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Fotografien:
©Jürgen Schadeberg (zwei eingefügte Bildtafelteile, Umschlag)
© Robert von Lucius (im Textteil integrierte Bilder)

2., aktualisierte Auflage, 2010
© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
www.mitteldeutscherverlag.de

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN 9783954620326

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Robert von Lucius

NICHT VON HIER
UND NICHT VON DORT

Umbruch und Brüche in Südafrika

Mit 30 Fotografien aus sechs Jahrzehnten
von Jürgen Schadeberg

mitteldeutscher verlag

Südafrika – Kern und Hülle

In einem Satz fasste der Urliberale Alan Paton schon vor einem halben Jahrhundert sein und anderer Verhältnis zu Südafrika zusammen – es sei ein Land, in dem man am Montag hoffe und am Dienstag verzweifle. Die Vielgestaltigkeit spiegelt sich in den Einschätzungen wieder, die hier wiedergegeben werden – Stimmen radikaler oder hoffnungsfroher junger Schwarzer, Einschätzungen von Kirchenführern, Brückenbauern, Politikern, Musikern, Satirikern. Aus ihnen werden Hoffnung oder Verzweiflung deutlich, jedenfalls aber Leiden am schwierigen Land, das der Dichter Breyten Breytenbach das vergiftete Paradies nennt. Vergiftet wurde es durch zwei oder mehr Generationen von Unterdrückung, Rassendiskriminierung und Entzug von Bildung, die zu überwinden lange dauern wird. Nicht nur im Zeitpunkt des wirklichen Umbruchs in den Jahren 1989 und 1990 in Südafrika wie auch in Deutschland zeigen sich Übereinstimmungen mit dem Fall der Mauer, der sichtbaren und der unsichtbaren, und der Vereinigung. Hier waren es zwei Landesteile, dort Hautfarben, jeweils aber geteilte Erfahrungen und Denkwelten. Das Zusammenwachsen war und ist schwieriger, als viele hoffnungsschwanger dachten. Selbst scheinbar zweitrangige Dinge verliefen ähnlich – beide Umbrüche trafen die Welt unvorbereitet, und in beiden Ländern begann „alles“ mit einer krankheitsbedingten Schwächung des jeweils autoritären Machthabers, was ihr zuvor ängstliches Umfeld zum anfangs sanften Aufbegehren nutzte.

Der Buchtitel mag zunächst rätselhaft scheinen. Der Satz der Künstlerin Marlene Dumas, sie sei „nicht von hier und nicht von dort“, bezieht sich zunächst auf ihre Biografie. Sie fühlt sich weder voll ihrem Geburtsland Südafrika noch ihrer Wahlheimat Niederlande zugehörig. Dieses Gefühl der inneren Zerrissenheit, der gespaltenen Loyalität, auch der Heimatlosigkeit, ist vielen Süd­afrikanern, vor allem Künstlern, eigen, die ihr schwieriges Verhältnis zu Südafrika zu schildern versuchen, einem Land, das nicht ganz Afrika ist, aber gewiss auch nicht ganz Europa. Breytenbach, wegen der Apartheidpolitik seines Landes ging er ins Exil, mag nicht mehr in Südafrika leben, er kehrt aber häufig zurück. Der Literaturnobelpreisträger John Coetzee wählte erst die innere Emigration und dann, indem er nach Australien zog, die wirkliche – er glaubt, dass auch nach drei Jahrhunderten in Afrika die Weißen dort noch immer Fremde seien. Er fühlt mit den Unterdrückten und weiß doch, dass er als Weißer Teil der einstigen Sklavenhaltergesellschaft war. Der Satz von Marlene Dumas bündelt sich in der Frontstadt Johannesburg, in der alles verschmilzt – jeder will lieber woanders sein, aber niemand geht. Der Dichter Wolf Biermann, der auch in Johannesburg war, schrieb dereinst zu dieser Zerrissenheit, die ein Mensch empfinden kann, die Liedzeilen „Ich möchte am liebsten weg sein / Und bleibe am liebsten hier“.

Dieser Band ist ein Auszug aus einigen Tausend Artikeln des Autors, die er für die Frankfurter Allgemeine Zeitung zwischen 1988 und 2010 schrieb – zugefügt wurde nichts, wohl aber gestrafft, um mittlerweile Überholtes, nur Tagesaktuelles, um wiederholende Erklärungen. Dabei war ihm wichtig das, was auf den Kern des Zweifelns und Hoffens weist – einer Gesellschaft im Übergang. Sie sucht nach sich selbst und einer gemeinsamen Zukunft für Menschen und Gruppen, die nach Hautfarbe, Wohlstand, Bildung, Erfahrung, Religion so zerklüftet sind wie wenige. Haben die eingängigen Worte von einer Regenbogennation Gültigkeit und Bestand, oder ist das ein rasch zerfließender Traum? Ein Schwerpunkt sind Beiträge aus den Jahren zwischen 1989 und 1995, in denen Südafrikaner und die Welt mit ihnen bangten, das Land am Kap zwischen Bürgerkriegsgefahr und einem Traumgebilde wankte. Spätere Beiträge spiegeln die manchmal betrübliche, aber vermutlich gesunde Ernüchterung wider – Bilanzen des Denkens und der politischen Realität. In den Text eingestreute Fotos des Autors sollen diese Momente und Gestalten noch sichtbarer machen.

Der Bogen beginnt mit Momentaufnahmen des Lebens­gefühls – Bedrückendes wie die Kriminalität, Rauschgifthandel und Aidstote ebenso wie Vergnügliches, von der Vorfreude auf die Fußball-Weltmeisterschaft mit einer „Geheimwaffe“ bis zum Kapstädter Karneval. Orte, die Geschichte und Selbstverständnis der Südafrikaner prägen, vom Kapstädter Hafen, an dem „alles“ begann, und der vorgelagerten Robben Island bis zu Townships wie Soweto und District Six, leiten über zur qualvollen Suche nach einem Umgang mit der Vergangenheit, ein Weg der Selbstfindung mit dem Wahrheitsausschuss, den viele als Vorbild für andere Gesellschafen im Umbruch empfanden. Dass Spuren, die Jahrzehnte der Unterdrückung hinterließen, sich zwar nicht in Wohlgefallen auflösen, wohl aber im Geist der Vergebung, ist einigen­ Leuchtgestalten zu verdanken, mit denen Südafrika gesegnet ist – Nelson Mandela und Desmond Tutu vor allen anderen, aber auch Frederik Willem de Klerk und Helen Suzman. Dass ein Land mit mehr Trägern der Nobelpreise für Frieden wie auch für Literatur bedacht wurde und mit großen Künstlern gesegnet ist als andere, viel größere Staaten, trug bei zum Wunder am Kap. Aber auch die starke Rolle der Religion wirkte nachhaltig. Südafrikanische oder mit Südafrika eng verbundene Künstler erklären das Besondere, die Anfechtungen, den Schmerz eines Landes, das sie alle berührt und geprägt hat. Die Bilanzen am Ende zeigen das Wellenbad der Einschätzungen – wenige Wochen, ein Jahr, einige Jahre, ein Jahrzehnt nach dem Umbruch, versehen mit Brüchen allerorten. Ein Land, das spätestens mit dem Amtsantritt seines vierten demokratisch gewählten Präsidenten seine Unschuld verloren hat und seine Strahlkraft in der Welt. Weite Teile der neuen Elite verlieren immer mehr – wie diejenige, die bis 1989 herrschte – die Bodenhaftung und die Nähe zu den Idealen, für die sie einst kämpften.

Auch die neue Generation von Schriftstellern spiegelt die Zerrissenheit wider – und das wie vieles in Südafrika über Rassengrenzen hinweg. Mandla Langa, der den Commonwealth Preis für das beste afrikanische Buch erhielt, beschreibt in seiner Allegorie „The Lost Colours of the Chameleon“ leere Versprechungen, eine wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, doppelte Standards – angesiedelt auf einer fiktiven afrikanischen Insel, aber Südafrika zuordenbar: Sieht Langa Südafrika als Insel innerhalb Afrikas? Und Dalmond Galgut zeichnet in seinem Roman „Der Betrüger“ eine Gesellschaft, die auch lange nach dem Ende der Apartheid, der erzwungenen Rassentrennung, gespalten und innerlich zerstört ist, und die sich selbst und andere betrügt, mit einer unterschwelligen Atmosphäre der Bedrohung, auch Gewalt.

Der Chefredakteur der Wochenzeitschrift „Financial Mail“ Barney Mthombothi – ihm fühlt sich der Autor auch durch einen gemeinsam überlebten Flugzeugabsturz im angolanischen Busch verbunden – beschreibt in einem Leitartikel die Wellen der Auswanderung aus Südafrika in den letzten drei Jahrzehnten als Spiegel des Lebensgefühls junger Weißer. Erst gingen junge Männer, die der Wehrpflicht in der ungeliebten Apartheidarmee entfliehen wollten und dann dem erklärten Notstand, unter dem die Armee nicht nur in Nachbarländer wie Angola und Moçambique einmarschierte, sondern auch in die Townships schwarzer Landsleute. Mehr gingen, als die Sorge vor einem Bürgerkrieg wuchs. Die nächste Welle wollte der wachsenden Kriminalität entfliehen und dem Verfall im Nachbarland Zimbabwe. Schließlich trug die Wahl des Populisten Jacob Zuma zum Präsidentschaftskandidaten des Afrikanischen Nationalkongresses und zum Staatschef und der Zusammenbruch der Stromnetze – das gefühlte Abgleiten Südafrikas zu einem „normalen afrikanischen Land“ – zu Auswanderungsplänen bei. Mthombothi mahnt, Südafrika sollte das nicht wohlfeil als unpatriotisch oder gar rassistisch abtun, zumal die Zahl auswanderungswilliger junger Schwarzer steige. Ähnliche, aber andere Wellen des Lebensgefühls erfuhren Schwarze und Farbige in diesen Jahren des Umbruchs.

Dass der Autor als Buchtitel die Worte von Marlene Dumas wählte, hat auch mit seinem eigenen Leben zu tun. Er verbrachte zwei Jahrzehnte, ein Drittel seines Lebens, in Südafrika – als Schüler in Kapstadt und als Afrika-Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zwischen 1987 und 2001 in Johannesburg. Davor, auch als Herausgeber einer juristischen Fachzeitschrift zu Afrika, und danach reiste er oft in den Süden Afrikas. Es gibt kaum einen Tag, an dem Afrika nicht sein Leben berührt – dank einiger ehrenamtlicher Aufgaben, der wunderbaren Musik des Kontinents, oder der Freundschaft und Zugewandtheit von Menschen, die nicht nur sein Leben bereichern, sondern ihn auch vertrauensvoll teilhaben lassen an Trübsal und Freude zugleich, die Afrika ausstrahlt. Dennoch ist er nicht von dort, aber auch nicht nur von hier.

Das gilt wohl auch für Jürgen Schadeberg, den begnadeten Fotografen, den und dessen Arbeit der Autor über zwei Jahrzehnte hinweg beobachten durfte – seine Bilder aus sechs Jahrzehnten Südafrika bereichern in zwei Bildteilen diese Artikel, wofür ihm Autor und Verlag dankbar sind. Auch Schadeberg lebte über zwei lange Lebensabschnitte hinweg in Südafrika und kehrte am Ende doch zweimal nach Europa zurück. Lassen von Afrika kann und will aber auch er nicht.

Robert von Lucius

Johannesburg, im November 2009

Lebensgefühl

Verloren für immer?

Schwarze Vorschulkinder wurden gebeten, Bilder zu zeichnen, die ihr Leben darstellen. Fast alle wählten dasselbe Motiv: Gewalt. Gewehrfeuer, Speere, Polizisten, die ein Dorf angreifen, fliehende Menschen, brennende Häuser waren die häufigsten Motive. Gewalt, so scheint es, prägt das Leben des schwarzen Südafrika und besonders seiner Jugend. Wirklich?

Die Jugend der Townships trug den Kampf gegen die Apartheid, der mit den ersten freien Wahlen in der Geschichte des Landes im April 1994 ein symbolisches Ende fand. Danach aber denkt kaum jemand an ihren Einsatz. Einen Moment des Sieges, des Heldentriumphes, spüren die „Junglöwen“ allenfalls beim Machtübergang. Sonst stehen sie unbeachtet abseits. Ohne die blutigen Schüleraufstände in Soweto 1976 und 1986 sähe Südafrika anders aus. Ihre Opfer waren gewaltig, eine abgebrochene Ausbildung, zerbrochene Familien, Narben, die nicht heilen werden. Sind sie die Freiheitshelden, als die sie sich selber sehen, oder selbstzerstörerische rebellische Nichtsnutze, wie die Mehrheit weißer Südafrikaner glauben dürfte?

Die „verlorene Generation“ wurde zum Schlagwort, mit dem nicht selten fast ein Drittel der Bevölkerung bedacht wurde: Jugendliche ohne Ausbildung, ohne Geld, ohne Hoffnung. Wenn aber Politiker über ihr Programm nach der Wahl sprechen und ihre Ziele, erwähnen sie die Wohnungsnot, Strom und sauberes Trinkwasser für alle, eine bessere Ausbildung für die nächste Generation, Arbeitsplätze. Über die Verlorenen sprechen sie nicht. Haben auch sie die Hoffnung aufgegeben, dass sie etwas verändern könnten, weichen sie dem vielleicht schwierigsten Problem der südafrikanischen Gesellschaft aus? Die ausufernde Kriminalität, die Welle politischer Gewalt, die Arbeitslosigkeit, der tiefe Pessimismus, der viele Südafrikaner befallen hat: sie alle lassen sich zurückführen auf die Verlorenen unter den Jugendlichen. Mehr als neunzig Prozent aller Gewalttaten in den Townships werden von Jugendlichen zwischen vierzehn und fünfundzwanzig Jahren begangen.

Eine Khmer-Noir-Generation werden sie bisweilen genannt. Junge Menschen, die mit der Gewalt aufgewachsen sind und nichts anderes kennen als Brutalität und Rohheit. Sie sind Opfer und Täter zugleich. Aber ist dies das wahre Bild des jungen schwarzen Südafrika? Umfragen zeigen: Ein Fünftel aller Jugendlichen beschreibt sich als ehrgeizig, dann folgen glücklich, fürsorglich, zuversichtlich, ehrlich. Nur vier Prozent sieht sich als verwirrt, nur jeder fünfzigste als zornig, jeder hundertste als gewaltbereit. Und kaum jemand hat ein Bild eines politischen Führers an seiner Wand hängen. Wer sich in den Häusern oder Wellblechhütten umsieht, findet Poster von Whitney Houston, von einem schwarzen Fußballstar oder Boxer, einem weißen Pin-up-Girl oder ein Kreuz. Spürbar ist in den meisten Gesprächen mit jungen Schwarzen die Sehnsucht nach einer neuen Ausrichtung, einem festen Wertebild, nach Frieden.

Die meisten Jugendlichen, die in fester Umgebung leben, lehnen Gewalt ab. Sie verüben sie nicht, sondern fürchten sie. Materielle Werte und eine gute Ausbildung sind ihnen wichtiger als politische Ziele. Fast die Hälfte gehört einer Kirche an, ein Drittel einem Sportverein und nur fünfzehn Prozent einer politischen Gruppe. Jugendliche in Soweto, viele von ihnen sind dem schwarzen Mittelstand zuzurechnen, sind modebewusst, geben Geld aus für Musikanlagen und Kosmetika, glauben an das Gespräch als Mittel, die Beziehungen zwischen den Rassen zu verbessern. Sie spielen Fußball, gehen auf Partys, in Diskotheken, Konzerte und Kinos. Innerstädtische Tanzlokale in Johannesburg sind auch an Wochentagen überfüllt mit jungen Schwarzen. Junge Männer lesen eher Zeitung, junge Frauen gehen häufiger in die Kirche.

Unter den Mittelstands-Jugendlichen in der Millionenstadt Soweto haben sich klar definierte Gruppen mit eigener Kultur, Mode und Sprache gebildet, die friedlich nebeneinander leben. Einige kopieren amerikanische Vorbilder, andere sind darüber schon hinaus. Gemein ist ihnen das Tragen teurer Kleidung. Die Pantsulas etwa gehen zu Modeausstattern in den gediegenen weißen Vororten, bevorzugen bestimmte Labels, hören die Musik südafrikanischer Diskosänger. Sie haben eine eigene Art zu gehen und mit überzogener Gestik zu sprechen in einer vermischten Tsotsi-Sprache aus Zulu, Sotho, Englisch und Afrikaans. Tsotsi, das sind die Kleinkriminellen auf der Straße, oft in Banden verbunden. Die Hippie-Gruppe wiederum spricht englisch, angereichert mit amerikanischem Slang, hört Luther Vandross, Liebesliedern und eleganten Soulsängerinnen zu, trägt klassische Kleidung und Lederjacken und lässt sich vom Friseur die Haare ondulieren. Sie sind die „Gentlemen der Sowetojugend“. Rapper und Punks – ihre typische geometrische Frisur trägt den Namen „deutscher Schnitt“ – kopieren das amerikanische Vorbild.

Auch sie, jene, die es geschafft haben, haben es nicht leicht. Nur jeder zwanzigste setzt seine Ausbildung nach dem südafrikanischen Abitur fort. Und nur jeder hundertste Schulabgänger findet in dieser Zeit der politischen Ungewissheit und der schweren Rezession einen Arbeitsplatz im formellen Sektor. Wer es aber geschafft hat, kann sich glücklich schätzen. Staat und Unternehmer haben sich neu besonnen, sie suchen begierig nach schwarzen Mitarbeitern. Sie werden bei gleicher Qualifikation den Weißen gegenüber oft bevorzugt, um als „Affirmative Action“ – das Schlagwort der Wirtschaft im Umbruch – die Diskriminierung vergangener Jahrzehnte auszugleichen. Die Unternehmen passen sich an das neue Südafrika an, in dem immer mehr Kunden und die neuen politischen Herren schwarz sind.

Wer unter städtischen Jugendlichen politische Ziele verfolgt, gehört als Comrade dem Jugendflügel des Afrikanischen Nationalkongresses, des ANC, öfters auch der mit dem ANC verbündeten orthodoxen Kommunistischen Partei an oder einer der kleineren kämpferischen Gruppen der „Afrikanisten“, etwa dem PAC – dem Panafrikanistischen Kongress von Azania. Azania ist ein Kunstname dieser Denkrichtung für Südafrika. Diese erhalten Zulauf, weil nicht wenige glauben, die ANC-Führung sei zu kompromissbereit, sei den Weißen bei den Verhandlungen zur neuen Verfassung zu weit entgegengekommen.

Winnie Mandela und Politiker der Kommunistischen Partei sind wegen ihrer einfachen und einprägsamen Slogans beliebt. Der Held dieser Aktivisten ist der zu Ostern 1993 von einem weißen Rechtsradikalen ermordete Chris Hani. Ein Viva zur rechten Zeit reicht, sie zu Begeisterungsstürmen und zum wiegenden Toyi-toyi-Tanz, dem Symbol der Kämpfe der achtziger Jahre zu verleiten. Differenzierte, abwägende politische Äußerungen sind nicht grade gefragt. Sie erhoffen das Ende allen Übels und einen schnellen Wohlstand von der Nationalisierung der Unternehmen Südafrikas, einer Zielsetzung, die die Führung des ANC im Wesentlichen aufgegeben hat.

Auch radikale junge ANC-Anhänger akzeptieren meist Weiße, wenn auch bisweilen grollend, als Landsleute, die Afrikanisten sehen sie als Siedler, die nicht gerade willkommen sind. „Ein Siedler, eine Kugel“ ist immer noch ihr Schlachtruf. Rassisch motivierte Übergriffe auf Weiße sind indes selten; wenn es sie gibt, erregen sie erhebliche Aufmerksamkeit, was junge Radikale wiederum als heuchlerisch empfinden. Meist erfahren Weiße eine freundliche Begrüßung, falls sie sich in Townships wagen, rasch kann die unberechenbare Stimmung aber ins Feindselige umschlagen.

Auf dem Lande sieht es wieder anders aus. Die ländliche Jugend ist in der Mehrheit; sie ist nicht verloren, sondern vergessen, sie wird übersehen. Mehr als zwei Drittel der schwarzen Jugendlichen wuchs fern der Turbulenzen der siebziger und achtziger Jahre in den Dörfern und Homelands (erzwungene „Heimatländer“ in den traditionellen Wohnbezirken der Völker und Sprachgruppen), auf Farmen und in Kleinstädten auf. Sie haben weniger Freizeit als die Gleichaltrigen in der Stadt, müssen das Vieh hüten, Wasser und Brennholz holen. Sie leben meist in gefestigten Großfamilien mit Eltern, Großmüttern, Tanten und Vettern. Wie zwei Drittel aller Südafrikaner haben auch sie in ihrer Behausung keinen Stromanschluss. Sie kennen kein Fernsehen, wohnen in Wellblechhütten an den Rändern der Städte oder in Lehmhütten auf dem Lande und fühlen sich von allem ausgeschlossen.

Auch in der Stadt aber ist vielen die Gewalt fern. Sipho etwa, ein Verkäufer in einem Musikladen, wuchs im Herzen Sowetos auf. Er erzählt, dass er bis zum Ende seiner Schulzeit – später zog er in ein ehemals weißes Stadtviertel Johannesburgs – Gewalt nur auf dem Fernsehschirm erlebt hat. Er interessiert sich für Musik und für seine Freunde, für Politik kaum. Lucas, ein anderer junger Mann, verkauft Zeitungen am Straßenrand in Parktown. Er liest sie aber nicht, denn um sie zu kaufen, fehlt ihm das Geld, und das Lesen fällt ihm schon in seiner Heimatsprache Swati schwer, noch mehr gilt das fürs Englische. Die Schule hat er früh verlassen müssen, weil sein Vater, ein Rinderhirt, die Ausbildung nicht bezahlen konnte. In einem Kino war der Neunundzwanzigjährige, der seit Jahren in Johannesburg lebt, vor Kurzem zum ersten Mal. Was sei das eigentlich, die Wahl, fragt er.

Andere haben sich von der Gewalt, die sie einst begingen oder erfuhren, meist beides, abgewandt. Curtis – einst Buschkämpfer des Afrikanischen Nationalkongresses, militärisch ausgebildet in der DDR, auf Robben Island inhaftiert wegen Sabotage – betreut inzwischen Mitarbeiter einer privaten weißen Bewachungsfirma. Er lebt ruhig zusammen mit Frau und Kind. Mojalefa, in seiner Jugend von der Polizei gefoltert, die von ihm vergeblich den Aufenthaltsort seines weithin bekannten Vaters im Exil erfahren wollte, floh nach Tansania und wurde ebenfalls als ANC-Guerrillero ausgebildet. Er traf nach seiner Rückkehr zufällig seinen Folterer und war sogar zu Scherzen aufgelegt. Heute sitzt er in einem Computerkurs in Kapstadt.

Tonny, einst an Aufständen beteiligt, ehemaliger Aktivist der Straßenkomitees, der selbsternannten Revolutionsgerichte der Jugendlichen, die auch vor Lynchmorden mit brennenden Autoreifen, dem Necklacing, nicht zurückschreckten, wurde Schauspieler und führte mit seiner Truppe ein Passionsspiel in einem Dorf auf – eingeladen von einem afrikaansen Farmer. Er spricht vom schlechten Gewissen, das unaufhörlich brennt. Sello, seine hochschwangere Mutter starb unter dem Einfluss von Tränengas bei einem Polizeieinsatz, wurde Tänzer statt Revolutionär. Binnen kürzester Zeit waren mehr als dreihundert Tanzgruppen in Soweto entstanden. Sie binden viele Mädchen und Jungen, ebenso wie die unzähligen Theatergruppen, die ohne jede staatliche Unterstützung auskommen müssen. Sello predigt und praktiziert die Versöhnung mit den Weißen.

Immer wieder ist diese Bereitschaft zur Versöhnung zu finden, das Hoffen, dass die ausgestreckte Hand ergriffen wird. Das ist eines der Wunder Südafrikas: Dass trotz schmerzhafter Erlebnisse, trotz unmittelbarer Begegnung mit der Gewalt (meist durch die Polizei), die fast jeder junge städtische schwarze Südafrikaner durchmachen musste, nicht mehr Zorn und Radikalität zu spüren ist. Falls sie Ähnliches erlebt hätten, so kommentieren mehrfach Weiße, hätten sie vermutlich Bomben geworfen. Stattdessen sind fast alle zur Versöhnung bereit, aus Überzeugung oder der Einsicht, dass das Land sonst zusammenbricht. Das ist der ausgeprägt christlichen Haltung vieler Schwarzer zuzuschreiben, der Achtung vor Werten und Traditionen, einer frühen Reife und oft auch der resignierten Weisheit.

Die afrikanischen Traditionen sind vielen jungen städtischen Schwarzen wichtig. Liberale Weiße missverstehen das gern. Sie glauben, Verweise auf den Ahnenkult, das Tragen des Talismans („Muti“), die Beschneidung in den Bergen oder der Brautpreis würden hochgespielt von Völkerkundlern und Apartheidsapologeten. Nach dem Schwinden der legalisierten Apartheid wurde das Bekenntnis zu den afrikanischen Wurzeln indes eher stärker. Es scheint teils gekoppelt zu sein an das Bekenntnis zum Schwarzen Selbstbewusstsein, der unter kämpferischen Intellektuellen starken Bewegung des „Black consciousness“, die viele Junglöwen in die Schüleraufstände trieb.

Tony

Tony

Sipho

Sipho

Also doch eine normale Jugend, deren Bild nur durch einige zornige junge Männer auf den Barrikaden verzerrt wird? Gewiss nicht. Auch wenn viele Millionen Jugendliche religiös, apolitisch, versöhnlich und zielbewusst sind: Jene verlorene Generation gibt es. Doch schon kommen wieder Einwendungen von Soziologen und Umfrageforschern. Die einen sagen, der Ausdruck müsse vermieden werden, denn niemand könne oder dürfe ganz als verloren aufgegeben werden. Andere suchen nach genaueren Abgrenzungen. Sie unterteilen etwa in verloren, marginalisiert, gefährdet und wohlbehütet. Wohlbehütet sei nur ein Fünftel der elf, zwölf Millionen schwarzen Jugendlichen, über vierzig Prozent seien gefährdet, dreißig Prozent marginalisiert und nur sechs Prozent wirklich verloren. Wer?

Die, mehrere Hunderttausend, lungern auf den Straßen der Townships ohne Arbeit herum; bis zu zwei Drittel aller jungen Schwarzen sind arbeitslos. Auch ein beispielloser wirtschaftlicher Aufschwung änderte kaum etwas an der Lage. Diese Jugendlichen sind tief in Gewalt und Kriminalität verstrickt, sie sind Mitglieder von Jugendbanden, eingeschüchtert von starken Führungsfiguren, verleitet durch falsche Solidarität oder durch Schlagworte, eingebunden in die emotionale Wärme einer Gruppe. Die Banden bieten Abenteuer und Unterhaltung in einer freudlosen Umgebung. In Soweto mit seinen zweieinhalb Millionen Einwohnern gibt es im „Jahr der Befreiung“ ganze zwei Kinos. Gewalt ist für die Verlorenen so stark ein Teil ihres Lebens geworden, dass es fast ausgeschlossen scheint, sie in die Gesellschaft zurückzuholen. Viele unter ihnen nennen sich Comrades, auch ein Schlagwort der achtziger Jahre. Die einen sind echte politische Aktivisten, die anderen verfolgen unter politischem Deckmantel persönliche kriminelle Ziele, rauben, töten und vergewaltigen.

Diese Comtsotsi (eine Verbindung von Comrades, den Genossen, und Tsotsi, Bandenmitglieder) sind meist arbeitslose Jugendliche, die nicht zur Schule gehen und oft aus anderen von Gewalt geprägten Gebieten geflohen sind. Die Übergänge der Gruppen sind fließend. Sie beherrschen die Townships, erzwingen machtlüstern Boykotte und Mietzahlungsstreiks ihrer Eltern. Wenn eine ältere Frau trotz eines gerade verhängten Verbraucherboykotts in der Stadt der Weißen einkaufte – in den Townships sind die Waren teurer und schwer erhältlich –, zwang auch mal ein Revolutionswächter sie, ihr neuerworbenes Waschpulver zu verschlucken. Nicht selten wandte sich die eifernde Gewalt statt gegen den verhassten Staat gegen die eigene Gemeinschaft.

Die Gruppenmitglieder stammen meistens aus zerbrochenen Familien, haben Stiefväter, mit denen sie nicht zurechtkommen, oder unverheiratete Mütter. Die Schule brachen sie vorzeitig ab. In mehr als zwei Drittel der Fälle fehlte das Geld für Schule und Schulbücher. Dazu kamen der Zusammenbruch des schwarzen Erziehungswesens, unzureichend ausgebildete Lehrer, Schulen ohne Stühle, Strom und Bücher. Zu Hause besitzt etwa die Hälfte aller schwarzen Jugendlichen nicht ein eigenes Bett, geschweige denn einen Schreibtisch. Wer des Lesens unkundige Eltern hat, wer ohne ein Buch und ohne Anregungen aufwächst, wer die Hausaufgaben nur bei Kerzenlicht machen kann, beständig von kleinen Geschwistern oder übermüdeten Eltern vor dem Fernsehschirm im gleichen Raum abgelenkt wird, braucht doppelte Willensanstrengung, um durchzuhalten. Andere brachen die Schule ab wegen früher Schwangerschaft, schwacher Gesundheit oder fehlendem Interesse.

Auch hier ein verblüffendes Ergebnis, das dem Bild einer politisierten Generation widerspricht: Nur ein Prozent der Jugendlichen, die dazu befragt wurden, begründeten den Schulabbruch mit politischen Aktivitäten. Dabei waren die siebziger und achtziger Jahre gezeichnet von Protesten, Schulboykotten und einer Haltung der Verweigerung. Die Generationen von 1976, 1981 und 1985/86 kannten nie eine Normalität, selten ein Rollenmodell. Auch einige ihrer Lehrer predigten Rechtlosigkeit und Widerstand. „Befreiung vor Erziehung“ war das Schlagwort dieser Generation. Schulen wurden in Brand gesteckt, die Lehrer verjagt.

Nicht nur der große südafrikanische Liberale Athol Fugard, zeitweise auf amerikanischen Bühnen der meistgespielte Dramatiker nach Shakespeare, äußert sich hart: Der vom ANC getragene Schulboykott sei sozial verheerend gewesen, die größte Katas­trophe, die Südafrika je gesehen habe. Nur wenige Südafrikaner begriffen diese Folgen. Das Land werde dafür einen ungeheuren Preis zahlen. Die Politiker, so die Vorwürfe, hätten Jugendliche angestachelt und als Kanonenfutter missbraucht. Fast zwei Millionen Schwarze im Schulalter blieben nicht zuletzt deshalb ohne jede Ausbildung. Eltern verloren ihre Autorität, wurden als schwächliche Anpasser betrachtet, die ihr Geld lieber in Bierhallen verschwendeten statt sich dem noblen Kampf zu widmen.

Zum Schulboykott hinzu kamen die Folgen der Apartheid und Unterdrückung, zerrüttete Sozialstrukturen, Armut, die Kultur der Intoleranz und der Gewalt, eine Tradition des Anspruchdenkens. Der Johannesburger Soziologe Lawrence Schlemmer, der sonst nicht zu starken Worten neigt, hält Südafrika für die gewaltsamste Gesellschaft der Welt. Das drückt sich in der Zahl der Morde und gewaltsamen Autoentführungen aus, im Straßenverkehr, in Familienselbstmorden und Kindesmisshandlungen, deren Zahl sich innerhalb von fünf Jahren verdreifacht hat, in Bandenvergewaltigungen, die in Soweto zu einem spielerischen Kult geworden sind: Überall kann Südafrika auf statistische Negativrekorde verweisen.

Jugendliche erleben allerorten Brutalität, auch und gerade von der Polizei, ihrer außer mit Lehrern meist einzigen direkten Begegnung mit der Staatsgewalt und mit den Weißen. Die Gewalt der Polizei und damit des Staates wurde als illegitim betrachtet, die eigene als legitime, wenn nicht gar hehre Gegengewalt. So mancher Kirchenführer trug durch zwiespältige Äußerungen über legitimen Widerstand mit allen Mitteln dazu bei, die Scheu vor eigener Gewaltanwendung zu verlieren. Für viele wurde das zum Spiel, sichtbar im Barrikadenbauen und nächtlichen Wachegehen mit Schießübungen in den neuen Zentren politischer Gewalt, in den Townships östlich von Johannesburg wie Katlehong und Tokoza und in den Todesfeldern in Natal und KwaZulu.

Immerhin: Es gibt zunehmende Bemühungen, die Wiedereingliederung zumindest eines Teils der angeblich Verlorenen in das normale Leben zu erleichtern. Dabei geht es etwa um die Öffnung von Schulen für Straßenjugendliche; um handwerklichen Unterricht, um den Zugang zum florierenden Straßenhandel zu erleichtern; um Pläne für staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme bei der Reparatur von Straßen und Schulen, um Jugendbataillons oder einen nationalen Jugenddienst. Meist blieben das Pläne.

Eine kleine, aber nach Beginn der Aids-Katastrophe wachsende Gruppe unter den Verlorenen, jung und apolitisch, sind die Straßenkinder. Sie flohen aus zerrütteten Familien, in denen sie Alkohol, Gewalt, Missbrauch erlebten. Sie treiben sich etwa im Johannesburger Stadtteil Hillbrow herum, einer Mischung aus Hochhaussiedlung und Sankt Pauli. Dort spielen sie in Video­läden, schnüffeln Leim, ihre Sorte Rauschgift. Sie überleben dank Jobs wie dem Einweisen auf Parkplätze und Autowaschen, aber auch Bettelei, Kleindiebstählen und Kinderprostitution, die sie in ihrem Slang Chip-chop nennen.

Wer mit schwarzen Jugendlichen spricht, hört immer wieder Ähnliches: eine Umwelt, die sie, oft widerwillig, in die Politik trieb; das Erfordernis, früh Verantwortung übernehmen und Entscheidungen treffen zu müssen, damit verbunden der Verlust unbefangener Jugend; Aufwachsen ohne Eltern oder mit nur einem Elternteil, unstabile Beziehungen und Bindungslosigkeit, die sich in der nächsten Generation fortsetzen; Schulabbruch wider Willen; Arbeitslosigkeit und Armut. Viele haben Freunde oder Verwandte im Exil oder in den Aufständen verloren, öfter sahen sie selbst dabei zu; nicht wenige wurden inhaftiert und gefoltert. Meist berichten sie davon nur unwillig, versuchen, das zu verdrängen. Kaum jemand hatte bis in die frühen Neunziger hinein weiße Freunde und wenn, waren es eher Ausländer denn weiße Südafrikaner.

Diese Opfer haben Ähnliches zu verkraften wie Soldaten eines Krieges. Unter posttraumatischen Symptomen wie Depression, niedrigem Selbstbewusstsein, sprunghaftem Verhalten leiden viele. Ein vierzehnjähriges Mädchen berichtet, sie esse nicht mehr Fleisch, weil sie dessen Geruch nicht mehr aushalte, seitdem ein Necklacing-Opfer als vermeintlicher Verräter vor ihren Augen lebendigen Leibes verbrannt wurde.

Waffen sind leicht zu haben, sie sind das neue Spielzeug in Soweto. So manch ein zwölf-, dreizehnjähriger Schüler legt diskret seine Schusswaffe unter das Lehrbuch. Welcher Lehrer wagt es dann noch, gegen das Abschreiben vom Nachbarn einzuschreiten? Die Grenzen zwischen Kindheit, Jugend und Erwachsensein, sie gibt es kaum.

Sind diese Kinder leicht auf die Straße zu treiben mit politischen Slogans? Befragungen zeigen, dass kaum jemand glaubt, Politiker allein könnten die Sorgen des Landes lösen. Der Zorn über die Apartheid aber und deren Auswirkungen ist gewaltig. Was erhofft sich diese Generation vom politischen Umbruch am Kap? Wer fragt, muss lange warten, bis er das Wort Freiheit oder Menschenwürde hört. Eine Ausbildung, Arbeit, mehr Geld, einen Stromanschluss wünschen sich die meisten. (1994)

Ungewohntes Miteinander

Ryno hasst Schwarze. Er behauptet, er werde auf sie schießen, falls jemand den Befehl dazu gebe. Der 21 Jahre alte afrikaanse Farmerssohn unterstützt die Afrikaner Widerstandsbewegung (AWB), die kämpferische weiße Rechte in Südafrika. Curtis war im Exil und auf der Gefangeneninsel Robben Island vor Kapstadt, wurde als Guerrillakämpfer des ANC militärisch in der damaligen DDR ausgebildet. Beide haben nun den gleichen Beruf: Sie arbeiten für einen privaten Wachdienst. Seit einigen Tagen begegnen sich AWB-Anhänger und schwarze ehemalige Buschkämpfer des ANC in der gleichen Firma und gehen gemeinsam auf Patrouille.

Polizei am Flughafen

Polizei am Flughafen

In Südafrika dürfte es weit mehr Mitarbeiter privater Sicherheitsdienste geben als Polizisten. Das ist eine Folge wachsender Kriminalität, die immer mehr Weiße zur Auswanderung treibt. Siebzig Autos, berichtet die Polizei, seien am vergangenen Wochenende in Johannesburg und der Umgebung entführt worden, vier Fünftel von ihnen mit gezückter Schusswaffe. Mehr als 60 Häuser in den wohlhabenden nördlichen Vororten sind täglich Ziel von Einbrüchen. 12,6 Prozent der 16 000 Morde, die im vergangenen Jahr in Südafrika gezählt wurden, hatten politische Beweggründe. Die Zahl der Morde je Person liegt fast sechsmal so hoch wie in den Vereinigten Staaten. 61 schwere Verbrechen pro 1 000 Einwohner gab es 1992 in der Region Johannesburg. Südafrika sei, so befand eine Commonwealth-Studie kürzlich, eine der gewaltsamsten Gesellschaften der Erde.

Die Polizei kommt damit nicht zurecht. Auch nach schweren Verbrechen dauert es oft eine Stunde, bis sie auftaucht – falls das Opfer Glück hat. Weiße Südafrikaner wehren sich auf ihre Art, sofern sie im Lande bleiben. In mehr als der Hälfte aller weißen Haushalte sind Schusswaffen. Seit der Ermordung des Kommunistenführers Hani durch einen weißen Rechtsextremen zu Ostern sei die Nachfrage nach Waffen und Munition um 60 Prozent gestiegen, berichten Waffenhändler; ihre Vorräte an Kugeln seien erschöpft. Die Mauern werden immer höher. Wer durch Villenvororte fährt (zu Fuß geht in Johannesburg kaum mehr ein Weißer außerhalb von Einkaufszentren), hört Hundegebell und sieht Schilder von Wachdiensten. Sie kommen, sobald der Alarm im Haus ausgelöst wird. Viele gehen auch in den eigenen Garten nur noch mit einem tragbaren Panikknopf, der den Wachdienst alarmiert.

Die Wachdienste gehören zu den wenigen Wirtschaftszweigen, die derzeit am Kap einen Aufschwung erleben und neu Personal rekrutieren. Unbemerkt von der Öffentlichkeit stellte der älteste und größte Wachdienst des Landes – allein in der Region Johannesburg beschäftigt er etwa 10 000 Menschen – 40 frühere Guerrillerakämpfer des ANC ein. Die weißen Eigentümer, so berichtet Curtis, glaubten, mit ihnen besser als mit anderen Mitarbeitern zurechtzukommen. Sie seien motiviert und dächten nicht nur an sich selber. Andere Mitarbeiter bereiteten Sorgen aufgrund eines Mangels an Disziplin und Arbeitswillen, auch aufgrund ihres unbedachten Umgangs mit Waffen.

Curtis, ausgebildet als Musiker und Ingenieur, dann wegen Sabotage und Hochverrats verurteilt, ist seit Kurzem dort tätig. Zunächst hatte er die Schießausbildung der Wächter leiten sollen. Er hatte im mecklenburgischen Teterow und in den Lagern in Angola westliche wie östliche Waffen zu nutzen gelernt. Curtis wurde schließlich für „Arbeitsbeziehungen“ zuständig. Er betrieb die Einstellung seiner arbeitslosen Kameraden aus den Buschlagern in Angola und Sambia, in denen sie für Sabotageakte ausgebildet worden waren. Die neuen Mitarbeiter begleiten Lieferwagen in Townships oder bewachen Villen Weißer, Bürohäuser und Fabriken.

Bisher habe es zwischen schwarzen Buschkämpfern und weißen Rassenpuristen keine Reibungen gegeben, berichtet Curtis; allenfalls neckten sie sich. Auch Ryno, bisher stand er nur mit Weißen gemeinsam Wache, zeigt sich beim zweiten, dritten Gespräch milder, meidet Schimpfnamen, wenn er von Schwarzen spricht. Er berichtet, er habe soeben vor dem Haus, das er bewacht, zwei schwarze Jungen dabei erwischt, als sie ein Auto aufbrechen wollten. Als er den einen nach einer langen Verfolgungsjagd festnimmt, behandelt er ihn sanft, versucht, ihn nicht zu verletzen. Er sei ja noch so jung.

Wieso wurde Ryno zum Rassisten und Anhänger des AWB? Mit fünfzehn habe er noch auf der elterlichen Hühnerfarm im Herzen des Oranje Freistaates, einer Hochburg der weißen Rechten, mit Schwarzen gespielt. Bald nach dem Tod seines Vaters wurde seine Mutter von einem Schwarzen vergewaltigt, sie starb am gleichen Abend. Seine Schwester, damals sieben, hatte das beobachtet, sie ist seitdem geistig gestört. Ryno kann man nicht als geistig beweglich bezeichnen. Er spricht kaum Englisch; mit seiner Muttersprache Afrikaans hat er Mühe. Er kennt in der Stadt kaum jemanden, weiß wenig über politische Entwicklungen. „Wie heißt das noch, ach ja, der ANC“, sagt er einmal, dann aber: AWB heiße „Afrikaner with brains“, Afrikaner mit Gehirn. Er werde bis ans Ende seiner Tage, glaubt der 21 Jahre alte Mann, den AWB stützen. (1993)

Schwarze Schuhcreme und Umzüge

Der Jugendliche stürzt auf den Besucher zu, greift ihm ins Gesicht, und schon ist er mit schwarzer Schuhcreme beschmiert. Auf dem kurzen Weg vom Parlament bis zum Malaienviertel Kapstadts wird das Gesicht immer schwärzer. Damit wird der weiße Besucher den Farbigen „angeglichen“, die die Walestraße säumen. Sie freuen sich offenkundig, dass sich Weiße unter sie mischen. Noch mehr als sonst gehört Kapstadt in den Tagen nach Neujahr den Farbigen. Etwa die Hälfte der drei Millionen Coloureds („Mischlinge“) in Südafrika lebt in Kapstadt und auf der Kaphalbinsel. Bei ihrem Karneval vermischen sich Traditionen des vergangenen Jahrhunderts. In den Stunden nach dem Jahreswechsel ziehen die malaiischen Straßensänger vom Platz zwischen Rathaus und Festung in „ihr“ Viertel, tanzen und singen; und eine weitere Woche lang bis zum Finale des Gesangwettbewerbs feiert die farbige christliche Mehrheit ihren Coon-Karneval.

Malaien wie Coons üben ein halbes Jahr lang ihren großen Auftritt, organisieren ihre Sänger in „Gewerkschaften“, die auf einen Sieg im Sangeswettbewerb hoffen. Jede Gruppe kleidet sich in bunte Uniformen, jährlich wechselnd, lila etwa, rosa, gelb, schwarz in Streifen, Punkten, auch Sternen, die an den amerikanischen Einfluss erinnern. Bei den Malaien hat die Kleidung der Musiker eine andere Farbe als die der Sänger, aber das gleiche Muster. Alle fünfzehn, zwanzig Minuten tänzelt in den Stunden nach Mitternacht eine Gruppe durch die engen Kopfsteinpflaster-Straßen des „Bo-Kaap“, des Malaienviertels, hält hier und da an, um vor pastellfarbenen Häusern im kapholländischen Stil zu singen und zum „Entgelt“ zu Ingwerbier und selbstgebackenen Plätzchen geladen zu werden.

Eine kleine Gemeinschaft wohnt in den steilen Straßen am Hügelrand der Innenstadt. Alle kennen einander, berichtet der Junglehrer Shafiek. Er hatte die Besucher davor gewarnt, in einen offenbar malerischen Innenhof – das Viertel wurde vor einem Vierteljahrhundert zum nationalen Denkmal erklärt – zu gehen. Dort werde mit Dagga, einem dem Haschisch vergleichbaren Rauschgift, gehandelt. Der süßliche Daggageruch liegt in der Luft. Jeder scheint hier hilfsbereit, beäugt die Besucher neugierig.

Shafieks Generation, die der Zwanzig- bis Dreißigjährigen, fügt sich noch ein in die konservative Gemeinschaft der etwa 200 000 Malaien Südafrikas. Die Nachkommen von Malaien, Indern, Indonesiern von der Insel Java sowie Madegassen wohnen oft auch nach der Heirat bei ihren Eltern, alle Geschwister zusammen, und beachten streng muslimische Bräuche. Bald aber sieht der Lehrer Konflikte kommen. Die Zwölfjährigen in seiner Schule rauchen schon Dagga und lehnen sich auf. Im Malaienviertel wohnten seit mehreren Generationen Kleinbürger, berichtet Shafiek. Sie schauten auf andere Farbige „nur ein wenig“ herab. Auch einige Weiße sitzen auf den Stoeps,­ den Veranden vor den zweistöckigen Häusern. Sie sind zum Islam konvertiert. Muslime und Christen leben im Viertel, nicht aber Hindus. Sichtbar wird die Strenggläubigkeit am frühen Morgen. Sobald der Muezzin vom Minarett ruft, unterbrechen die Straßensänger ihre Neujahrsfeier und gehen in eine der neun Moscheen des Viertels. Ihre Ahnen waren Sklaven, von den holländischen Kolonialherren aus dem Osten hergebracht, aber auch „freie Bürger“. Die ausgedehnte Textilindustrie am Kap geht auf sie zurück.