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Michael Wildberg

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Ein Leben mit dem MSV Duisburg

VERLAG DIE WERKSTATT

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www.werkstatt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt

ISBN 978-3-89533-786-4

Inhalt

 

Inventar

Als ich anfing, den Dicken zu lieben

Niedertracht und Seelenheil

oder: Weiß-blaue Episoden der Glückseligkeit

Wir sind alle Duisburger Jungs

Frankfurter Nacht

„Ich tue das, weil ich ein absolut reines Gewissen habe“

Die S1-Tour in die erste Liga

oder: It’s derby time

Die Geschichte des Rudi B.

oder: Wie man einen Trainer beerdigt

Peter N. reloaded

Zebra-Gringo on Tour I

oder: It’s an elevator team

Zebra-Gringo on Tour II

oder: Wodka-O in Bilbao

Heimatgefühle

Danke

In these bodies we will live,

In these bodies we will die,

Where you invest your love,

You invest your life.“

(Mumford & sons, Awake my soul)

Eigentlich wollte ich den Ball gar nicht

dorthin schlagen. Aber Nicky Adler ist

glücklicherweise auch falsch gelaufen.“

(Christian Tiffert über das 1:0 gegen Rot-Weiß Ahlen)

Inventar

Sehr geehrte Damen und Herren,

angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der nun folgenden Therapieversuche mehrerer posttraumatischer Belastungsstörungen – ausgelöst durch so Menschen wie Wolfgang Frank, Pierre Littbarski und Jürgen Kohler – ausschließlich durch schwallartiges und unkontrolliertes Herausschreien bzw. -schreiben entstehen konnte, ist es vonnöten, ein paar der auftretenden Protagonisten näher zu erläutern, um etwaige Verständnisprobleme zu vermeiden. Es finden sich also auf den nun folgenden Seiten Gestalten, die zufälligerweise immense Ähnlichkeit mit Personen aus meinem sozialen Umfeld haben. Also, let’s go …

Der Sozialpädagoge: Der Sozialpädagoge ist bester Kumpan einer mittlerweile über zehnjährigen Reise, die uns gemeinsam sowohl in die tiefsten Niederungen menschlicher Abgründe als auch bis vor die Himmelspforten des Größenwahns geführt hat, also von Essen bis Köln. Seiner Profession hat er es zu verdanken, dass er einen Großteil seiner Zeit mit Eis-Essen, Schwimmen und Kart-Fahren verbringt, im Fachjargon „Erlebnispädagogik“ genannt, und dafür auch noch bezahlt wird. Den Rest seines Lebens vergeudet er in einer stadtbekannten Oberhausener Kneipe, laut Eigenaussage einzig und allein dem Umstand geschuldet, dass er dort „sturztrunken jeden Oberhausener aufs Übelste beschimpfen kann“, der ihm so über den Weg läuft.

Ben: Eine Galaleistung seiner fußballintellektuellen Fähigkeiten legte Ben am 21. Spieltag der Saison 2000/01 hin. Wir schauten uns gemeinsam mit drei anderen Leuten das Spiel gegen Aachen an, der MSV führte gegen die Alemannia bereits mit 3:0, als er in der 75. Minute aufs Spielfeld starrte und leise vor sich hinmurmelte: „Ich denke, Eugen Hach wird gleich Demir und Hildmann bringen, wahrscheinlich nimmt er Landgraf und Schmidt dafür vom Feld. Alles andere wäre Irrsinn.“ Als der Trainer der Aachener dann in der 80. Minute exakt diese Wechsel vollzog, floh der Sozialpädagoge fluchtartig, derweil ich Ben entgeistert anblickte und traurig mit dem Kopf schüttelte. Nachdem er sich jahrelang als Manager der Kicker von Hobby Hamborn auszeichnen konnte, verdient Ben seine Brötchen und andere Nahrung mittlerweile im Journalismus. Seine Liebe zu Werder Bremen versteht niemand, wird aber akzeptiert.

Reinhold: Reinhold trägt seit der Geburt dieselbe Frisur, was sein Leben erheblich erleichtert. „Wenn du 50 Jahre mit diesem Verein zu tun hast, hast du für Veränderungen nichts mehr übrig“, ist sein philosophischster Kommentar zu diesem Thema, meistens untermalt von den Gesängen der Beatles, die er fast genauso lange in sein Herz geschlossen hat wie den MSV Duisburg, „nur mit weniger Schmerzen“. Auswärtsfahrten sind ohne diesen Menschen undenkbar. Wer sonst sollte uns schließlich nach deprimierenden Niederlagen von den Heldentaten vergangener Zeiten berichten, um uns daran zu erinnern, dass es hier auch anders aussehen kann.

Philipp: Bens bester Freund, der in unkontrollierter Hektik und in einem mit McDonalds-Tüten vollgestopften Gefährt nahezu täglich deutsche Autobahnen unsicher macht, um SB-Bäckereien zu managen. Sein Lieblingsgetränk ist Cuba Libre, den er immer dann extrem lässig in seiner Hand hält, wenn er des Nachts – gerne mit Lehrerinnen – in obskuren Diskotheken über das Leben, die Liebe und sonstigen Unsinn philosophiert. Früher konnte er noch bei der Wundertruppe Hobby Hamborn glänzen, einer Bande übelster Subjekte, die sich allwöchentlich auf einer Hamborner Wiese trafen, um sich dort im fußballerischen Dilettantismus zu üben.

Mattes: Mittlerweile Lehrer und Familienvater, vor einigen Jahren noch damit beschäftigt, zu erlernen, wie man sich die Schleifen seiner Schuhe zubindet. Mattes ist ein wandelndes TV-Serien-Lexikon, von Dr. Snuggels bis zu Inspektor Gadget, von Knight Rider bis A-Team. Als Verteidiger und Torhüter Hobby Hamborns verbreitete er über Jahre hinweg Angst und Schrecken im eigenen Strafraum, kam aber nie ohne Schürfwunden vom Feld und tat auch sonst alles, um den jeweiligen Gegner bis aufs Blut zu bekämpfen.

Tim: Aus dem Dunstkreis des Sozialpädagogen bzw. aus dem Dunstkreis des Tennisclubs Blau-Weiß Oberhausen, einer sportlich äußerst traurigen Angelegenheit, die auch sonst kaum mit glücklichen Menschen aufwarten kann. Sein größter sportlicher Erfolg bestand darin, einen Holländer in einem Ligaspiel zu schlagen, „einen Holländer, kapierst du, einen gottverdammten Holländer“. Mit etwa 20 von Bayern München zum MSV Duisburg konvertiert, ein Schritt, für den wir etwa fünf Jahre Vorbereitung brauchten.

Alle anderen Personen wie z.B. Vater, Mutter, Bruder und Freundin erklären sich von selbst und kommen in diesem Werk als Vater, Mutter, Bruder und Freundin vor. Klagen eurerseits sind übrigens an dieser Stelle ausgeschlossen. Ich habe mich informiert und bin auf der absolut sicheren Seite, ihr solltet es also gar nicht erst versuchen.

So, und nun lasst die Spiele beginnen, wir haben schließlich keine Zeit zu verlieren. In ein paar Tagen spielt wieder der Meidericher SV, und den will momentan niemand verpassen.

Gruß aus Neudorf

Micha

Als ich anfing, den Dicken zu lieben

Ich wurde am 4. Juni 1981 geboren. Einer der ersten Sätze, die ich demnach von meinem Vater wohl gehört haben muss, war: „Und jedes Mal dieselbe Scheiße hier“, geäußert am 6. Juni 1981, als der MSV sein Heimspiel gegen Bayer Leverkusen sang- und klanglos mit 2:4 verlor. Ich war also bereits zwei Tage alt, als mir das vorherrschende Credo der nächsten Jahrzehnte mit röchelnder Tonmodulation nahe gebracht wurde.

Dass ich aber dennoch mit Schampus und Partymusik auf die Welt kam, lag daran, dass zur gleichen Zeit der FC Schalke 04 seinen Auswärtsauftritt in Kaiserslautern verhaute und somit schnurstracks Richtung zweite Liga abging. Es ist nicht überliefert, ob mein Vater anschließend die Nacht zum Tag gemacht hat, aber seine Abneigung gegen die Schalker verhehlte er auch den Rest meiner Sozialisation nicht. Vielmehr handelte es sich dabei um ein Postulat, das es nicht zu hinterfragen galt. Schalke war scheiße. Punkt.

Wären meine Eltern ein bisschen cleverer gewesen, so hätten sie mich zwei Wochen vorher in die Welt entlassen. Der MSV verprügelte die Knappen mit 5:1, Jara, Nigbur und Fischer wurden aus dem Stadion gejagt, 27.000 Zuschauer drehten am Rad und Schiedsrichter war der entenschnatternde Walter Eschweiler gewesen, der Jahre später noch im Frühstücksfernsehen unsinnige Prognosen für den kommenden Spieltag abgeben musste und sich jedes einzelne Mal meinen Zorn zuzog, wenn er dem MSV mal wieder eine Niederlage prognostizierte.

Ich kam also gottverdammte zwei Wochen zu spät.

Danke, Mama.

Danke, Papa.

In meiner ersten Saison als MSV-Fan, ich wurde mittlerweile ein Jahr alt, stieg der MSV als Gründungsmitglied der Bundesliga einfach ab. Vorbei waren die glorreichen Siebziger, als Ennatz Dietz sich zur vollen Blüte erhob und die Bayern im Alleingang erlegte. Oder als die Mannschaft im UEFA-Cup für Furore sorgte und erst an der Gladbacher Elf im Halbfinale scheiterte. Vorbei auch die Zeiten, als ein Duisburger Spieler eine deutsche Auswahlmannschaft anführte. 1980 nahm Ennatz Dietz den Europameisterpokal in Rom entgegen. Horst Hrubesch hatte das 2:1 gegen die Belgier in der 88. eingeköpft. Eben jener Horst Hrubesch, der 25 Jahre später zu mir „Verpiss dich, du Arschloch“ sagen sollte, als ich mitten im Stadion sturztrunken neben ihm stand und lauthals schrie: „Guckt mal alle her! Hier sitzt der Hrubesch!“ Vorbei auch die Zeiten, in denen die Bayern überlegten, hier ihre besten Spieler zu schonen, da eh keine Aussicht auf einen Sieg bestand. Vorbei auch die Schlachten gegen die Reviernachbarn oder gegen die Wundertruppe aus Gladbach von der anderen Niederrheinseite. Es war vorbei.

Bei mir fing es an.

Seit diesen Jahren hat nie wieder ein Duisburger eine deutsche Auswahlmannschaft auf das Spielfeld geführt, und Nationalspieler konnten unsere Talente erst werden, nachdem sie den Verein mit wehenden Fahnen Richtung Bayern, Karlsruhe oder sonst wohin verlassen hatten. International wurde nur noch höchstselten gespielt und wenn, dann nur auf freundschaftlicher Ebene. Es gab auch keine glorreichen Siege mehr gegen die Bayern, auf Jahre durfte man gegen sie noch nicht einmal spielen.

Der furchtbare Niedergang des Traditionsvereins setzte sich fort. 1984 schafften sie es noch einmal in die Relegation, die Frankfurter Eintracht war der Gegner, das Hinspiel fand in Duisburg statt. Mein Vater und mein Bruder pilgerten vorfreudig ins Stadion, der MSV endlich wieder zurück auf dem Weg in die höchste deutsche Spielklasse, ein Traum.

Das Tor zum 0:5 bekam mein Vater nicht mehr mit. Laut eigener Schilderung irrte er quer durch den Block, auf der Suche nach seinen künstlichen Zähnen, die er, wutentbrannt vor sich hin keifend, schon beim letzten Gegentor verloren hatte. Ich bin mir ziemlich sicher den Satz „Und jedes Mal dieselbe Scheiße hier“ an jenem Tage abermals gehört zu haben, diesmal aber aus mehreren Kehlen, mit und ohne Gebiss.

Abstieg 1986 in die Oberliga, 18 Punkte Rückstand am Ende der Saison, der Verein nahezu pleite. Mein Hirn setzte langsam, aber sicher ein. Ich rannte hinter Bällen her und kugelte mich durch die Gegend.

1987 wurde ich eingeschult, im Wohnzimmer mit der Eichenschrankwand und den kackbraunen Teppichen starrte man auf den knopfumrandeten Fernseher. Ernst Huberty röchelte durchs Bild, Wechsel auf die Tabelle, damals noch penibel auf kleine Nägel gehangen und mit der Kamera abgefilmt: „Naja, wenigstens vor Hamborn 07.“ Wer ist dieser Hamborn 07 eigentlich? Weiter kugeln, immer weiter kugeln.

Mein erstes Spiel, ein Freundschaftsspiel gegen die Bayern. Von Meiderich aus konnte man mit der Straßenbahn zum Stadion fahren. Ich klammerte mich an die Hand meiner Schwester, ein selbst gestrickter Schal um meinen Hals, neben uns die hoch toupierte Flamme meines Bruders. Friseuse, natürlich.

Meine Schwester, die blöde Kuh, raffte überhaupt nichts, die Friseuse neben uns ebenso wenig. In Marxloh stiegen wir aus, vollkommen falsche Richtung, mindestens die erste Halbzeit verschenkt und ich zum ersten Mal in meinem jungen Leben gegenüber Frauen gewaltbereit.

Der MSV gewann seinen ersten Titel: Deutscher Amateurmeister 1987, die Stadt flippte aus, Tausende von Wimpeln mussten neu bedruckt werden. Eh dieser Wimpel. Untereinander stehen dort die größten Erfolge unseres Vereins: Deutscher Vizemeister (1963/64), 3 x DFB-Pokalfinalist (1966, 1975, 1998), Deutscher Amateurmeister (1987). Danach gähnende Leere, mittendrin eigentlich auch, oder übersetzt: Nur anschauen, nicht anfassen.

„Papa, haben wir eigentlich jemals einen Titel geholt?“ „Halt bloß dein vorlautes Mundwerk!“ Oder: „Geh doch zu Schalke, wenn du unbedingt enterbt werden willst!“

Langsam, aber sicher sickerte es durch: Mit meinem Vater war nicht gut Kirschen essen, sobald es um den sportlichen Erfolg unseres Heimatvereins ging. Der Niedergang nagte an ihm, während ich begann, aufzudrehen.

Mit Pipeff, mittlerweile mit der Klassiker-Kombi Kinderwagen und Pils unterwegs, rannte ich über den Schulhof, Grundschule Zoppenbrück, direkt neben dem Asylantenwohnheim. Das Derby stand an, Hamborn gegen Duisburg, Zweiter gegen den Ersten, 13.000 im Stadion, Oberliga wohlgemerkt, dritte Liga, für mich wichtiger als jedes Länderspiel und jede Niederlage von Schalke 04. Duisburg rannte und rannte und rannte, Hamborn schoss das 1:0 vor der Pause. Die Zebras in der zweiten Halbzeit gegen ein Bollwerk und dennoch: Tönnies zum 1:1, und als es keiner mehr für möglich hielt Struckmann in der letzten Minute. Die Wedau bebte.

„Tor, Tor, Tor“, ich rannte über den Schulhof, die Arme in den Himmel gereckt, Richtung Aula, meiner imaginären Tribüne, und schmiss mich auf den Boden vor meine imaginären Fans, mittags um vier, nach der Schule und keine Menschenseele weit und breit. Pipeff stand im Tor und murmelte: „Drüber“, traute sich aber angesichts der sich vor seinem Auge abspielenden Ekstase nicht, weiter den Querulanten zu mimen. Wir hatten auch gar kein Tor, nur zwei Stangen, und über die Höhe der Latte entschieden wir je nach Situation. Hier war es mehr als eindeutig gewesen. Und am Ende der Saison auch: 97 Tore, 61 Punkte, wenn ich mich recht entsinne. Oberhausen stieg mit satten vier Punkten ab, wusste schon damals, dass das mit denen nichts wird.

Aufstiegsrunde und ich sehe ein einziges Spiel. Das Heimspiel gegen Preußen Münster, mehr als 20.000 im Stadion und ich auf der Tribüne. Ein Epos. Erschlagen von der Menge an Menschen, erschlagen von der Lautstärke, erschlagen von dem Einheitsgefühl und der gleichzeitigen Einsamkeit, dass keiner einem helfen kann, wenn es mal schiefgeht. Es gibt nichts Einsameres, als nach einer Niederlage in einem vollbesetzten Stadion zu stehen. Nirgendwo sonst wird derart deutlich, wie sehr Niederlagen ins eigene Herz brettern können. Keiner da, der dir hilft. Auch nicht dein Vater, der nach dem 1:3 immer nur schreit: „Und jedes Mal dieselbe Scheiße hier“, dabei aber wenigstens sein Gebiss nicht verliert.

Und dann machen sie es klar, in Berlin, vor 50.000 im Olympiastadion.

Natürlich nicht. Sie spielten in Reinickendorf, bei den Füchsen. Gewannen dort und waren wieder dabei, der Profifußball hatte uns wieder.

Ich wusste nicht, wie es stand. Ich hatte überhaupt keine Ahnung.

Auf unserem Campingplatz in der Nähe von Wesel wartete ich auf dem Fußballfeld, mein viel zu enges Trikot an den Wanst gepresst, und stand blöd in der Gegend herum. Eine Ewigkeit lang.

Von Weitem kommt mein Vater den Hang hochgerannt. Er hält die Arme in die Höhe gereckt, und ich schreie und renne wie wild hin und her.

Ich hatte eine einfache Formel, um herauszufinden, welcher Spieler sich in einem Formtief befand oder welcher Recke am nächsten Wochenende das Spiel entscheiden würde. Ich nahm einen Ball und ging damit auf unseren Garagenhof. Dann stellte ich mich zwischen die Garagen und schoss mit dem Ball auf die trennenden Betonpfeiler. Zumindest versuchte ich es. Nach und nach zählte ich die Spieler auf: Struckmann, dann der Schuss, Tönnies, dann der Schuss, Torwart Macherey? Macht nicht mit.

Je nach Tageslaune entschieden fünf bis einhundert Versuche über die Form des Spielers. Wenn ich den Pfeiler mehrmals traf, sah es nach einem Sahnetag aus. Wenn es mal nicht so gut für jemanden lief, kam Frau Hartmann auf den Balkon gerannt und schrie herum, dass sie einen solchen Lärm zuletzt im Sommer ’43 gehört hätte, bevor sie wieder wild keifend hinter der Gardine verschwand.

Als ich anschließend schwitzend im Wohnzimmer einfiel, erzählte ich meinem Vater, dass Struckmann und Steininger eine Galashow abliefern würden, wohingegen ich mir bei Tönnies und Kober nicht sicher wäre. Notthoff und Strunz hätten aber Normalform: „Also, ich sag mal 2:0, mit viel Hängen und Würgen.“

Mein Vater nickte, nickte noch einmal, guckte mich bescheuert an und las wieder Zeitung.

Und es ging weiter. Von der Tribüne auf die Nordgerade, im Schlepptau meinen Bruder und Thomas, einen Freund der Familie, Sohn meiner Patentante aus erster Ehe. Mein Vater, der keifte. Mein Bruder, der schrie, und Thomas, der immer hüpfte und bei Toren beide Hände auf den Schultern des Vordermanns ablegte, um sich von dort aus in die Höhe zu schrauben. Kassel und Bayreuth werden zu Hause 3:1 geschlagen, Darmstadt und Aachen auch.

Erstes Auswärtsspiel auf Schalke, dem Feind, erstes Auswärtsspiel meiner Karriere. Meine Mutter verbietet mir, drei Gabeln mitzunehmen, die ich einpacken wollte, um mich und meine Familie im Notfall verteidigen zu können. Strömender, widerlicher Regen auf der Südgeraden des alten Parkstadions. Duisburg in Gelbblau, nahezu brasilianisch, wusste schon damals, dass da was nicht stimmt. Mein Bruder und Thomas in der Gästekurve: „Papa, warum tragen die alle Schwarz?“

Als hundert Mann auf den Zaun stürmen und ein bengalisches Feuer entzünden, murmelt er: „Und jedes Mal dieselbe Scheiße hier“, muss dabei aber grinsen. 1:1, Uwe Kober stürmt auf den Kasten der Schalker zu, „Schieß, schieß!“, er schießt und macht das Tor. Ich drehe durch, die Leute drehen sich um. Abseits, Abpfiff, im immer noch strömenden Regen. Unentschieden auf Schalke. Wenigstens nicht verloren.

Mein Vater und ich sitzen zuerst im Auto und warten. Mein Vater schaut auf die Uhr und wringt seine Hose aus. Er erzählt mir die Geschichte, wie er früher mal, ganz früher im Stadion dem Vordermann in die Schuhe gepinkelt hat, weil es so voll war, dass man sich nicht bewegen konnte und so geregnet hat, dass der Vordermann gar nicht wusste, was dort mit ihm geschah. Die Autotür wird aufgerissen, mein Bruder und Thomas springen in den Wagen, mein Bruder schreit: „Fahr los! Fahr einfach los!“, und streicht sich erschöpft mit der Hand durch die klatschnassen Haare.

Der pure Wahnsinn der nächsten Saison, 1990/91, Deutschland wiedervereint und Weltmeister geworden. Meine Sportkarriere startete kometenhaft. Endlich Judoka, endlich den kleinen, dicken Körper in einen weißen Kampfanzug zwängen. Mein erstes Turnier: Umgehend Gold. In der Klasse +45 Kilo konnte sich kein weiterer Gegner auffinden lassen, und nach drei Stunden schweißtreibenden Wartens stand ich auf einem Podest, auf dem sonst überhaupt niemand mehr stand.

Und ein anderer Dicker machte von sich reden. Der beste Stürmer seit Gerd Müller, pfeilschnell, abgewichst, ein sagenhafter Torinstinkt, eine sagenhafte Ästhetik, Weltklasse, absolut. Weder Klinsmann noch Völler, weder Allofs noch Rummenigge, keiner konnte ihm das Wasser reichen. Keiner hatte so viele Kilos auf den Rippen.

Der Dicke sah aus wie Helmut Rahn in seinen letzten Karrierejahren. Der Helmut Rahn, der mit den Zebras die italienische Defensive nach Deutschland importierte und mit „Rudi-Riegel“ Gutendorf die Vizemeisterschaft erlangte. Michael Tönnies. So einen gab’s nur ein einziges Mal.

Der Dicke war ein Phänomen. Man traf ihn in der Pommesbude und beim Pils, man sah ihn beim Griechen, beim Türken und im Bahnhof abhängen. Der Dicke zwängte sich das Trikot in die Hose und schleppte seinen Körper über das Feld, als müsste er eine Abrissbirne durch die Gegend hieven. Quergestreift wirkte das alles noch voluminöser und hinter vorgehaltener Hand sprach sich herum, dass der Dicke stangenweise Kippen rauchen würde. Wer so lebt, fällt eigentlich mit Herzinfarkt um, aber nicht Michael Tönnies. Der Dicke schoss in 34 Spielen 29 Tore.

Die Wedau lag ihm zu Füßen. Wer hatte jemals einen solchen Spieler gesehen? Einen Menschen, der anscheinend von der Straße, aus der Kneipe, aus der U-Bahn gekidnappt wurde, als man sah, wie er zufällig mit dem Ball einem ICE hinterherrannte. Es war ein einziger Sturmlauf, eine wild gewordene Fahrt durch den gegnerischen Strafraum, ein Tempo und ein Körper, mit dem es nur ganz wenige aufnehmen konnten. Der Dicke spielte gegen Christian Wörns und Jürgen Klopp. Der Dicke düpierte sie alle. Er stand nicht in der Gegend herum, er sprintete, er bewegte sich, und wenn er die ersten paar Meter hinter sich hatte, war es für jeden Verteidiger schwer, ihn zu halten. Dieser Körper hatte genug Kraft, um jeden flinken, aber körperlich unterlegenen Verteidiger mit einer kurzen, aber heftigen Bewegung aus vollem Lauf einfach wegstoßen zu können. Man konnte diesen kräftigen Kerl auch nicht einfach festhalten. Er war nicht zu bändigen. Und er drehte sich in die Bälle, schlug Seitfallzieher, Flugkopfbälle, Direktabnahmen am 16er, sowie feine Pässe in die Spitze, um seine Mitspieler zu bedienen.

Und von denen gab es so einige. Lothar Woelk, ein alter Recke des VfL Bochum. Ewald Lienen, der schon die großen Schlachten hinter sich hatte und dieses Spiel auf seine alten Tage immer noch besser verstand als ein Großteil seiner jungen Kollegen. Der aufstrebende Michael Tarnat. Die ewig kämpfende Achse um Pino Steininger, Dirk Bremser, Michael Struckmann und Patrick Notthoff. Joachim Hopp fing an, Karriere zu machen. Und dann die Kampfbienen um Ferenc Schmidt und Jürgen Kober. Im Tor Heribert Macherey, dem schon in jungen Jahren die Haare ausgingen.

Ich will nicht wissen, wie die polizeilichen Führungszeugnisse eines Großteils dieser Spieler aussahen, aber was sie in der Saison 1990/91 auf den Zweitligaplätzen dieser Republik boten, war dermaßen zerreißend, dass das Fieber ausbrechen musste. Das absolute Fieber.

Ich hatte nicht nur die richtigen Maße, um auf dem Garagenhof den Dicken zu mimen, sondern auch die nötige Arroganz, um mir im kindlichen Leichtsinn einzureden, dass auch mein Talent nicht zu verachten wäre. All meine Arroganz ergab sich aus dem Umstand, dass ich nach erfolgreich durchgeführtem Nachbarschaftsterror eine neue Herausforderung brauchte und auf den anliegenden Garagenhof zog, wo Daniel und Dennis ihre Tage verbrachten und sich gegenseitig die Bälle zuschossen.

Während Daniel in meinem Alter war, wir also schon mit satten neun Jahren zum alten Eisen gehörten, handelte es sich bei Dennis um einen sechsjährigen Jungspund, was ein verdammt gefährliches Alter ist, wenn man größere Geschwister hat, deren zentrales Hobby es ist, einen im Schrank einzusperren. Die klassische Arithmetik ergab dann auch, dass Dennis einsam und alleine vor seinem Tor herumstand, derweil wir uns in Position brachten und abwechselnd die Treffer übten, die wir zuvor in den Nachrichten oder im Stadion gesehen hatten. Die Frage, wer durch diese taktische Maßnahme auf lange Sicht der bessere Fußballer wurde, beachteten wir damals noch nicht, zehn Jahre später machte Dennis mit uns, was er wollte.

Aber damals war es für uns wie im Märchen. Wir konnten uns auf den anliegenden Rasen fallen lassen und uns herumwälzen, als hätten wir gerade die deutsche Meisterschaft geholt. Wenn Dennis doch tatsächlich mal zu einem Solo ansetzte, rannte man ihn einfach um, so hatte man es schließlich gelernt, und spurtete mehr oder minder auf das leer stehende Tor bzw. das leer stehende Gestänge zu, dessen Sinn und Zweck mir bis heute unschlüssig ist: „Struckmann auf Tönnies“, „Kober legt ab“, „Ich hör auf. So macht das keinen Spaß“, „Halts Maul und spiel weiter“, „Tor, Tor, Tor! Tor für Duisburg!“

So war das damals. Tägliche Ekstase auf dem Garagenhof, an Niederlagen war nicht zu denken. Der MSV marschierte durch die Liga und wir marschierten mit. Dennis durfte sich tagein, tagaus seine zwanzig Tore abholen, wir uns unser Adrenalin.

16. Juni 1991, ein Sonntag, mittlerweile zehn Jahre alt. Der MSV war so gut wie durch. Einzig und allein die Stuttgarter Kickers konnten die Duisburger noch auf einen Relegationsplatz verdrängen, und dies auch nur, wenn sie gegen Rot-Weiss Essen ziemlich hoch gewinnen und die Zebras ihr Heimspiel gegen Blau-Weiß 90 Berlin ziemlich hoch verlieren würden.

Eine Woche vorher sah ich die Bilder aus Saarbrücken im Fernsehen. Die MSV-Spieler wurden nach dem Spiel in die Kabine gejagt. Einige Tausend MSV-Fans stürmten das Feld und wollten ihre Helden für den Rest ihres Lebens umarmen.

Bis heute ranken sich mythische Geschichten um dieses Spiel, und wer die Menschen hier zu diesem Ereignis befragt, wird nicht selten spontan Tränen der Rührung in den Augen des Gegenübers erkennen. Michael Struckmann schoss das 1:0 und brachte den MSV auf die Autobahn Richtung Bundesliga. Die Mitgereisten drehten wohl vollkommen durch. Wie man hört, wurden etwaige Sitzplätze erobert, etwaige Heimfans aus dem Stadion vertrieben und etwaige Rasenstücke in Vitrinen gelegt, bevor sich Duisburgs lokale Schickeria vom Saarland bis nach Nordrhein-Westfalen komplett zugesoffen hatte.

Und jetzt war es so weit. Ein mickriger Punkt würde genügen, im Notfall würde sogar eine knappe Niederlage ausreichen. Auf die Essener war seit jeher kein Verlass und meine größte Angst bestand darin, dass sie das Spiel einfach abschenken würden. Nichtsdestotrotz hatte es sich dieser Verein einfach verdient. Sie zogen in diesem Jahr bis ins DFB-Pokalhalbfinale ein und boten den Kölnern anständig Paroli, obwohl ihnen im Hinspiel ihre komplette Sturmreihe fehlte, und erkämpften ein 0:0 nach Verlängerung. Sie waren das bessere Team. Und sie spielten einen herzzerreißenden, kampfwütigen Fußball, der im Ruhrgebiet Furore machte. Das Comeback des MSV Duisburg, eigentlich schon mucksmäuschentot, eigentlich schon vollkommen am Ende. Und dann formiert Willibert Kremer das Team des Jahrhunderts: Macherey, Azzouzi, Bremser, Lienen, Notthoff, Puszamszies, Steininger, Struckmann, Tarnat, Tönnies, Woelk. Die Elf. Meine Elf.

Ich habe kaum noch Erinnerungen an das Spiel. Ich weiß, wo wir saßen (Tribüne, Block H, ziemlich weit oben), ich weiß, dass ich im Laufe der Zeit die Angst verlor, weil es immer eindeutiger wurde. Stuttgart führte gegen Essen nach 48 Minuten zwar schon 3:0, schoss aber anscheinend kein Tor mehr. In Duisburg stand es 0:0, und da die Kickers einen Sieben-Tore Rückstand aufholen mussten, wurde es ab der 70. von Minute zu Minute eindeutiger, dass der MSV nach fast zehn Jahren Abstinenz wieder in die erste Liga zurückkehren würde.

Was dann geschah, geschieht heute nicht mehr. Es kann nicht mehr geschehen. In Zeiten moderner Fußballarenen, die dem Zuschauer die Möglichkeit bieten, hautnah dabei zu sein, gibt es solche Stadien wie die damalige Wedau nicht mehr. Und um es hier mal deutlich zu sagen: Das Wedau-Stadion war der letzte Dreck. Es war windig und zugig, die Kurve war viel zu weit weg vom Spielfeld, Stimmung konnte dort kaum entstehen und kam auch nur in den seltensten Momenten zum Tragen.

Aber in dieser Saison war alles anders. Die Duisburger hatten ihre Freitagabend-Spiele seit geraumer Zeit zu bengalischen Nächten erklärt. Was heute kaum noch jemand für möglich hält, aber es stimmt: Die Wedau konnte brennen, und sie hatte für derartige Anliegen das genau richtige Team auf dem Platz stehen. Jeder der aktiv Beteiligten wäre auf offener Straße als Alkoholiker durchgegangen, von Michael Tarnat mal abgesehen, bei dem man sich auch heute noch vorstellen kann, wie er sich auf der x-ten Meisterschaftsfeier der Bayern einen O-Saft bestellt. Aber der Rest war eine wilde Bande langhaariger, bärtiger Männer, die kraftvoll auf des Gegners Tor losstürmte.

Unsere Bande. Ferenc Schmidt und Michael Struckmann wurden im „Empire“ in Bahnhofsnähe gesichtet, mein Bruder tickte am Küchentisch vollkommen aus: „Zwölf Bacardi-Cola! Pro Kopf!“ Joachim Hopp wohnte in Meiderich, gleich die Straße hoch, Patrick Notthoff war der Nachbar meines Lateinlehrers. Michael Tönnies traf man bei Currywurst-Pommes-Mayo, Heribert Macherey spazierte über unseren Campingplatz, weil sein Patenkind dort mitsamt Familie seine Wochenenden verbrachte. Die Helden waren noch da, sie liefen mit uns über die Straßen und soffen in unseren Kneipen. Wovon ich recht wenig hatte, schließlich war ich erst zehn. Aber ich hatte es so weit verstanden.

Tartan-Bahnen sind unsinnig wie nichts. Kein Mensch braucht acht idiotisch kieselfarbene Laufbahnen, die einem den Weg zum Spielfeld versperren. Es ist herausragend, dass mittlerweile auch der Letzte in Deutschland kapiert hat, dass ein enges, voll besetztes Stadion zum Zungeschnalzen ist.

An diesem Tag, dem 16. Juni, waren sie sinnvoll. Ein modernes Stadion hätte keinen Platz für das kommende Schauspiel geboten. Die Menschen fingen an, über die Zäune zu klettern. Ein paar Ordner drehten durch, versuchten, die Menschen in den Block zurückzuschieben, konnten sich aber der Übermacht nicht erwehren. Und dann gingen die Tore auf.

Mein Vater und ich standen wie alle anderen. Und dann kribbelte es. Ich sah, wie sich Menschen zusammenballten und in Knäueln tanzend über die Laufbahn hüpften. Ich sah, wie sich Leute auf den Boden warfen und ihre Schals küssten. Es wurden immer mehr. Ich weiß noch, wie ich von links nach rechts sah, von der Nord- zur Südkurve, von Block A bis Block P. Überall umarmten sich die Menschen, manch einer heulte sich die Seele aus dem Leib.

Sie standen bis an den Spielfeldrand. Sie mussten weggedrückt werden, als Ewald Lienen einen Eckball ausführen wollte. Zehn Jahre Abstinenz, von Bayreuth bis Remscheid, von Hamborn 07 bis RWO, endlich vorbei. Eine ganze Generation hatte nur noch vage Erinnerungen an Erstliga-Fußball. Ich kannte ihn überhaupt nicht.

86. Minute, die Duisburger erkämpfen sich einen Ball in der Hälfte des Gegners und dann rollt der Express. Zehn, fünfzehn Schritte, ich meine, es wäre Michael Struckmann gewesen, impulsive, explosive Schritte, in der Mitte zieht der Dicke mit. Ein Querpass auf den freistehenden Tönnies. Und dann nur noch ein Schuss.

Dieser Moment, genau dieser. Wie viele waren es? 10.000 Menschen, 5.000, irgendetwas dazwischen? Alle rannten sie los. Michael Tönnies drehte auf Struckmann zu und umarmte ihn. Und dann fiel eine weiß-blaue Wand über den Torschützen her, den Dicken, der es jetzt fix gemacht hatte, über die anderen Spieler, die sich jetzt endlich den verdienten Lohn abholen durften, über den Trainer, die Trainerbank und den Rasen.

Ein kleiner, zehnjähriger, extrem dicker Junge auf der Tribüne. Unter ihm eine Armee aus weiß-blauen Männern, die nur noch am Rad drehten, rannten und rannten und rannten. Kein Grün mehr auf dem Spielfeld, nur noch Köpfe, eine einzige hin und her wogende Masse. Außer schreien nix mehr, scheiß egal, wer neben dir sitzt. Die pure, kollektive Ekstase. Der Stadionsprecher, Günter Storck, die Stimme der Wedau: „Bitte verlassen Sie das Spielfeld. Es droht ein Spielabbruch. Bitte räumen Sie umgehend das Feld.“ Eine Minute, zwei. „Räumen Sie umgehend das Feld. Die Feierlichkeiten finden im Anschluss an das Spiel statt.“ Die Menschen taten, wie ihnen befohlen, die Masse teilte sich wieder. Wie lange dauerte es? Fünf Minuten, zehn?

Die Mannschaften waren in der Kabine verschwunden. Hatten sich durch die Menge gekämpft und in Sicherheit gebracht. Ich stand auf meinem Sitz und nagte an meinen Fingernägeln. „Mach dir keine Sorgen, die kommen schon wieder zurück.“ Mein Vater guckte mich an und lächelte. Und sie kamen zurück. 22 Männer quälten sich durch den engen Korridor, den die Fans ihnen boten. Das Stadion klinkte aus. Schulterklopfen, Sprechchöre, bis an die Außenlinie gedrängte Menschenmassen applaudierten den Spielern entgegen.

Die letzten drei Minuten waren ein einziger Nichtangriffspakt. Ein paar Bälle, die einfach hin und her geschoben wurden.

Und dann kam der Pfiff.

Ich saß noch auf der Tribüne, als die Spieler von 20.000 durchdrehenden Fußballfans in den Arm genommen wurden. Mein Vater und ich gingen langsam die Treppen hinunter, während auf dem Spielfeld die Party abging. Es war klar, dass mein Vater noch etwas zu erledigen hatte und wir daher früher gehen mussten, was natürlich ein Skandal war, wie konnten wir jetzt nur verschwinden? Ein quengelndes „Ich will auf den Rasen!“ wechselte sich mit einem ungehaltenen „Ich muss noch zur Arbeit!“ ab. Dieser Ping-Pong-Dialog dauerte einige Minuten. Während ich immer biestiger wurde, geriet er fast ins Schreien und irgendwann standen wir beide mit verschränkten Armen voreinander, ohne dass auch nur einer bereit war, einen Zentimeter Platz zu machen. Dann knickte er ein: „Alles klar, ein einziges Mal. Ich geb dir fünf Minuten.“

Den letzten Teil des Satzes hörte ich nur noch aus fernem Hintergrund. Ich spurtete über den Parkplatz, rannte auf ein offenes Tor zu und stürzte mich ins Stadion. Kein Kilo meines Körpers konnte mich aufhalten, der Dicke on tour, seht her, da nimmt er wieder Fahrt auf.

Schon mit meiner Geburt hatte ich eine herausragende Chance liegen gelassen, der Start mit einem Sieg gegen Schalke 04 wäre schließlich erheblich besser gewesen als die 2:4-Niederlage gegen die Pillendreher aus Leverkusen. Und auch jetzt kam ich zu spät.

Die Feierlichkeiten hatten sich vorerst gelegt. Die Aufstiegshelden waren in der Kabine verschwunden und ließen dort die ersten Sektkorken knallen. Auf dem Rasen versammelten sich die MSV-Fans und warteten darauf, dass die Elf auf der Tribüne erscheinen würde. Die erste Euphorie war dahin, es wurden neue Kräfte gesammelt, gleich würde es von vorne losgehen, aber jetzt ein kurzer Moment der Ruhe, um das Geschehene zu verarbeiten.

Ich war neidisch auf jeden, der diesen Moment miterlebt hatte, live am Spielfeldrand: Nur noch ein paar Sekunden, Lienen wetzt an dir vorbei, du spürst seinen Atem, seine heraushängende Zunge ganz nah an deinem Gesicht. Schweiß- und Biergeruch, das durchgeschwitzte Trikot, drei Meter von dir entfernt wartet Notthoff auf ein Zuspiel: „Spiel, Ewald, spiel!“, „Sauber, der Ewald, ganz stark!“

Näher kann man als Fan dem Spielfeld nicht kommen. So lustig es vielleicht auch sein mag, nackt auf das satte Grün zu spurten, um dort, Geschlechtsteil an Geschlechtsteil Oliver Kahn zu umarmen; am Spielfeldrand zu stehen und zu hören, wie die Spieler kommunizieren, wie ihr dynamischer Körper aus der Nähe aussieht, wie sie Bälle stoppen und verarbeiten, was sie auf dem Spielfeld sehen und wie sie diese Situationen lösen; mit welcher Inbrunst sie dem Ball hinterherwetzen, mit welcher Gier sie auf dieses Ding heiß sind und welche Mischung aus Erschöpfung und Euphorie in ihre Gesichter eingestanzt ist; das alles blieb mir vorenthalten. Oder der Moment des Abpfiffs. Der Moment, wo sich Spieler und Fans eines der wenigen Male im Kollektiv begegnen. Wo der heilige Platz, dieses magische Rechteck, auf dem sich all jenes abspielt, freigegeben wird, um einen der rauschhaftesten Zustände seines bisherigen Fan-Daseins zu erleben; auch das war vorerst vorbei. Gleich würden sie wieder sauber getrennt auf zwei verschiedenen Ebenen stehen, oben die Helden und unten die Fans. Andersherum als sonst, im Prinzip aber dasselbe. Ich hatte den Moment einfach verpasst.

Aus bisherigen Garagen- und Schulhoferfahrungen wusste ich, wie man mit solchen Situationen umzugehen hatte. Wenn nichts mehr ging, Meiderich grau in grau im Nachmittag versank, die Von-der-Mark-Straße, die Flaniermeile der sonnengebräunten Spielsüchtigen und Vormittagssäufer, sich langsam, aber sicher leerte und nur noch trübe Rentnerpärchen in einer schäbbigen Eckbäckerei auf ihren Tod warteten, brachte man in diese depressive Stimmung des Untergangs und der Melancholie ein bisschen Glanz, wenn man sich vorstellte, wie der Dicke zu sein. Ein Kraftbündel auf einem abschüssigen, asphaltierten, sporadischen Fußballfeld, unter den Füßen die aufgemalten Hüpfspiele bescheuerter Mädchen, denen man den Ball einfach gegen den Kopf schoss, wenn man sie im Endspiel um die deutsche Meisterschaft, den Aufstieg, den Pokalsieg als störend empfand.

Ich stellte mir den Moment vor, als alle auf einmal losspurteten. Mit Händen um sich werfend und voller Adrenalin. Einmal diesen Moment erleben, dieses Gefühl, welches wohl so ähnlich sein muss wie die Reaktion, die ein erzielter Treffer beim Schützen auslöst. Der Philosoph Sloterdijk nannte dieses wilde Durchdrehen auf den Spielfeldern dieser Welt „pornografisch“ und er hat damit vollkommen recht. Wo sonst kann man sich derart entblößen, stöhnen und stammeln, und das auch noch in aller Öffentlichkeit?

Ich ließ also durch den Innenraum streunende MSV-Fans wie Slalomstangen stehen, rannte bis zum Spielfeldrand, ging an die Seitenauslinie und wartete einen Augenblick. Dann riss ich die Arme in die Höhe, im Kopf den Pfiff des Schiedsrichters, hinter mir diese wahnsinnige Tribüne, ein Monstrum an Bauwerk, unter mir der heilige Rasen. Dann spurtete ich los, rannte von vorne bis hinten und schrie die ganze Zeit mit wedelnden Armen, bevor mir irgendwann die Puste ausging und ich mich schwitzend auf den Rasen fallen ließ.

Ich gehe mit ziemlicher Sicherheit davon aus, dass sich ein Großteil der Umstehenden die Frage stellte, ob man an mir die Wirkung von LSD ausprobiert hätte. Und ich hoffe immer noch, dass die meisten begriffen, dass ich nicht anders konnte.

Mein erster Rausch.

Mein erster Orgasmus.

Mit zehn.

Ein kurzer Nachtrag, der nötig ist, um mit ein paar Unkorrektheiten aufzuräumen. Bis heute verklären viele den Dicken. Man attestiert ihm einen feinen Torriecher und die viel beschworene Abgewichstheit. Niemand kann sich vorstellen, dass der Dicke sich tatsächlich bewegt hat, in den Kneipen und Pommesbuden der Ruhrrepublik sah man davon schließlich nichts. Wie sehr man sich täuschen kann, erfuhr ich Jahre später, als mir ein Video des schnellsten Hattricks der Bundesligageschichte in die Hände fiel.

Falls es die Bezeichnung „das Spiel meines Lebens“ wirklich und wahrhaftig gibt, dann war das Spiel gegen den Karlsruher SC DAS Spiel, Michael Tönnies’ wahnsinnige Galashow, die nur deswegen keine Karriere machte, weil er sie leider im Trikot des MSV Duisburg über die Bühne gebracht hat und nicht bei Bayern München oder Borussia Dortmund, die ihn umgehend in den Pantheon des Fußballwahnsinns gehoben hätten. Faktisch, und dies sei hier nur kurz angemerkt, handelte es sich bei diesem Amoklauf um einen der spektakulärsten der Bundesligageschichte. Es gibt einen einzigen Spieler, der mehr Tore in einem Spiel geschossen hat: Dieter Müller vom 1. FC Köln 1977 im Spiel gegen Bremen, der sechsmal traf. Es gibt einige, die fünfmal getroffen haben: Jürgen Klinsmann, Dieter Hoeneß oder Gerd Müller, dem dieses Kunststück satte viermal gelang. Es gibt aber nur einen schnellsten Hattrick der Bundesligageschichte.

Das Band in den Videorekorder. Es fängt sporadisch an, der MSV drückt, spielt offensiv und für einen Aufsteiger mutig. In der zehnten Minute nimmt Michael Tönnies gekonnt eine Flanke an, fackelt nicht lange und versenkt das Ding schnörkellos aus wenigen Metern im Kasten des KSC. Auftakt nach Maß, besser kann es kaum laufen.

Natürlich kann es das, wir sind hier schließlich beim Fußball. Eine Minute später düpiert Vladimir Liuty die komplette linke Seite und schlägt eine Flanke in den Strafraum. Der Dicke macht den ersten Haken, den zweiten. Der Gegenspieler kommt überhaupt nicht mehr mit. Entgegen aller sonstigen Erwartungen drückt der Dicke seinen Körper zwischen Ball und Gegenspieler und steht mit dem Rücken zum Tor. Er setzt zu einer Mischung aus Fallrückzieher und Seitfallzieher an und haut das Ding ins lange Eck, genau dorthin, wo ein Torhüter nicht mehr herankommen kann. Das zweite Tor in zwei Minuten. Wahnsinn.

Drei Minuten später wirbeln Bremser und Liuty mit einem Doppelpass durchs Mittelfeld. Bremser ist bis auf die Torauslinie durch, in der Mitte startet Michael Tönnies. Die Flanke kommt, mit links springt Tönnies in seinen Gegenspieler und holt sich die entscheidenden zehn Zentimeter, die es braucht, damit sein Widersacher nicht mehr an den Ball kommen kann. Den Ball lässt er am Fuß vorbeilaufen, um ihm mit dem rechten einen kleinen Stupser zu geben, eine kleine Richtungsänderung, die ausreicht, um den Ball ungehindert ins Tor laufen zu lassen. Fünf Minuten, drei Tore. Der Torhüter: Oliver Kahn.

Ich war bei dem Spiel nicht dabei, eine der größten Niederlagen meines Fandaseins, durch nichts zu rechtfertigen oder zu verzeihen. Ich war nicht alt genug, um alleine zu fahren, mein Vater musste arbeiten. Ich hatte es mal wieder verpasst. Ich lungerte auf dem Campingplatz herum. Das Radio hatte bereits nach 15 Minuten erheblichen Schaden genommen, drei Tore in fünf Minuten, jetzt schon Legende. Und es ging weiter.

28. Minute, Ewald Lienen mit heraushängender Zunge auf der linken Außenbahn. Er spielt den Ball quer zu Tönnies und sprintet wie eine Rakete über das Feld. Tönnies spielt direkt, die Karlsruher auf Abseits und Lienen steht frei vor Kahn, dem er überhaupt keine Chance lässt. Die Bilanz des Dicken bis dato: in 18 Minuten drei Tore, eine Vorlage. Ist das alles noch wahr?

39. Minute, eine Flanke segelt von rechts in den Strafraum. Der Dicke hebt ab und macht das Ding per Flugkopfball fix. Neue Rechnung: 29 Minuten, vier Tore, eine Vorlage. Dazwischen der schnellste Hattrick der Bundesligageschichte.

67. Minute, zweite Halbzeit, Tarnat von links. In der Mitte Michael Tönnies, der Verteidiger säbelt über den Ball, der Dicke schiebt ein.

In 57 Minuten erzielte der Dicke fünf Tore und legte ein weiteres auf. Und was sagt jemand wie der Dicke nach so einer Partie? „Ich hatte heute das Glück, das ein Torjäger braucht.“

Zum Niederknien.

Niedertracht und Seelenheil

oder: Weiß-blaue Episoden der Glückseligkeit

Auf die Frage, warum man denn nun unbedingt MSV-Fan geworden sei, ist ein gezielter Kopfstoß auf die Nase des Gegenübers eine natürliche und angemessene Reaktion. Die Frage ist derart infam und unterschwellig böse, dass man vielleicht gar nicht anders kann. Wer mich also mal in irgendeiner Nacht an irgendeiner Theke dieser Republik antreffen sollte und mir diese Frage stellt, sollte auf der Hut sein, denn es könnte verdammt ungemütlich werden.