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Titelseite

Für Charlie und Isabel

Teil 1

DIE PEST

1. Kapitel

Gregor starrte einen Augenblick in den Badezimmerspiegel und holte tief Luft. Dann öffnete er langsam die Schriftrolle und hielt sie mit der handbeschriebenen Seite vor den Spiegel. Im Spiegelbild las er die erste Strophe eines Gedichts mit dem Titel »Die Prophezeiung des Bluts«.

Wie immer, wenn er die Zeilen las, wurde ihm flau.

Es klopfte an der Tür. »Boots muss mal!«, rief seine achtjährige Schwester Lizzie.

Gregor ließ das obere Ende der Schriftrolle los, und sie schnappte zusammen. Schnell steckte er sie wieder in die hintere Tasche seiner Jeans und zog das Sweatshirt darüber, damit man sie nicht sah. Er hatte noch niemandem von der neuen Prophezeiung erzählt, und solange es sich vermeiden ließ, hatte er das auch nicht vor.

Vor ein paar Monaten, kurz vor Weihnachten, war er aus dem Unterland zurückgekehrt, aus der dunklen, von Kriegen geschüttelten Welt viele Meilen unterhalb von New York. Dort lebten riesige sprechende Ratten, Fledermäuse, Spinnen, Kakerlaken und zahlreiche andere gigantische Tiere. Menschen gab es dort auch – blasse, violettäugige Wesen, Nachfahren jener, die im siebzehnten Jahrhundert unter die Erde gezogen waren und die steinerne Stadt Regalia erbaut hatten. Die Bewohner Regalias debattierten jetzt wahrscheinlich immer noch darüber, ob Gregor ein Verräter oder ein Held war. Auf seiner letzten Reise hatte er sich geweigert, ein weißes Rattenbaby zu töten, das man den Fluch nannte. In den Augen vieler Unterländer war das unverzeihlich, denn sie glaubten, diese Ratte würde eines Tages ihren Untergang bedeuten.

Die derzeitige Königin von Regalia, Nerissa, war ein zerbrechliches junges Mädchen mit beängstigenden Zukunftsvisionen. Sie hatte Gregor bei seiner Abreise die Schriftrolle in die Jackentasche gesteckt. Damals dachte er, es handele sich um die »Prophezeiung des Fluchs«, bei deren Erfüllung er den Unterländern gerade geholfen hatte. Stattdessen war es dieses neue, erschreckende Gedicht.

»Damit du bisweilen darüber reflektieren kannst«, hatte Nerissa gesagt. Wie sich herausstellte, war das wörtlich gemeint – die Prophezeiung des Bluts war in Spiegelschrift geschrieben. Ohne einen Spiegel konnte Gregor sie nicht lesen.

»Gregor, beeil dich!«, rief Lizzie und rüttelte an der Badezimmertür.

Er machte die Tür auf, und da stand Lizzie mit der zweijährigen Schwester Boots. Sie waren beide in Mäntel und Mützen eingemummelt, obwohl sie den ganzen Tag noch nicht draußen gewesen waren.

»Ich muss Pipi!«, schrie Boots, zog die Hose ganz herunter und trippelte dann zur Toilette.

»Du musst erst zum Klo gehen und dann die Hose runterziehen«, erklärte Lizzie ihr zum hundertsten Mal.

Boots hangelte sich auf die Toilette. »Ich jetzt großes Mädchen. Ich Pipi aufs Klo.«

»Super«, sagte Gregor und zeigte ihr den erhobenen Daumen. Boots strahlte.

»Dad ist in der Küche und backt Kekse. Da ist der Ofen an.« Lizzie rieb sich die Hände, damit sie warm wurden.

In der Wohnung war es eiskalt. Seit Wochen herrschten in New York rekordverdächtige Minustemperaturen, und der Heizkessel, der die alten Rohre mit Wasserdampf versorgte, war hoffnungslos überfordert. Die Hausbewohner hatten schon mehrfach bei der Stadt angerufen, aber ohne Erfolg.

»Los, Boots. Gleich gibt’s Kekse«, sagte Gregor.

Sie riss gut einen Meter Klopapier von der Rolle und putzte sich leidlich ab. Es hatte keinen Sinn, ihr Hilfe anzubieten. »Nein, ich selber machen«, war die Antwort.

Gregor achtete darauf, dass sie sich die Hände wusch und abtrocknete, um dann ihre rissige Haut einzucremen. Er nahm die Flasche, drehte sie auf den Kopf und wollte gerade drücken, als Lizzie ihn am Ärmel zupfte.

»Das ist Shampoo!«, sagte sie panisch. In letzter Zeit geriet sie bei jeder Kleinigkeit in Panik.

»Stimmt«, sagte Gregor und nahm die andere Flasche.

»Haben wir Gelee, Gre-go?«, fragte Boots hoffnungsvoll, während er die Creme auf ihren Handrücken verrieb.

Gregor lächelte darüber, wie sie seinen Namen aussprach. Etwa ein Jahr lang hatte sie Ge-go gesagt, aber neuerdings fügte sie ein r hinzu.

»Traubengelee«, sagte Gregor. »Hab ich extra für dich gekauft. Hast du Hunger?«

»Jaa!«, sagte Boots, und er hob sie mit Schwung auf seine Hüfte.

Als er mit Boots in die Küche kam, hüllte ihn eine warme Wolke ein. Sein Vater holte gerade ein Blech mit Keksen aus dem Ofen. Gregor war froh, dass er wieder auf den Beinen war, und sei es nur, um so etwas Simples wie das Frühstück für sie zu machen. Denn die mehr als zweieinhalb Jahre in der Gefangenschaft der riesigen blutrünstigen Ratten im Unterland hatten aus seinem Vater einen schwer kranken Mann gemacht. Von seinem zweiten Besuch im Unterland hatte Gregor Weihnachten eine spezielle Medizin mitgebracht, und die schien anzuschlagen. Die Fieberschübe kamen nicht mehr so häufig, die Hände seines Vaters zitterten nicht mehr und er hatte ein wenig zugenommen. Er war noch lange nicht wieder gesund, aber insgeheim hoffte Gregor, dass die Medizin weiterhin helfen würde und sein Vater im Herbst vielleicht schon wieder als Biolehrer arbeiten könnte.

Gregor setzte Boots auf den wackligen Kinderstuhl aus rotem Plastik, den sie schon hatten, seit er ein Baby gewesen war. In Erwartung des Frühstücks trommelte sie fröhlich mit den Fersen gegen den Stuhl. Das Frühstück sah auch wirklich gut aus, vor allem, wenn man bedachte, dass der Monat sich dem Ende zuneigte. Gregors Mutter bekam ihr Geld immer am Monatsersten, und um diese Zeit war es normalerweise aufgebraucht. Aber heute servierte sein Vater jedem zwei Kekse und ein hart gekochtes Ei. Boots bekam eine Tasse stark verdünnten Apfelsaft – die Flasche musste noch ein paar Tage reichen –, alle anderen tranken heißen Tee.

Sein Vater sagte, sie sollten schon mal anfangen, während er der Großmutter das Frühstück auf einem Tablett brachte. Selbst bei milderem Wetter blieb sie die meiste Zeit im Bett, und diesen Winter hatte sie es kaum verlassen. Sie hatten ihr einen elektrischen Heizofen ins Zimmer gestellt, und auf dem Bett lagen mehrere Decken. Trotzdem waren ihre Hände immer kalt, wenn Gregor zu ihr kam.

»Ge-lee, Ge-lee, Ge-lee«, sang Boots.

Gregor brach ihr die Kekse auseinander und gab auf jeden einen großen Klecks Gelee. Sie aß sofort einen riesigen Bissen, und ihr ganzes Gesicht war lila verschmiert.

»He, das ist zum Essen, nicht zum Eincremen, klar?«, sagte Gregor, und Boots fing vor Lachen an zu glucksen. Wenn sie lachte, musste man einfach mitlachen; sie hatte so ein lustiges, hicksiges Kleinkindlachen.

Gregor und Lizzie mussten sich beeilen, um nicht zu spät zur Schule zu kommen.

»Vergesst nicht, die Zähne zu putzen«, sagte ihr Vater, als sie vom Tisch aufstanden.

»Mach ich, wenn ich mal ins Badezimmer darf«, sagte Lizzie und grinste Gregor an.

Alle in der Familie machten sich darüber lustig, dass er so viel Zeit im Bad verbrachte. Sie hatten keine zweite Toilette, und deshalb fiel es auf, wenn er sich so oft im Bad einschloss, um die Prophezeiung zu studieren. Seine Mutter zog ihn damit auf, dass er es wohl auf ein Mädchen in der Schule abgesehen habe und deshalb so oft vor dem Spiegel stehe, und Gregor versuchte sie in diesem Verdacht zu bestärken, indem er verlegen tat. Er dachte tatsächlich an ein Mädchen, aber sie war nicht auf seiner Schule. Und er machte sich bestimmt keine Gedanken darüber, wie sie seine Haare fand. Er fragte sich, ob sie überhaupt noch am Leben war.

Luxa. Sie war elf, genau wie er, und sie war die Königin von Regalia. Jedenfalls war sie das bis vor ein paar Monaten gewesen. Gegen den Willen des Rates von Regalia war sie Gregor heimlich hinterhergeflogen, um ihm bei dem Auftrag zu helfen, das Rattenbaby zu töten. Sie hatte es mit einer ganzen Horde Ratten in einem Labyrinth aufgenommen, damit Boots auf einem ihr ergebenen Kakerlak fliehen konnte. Luxa hatte Boots das Leben gerettet. Doch wo war Luxa jetzt? Irrte sie im Land des Todes herum? Hatten die Ratten sie gefangen genommen? War sie tot? Oder war sie durch irgendein Wunder wieder nach Hause gelangt? Und dann war da noch Luxas Fledermaus Aurora. Und Temp, der Kakerlak, der mit Boots geflohen war. Und Twitchtip, die Ratte, die eine so gute Nase hatte, dass sie sogar Farben riechen konnte. Alle seine Freunde. Alle vermisst. Sie alle drängten sich nachts in seine Träume und tagsüber in seine Gedanken.

Gregor hatte die Unterländer gebeten, ihn auf dem Laufenden zu halten. Sie sollten ihm im Schacht seines Wäschekellers eine Nachricht hinterlassen; dort war eins der Tore zum Unterland. Warum hatten sie das nicht getan? Was war los?

Es machte Gregor ganz verrückt, nicht zu wissen, was mit Luxa und den anderen war, und mit der mysteriösen Prophezeiung völlig allein dazustehen. Er musste sich sehr zusammenreißen, um in der Schule aufzupassen, sich seinen Freunden gegenüber normal zu verhalten und seine Sorgen vor der Familie zu verbergen. Schon die leiseste Ahnung, er könnte noch einmal ins Unterland reisen wollen, würde sie in Panik versetzen. Er war ständig zerstreut, hörte nicht, was die anderen sagten, und vergaß alles Mögliche. So wie jetzt.

»Gregor, deine Schultasche!«, rief sein Vater ihm nach, als er mit Lizzie zur Tür hinausging. »Ich glaube, die brauchst du heute noch.«

»Danke«, sagte Gregor, ohne seinen Vater anzuschauen. Er wollte die Sorge in seinem Blick nicht sehen.

Er ging mit Lizzie die Treppe hinunter in den Hausflur und machte sich auf das Schlimmste gefasst, als sie hinaustraten. Ein scharfer Wind fuhr ihm direkt durch die Kleider, als wären sie gar nicht da. Er sah, dass Lizzies Augen tränten, wie immer, wenn es windig war.

»Beeil dich, Lizzie. In der Schule ist es wenigstens warm«, sagte Gregor.

So schnell es auf den vereisten Gehwegen möglich war, liefen sie durch die Straßen. Zum Glück lag Lizzies Grundschule nur ein paar Straßenecken weiter. Lizzie war klein für ihr Alter, »zart«, wie seine Mutter fand. »Wenn mal ein tüchtiger Windstoß kommt, pustet er dich weg«, sagte die Großmutter, wenn sie Lizzie umarmte. Heute fragte sich Gregor, ob da vielleicht etwas dran war.

»Du holst mich doch von der Schule ab, oder? Ganz bestimmt?«, fragte Lizzie am Eingang.

»Klar«, sagte Gregor. Sie sah ihn vorwurfsvoll an. Im letzten Monat hatte er es zweimal vergessen, und sie hatte im Sekretariat gesessen und darauf gewartet, dass jemand sie abholte. »Du kannst dich drauf verlassen!«

Beinahe erleichtert stürzte Gregor sich wieder hinaus in den Wind. Auch wenn ihm die Zähne klapperten, so hatte er doch wenigstens ein paar Minuten ganz für sich. Sofort war er mit den Gedanken im Unterland, und er fragte sich, was dort jetzt wohl los war, meilenweit unter seinen Füßen. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie ihn zu sich rufen würden, das wusste er. Deshalb verbrachte er so viel Zeit im Badezimmer, studierte die neue Prophezeiung und versuchte die bedrohlichen Worte zu verstehen, um sich, so gut es ging, auf die nächste Herausforderung vorzubereiten. Die Unterländer zählten auf ihn.

Diese Unterländer! Zuerst hatte er noch versucht, Entschuldigungen für ihr Schweigen zu finden, aber jetzt war er nur noch wütend. Nicht nur, dass ihm niemand sagte, was mit Luxa und den anderen Vermissten war, er hatte auch keine Ahnung, wie es Ares ergangen war, der großen schwarzen Fledermaus, der er am meisten von allen im Unterland vertraute. Ares und Gregor waren miteinander verbunden. Sie hatten geschworen, bis in den Tod füreinander einzutreten. Die Suche nach der weißen Ratte war furchtbar gewesen, aber ein Gutes hatte sie doch gehabt – das Verhältnis zwischen Gregor und Ares war unerschütterlich geworden. Unglücklicherweise war Ares ein Ausgestoßener unter den Menschen und Fledermäusen. Er hatte Henry, den ersten Menschen, mit dem er verbunden gewesen war, in den Tod stürzen lassen, um Gregor das Leben zu retten. Obwohl Henry ein Verräter war und Ares die richtige Entscheidung getroffen hatte, hassten die Unterländer ihn dafür. Sie warfen Ares auch vor, dass er die weiße Ratte nicht umgebracht hatte, obwohl das genau genommen Gregors Aufgabe gewesen war. Gregor hatte die schlimme Ahnung, dass Ares, wo er auch sein mochte, bestimmt leiden musste.

Als er die Schultür öffnete, versuchte er die Gedanken an die Unterländer zu verdrängen und sich auf seine Mathehausaufgabe zu konzentrieren. Wie jeden Freitag ging es mit einem Test los. Dann kam Sport, wo sie Half-Court-Basketball spielten, dann irgendein Experiment mit Zuckerkristallen in Chemie und dann war endlich Mittagspause. Gregors Magen knurrte immer schon mindestens eine Stunde, bevor es in die Cafeteria ging. Es war kalt, Gregor war mitten im Wachstum und die Vorräte zu Hause mussten immer möglichst lange reichen – all das zusammen führte dazu, dass er ständig Hunger hatte. Das Schulessen war für ihn gratis, und er aß alles, was auf dem Tablett war, selbst wenn es ihm nicht schmeckte. Zum Glück war Freitag Pizzatag, und Pizza mochte er für sein Leben gern.

»Hier, du kannst meine haben«, sagte seine Freundin Angelina und warf ihr Pizzastück auf seinen Teller. »Ich kriege vor Aufregung sowieso nichts runter.« An diesem Abend war die Premiere der Schulaufführung und Angelina spielte die Hauptrolle.

»Soll ich dich noch mal abhören?«, fragte Gregor.

Sofort drückte sie ihm das Textheft in die Hand.

»Macht es dir echt nichts aus? Hier ist mein Einsatz.«

Als ob er das nicht wüsste! Gregor und ihr gemeinsamer Freund Larry hörten Angelina schon seit sechs Wochen täglich ab. Meistens machte es allerdings Gregor. Durch die kalte, trockene Winterluft wurde Larrys Asthma schlimmer, und beim Vorlesen musste er immer husten. Letzte Woche war er mit einem heftigen Anfall im Krankenhaus gewesen. Er sah immer noch ziemlich mitgenommen aus.

»Das bringt sowieso nichts. Wenn du auf der Bühne stehst, hast du alles vergessen«, sagte Larry, ohne aufzuschauen. Er malte etwas auf seine Serviette, das aussah wie der Augapfel einer Fliege.

»Sag das nicht!«, rief Angelina erschrocken.

»Du versagst bestimmt total, genau wie beim letzten Stück«, sagte Larry.

»Ja, da wären wir fast rausgegangen«, sagte Gregor.

Angelina war im letzten Stück großartig gewesen. Das wussten sie alle. Sie versuchte sich ihre Freude nicht anmerken zu lassen.

»Was warst du noch mal? Irgend so ein Insekt, oder?«, fragte Gregor.

»Irgendwas mit Flügeln«, sagte Larry.

Sie hatte die gute Fee in einer nach New York verlegten Fassung von »Aschenputtel« gespielt.

»Können wir jetzt mal anfangen?«, fragte Angelina. »Damit ich mich heute Abend nicht bis auf die Knochen blamiere?«

Gregor hörte sie ab. Es machte ihm nichts aus. Es lenkte ihn von den düsteren Gedanken ab.

Ich darf nicht ständig ans Unterland denken, sagte er sich. Sonst mache ich mich nur verrückt.

Und den restlichen Tag über schlug er sich auch ganz gut. Er brachte den Unterricht hinter sich, holte Lizzie ab und ging dann zu Larry. Larrys Mutter bestellte zur Feier des Tages Essen beim Chinesen, und dann gingen sie zur Schule und schauten sich das Stück an. Es war toll, und das Beste daran war Angelina. Als Gregor nach Hause kam, brachte er seinen Schwestern eine Handvoll Glückskekse mit, die er vom Abendessen aufgehoben hatte. Boots hatte noch nie Glückskekse gesehen und versuchte sie mitsamt dem Papier zu essen.

Weil es zu kalt war, um irgendwas anderes zu machen, gingen sie früher ins Bett als sonst. Gregor nahm zusätzlich zu dem Stapel Decken noch seinen Mantel und ein paar Handtücher zum Zudecken. Seine Mutter und sein Vater kamen beide zu ihm ins Zimmer und sagten ihm Gute Nacht. Er fühlte sich geborgen. Jahrelang war sein Vater entweder nicht da gewesen oder zu krank, um in Gregors Zimmer zu kommen. Dass sie jetzt beide kamen und ihn zudeckten, war der reine Luxus.

Er hielt sich gut und dachte nicht ans Unterland, bis sein Vater ihn umarmte und ihm Gute Nacht wünschte und ihm, für die Mutter unhörbar, ins Ohr flüsterte: »Keine Post.«

Gregor und sein Vater hatten ein System ausgeklügelt. Im letzten Sommer hatte Gregors Mutter den Wäschekeller für tabu erklärt. Man konnte es ihr nicht verdenken. In den letzten Jahren waren erst ihr Mann und dann Gregor und Boots durch den Schacht im Wäschekeller gefallen, der ins Unterland führte. Sie hatte eine schreckliche Zeit durchgemacht. Wie es ihr gelungen war, dass die Familie das Ganze seelisch und finanziell überstanden hatte, war Gregor ein Rätsel geblieben. Seine Mutter war unglaublich. Es stand also außer Frage, dass er, was den Wäschekeller anging, nicht widersprach.

Das Problem war nur, dass er jetzt nicht im Schacht nachschauen konnte, der ins Unterland führte. Aber sein Vater wusste, wie ungeduldig Gregor auf Nachricht von Luxa und den anderen wartete, deshalb sah er jeden Tag einmal schnell im Wäschekeller nach. Gregors Mutter erzählten sie nichts davon, sie würde sich nur aufregen. Sie konnte das nicht verstehen. Sie war noch nie im Unterland gewesen. In ihrer Vorstellung waren alle, die dort lebten, irgendwie in die Entführung ihres Mannes und ihrer Kinder verwickelt. Gregor und sein Vater dagegen hatten Freunde dort unten.

Es gab also keine Post. Schon wieder kein Wort. Keine Antworten. Stundenlang starrte Gregor in die Dunkelheit, und als er endlich einschlief, träumte er unruhig.

Am nächsten Morgen wachte er spät auf und musste sich beeilen, weil er um zehn bei Mrs Cormaci sein sollte. Er ging jeden Samstag zu ihr und half ihr im Haushalt. Im Herbst hatte Gregor sie manchmal in Verdacht gehabt, dass sie sich extra Arbeit für ihn ausdachte, weil sie wusste, wie bitter nötig seine Familie das Geld hatte. Aber jetzt, bei dem schlechten Wetter, brauchte sie seine Hilfe wirklich. Bei der Kälte taten ihr die Gelenke weh, und es fiel ihr schwer, auf den vereisten Gehwegen vorwärtszukommen. Sie sprach oft davon, dass sie Angst hatte, zu fallen und sich die Hüfte zu brechen. Gregor war froh, sich sein Geld jetzt auch wirklich verdienen zu können.

Heute hatte sie eine lange Liste mit Besorgungen für ihn. Er musste zur Reinigung, zum Gemüsehändler, zum Bäcker, zur Post und zum Haushaltswarengeschäft. Wie immer sorgte Mrs Cormaci erst einmal für seinen Magen. »Hast du schon gegessen?« Das war nicht der Fall, aber sie ließ ihm gar keine Zeit zu antworten. »Egal, bei dieser Kälte kann man auch zweimal essen.« Sie stellte eine große Schale dampfenden Haferbrei mit Rosinen und braunem Zucker auf den Tisch. Dann schenkte sie ihm Orangensaft ein und bestrich mehrere Scheiben Toast mit Butter.

Als Gregor fertig war, fühlte er sich für jedes Wetter gerüstet, und das war gut so, denn sie hatten minus zehn Grad, und die gefühlte Temperatur lag noch weit darunter. Er arbeitete die Einkaufsliste ab und lief von einem Laden zum anderen. Wenn er anstehen musste, war er dankbar, so konnte er wenigstens wieder auftauen. Als er die Einkäufe auf Mrs Cormacis Küchentisch abgeladen hatte, wurde er mit einer großen Tasse heißem Kakao belohnt. Dann packten sie sich beide dick ein, um zur Bank und zum Spirituosengeschäft zu gehen, denn dort konnte Gregor allein nichts ausrichten. Als sie draußen waren, wurde Mrs Cormaci nervös. Sie klammerte sich an Gregors Arm, und gemeinsam wichen sie dem Glatteis aus, den Fußgängern, die so dick in ihre Schals eingemummelt waren, dass sie kaum etwas sahen, und den schlingernden Taxis. In der Bank konnten sie sich aufwärmen – sie mussten am Schalter anstehen, denn Mrs Cormaci traute den Geldautomaten nicht. Dann gingen sie zum Spirituosengeschäft, wo Mrs Cormaci eine Flasche Rotwein für ihre Freundin Eileen zum Geburtstag kaufte. Auf dem Heimweg bekam Mrs Cormaci so kalte Hände, dass sie in dem Moment, als Gregor die Wohnungstür aufschloss, den Wein fallen ließ. Die Flasche zerbrach auf den Fliesen, und der Wein spritzte über den kleinen Teppich im Eingang.

»Das war’s, Eileen kriegt Konfekt«, sagte Mrs Cormaci. »Ich hab noch eine ungeöffnete Schachtel Cremepralinen. Habe ich zu Weihnachten bekommen. Hoffentlich nicht von Eileen.« Gregor blieb vor der Tür stehen, während sie die Scherben aufsammelte, dann reichte sie ihm den Teppich. »Komm, den bringen wir sofort in den Wäschekeller, sonst gehen die Flecken nicht mehr raus.«

In den Wäschekeller! Während sie Waschmittel und Fleckenentferner aus der Abstellkammer holte, versuchte Gregor sich eine Ausrede einfallen zu lassen, weshalb er nicht mitkommen könnte. Er konnte schließlich kaum sagen: »Ich kann aber nicht in den Wäschekeller gehen. Meine Mutter hat Angst, dass eine Riesenratte ankommt und mich meilenweit unter die Erde zerrt und auffrisst.« Bei genauerer Betrachtung gab es so gut wie keinen Grund, weshalb man nicht in den Wäschekeller gehen konnte. Also ging er mit.

Mrs Cormaci sprühte den Teppich mit Fleckenentferner ein und steckte ihn in eine Waschmaschine. Dann suchte sie in ihrem Portemonnaie nach Fünfundzwanzigcentstücken, und weil ihre Finger von der Kälte immer noch steif waren, glitt ihr eins aus der Hand und fiel auf den Zementboden. Es rollte durch den Raum und fiel klirrend gegen den letzten Trockner. Gregor lief hin, um die Münze für Mrs Cormaci aufzuheben. Als er sich bückte, sah er aus dem Augenwinkel etwas und stieß sich den Kopf am Trockner.

Gregor blinzelte, um sich zu überzeugen, dass es keine Einbildung war. Es war keine Einbildung. Zwischen dem Rahmen des Gitters und der Wand steckte eine Schriftrolle.

2. Kapitel

Hast du dir wehgetan?«, fragte Mrs Cormaci und füllte Waschmittel in die Maschine.

»Ist nicht so schlimm«, sagte Gregor und rieb sich den Kopf. Er hob das Fünfundzwanzigcentstück auf und widerstand dem Impuls, die Schriftrolle herauszuziehen. Er versuchte so zu tun, als ob nichts wäre, und gab Mrs Cormaci das Geldstück.

Mrs Cormaci warf es ein und schaltete die Waschmaschine an. »Na, wie wär’s jetzt mit Mittagessen?«, fragte sie.

Gregor blieb nichts anderes übrig, als ihr zum Aufzug zu folgen. Er konnte die Schriftrolle nicht vor ihren Augen an sich nehmen. Sie würde fragen, was es war, und da sie die Geschichten, die er erfand, um den Aufenthalt seiner Familie im Unterland zu vertuschen, sowieso schon nicht recht glauben wollte, würde ihm bestimmt nichts Überzeugendes einfallen. Verdammt, ihm war ja noch nicht mal eine Ausrede eingefallen, warum er nicht mit in den Wäschekeller konnte!

Als sie wieder oben waren, wärmte Mrs Cormaci eine selbst gemachte Hühnersuppe auf und verteilte sie großzügig. Gregor aß mechanisch und versuchte mitzubekommen, was Mrs Cormaci sagte, obwohl er nur mit halbem Ohr zuhörte. Nach der Suppe gab es Kuchen, und während sie aßen, schaute Mrs Cormaci auf die Uhr und sagte: »Jetzt müsste der Teppich eigentlich so weit sein, dass er in den Trockner kann.«

»Ich mach das!« Gregor sprang so schnell auf, dass sein Stuhl hintenüberkippte. So beiläufig wie möglich stellte er den Stuhl wieder hin. »Entschuldigung. Ich kann den Teppich in den Trockner stecken.«

Mrs Cormaci sah ihn befremdet an. »Na gut.«

»Ich meine, wir müssen ja nicht beide runtergehen«, sagte Gregor mit einem Achselzucken.

»Da hast du recht.« Sie gab ihm ein paar Fünfundzwanzigcentstücke und sah ihn prüfend an. »Wieso benutzt ihr den Wäschekeller eigentlich nicht mehr?«

»Was?« Jetzt hatte sie ihn kalt erwischt.

»Wieso geht ihr den weiten Weg bis zu dem Waschsalon beim Metzger?«, fragte sie. »Es kostet dasselbe, ich hab geguckt.«

»Weil … weil … die Waschmaschinen da … die sind größer«, sagte Gregor. Das stimmte sogar. Es war zwar nicht die ganze Wahrheit, aber auch nicht ganz gelogen.

Mrs Cormaci starrte ihn einen Augenblick an und schüttelte den Kopf. »Dann steck jetzt den Teppich in den Trockner«, sagte sie nur.

So langsam war der Aufzug noch nie gewesen. Leute stiegen ein, Leute stiegen aus, eine Frau hielt eine halbe Ewigkeit die Tür auf, weil ihr Kind noch mal in die Wohnung laufen und eine Mütze holen musste. Als Gregor endlich im Wäschekeller war, musste er auf einen Typ warten, der offenbar seit einem Monat nicht gewaschen hatte und nun sechs Maschinen füllte.

Gregor steckte den Teppich langsam und umständlich in den Trockner an der Wand, bis der Typ schließlich ging. Als die Luft rein war, beugte er sich hinunter und zog die Schriftrolle heraus. Er ließ sie im Ärmel seines Sweatshirts verschwinden und ging hinaus. Er lief am Aufzug vorbei, huschte ins Treppenhaus und machte die Tür fest hinter sich zu. Er ging ein Stockwerk hoch und setzte sich auf den Treppenabsatz. Hier würde ihn keiner stören, nicht solange der Aufzug funktionierte.

Er ließ die Schriftrolle aus dem Ärmel gleiten und öffnete sie mit zitternden Händen. Er las:

Lieber Gregor,

wir müssen uns so bald als möglich sehen. Schlag vier werde ich an der Treppe sein, an der Ares dich abzusetzen pflegt. Unser Schicksal liegt in deinen Händen. Die Prophezeiung des Bluts ist über uns gekommen.

Bitte lasse deine Freunde nicht im Stich.

Vikus

Gregor las den Brief drei Mal, bevor er begriff, was da stand. Er hatte etwas anderes erwartet. Vikus schrieb nichts über Luxa und die anderen verschwundenen Freunde. Er schrieb nichts über Ares. Stattdessen sandte er einen verzweifelten Hilferuf.

Die Prophezeiung des Bluts ist über uns gekommen.

Sie ist hier, dachte Gregor. Sein Herz begann heftig zu klopfen, als ihm die Gefahr bewusst wurde. Die Prophezeiung des Bluts.

Er brauchte gar keinen Spiegel mehr, um sie zu lesen, obwohl es ihm bei der Deutung manchmal half, die Worte zu sehen. Aber er kannte das Gedicht längst auswendig. Die Worte hatten einen Rhythmus, der sich einprägte, wie diese nervigen Liedchen in der Fernsehwerbung. Jetzt hatte er die Melodie im Kopf, sie passte sich dem Takt seiner Schritte an, als er langsam die Treppe hochging.

Von Blut zu Blut gelangt das Leiden

frisst euch an den Eingeweiden

malt euch Flecken purpurrot

bringt den Warmblütern den Tod.

Dreht euch um und um und um

ihr seht das Was, nicht Wann, Warum.

Wenn Heilung und Böses sich verweben

formt sich eine aus zwei Reben.

Der Krieger wird bald bei euch sein

ist sein Herz noch nicht aus Stein.

Holt die Prinzessin oder verzagt;

kein Krabbler, der es ohne sie wagt.

Dreht euch um und um und um

ihr seht das Was, nicht Wann, Warum.

Wenn Heilung und Böses sich verweben

formt sich eine aus zwei Reben.

Jeder aus warmem Fleisch und Blut

macht sich auf zu dem kostbaren Gut.

Wer die Wiege des Übels sucht

findet das Mittel gegen den Fluch.

Dreht euch um und um und um

ihr seht das Was, nicht Wann, Warum.

Wenn Heilung und Böses sich verweben

formt sich eine aus zwei Reben.

Mensch und Nager, lasst beiseit

euren Hass und euren Streit.

Werden die Flammen des Krieges entfacht

herrscht im Unterland ewige Nacht.

Dreht euch um und um und um

ihr seht das Was, nicht Wann, Warum.

Wenn Heilung und Böses sich verweben

formt sich eine aus zwei Reben.

Gregor hatte schon zwei Prophezeiungen des Mannes hinter sich, der auch diese geschrieben hatte. Bartholomäus von Sandwich. Sandwich hatte die Unterländer damals tief unter die Erde geführt und die Menschenstadt Regalia gegründet. Nach seinem Tod hatte er einen Raum aus Stein hinterlassen, dessen Wände über und über mit Prophezeiungen beschrieben waren, Sandwichs Zukunftsvisionen. Nicht nur die Menschen, alle Lebewesen im Unterland glaubten, dass Sandwich Ereignisse voraussehen konnte.

Sandwichs Prophezeiungen lösten bei Gregor ganz unterschiedliche Gefühle aus. Manchmal hasste er sie. Manchmal war er dankbar dafür, weil sie den Weg wiesen, wenn auch so rätselhaft, dass es alles Mögliche bedeuten konnte. Doch zwischen den Zeilen bekam man meistens eine Vorstellung davon, was einen erwartete. Wie hier zum Beispiel:

Von Blut zu Blut gelangt das Leiden

frisst euch an den Eingeweiden

malt euch Flecken purpurrot

bringt den Warmblütern den Tod.

Gregor war zu dem Schluss gelangt, dass es um irgendeine tödliche Krankheit ging, mit der sich viele anstecken würden. Nicht nur Menschen, sondern alle Warmblüter. Alle Säugetiere. Im Unterland waren das auch die Ratten und die Fledermäuse … Gregor hatte keine Ahnung, welche anderen Lebewesen noch betroffen sein könnten.

Der Krieger wird bald bei euch sein

ist sein Herz noch nicht aus Stein.

Holt die Prinzessin oder verzagt;

kein Krabbler, der es ohne sie wagt.

Der Krieger war Gregor, da machte er sich gar nichts vor. Er wollte nicht der Krieger sein. Er fand es schrecklich, zu kämpfen, und er fand es auch schrecklich, dass er so gut darin war. Aber nachdem er zwei Prophezeiungen als Krieger erfolgreich erfüllt hatte, glaubte er nicht mehr, dass die Unterländer den Falschen erwischt hatten.

Dann war da die Prinzessin … Er hoffte immer noch, dass damit nicht Boots gemeint war. Die Krabbler, wie die Kakerlaken im Unterland hießen, nannten sie die Prinzessin, aber eigentlich war sie ja gar keine. Vielleicht hatten die Krabbler eine eigene Prinzessin, die sie holen konnten.

Die folgenden Strophen deuteten darauf hin, dass die Menschen und die Nager – die Ratten – sich zusammentun mussten, um ein Heilmittel für die Krankheit zu finden. Na, die würden begeistert sein! Sie hatten ja nur ein paar Jahrhunderte lang versucht, sich gegenseitig umzubringen. Und am Ende kam die übliche Voraussage, dass, wenn es nicht klappte, alles zerstört würde und alle sterben müssten.

Gregor fragte sich, ob Sandwich wohl jemals eine optimistische Prophezeiung geschrieben hatte. Eine über Frieden und Freude und Ende gut, alles gut. Wahrscheinlich nicht.

Was ihn an der Prophezeiung des Bluts völlig verrückt machte, war die Strophe, die viermal vorkam. Als wollte Sandwich sie ihm ins Hirn trommeln.

Dreht euch um und um und um

ihr seht das Was, nicht Wann, Warum.

Wenn Heilung und Böses sich verweben

formt sich eine aus zwei Reben.

Was sollte das bedeuten? Das war völliger Unsinn! Gregor musste mit Vikus reden. Er war nicht nur Luxas Großvater und einer der einflussreichsten Leute in Regalia, sondern auch einer der besten Deuter von Sandwichs Prophezeiungen. Wenn irgendwer diese Strophe erklären konnte, dann er.

Jetzt erst merkte Gregor, dass er auf dem Treppenabsatz seiner Etage stand und sich krampfhaft am Treppengeländer festklammerte. Er wusste nicht, wie lange er schon so dastand. Aber jetzt musste er seine Arbeit bei Mrs Cormaci erledigen und wieder nach Hause gehen.

Falls er zu lange weg gewesen war, so hatte sie es offenbar nicht bemerkt. Sie gab ihm die üblichen vierzig Dollar und dazu eine große Schüssel Eintopf fürs Abendessen. Als er ging, wickelte sie ihm noch einen Schal um den Hals, denn: »Ich hab so viele Schals, dass man damit ein Pferd ersticken könnte.« Mrs Cormaci ließ ihn nie mit leeren Händen gehen.

Als er wieder zu Hause war, nutzte Gregor die nächste Gelegenheit, um mit seinem Vater allein in der Küche zu reden, und zeigte ihm den Brief von Vikus. Als sein Vater ihn las, wurde seine Miene ernst.

»Die Prophezeiung des Bluts. Weißt du, was das ist, Gregor?«, fragte er.

Wortlos reichte Gregor ihm die Schriftrolle mit der Prophezeiung. Sie war vom vielen Lesen zerknittert und verschmutzt.

»Wie lange hast du die schon?«, fragte sein Vater.

»Seit Weihnachten«, sagte Gregor. »Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst.«

»Ich mache mir Sorgen, wenn ich den Eindruck habe, dass du etwas vor mir verbirgst«, sagte sein Vater. »Versprichst du mir, dass du das nicht noch mal machst?«

Gregor nickte. Sein Vater öffnete die Rolle, um sie zu lesen, und guckte verdattert.

»Sie ist in Spiegelschrift geschrieben«, sagte Gregor. »Aber ich kann sie auswendig.« Er sagte die Prophezeiung auf.

»Von Blut zu Blut gelangt das Leiden. Das hört sich nicht gut an«, sagte sein Vater.

»Nein, das hört sich so an, als ob viele Leute krank werden«, sagte Gregor.

»Vikus meint also, du müsstest noch mal da runter. Du weißt, dass das mit deiner Mutter nicht zu machen ist«, sagte sein Vater.

Ja, das wusste Gregor. Er konnte sich gut vorstellen, wie entsetzt seine Mutter sein würde, wenn sie von der Prophezeiung erfuhr. Als sein Vater damals verschwunden war, hatte sie endlose Nächte allein am Küchentisch gesessen. Zuerst hatte sie noch geweint, dann war sie verstummt … hatte mit den Fingern das Muster der Tischdecke nachgezeichnet. Am Ende war sie völlig erstarrt. Und als Gregor und Boots verschwanden, war es wahrscheinlich noch schlimmer gewesen. Konnte er ihr das wirklich noch einmal antun? Nein, dachte er. Dann sah er plötzlich seine Freunde aus dem Unterland vor sich. Wenn er nicht ging, würden sie womöglich sterben, alle miteinander.

»Ich muss wenigstens hören, was Vikus zu sagen hat«, sagte Gregor mit vor Aufregung erstickter Stimme. »Ich muss wissen, was da los ist! Ich kann den Brief doch nicht einfach zerreißen und so tun, als hätte ich ihn nie gekriegt!«

»Na gut, einverstanden, wir gehen runter und hören uns an, was Vikus zu sagen hat. Ich will nur nicht, dass du ihm etwas versprichst, was du hinterher nicht halten kannst«, sagte sein Vater.

Sie baten Mrs Cormaci, für eine Weile rüberzukommen, angeblich, weil sie ins Kino gehen wollten. Sie freute sich darüber, Gregors Schwestern und seine Großmutter besuchen zu können. Mit einem Quartettspiel und einer Schale Popcorn bewaffnet, schickte sie Gregor und seinen Vater weg. »Geht ihr ruhig. Nur Vater und Sohn, das muss auch mal sein.«

Da hatte sie vielleicht recht. Aber nicht so.

Bevor sie gingen, holte Gregor eine gute, starke Taschenlampe. Er sah, dass sein Vater ein Brecheisen unter die Jacke steckte. Erst dachte Gregor, er wollte es zur Verteidigung benutzen, aber sein Vater flüsterte: »Für den Stein.« Die Stelle, an der Ares Gregor immer absetzte, lag am Fuß einer Treppe unter dem Central Park. Sie war mit einer Steinplatte bedeckt. Bei diesem Wetter war die Platte garantiert festgefroren.

Wenn sie um vier Uhr bei Vikus sein wollten, mussten sie ein Taxi zum Park nehmen. Gregor glaubte sowieso, dass der Weg zur U-Bahn für seinen Vater zu anstrengend wäre. Und tatsächlich war dieser dann auch schon nach dem kurzen Weg bis zu der Steinplatte zwischen den Bäumen erschöpft.

Bei dem eisigen Wetter war der Central Park fast menschenleer. Ein paar Leute eilten mit eingezogenen Köpfen vorbei, die Hände tief in die Taschen vergraben. Niemand achtete auf Gregor, als er die Steinplatte hochstemmte und zur Seite schob, um den Eingang freizulegen.

»Wir sind ein paar Minuten zu früh dran«, sagte Gregor und starrte hinunter in die Dunkelheit.

»Vielleicht kommt Vikus ja auch etwas früher. Los, wir gehen runter. Dann sind wir wenigstens vor dem Wind geschützt«, sagte sein Vater.

Sie ließen sich hinab in die Öffnung. Gregor vergewisserte sich, dass er das Brecheisen mitgenommen hatte – bestimmt fror der Stein sofort wieder an, und er wollte nicht unter der Erde festsitzen. Er schob die Steinplatte zurück und sperrte das Tageslicht aus. Es war stockdunkel. Er schaltete die Taschenlampe ein und richtete den Strahl auf die lange Treppe.

»Ares setzt mich immer unten ab«, sagte Gregor und machte sich an den Abstieg. Langsam und vorsichtig folgte ihm sein Vater.

Die Treppe führte in einen großen, von Menschen erbauten Tunnel, der verlassen wirkte. Die Luft war schwer, kalt und feucht. Keine Geräusche drangen aus dem Park nach unten, aber an den Wänden war das leise Trippeln winziger Mäusefüße zu hören.

Als Gregor die letzten Stufen erreichte, schaute er über die Schulter zurück zu seinem Vater, der erst auf halber Strecke war. »Lass dir ruhig Zeit. Er ist noch nicht da.«

Die Worte waren kaum heraus, als ihn ein harter Schlag am Handgelenk traf. Die Taschenlampe fiel ihm aus der Hand. Er wandte den Kopf und sah eine große, pelzige Gestalt, die ihn aus dem Schatten ansprang.

Es war eine Ratte, und sie hatte ihn erwartet.