen. Als Lakshapheus die Decksaufbauten erreicht hatte, bestätigte sich seine Ahnung. Überall an Deck streunten die Waisenkinder herum und hielten die Männer von der Arbeit ab. Auf dem Zwischendeck plärrte laut ein kleines Mädchen, da ihr einer der Männer ein Stück Tuch nicht überlassen wollte, und drei der Jungen hatten sich Belegnägel gegriffen und spielten johlend einen wilden Enterkampf nach. Dabei hatten sie, ohne es zu bemerken, einen Topf mit Teer umgekippt, dessen schwarzer, dampfender Inhalt sich jetzt träge über die Planken ergoß. Einer der Jungen war sogar hoch hinauf in die Wanten geklettert. Doch seine eigene Tollkühnheit schien ihn selbst zu überraschen, denn inzwischen klammerte er sich mit einem verzweifelten Blick in die Tiefe an das Tauwerk. Zwei der Seemänner mußten ihm schließlich nacheilen, um ihn sicher wieder herunterzubringen.

Lakshapheus trommelte wütend einige Männer zusammen, die dem Schauspiel bisher feixend zugesehen hatten, und wies sie an, Garuleos dabei zu helfen, die Kinder zusammenzutreiben. Einige Zeit später standen sie um den Schiffskoch herum, der sich schnaufend die Stirn abwischte. Tvashi wirkte sichtlich verlegen. Die Kinder hielten Tuchfetzen, Holzstücke und andere Reste von Baumaterialien in den Händen und brüsteten sich voreinander damit, was sie daraus anfertigen würden.

Verdammt, wo war dieser pater Massimilio?

Mit einem Kopfnicken wies der Steuermann die beiden Arbeiter mit der Seekiste an, ihm ins Heck des Schiffes zur Messe zu folgen. Doch kaum hatte er den engen Gang betreten und die Tür zur Messe aufgeschlossen, fiel ihm auf, daß die Tür zur Kapitänskajüte nur angelehnt war. Er bedeutete den Arbeitern, die Kiste in die Messe zu tragen, und betrat vorsichtig Surjadoras Reich. Eigentlich hätte die Kajüte verschlossen sein müssen. Hier hatte niemand etwas zu suchen.

Tiefe Zornesfalten bildeten sich auf seiner Stirn, als er des Durcheinanders in dem Quartier der Kapitänin gewahr wurde. Jemand hatte die Tür aufgebrochen und den Raum hektisch durchsucht. Nichts war beschädigt, aber überall herrschte große Unordnung.

Beim Buckligen. Verdammt!

Er konnte sich schon denken, was der unbekannte Eindringling hier gesucht hatte: das Logbuch mit den geheimen Kurseintragungen. Die Narren hatten doch wohl nicht geglaubt, daß die Kapitänin diese Aufzeichnungen an Bord lassen würde?! Oder etwa doch?

In diesem Moment fiel ihm etwas am Boden auf. Ein kleines Heiligenbildnis!

Lakshapheus versicherte sich, daß er seines noch bei sich trug, dann wirbelte er herum und rannte an den beiden Arbeitern vorbei zurück an Deck. Wo war der verdammte Priester?

Der Steuermann entdeckte den Aionarspriester auf dem Vorderkastell, wo er in ein ernstes Zwiegespräch mit Bootsmann Brahthos vertieft war, der wieder einmal nervös an dem achtzackigen Stern vor seiner Brust rieb. Mit wenigen Schritten hatte Lakshapheus das Hauptdeck überquert. Wütend fixierte er den Priester.

»Pater Massimilio! Ich verlange augenblicklich zu wissen, wo Ihr in der letzten Viertelstunde wart!« Der glatzköpfige Priester lächelte besänftigend.

»Aber das seht Ihr doch, werter Herr. Ich unterhalte mich hier mit Eurem Bootsmann. Ich freue mich, daß ein so gottesfürchtiger Mann an Bord dieses Schiffes ...«

Lakshapheus kam ein anderer Gedanke. »Brahthos, wo wart Ihr eigentlich?« unterbrach er den Priester.

Der Bootsmann leckte sich nervös über die Lippen. »Hier und unter Deck. Wir haben den Kindern dabei geholfen, Holz- und Stoffreste einzusammeln.«

»So, habt Ihr das?«

Diesmal schien es ihm, als ob sich Lakshapheus und pater Massimilio einen wissenden Blick zuwarfen.

»Pater, verschwindet von Bord dieses Schiffes! Und zwar augenblicklich!«

»Ich weiß zwar nicht, was in Euch gefahren ist, aber wenn Ihr es wünscht, komme ich Eurer Aufforderung selbstverständlich nach. Bootsmann Brahthos ...« Der Priester verneigte sich vor dem Seemann und wandte sich dann ab. Lakshapheus hätte ihn am liebsten am Kragen gepackt und kurzerhand über Bord geworfen. Tief in seinem Innern wußte er, daß der Kerl etwas mit dem Einbruch zu tun hatte. Aber einen Aionarspriester ohne triftigen Beweis festzuhalten war unmöglich.

Der Priester war mittlerweile auf der Rampe angelangt und kletterte hinunter zu den Kindern, die Garuleos um sich versammelt hatte. Lakshapheus starrte der Gruppe eine Weile nach, dann drehte er sich zu dem Bootsmann um.

»Brahthos, hat Euch dieser Priester eigentlich auch ein Heiligenbildchen geschenkt?«

Der Bootsmann schien unsicher. »Ja, hat er.«

»Zeigt es mir.«

Der gottesfürchtige Seemann griff fahrig zu seinem Gürtel und zog ein kleines Holztäfelchen mit dem Antlitz Myreas hervor. »Hier.«

Wütend fixierte Lakshapheus das Bildnis.

»Ihr könnt jetzt wegtreten!«

Der Bootsmann sah zu, daß er aufs Hauptdeck kam. Lakshapheus starrte ihm noch eine Weile nach. Warum war die Kirche an ihrer Expedition interessiert? Und in welchem Verhältnis stand Brahthos zu diesem Priester Massimilio? Oder irrte er sich am Ende?

Er würde bei der Kapitänin Meldung machen und Brahthos von jetzt an strenger im Auge behalten.

Surjadora – die tapferste Heldin der Gezeitenwelt!

Ein verheerender Sturm ist erst der Beginn zahlloser tödlicher Gefahren, die der kurjamäischen Expeditionsflotte im Ozean des Morgens drohen. Ausgesandt, den Kauffahrern Serkan Kataus das Geheimnis der Purpurgewinnung zu entreißen, stoßen die tapfere Surjadora und ihre Getreuen auf ein uraltes Mysterium und begegnen alten und neuen Helden im Zwielicht einer Welt, die von Verschwörungen und Katastrophen heimgesucht wird. Sie alle eint die Suche nach einem Geheimnis, das hinter einem Gespinst aus Träumen, Intrigen und Liebe verborgen liegt – das sagenumwobene "Weltennetz"…

"Ein beeindruckendes Projekt. Die originellste Idee, die mir in der Fantasy je begegnet ist." Andreas Eschbach 

Omen am Mauga Kara’tubo

An der Westküste von Peni’tapu, im Archipel von Coleopa,
am 11. Tag des Hitzemondes,
im 458. Jahr der Abwesenheit Gottes

Der königliche Katamaran näherte sich der Vulkaninsel Peni’tapu im metallenen Schein des Abendlichts. Als wollten die Wolken, die fern im Westen dahinjagten, sie einholen, glitten die beiden Rümpfe des Bootes gleich wütenden Zaikarhaien durch das glasigblaue Meer. Wo sie die Wasseroberfläche zerteilten, blieben zwei Narben aus Schaum und Gischt zurück, die erst weit hinter dem Segler im Auf und Ab der Wellen vergingen.

Buralofa, der sonst nichts unbeobachtet ließ, hatte indes keinen Sinn für die Stimmung dieses Abends. Er war auf der Jagd, und als Jäger galt sein Augenmerk der Fährte, die sein Opfer hinterließ.

Warmer Seewind fuhr durch sein purpurn gefärbtes Haar und ließ die geflochtenen Bänder, die seine Hand- und Fußgelenke schmückten, unstet flattern. Seine Haarfarbe verriet schon von weitem, daß er ein Gesandter des Königshauses war; doch nur wer die Perlenbestickung der Bänder zu lesen vermochte, der erkannte, daß er niemand Geringerem gegenüberstand als dem Obersten Richter Coleopas.

Wie alle Richter entstammte Buralofa einer der Hohen Familien des Archipels. Und wie sie rühmte auch er sich der Nachfahrenschaft des Gottessohns Eomes, welcher das Reich der Tausend Inseln einst mit Leben und Schönheit erfüllt hatte, um seinen Vater, den göttlichen Fischer jenseits des Himmelszeltes, zu erfreuen. Dessen Stimme konnte der Erleuchtete – so besagten es die überlieferten Worte Eomes’ – im Brüllen der Brandung und im Gesang der heiligen Wale vernehmen.

Der Oberste Richter wußte, daß er unter den Bewohnern des Archipels als lebende Legende galt. Auf fast sechzig Jahresläufe konnte er nun zurückblicken, von denen knapp die Hälfte auf den Richterdienst für das coleopäische Herrscherhaus entfiel. Niemals in seiner Amtszeit hatte Buralofa einen Verbrecher entkommen lassen, und niemals war er aus einem offenen Kampf als Verlierer hervorgegangen. Dabei war er ein Reisender, dem es vergönnt war, Inseln zu sehen, welche die meisten Coleopäer nicht einmal vom Hörensagen kannten – ausgenommen vielleicht die Hundertschaft der ihm untergebenen Richter oder die Schar der Fernhändler, die im gesamten Inselreich unterwegs waren.

Der Oberste Richter war stolz auf sein Amt. Viele Krieger des Reichs der Tausend Inseln versuchten zeit ihres Lebens vergeblich, die Aufmerksamkeit von König Halapua zu gewinnen. Die Ehre, von ihm zum königlichen Richter ernannt zu werden, galt vielen als das höchste aller Ideale.

Ein Richter besaß nicht nur die Befugnis, Urteile über die Mitglieder der Hohen Familien zu verkünden und ihre Fehden zu schlichten. Zu seinen Aufgaben gehörte es vor allem, Verbrechen zu ahnden; insbesondere solche, die sich zwischen den Inseln zutrugen und sich damit der Zuständigkeit der Solaren entzogen, wie die Inselstatthalter genannt wurden. Piraterie und Perlenraub waren die häufigsten dieser Vergehen. Meist wurden sie von heimatlosen Raubfischern begangen, die mit ihren Sippen von Insel zu Insel zogen, um so ihrer Ergreifung zu entgehen.

Die Solare nahmen die Dienste der Richter nicht gern in Anspruch, da dies allgemein als Eingeständnis von Schwäche gewertet wurde. Wenn sie dennoch nach den Richtern riefen, war dies stets ein Zeichen dafür, daß die Gefahr vom Territorium eines anderen Solaren ausging. Denn wenn die Hohen Familien des Archipels etwas noch weniger schätzten als die Einmischung der königlichen Richter in ihre Angelegenheiten, dann waren es die Übergriffe anderer Hoher Familien innerhalb ihres Herrschaftsgebietes.

Coleopa benötigte die Richter, um das Gleichgewicht der Kräfte zu wahren, doch man fürchtete sie auch. Buralofa stellte da keine Ausnahme dar. Im Gegenteil.

Erst vor zwei Jahren war wieder ein wenig Ruhe in sein rastloses Leben eingekehrt. Damals hatte ihm König Halapua die Ehre angetragen, die Ausbildung seines einzigen Sohnes zu übernehmen: des Prinzen Nukulahi.

Der königliche Sproß sollte in wenigen Tagen verheiratet und zum neuen König des Reichs der Tausend Inseln gekrönt werden. Sieben mal sieben Jahre lebte der alte Herrscher schon, und die Tradition verlangte, daß er sein Amt nun an seinen Sohn abtrat.

Buralofa hatte sich oft gefragt, ob König Halapua sich an den Brauch halten würde. Mehr als nur einmal hatte der König gegen althergebrachte Traditionen verstoßen, vor allem, wenn es darum ging, die Macht der Solaren zu beschneiden. Dem einfachen Volk brachte Halapua oftmals mehr Wertschätzung entgegen als den Vertretern der Hohen Familien. Er beurteilte seine Untertanen nach ihren Taten und ihrer Treue und nicht nach ihrer Herkunft. Das hatte in der Vergangenheit oft für Unmut unter den Hohen Familien gesorgt. Das einfache Volk aber liebte ihn. Selten hatten die Coleopäer einen Herrscher so verehrt wie ihn.

Doch jetzt war ein Verbrechen geschehen, das sich gegen das Königshaus selbst richtete. Ein Verbrechen, das den Obersten Richter bis zu der Vulkaninsel am Horizont geführt hatte, die sich mit jedem Augenblick deutlicher aus dem Meeresdunst schälte.

Buralofa ergriff eines der Taue aus Kokosfasern und schwang sich unter dem großen, aus Guanußblättern geflochtenen Segel hindurch, um das Gewicht auf den backbordseitigen Rumpf zu verlagern. In einer fließenden Bewegung ließ er seinen Körper zurückfallen, so weit, daß sein narbenbedeckter Rücken fast die Meeresoberfläche berührte. Der gegenüberliegende Rumpf des Bootes hob sich einige Fingerbreit über die Wasseroberfläche, während der Katamaran eine langsame Rechtswende beschrieb. Zufrieden zog sich Buralofa an dem Tauende wieder nach oben, und der Katamaran hielt den neuen Kurs.

Der Oberste Richter dachte an die vor ihm liegende Aufgabe. Keine Woche war es her, daß König Halapua ihn zu sich bestellt hatte, denn auf der Königsinsel Nuku’atepe war die Grotte mit der geheimen Waffenkammer des Herrschers geplündert worden. Die entwendeten Waffen bestanden allesamt aus kostbarem Eisen – ein Metall, das man auf Coleopa nicht zu schmieden vermochte.

Der Diebstahl, so lautete die Anordnung des Königs, mußte unbedingt geheimgehalten werden, denn die Waffen galten als unersetzliche Garanten der Macht im Reich. Sie stammten noch aus einer Zeit, die beinahe so bedeutend für die coleopäische Geschichte war wie die Erschaffung des Archipels durch den göttlichen Fischer: der Zeit des Überfalls der Fremden vom Rande der Welt.

Jeder Coleopäer kannte die Geschichten, die vom Vater an den Sohn weitergegeben wurden. Sie kündeten von grausamen Fremden mit schmalen Augen, die vor fünf Generationen aus einem großen Land weit jenseits des westlichen Meeres gekommen waren. Serkan Katau nannten die Schmaläugigen ihre Heimat am Weltenrand, und gleich nach ihrer Ankunft hatten sie vom König und seinen Solaren Unterwerfung gefordert.

Zunächst hatten die Hohen Familien geglaubt, der Gottessohn Eomes sei wie prophezeit zurückgekehrt, denn Wissen und Gerätschaften, die den Fremden zur Verfügung standen, waren Buralofas Volk gänzlich unbekannt. Sie gebrauchten Waffen und Rüstungen, mit denen es die Speere und Dolche aus dem weichen Metall seines Volkes nicht aufnehmen konnten. Und die weisen Männer und Frauen der Schmaläugigen kannten Heilmittel gegen Krankheiten, die bis dahin auf Coleopa den sicheren Tod bedeutet hatten. Am seltsamsten aber waren ihre palastartigen Schiffe. Mit ihnen konnten sie das Weltenmeer durchqueren, das sonst allein die Wale in seiner endlosen Weite durchmaßen. Die Fremden bezeichneten ihre Schiffe als Dschunken, und die Segel der schwimmenden Paläste waren aus Stoffen gefertigt, die man im ganzen Inselreich noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Eines dieser Schiffe befand sich noch heute auf Lavaka’motu, im Osten Coleopas, das die Schmaläugigen zu ihrer Hauptinsel erkoren hatten, und rottete dort als stummes Zeugnis der Vergangenheit vor sich hin. Ein vergängliches Mahnmal, das die Bewohner Lavaka’motus gern als Zeugnis ihres endgültigen Sieges über die Eindringlinge vom Rande der Welt ansahen. Doch Buralofa wußte es besser ...

Entschlossen schwang sich der Oberste Richter unter dem Segel des Katamarans hindurch und richtete seinen Blick auf die Küste der Vulkaninsel. Peni’tapu galt als eine der Perlen des Reichs der Tausend Inseln, und ihr unberührter Strand aus Muschelkalk stand in auffälligem Kontrast zu dem dichten, immergrünen Urwald aus Palmen, Kinokbäumen und mannshohen Juwafarnen. Der Dschungel erstreckte sich von den Hängen des stolzen Mauga Kara’tubo, wie der Vulkan im Zentrum der Insel genannt wurde, bis hinunter zur Küste. Ein angenehmer Geruch nach Vanille wurde vom Wind über die See getragen.

Buralofa kannte die Insel bereits von einem früheren Aufenthalt her. Vor neun Jahren war er einer Gruppe von Raubfischern auf der Spur gewesen, die die Küsten Lolo’tumas unsicher gemacht hatten. Schon damals hatte er sich eingestehen müssen, daß die Vulkaninsel ein ideales Versteck für jeden war, der etwas zu verbergen hatte.

Der gewaltige Mauga Kara’tubo galt als heilig, und die Insel durfte nach dem Gesetz nur von Mitgliedern der Hohen Familien angelaufen werden. Die Legenden besagten, daß Eomes hier einst sein Himmelsschiff vertäut hatte, bevor er aus der heißen Lava des Vulkans jene beiden himmelsfarbenen Augen auflas, die er später dem König zum Geschenk machen sollte.

Die Berichte über die Waffendiebe hatten Buralofa zunächst bis zur Insel Wana’tapu geführt, doch dort hatten sich ihre Spuren verlaufen. Nach diesem Fehlschlag war ihm nur mehr ein letzter vager Hinweis geblieben, dem er nun nachging. Vielleicht wäre es klüger gewesen, zurück zur Königsinsel Nuku’atepe zu segeln, um den König um weitere Krieger zu bitten. Doch dort wäre Buralofa in die Hochzeitsfeierlichkeiten von Prinz Nukulahi geraten. Ohne einen stichhaltigen Beweis aber wäre es fraglich, ob ihm König Halapua gestattet hätte, unter der Festgesellschaft eine Hundertschaft Krieger auszuheben, um sie vor den Augen der Gäste auf die heilige Insel zu führen. Das hätte nicht nur zu unwillkommenen Gerüchten, sondern auch zu Unruhe unter den stets rebellischen Hohen Familien geführt.

Nein, Buralofa war sich im klaren darüber, daß er zunächst in Erfahrung bringen mußte, ob ihn sein Scharfsinn getrogen hatte. Erst dann würde er eine weitere Entscheidung treffen.

Ungehalten schüttelte der Richter die sorgenvollen Gedanken ab und segelte weiter an der Küste der Vulkaninsel entlang, die scharfen Augen stets aufmerksam auf das Eiland gerichtet. Am Himmel über den Baumwipfeln waren bereits die plumpen Körper der faustgroßen Aiokkäfer zu erkennen. Wie immer kamen die Tiere um diese Tageszeit hungrig aus ihren Sandnestern gekrochen, um Jagd auf kleinere Käfer zu machen.

Bewußt hatte er einen Umweg von nahezu zwei Tagen in Kauf genommen, um sich Peni’tapu von Norden her zu nähern. Auf dem offenen Meer konnte sich niemand verstecken, und ihm war nur allzu klar, daß ein aufmerksamer Beobachter seinen Katamaran schon aus großer Entfernung erkennen konnte. Und so setzte er sein ganzes Vertrauen darauf, daß die Waffendiebe – falls sie sich denn auf der Vulkaninsel versteckt hielten – vor allem die südliche Meeresregion unter Beobachtung hielten. Denn diese Seite war den bewohnten Inseln des Archipels zugewandt, und von hier waren am ehesten Verfolger zu erwarten. Bereits vor neun Jahren war es Buralofa mittels dieser List geglückt, die Raubfischer auf der Insel zu überrumpeln. Im übrigen blieb ihm gar nichts anderes übrig, als fest darauf zu vertrauen, daß ihm Eomes noch einmal seine Gunst schenkte.

Das Meer hatte die Sonne am fernen Horizont bereits verschluckt, als der Oberste Richter sein Ziel erreicht hatte. Er steuerte den Katamaran in eine schattige Bucht, die von der offenen See aus kaum zu erkennen war. Und wie bei seinem Besuch vor neun Jahren war es auch diesmal ein imposantes Erlebnis, als er in die verborgene Lagune einfuhr. Der Mauga Kara’tubo türmte sich vor seinen Blicken wie ein schwarzer Koloß auf. Aus dem Dschungel um ihn herum drang das ohrenbetäubende Lärmen der Zirjakkäfer.

Buralofa raffte die Segel, und der Katamaran glitt durch die von süßen Düften getränkte Dämmerung. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er aufmerksam nach der Mündung des Schwarzen Flusses Ausschau hielt. So hatte er damals den träge dahinfließenden Wasserlauf benannt, der sich hier von der Inselmitte kommend ins Meer ergoß. Die Ausläufer der geronnenen Lava am Strand wiesen ihm den Weg. Wachsam schaute sich der Oberste Richter um. Kaum etwas hatte sich in all den Jahren an diesem Ort verändert. Schon bald würde er wissen, ob er den weiten Seeweg zu Recht auf sich genommen hatte.

Ein leichter Ruck ging durch den Katamaran, als die beiden Rümpfe den sandigen Untergrund berührten. Buralofa sprang ins Wasser, ergriff die an Bord bereitliegende Leine und zog den Segler an Land. Dann beugte er sich hinunter und griff prüfend in den Sand. Warm rieselte er durch seine Finger. Ein Gefühl der Zufriedenheit erfüllte ihn. Er hatte sein Ziel erreicht.

Tatsächlich, Buralofa war froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu wissen. Als junger Mann war ihm der Katamaran ein zweites Zuhause gewesen, und er hatte die Stille auf seinen Fahrten zwischen den Inseln stets genossen. Doch mit der Jugend schien auch seine Rastlosigkeit dahingegangen zu sein.

Nachdem er den Segler sorgfältig an einem schwarzen Felsen vertäut hatte, betrachtete er die machtvolle Wand des Dschungels. Noch immer brauste der Gesang der Zirjakkäfer durch die Dämmerung, und neben dem lieblichen Vanillegeruch, den Buralofa schon auf See wahrgenommen hatte, trug der Wind nun die süßen Düfte von Frangipani, Hibiskus und Kasuarinen heran. Nichts wies darauf hin, daß einer der Diebe seine Ankunft bemerkt hätte.

Entschlossen öffnete der Oberste Richter eine hölzerne Kiste neben dem Mast seines Seglers. Als er niederkniete, knirschten die Metallplatten seiner Kriegsschürze, die einander wie Fischschuppen überlappten. Neben den Nahrungs- und Trinkwasservorräten kam zuoberst ein langer Gegenstand zum Vorschein, der von einer gerollten Bastmatte umhüllt war. Buralofa entfernte die aufwendige Schutzhülle und zog seine Waffe hervor. Die Richter gebrauchte sie nur in Notzeiten, und ein Unkundiger hätte sie auf den ersten Blick für eine Mischung aus Speer und Axt gehalten. Stolz betrachtete er das uralte, dunkel verfärbte Metall an der Spitze des Holzschaftes und drehte es so, daß sich auf ihm schwach das Licht des aufgehenden Mondes spiegelte.

Es war nicht irgendeine Waffe, die er in Händen hielt, sondern eine heilige Hela – das Standessymbol der Richter. Sie war alt, und direkt unter der langen, metallenen Stoßspitze befand sich eine breite, gewölbte Axtschneide. An Härte brauchte eine Hela keinen Vergleich mit den Metallwaffen der Schmaläugigen zu scheuen, denn sie bestand ebenfalls aus Eisen. Ihr Schaft war aus dem zähen Holz der Kinokbäume geschnitzt und wurde regelmäßig ausgetauscht.

Den Legenden zufolge hatte Eomes selbst die heiligen Hela zurückgelassen, als er das Reich der Tausend Inseln mit seinem Himmelsschiff verließ. Nur achtundsechzig Waffen dieser Art gab es derzeit noch im gesamten Inselreich, und sie waren schon sehr alt gewesen, als die Schmaläugigen das erste Mal in Coleopa erschienen waren. Dreiundsiebzig Helas hatten sie allein im Krieg gegen die Invasoren einbüßen müssen.

Auch das Öl zur Pflege des Metalls, dessen Rezeptur unter den Richtern von Amt zu Amt weitergereicht wurde, konnte letztendlich nicht verhindern, daß die Zeit selbst die heiligen Waffen zerstörte, und heute reichte ihre Anzahl nicht einmal mehr aus, um alle Richter mit einer Hela auszustatten. Die jungen Richter mußten auf ihren Reisen längst mit den erbeuteten Metallwaffen der Schmaläugigen vorliebnehmen – Waffen aus jenem Bestand, der nun geraubt worden und ein schmählicher Ersatz für die Götterklingen war, aber doch von unschätzbarem Wert für den König.

Buralofas Augen leuchteten, als er den Schaft der Hela mit festem Griff umschloß. Dies war die heiligste und ehrwürdigste aller Helas – und sie war sein!

Unter den Richtern hielt sich hartnäckig die Legende, daß Eomes selbst sie einst getragen und ihr seinen göttlichen Odem eingehaucht habe. Kein Gesetzesbrecher, hieß es, werde ihrem heiligen Zorn entgehen, solange sie nur ein Krieger führte, der das Recht und Gesetz auf seiner Seite wußte.

Einen Augenblick lang überlegte der Oberste Richter, ob er auch den Rest seines Rüstzeugs anlegen sollte. Zuunterst in der Kiste schimmerte das goldene Metall seines Brustpanzers und der Beinharnische. Daneben lag, in ein purpurfarbenes Tuch eingeschlagen, sein prachtvoller Helm, der mit einem Rankengeflecht aus getriebenem Metall verziert war. Schon streckte Buralofa seine Hand danach aus, doch dann rief er sich zur Vernunft. Er befand sich auf einer Erkundungsmission. Außerdem bezweifelte er, daß das weiche coleopäische Metall im Ernstfall den harten Klingen der Waffenräuber standhalten würde. Nein, in diesem Kampf mußte er sich allein auf seine Gewandtheit verlassen. Doch dazu sollte es nach Möglichkeit gar nicht erst kommen.

Entschlossen steckte er noch einen Dolch in den geflochtenen Gürtel seiner Kriegsschürze. Dann schnallte er sich die Wasserflasche und einen Beutel mit Nüssen aus seinem Vorrat um sowie eine Gürteltasche, in der er seine anderen Besitztümer verwahrte, darunter den einzigen Hinweis auf den Aufenthaltsort der Diebe. Anschließend wandte er sich von dem Segler ab und lief, die stolze Hela fest im Griff, über den Sandstrand auf den Fluß zu, der ihn zum Ziel seiner Reise führen würde.

Der Schwarze Fluß machte seinem Namen alle Ehre. Obwohl sein von heißen Quellen am Fuße des Mauga Kara’tubo gespeistes Wasser klar und sauber war, schluckte der dunkle, basaltene Untergrund des Flußbetts selbst tagsüber nahezu jeden Sonnenstrahl.

Beharrlich wie ein Jovokäfer huschte Buralofa am Flußlauf entlang. Immer wieder mußte er den Wurzeln der Mangrovengewächse ausweichen und hohes Schilf umgehen, das viele Dutzend Schritt tief in den Dschungel hineinwucherte. Mit dem letzten Zwielicht war das Lärmen der Zirjakkäfer verstummt, und nach und nach drangen die Brumm-, Schwirr- und Kratzlaute anderer Käferarten an Buralofas Ohren.

Endlich hatte er sein Ziel erreicht, eine breite Lichtung inmitten des Dschungels. Der Oberste Richter glitt lautlos hinter einen Baum. Mißtrauisch beäugte er die Umgebung und bemühte sich, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Aufgaben wie diese waren etwas für Jüngere.

Längst hatten sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt, so daß er Einzelheiten auf der Lichtung ausmachen konnte. Doch das, was er suchte, hätte zu dieser Tageszeit auch eine halbblinde Bastknüpferin finden können.

Buralofas Blick verweilte auf dem verwachsenen, uralten Tränenbaum, wie er ihn nannte, der sich am gegenüberliegenden Rand der Lichtung erhob. Der knotige, verdrehte Stamm hatte einen Durchmesser von nahezu sechs Schritt, und das weit ausladende Blätterdach des Baums reichte hoch in den Himmel. Das üppige Geflecht aus Luftwurzeln, das gleich dem wirren Haar einer vom Alter gebeugten Frau bis zum Boden hinabhing, trug das seine dazu bei, den Tränenbaum unverwechselbar zu machen.

Vielleicht lag es an dem aromatischen Harz, das gleich Tränen an der Rinde herabperlte, vielleicht lag es auch an einem anderen, für Menschen nicht einsichtigen Grund, aber überall inmitten des Wurzelgeflechts hatten sich Trauben von Leuchtkäfern niedergelassen. Es waren Hunderte, und sie glichen der Funkenglut eines Lagerfeuers. Der Oberste Richter lauschte. Leise vernahm er den summenden Flügelschlag der Tiere, die den Baumriesen regelrecht illuminierten und ihm etwas Magisches verliehen. Ein Anblick, so wundersam, daß Buralofa den Grund seines Kommens für die Dauer mehrerer Atemzüge verdrängte und hingebungsvoll den Baum betrachtete.

Nur mühsam gelang es ihm, sich von dem faszinierenden Anblick zu lösen und sich erneut auf seine Pflichten zu besinnen. Aus der Tasche an seinem Gürtel zog er einige geknickte Blätter hervor, die einen kleinen Gegenstand umschlossen. Vorsichtig, so als hielte er einen kostbaren Schatz in Händen, schälte Buralofa den Inhalt heraus.

Auf dem Blatt vor ihm lag ein weißes Samenkorn. Auch wenn es im Dunkeln nur schwer zu erkennen war, wirkte dieses Korn in seiner Beschaffenheit eigenartig, da es von einem mit hauchzarten Widerhaken besetzten, inzwischen platt gedrückten Geflecht feiner Pflanzenfasern umschlossen wurde. Den Fund hatte er nahe der königlichen Grotte gemacht, aus der die Waffen geraubt worden waren. Allein seiner von den Richtergefährten mitunter verspotteten Genauigkeit bei der Spurensuche war es zu verdanken, daß er auf das Samenkorn gestoßen war. Dieser Fund war der Grund für seinen Aufenthalt auf der Vulkaninsel. Buralofa war überzeugt, daß diese Art von Samen allein jene vor ihm stehende Baumart ausstreute – und Tränenbäume gab es seines Wissens nach nur auf Peni’tapu.

Vor neun Jahren hatte er erstmals Bekanntschaft mit den Leuchtkäfer anlockenden Bäumen gemacht. Viele Tage nach Verlassen Peni’tapus hatte er damals noch Samen in Haar und Kleidung gefunden. Sollte es den Waffenräubern ebenso wie ihm ergangen sein, bedeutete dies, daß sie ihren Raubzug von dieser Insel aus unternommen hatten.

Aber handelte es sich wirklich um einen Samen dieses Baumes? Oder spielte ihm seine Erinnerung einen Streich? Der Oberste Richter verfluchte den Umstand, daß er die Insel erst mit Einbruch der Nacht erreicht hatte. Bei Tage hätte er ohne Probleme herumliegende Samen des Baumes finden und sie mit seinem Fund vergleichen können. Jetzt aber war er gezwungen, in die Baumkrone zu klettern, um seine Vermutung zu überprüfen. Niemals brächte er die Geduld auf, bis Tagesanbruch zu warten.

Entschlossen wickelte er das Samenkorn in eines der Blätter, steckte dies in die Gürteltasche und schlich am Rand der Lichtung zum Tränenbaum. Dort lehnte er die Hela mit leichtem Bedauern gegen die borkige Rinde und machte sich daran, an den Luftwurzeln des Tränenbaums nach oben zu klettern. Umgehend stoben Dutzende Leuchtkäfer auf und umkreisten ihn, während er sich behende immer weiter nach oben hangelte. Die aufstiebenden Käfer tauchten den Baum in ein geisterhaftes Licht, so daß Buralofa die vor ihm liegende Kletterstrecke gut erkennen konnte.

Bald darauf hatte er die weit ausladende Krone erreicht. Wie er es von seinem letzten Aufenthalt auf Peni’tapu in Erinnerung hatte, fanden sich im Astgewirr hölzerne Knoten, von denen die Samen des Baums wie Kaskaden von Meerschaum herabhingen. Der Richter griff vorsichtig in eines der weichen Nester und zupfte einen der bauschigen Samen heraus. Dann holte er sein Fundstück mit der anderen Hand aus der Gürteltasche, verharrte reglos, bis sich wieder genügend Leuchtkäfer in seiner Nähe eingefunden hatten, und verglich die beiden Samen miteinander.

Buralofa nickte im stillen Triumph und verstaute seinen Fund sorgfältig. Es war so, wie er es sich gedacht hatte. Die beiden Samenkörner waren von der gleichen Art.

Dies war der Beweis, nach dem er gesucht hatte. Jetzt würde er König Halapua guten Gewissens um Krieger bitten können, um die Insel nach den Waffenräubern abzusuchen. Es würden gewiß zwei bis drei Hundertschaften nötig sein, um den dichten Dschungel zu durchkämmen. Doch das war noch das kleinste Problem. Peni’tapu war eine heilige Insel, der Ort, an dem Eomes, der Sohn des göttlichen Fischers, vom Himmel herabgestiegen war. Deshalb durften nur Krieger aus den Hohen Familien die Insel betreten. Es würde kein leichtes Unterfangen werden.

Mißmutig blickte der Oberste Richter in Richtung des stolzen Mauga Kara’tubo und sandte ein Stoßgebet an Eomes. Ein Taifun hatte vor Jahren in den Wald am Berghang eine breite Schneise geschlagen, so daß Buralofa einen freien Blick auf den weit entfernten Eomespfad hatte. Und als hätte ihn der Göttersohn erhört, sah er, wie sich eine ganze Lichterkette, aus dem Dschungel kommend, den Fuß des heiligen Berges hinaufwand. Fackelträger! Die Diebe waren also hierher zurückgekehrt.

Aufgeregt kletterte Buralofa noch höher in die Spitze des Baumes, um einen besseren Blick auf die eigenartige Prozession zu erhaschen. Die Unbekannten kamen von der Küste und strebten in langer Reihe auf die östliche Flanke des Mauga Kara’tubo zu. Der Oberste Richter führte sich in Gedanken alle markanten Punkte der Insel vor Augen. Als ihm klar wurde, was die Unbekannten dort taten, verschlug es ihm den Atem: Die Prozession zog über den alten Eomespfad, den zu beschreiten allein denn König und den Solaren erlaubt war! Nach allem, was ihm der König vor Jahren berichtet hatte, führte der Pfad zu einem Plateau nahe des erloschenen Kraters, wo einmal jährlich Eomes zu Ehren ein Opfer dargebracht wurde.

Vor dieser letzten aller Sünden waren sogar jene skrupellosen Raubfischer vor neun Jahren zurückgeschreckt, die es gewagt hatten, die Insel mit ihrer Anwesenheit zu besudeln. Keine Frage, er mußte den Fremden dort in der Ferne zuvorkommen und herausfinden, was diese auf dem Mauga Kara’tubo vorhatten. Doch beim Marsch quer durch den Dschungel würde er die Ausläufer des Vulkans bestenfalls bei Tagesanbruch erreichen – wenn er nicht zuvor in ein Nest mit Blutkäfern oder anderen beißfreudigen oder giftigen Krabblern liefe.

Buralofa dachte an den Schwarzen Fluß, der sich quer durch den Dschungel bis zu den Hängen des Vulkanberges hinzog, und plötzlich kam ihm eine Idee. Mit dem Außenschwimmer seines Katamarans sollte es ihm möglich sein, den Fluß zu befahren. So wäre er schneller als die Waffenräuber und könnte trotz ihres Vorsprungs dicht zu ihnen aufschließen. Buralofa kletterte an dem illuminierten Baum hinab und verließ geschwinden Schrittes die Lichtung in Richtung Strand.

Zwei Stunden später hatte Buralofa den Vulkanberg erreicht. Staunend betrachtete er den Mauga Kara’tubo, der vor ihm bis fast zum Sternenzelt emporragte. Er war den Fluß mit aller Kraft so weit hinaufgerudert, wie es sein von heißen Quellen gespeistes Wasser gestattete. Anschließend hatte er sich durch den Dschungel zur alten Prozessionsstraße durchgeschlagen und sich hinter die Waffenräuber gesetzt. Nun sah er die Lichterprozession der Frevler weit über ihm in der Flanke des Feuerberges. Ihr Vorsprung war deutlich geschrumpft.

Keine Frage, er würde sie einholen, wenn er nicht den weiten Kehren der Prozessionsstraße folgte, sondern wo immer möglich den Weg abkürzte, indem er die steile Böschung erklomm. Entschlossen machte sich der Oberste Richter an den Aufstieg.

Aus der Ferne dröhnten die schrillen Klänge von Buruganis an seine Ohren. Buralofa hielt inne und lauschte. Daß die Waffenräuber es wagten, hier oben die bauchigen Kriegsflöten anzustimmen, deren Klangkörper der Gestalt von Blutkäfern nachempfunden waren, zeigte, wie sicher sie sich fühlten. Aus der Wahl der Lieder schloß Buralofa, daß es sich bei den Unbekannten nicht um einfache Raubfischer oder anderes übles Gelichter handelte, sondern um Männer, die der Gefolgschaft der Solare angehörten. Der Oberste Richter war angesichts dieser Entdeckung so empört, daß er seine müden Beine dazu zwang, auch die letzten Unebenheiten des versteinerten Lavabachs in Angriff zu nehmen.

Wundersam schlängelte sich der Eomespfad die Flanke des heiligen Feuerberges entlang. Von Fuß des Vulkans führte er in einer makellosen Geraden quer durch den Dschungel bis hin zur offenen See. An jeder Stelle war der alte Pfad des Göttersohns exakt vier Schritt breit, und sein einzigartiger Verlauf gab Zeugnis von der göttlichen Macht, mit der die Lava einst in ihre Bahn gezwungen worden war.

Stunde um Stunde hatte sich der alte Richter abwechselnd über den Pfad und die Böschungen nach oben gekämpft, und es war ihm nur ein schwacher Trost, daß die Frevler langsamer als er vorankamen.

Erst jetzt, da er sich endlich eine kurze Pause gönnte, wurde Buralofa des dunklen Nachtblaus gewahr, das den stolzen Vulkanberg einhüllte. Der Mond lag hinter einer faserigen Wolkenbank versteckt, und sein mildes Licht zeichnete weich die schroffen Gesteinsumrisse nach, ohne das Massiv seiner herrschsüchtigen Majestät zu berauben. Weit unter ihm, zu Füßen des Mauga Kara’tubos, erstreckte sich zu allen Seiten der Dschungel. Die Wellen brachen sich an den fernen Korallenriffen, welche die Insel gleich einem Gürtel umgaben. Weit entfernt, im Süden und Osten, meinte Buralofa die Silhouetten ferner Inseln zu erkennen. Der Oberste Richter schätzte, daß er sich fast tausend Schritt über der Meeresoberfläche befand. Bei Tage wäre der Ausblick von hier oben sicher atemberaubend.

Noch ein letzter Zug aus seiner Wasserflasche, dann machte er sich wieder an den Aufstieg. Inzwischen war er davon überzeugt, daß Eomes selbst seine Schritte gelenkt hatte. Das immer lauter anschwellende Dröhnen der Buruganis wies ihm den Weg zu den Verrätern.

Schließlich erreichte er einen schroffen Felsgrat, hinter dem das Plateau lag, auf dem der König und seine Solare einmal jährlich dem Göttersohn huldigten. Als Buralofa den nahen Fackelschein bemerkte, duckte er sich hinter einen großen Felsen. Im gleichen Augenblick verstummten die schrillen Melodien der Flöten.

Stille legte sich über den Mauga Kara’tubo, und der Richter versuchte, einen Blick auf die vom Feuerschein erleuchtete Szene vor ihm zu erhaschen.

Auf dem Plateau waren knapp dreißig Menschen versammelt. Sie bildeten einen Halbkreis um eine große, steinerne Stele, vor der zahlreiche, frisch aufgetürmte Opfergaben lagen. Die Gesichter der Unbekannten waren von silbernen Masken verdeckt, deren Augenschlitze und klaffende Mundöffnungen im Licht der Fackeln wie fahle Totenschädel wirkten. Ihr Anblick war gespenstisch.

Hinter der himmelragenden Felsstele führte der Götterpfad weiter hinauf zum Krater des Vulkans. Ein Weg, den allein der König beschreiten durfte. Wenigstens dieses letzte Tabu hatten die Gesetzesbrecher nicht verletzt.

Das kostbare Material der Masken, aber auch die Kleidung und das blinkende Rüstzeug, das die hier Versammelten zur Schau trugen, ließen nur einen Schluß zu: Die Frevler entstammten allesamt dem Kreis der Hohen Familien!

Und nicht nur das. Jeder der Krieger hielt eine jener kostbaren Waffen der Schmaläugigen in Händen, die aus dem Bestand der geheimen königlichen Waffenkammer stammten. Die Entdeckung grub eine steile Zornesfalte auf Buralofas Stirn. Er hatte die Diebe gefunden. Der König würde unendlich dankbar sein, wenn er jetzt noch herausfände, wer sie waren.

Einer der Krieger trat aus dem Kreis hervor und baute sich vor den anderen auf, ohne Zweifel der Anführer der Bande. Stumm sah er die Versammelten reihum an. Dann peitschte seine Stimme über das Plateau.