Cover

Paul Maar, 1937 in Schweinfurt geboren, studierte Malerei und Kunstgeschichte und war zunächst als Kunsterzieher tätig. Seit Jahren gehört er zu den erfolgreichsten und vielseitigsten deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren. Er schreibt Romane und Gedichte, Drehbücher und Theaterstücke, ist Illustrator und Übersetzer. Zu seinen beliebtesten Figuren gehören das rotznäsige SAMS und der wandelbare Herr Bello, die beide mit großem Erfolg den Sprung auf die Kinoleinwand geschafft haben. Paul Maar erhielt zahlreiche bedeutende Auszeichnungen, u.a. den Deutschen Jugendliteraturpreis für sein Gesamtwerk, den Friedrich-Rückert-Preis und den E.T.A.-Hoffmann-Preis. Für seine Verdienste um Kunst und Bildung wurde er vom Bayerischen Staatsministerium geehrt.

© Verlag Friedrich Oetinger GmbH, Hamburg 1996

Alle Rechte vorbehalten

Cover und Illustrationen vom Autor

E-Book-Umsetzung: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld, 2011

ISBN 978-3-86274-577-7

www.wunschpunkte.de

www.oetinger.de

Alles vom Sams

Eine Woche voller Samstage

Am Samstag kam das Sams zurück

Neue Punkte für das Sams

Ein Sams für Martin Taschenbier

Sams in Gefahr

Onkel Alwin und das Sams




Bei Oetinger sind alle Sams-Bücher auch als Hörbuch auf CD und die Kinofilme »Das Sams« und »Sams in Gefahr« als DVD erschienen.

Titelei

1. Kapitel

Eine Entdeckung auf dem Dachboden

Bei Raufereien war Martin Taschenbier bestimmt nicht der Stärkste in der Klasse, er gehörte eher zu den etwas Schwächeren. Genau genommen war er der Zweitschwächste. Nach ihm kam nur noch Basilius Mönkeberg, der schon in die Knie ging, wenn man ihn scharf anguckte.

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Martin gehörte auch nicht gerade zu den Größten der Klasse. Bei Herrn Knortz, ihrem Sportlehrer, mussten sich die Schüler zu Beginn der Turnstunde immer in einer Reihe aufstellen, nach Größe geordnet. Da stand Martin meist an viertletzter Stelle. Wenn Roland Steffenhagen fehlte, stand er sogar an drittletzter. Roland Steffenhagen war der Zweitkleinste, und er fehlte oft. Er hatte nämlich eine Mutter, die leidenschaftlich gern Entschuldigungen schrieb.

Wenn Roland keine Lust hatte, beim Sportunterricht mitzumachen (und er hatte selten Lust!), brauchte er morgens beim Frühstück nur zweimal zu husten und mit leicht heiserer Stimme zu flüstern: »Mama, ich glaube, ich bin ein bisschen erkältet.«

»Schon wieder? Ach, du Armer. Da darfst du heute aber auf keinen Fall mitturnen. Das strengt dich zu sehr an. Ich schreib dir gleich eine Entschuldigung«, sagte dann seine Mutter, setzte sich an den Computer und schrieb eine.

Sie hatte eine Extradatei namens »ENTSCHLD« angelegt, die sie nur auszudrucken und zu unterschreiben brauchte. Darin stand:

»Mein Sohn Roland Steffenhagen kann heute wegen leider den Sportunterricht nicht besuchen. Ich bitte sein Fernbleiben zu entschuldigen. Mit freundlichen Grüßen«

Nach dem Wort »wegen« fügte sie bei jeder neuen Entschuldigung eine andere Begründung ein, zum Beispiel »Halsweh«, »Halsschmerzen«, »Halsentzündung«, »Rachenrötung« oder »Schluckbeschwerden«.

Die anderen aus der Klasse beneideten Roland um seine Mutter. Er war auch ziemlich stolz auf sie. Gar nicht so sehr, weil sie ihn immer bei Herrn Knortz entschuldigte, sondern weil sie sich bei den angegebenen Krankheiten noch nie wiederholt hatte. Und das nach immerhin achtzehn Entschuldigungen im letzten Schuljahr. Jetzt, kurz nach den großen Ferien, hatte sie es schon wieder auf vier neue gebracht: »Hustenreiz«, »Bronchitis«, »Reizhusten« und »chronische Heiserkeit«.

Für Martin Taschenbier bedeutete das, dass er im neuen Schuljahr schon viermal an drittletzter Stelle der Reihe gestanden hatte, obwohl er doch eigentlich nur der Viertkleinste war.

Betrachtete man seine schulischen Leistungen, lag Martin im Mittelfeld der Klasse. In Deutsch sogar noch etwas weiter vorn; einmal hatte er tatsächlich eine Eins im Aufsatz geschrieben. Doch das blieb eine Ausnahme.

Es gab aber etwas, worin Martin unangefochten den ersten Platz in der Klasse einnahm: Er war mit Abstand der Schüchternste.

Er beklagte sich sogar zu Hause bei seinem Vater darüber.

»Was soll ich nur machen, Papa?«, sagte er. »Ich trau mich immer nicht …«

»Was meinst du damit?«, fragte sein Vater. »Was genau traust du dich nicht?«

»Alles. Oder besser gesagt: nichts. Einfach gar nichts«, sagte Martin.

»Aber das stimmt doch nicht«, sagte sein Vater. »Neulich im Freibad bist du vom Einmeterbrett gesprungen. Kopfsprung! Das hätte ich mit zehn Jahren nie geschafft. Da wäre ich viel zu ängstlich gewesen.«

»Jens Uhlmann springt sogar vom Dreimeterbrett. Und der ist auch erst zehn!«

»Vom Dreimeterbrett?« Martins Vater wiegte bewundernd den Kopf. »Alle Achtung. Das habe ich nur ein einziges Mal geschafft. Und da war ich schon erwachsen. Außerdem hat man mich mehr oder weniger dazu gezwungen.«

»Wer hat dich denn gezwungen?«, fragte Martin.

Sein Vater wurde ein bisschen verlegen. »Ein Wunsch, sozusagen«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll …«

»Ein Wunsch?«, fragte Martin. »Das nützt bei mir rein gar nichts. Wie oft habe ich mir schon gewünscht, dass ich so mutig bin wie Jens. Ich hab mich trotzdem nicht getraut.«

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»Du bist eben nicht Jens Uhlmann, sondern Martin Taschenbier«, sagte sein Vater. »Jeder Mensch ist anders. Damit musst du dich abfinden.«

Da sich Martin aber mit diesen Lebensweisheiten seines Vaters nicht abfinden wollte, ging er zu seiner Mutter und sprach mit ihr über sein Problem.

»Ich will ja gar nicht so sein wie Jens Uhlmann«, sagte er. »Nur so wie die anderen aus meiner Klasse. Nimm zum Beispiel Roland Steffenhagen. Der ist der Zweitkleinste und traut sich viel mehr als ich. Der spricht sogar Mädchen aus der Parallelklasse an. Einfach so.«

»Würdest du denn auch gerne die Mädchen aus der Parallelklasse ansprechen?«, fragte seine Mutter.

»Alle nicht. Aber eine schon«, sagte Martin.

»Und wer ist diese eine? Kenn ich die?«, fragte seine Mutter.

»Wie sollst du sie denn kennen, wenn ich selber nicht mal weiß, wie sie heißt«, sagte Martin. »Ich weiß nur, dass sie braune Haare hat, die sie immer hinten mit einem roten Band zusammenbindet, dass sie in der Schubertstraße zwölf wohnt und dass sie einen Hund hat.«

Seine Mutter guckte ihn verblüfft an. »Woher weißt du, wo sie wohnt, wenn du noch nie mit ihr geredet hast?«

»Weil ich nach der Schule mal hinter ihr hergegangen bin«, sagte Martin. »Aber das ist doch jetzt überhaupt nicht wichtig.«

Seine Mutter ließ sich nicht beirren. »Und woher weißt du, dass sie einen Hund hat?«, fragte sie. »Hast du sie mal mit einem gesehen?«

»Nein. Am Gartentor war ein Schild. ›Warnung vor dem Hunde‹ oder so ähnlich. So eines, bei dem man sich erst gar nicht durchs Tor traut. Bei dem ich mich jedenfalls nie trauen würde. Jens Uhlmann würde wahrscheinlich einfach reingehen und den Hund anknurren.« Damit war Martin wieder bei seinem Hauptthema angelangt.

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»Was kann ich nur dagegen tun?«, fragte er.

»Meinst du, gegen den Hund oder dagegen, dass du ein bisschen vorsichtiger bist als andere?«, fragte seine Mutter.

»Du weißt genau, was ich meine«, sagte Martin. »Ich möchte mutiger sein und nicht so ängstlich und so schüchtern.«

»So was geht leider nicht von heute auf morgen. Das kommt ganz allmählich, du wirst es sehen«, sagte sie und strich Martin übers Haar. »Ich fände es sogar schade, wenn du plötzlich so ein forscher Angebertyp wärst. Die mag ich nämlich überhaupt nicht. Mir sind die Sanften, Schüchternen wie dein Vater viel lieber.«

»Mir aber nicht!«, sagte Martin.

Er ging in sein Zimmer, ließ sich aufs Bett fallen, starrte zur Decke und wollte gerade damit beginnen, in grässlich düstere Gedanken zu versinken, da kam sein Vater herein, setzte sich auf Martins Schreibtisch, grinste und sagte: »Schreckliche Nachrichten für unseren überaus ängstlichen Martin! Bald wird es in unserer Wohnung vor gefährlichen Raubieren nur so wimmeln: Hasen, Papageien und Hamster, vielleicht sogar wilde weiße Mäuse!«

»Kommen die Mons zu Besuch?«, rief Martin und sprang aus dem Bett.

»Du hast es erraten«, sagte Martins Vater. »Onkel Anton hat vorhin angerufen. Er will uns morgen Nachmittag mit einigen von seinen Tieren besuchen. Und mit seiner Familie natürlich.«

Herr Mon, den Martin »Onkel Anton« nannte, war eigentlich kein richtiger Onkel, er war ein alter Freund von Martins Vater.

Seine Frau, Tante Annemarie, war früher die Vermieterin von Martins Vater gewesen. (Damals hatte sie noch auf den Namen »Rotkohl« gehört.) Die Mons hatten eine Tochter, die Helga hieß und zwei Jahre jünger war als Martin.

»Die Mons kommen?«, fragte Martin. »Kommt Helga auch mit?«

»Natürlich. Oder hast du geglaubt, sie muss zu Hause bleiben und Tiere hüten?«, sagte sein Vater. »Wie ich Anton kenne, bringt er sowieso die meisten mit.«

Martins Mutter schaute ins Zimmer. »Was höre ich da? Die Mons kommen?«, fragte sie. »Bringt Anton wieder so viele von seinen Tieren mit?«

»Ja. Ich habe es Martin gerade erzählt«, sagte Martins Vater. »Hoffentlich lässt er wenigstens die beiden Schneehasen im Stall. Als er das letzte Mal hier war, haben sie meinen Lieblingssessel angeknabbert und die ganze Holzwolle rausgezogen.«

Martins Mutter setzte sich neben Martin aufs Bett.

»Annemarie wird ihn schon daran hindern, die kann die Hasen auch nicht ausstehen«, sagte sie. »Ich hingegen könnte gut auf diesen uralten Papagei verzichten. Wie heißt er noch?«

»Herr Kules«, antwortete Martin. »Den kann er ruhig mit-

bringen und die Hasen auch. Hauptsache, sie lassen Helga daheim.«

»Na, hör mal, Martin!«, sagte sein Vater. »Wie redest du von Helga. Du hast sie doch immer recht nett gefunden.«

»Ist sie ja auch«, sagte Martin. »Aber sie ist noch so jung. Außerdem isst sie dauernd Marzipanschweinchen. Wo ich doch kein Marzipan mag! Und immer will sie nur Verstecken spielen, nichts als Verstecken.«

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»Dann schlag ihr einfach mal ein anderes Spiel vor«, sagte sein Vater.

»Welches denn?«, fragte Martin.

»Schwarzer Peter zum Beispiel.«

»So ein Kleinkinderspiel? Da spiel ich ja noch lieber Verstecken«, sagte Martin.

Und als die Mons am Sonntag mit drei Hasen, einem Goldhamster, einem Goldfisch, zwei Meerschweinchen und einem zahmen Eichhörnchen zu Besuch kamen, spielte Martin tatsächlich den halben Nachmittag mit Helga in der Wohnung und auf dem Dachboden Verstecken.

Dabei machte er einen seltsamen Fund. Und da sein Vater offensichtlich keine Lust hatte, sich mit ihm darüber zu unterhalten, beschloss Martin, Roland Steffenhagen um Rat zu fragen.

Und sosehr er sich aufs freie Wochenende gefreut hatte: Nun konnte Martin den Wochenanfang kaum erwarten. Bis endlich der Montag kam und er mit Roland alles besprechen konnte.

Roland Steffenhagen und Martin Taschenbier standen nicht nur in der Turnstunde am Ende der Reihe nebeneinander, sie saßen auch in der Klasse an einem Tisch und waren inzwischen gute Freunde geworden.

Anfangs hatten sie nicht viel mehr Gemeinsames gehabt als ihre Bewunderung für Jens Uhlmann und ihre Abneigung gegen Leander Plattner.

Leander Plattner (Spitzname in der Klasse: »Plattfuß«) saß hinter ihnen und ließ keine Gelegenheit aus, die beiden Kleinen vor ihm zu knuffen, zu boxen und an den Haaren zu ziehen, das Mathebuch von Roland im Papierkorb zu verstecken oder Martins Stuhl wegzuziehen, wenn der sich setzen wollte.

Leander Plattner war der Größte in der Klasse und stand deshalb in der Turnstunde am Anfang der Reihe. Er war ein plumper Junge mit dickem Kopf, ging immer leicht vornübergebeugt und ließ dabei die langen Arme unbewegt hängen, als würden sie vom Gewicht der dicken Hände nach unten gezogen.

Leander litt unter seinem Aussehen, und wenn ihn die anderen »He, Plattfuß!« riefen, quälte er sich mühsam ein Lächeln ab, versuchte ganz lässig zu winken und tat so, als sei er Bud Spencer, ein schwergewichtiger italienischer Schauspieler, der in seinen Filmrollen auch manchmal »Plattfuß« hieß. Leander boxte dann zum Beispiel ein paarmal in die Luft und schrie: »He, Amigos! Hier kommt Plattfuß! Nehmt euch vor meinem linken Haken in Acht!«

Oder er ballte die Hand zur Faust, winkelte den Arm an und sagte: »Amigos, ihr wollt wohl die Muskeln von Plattfuß sehn? Kommt näher! Für einen Dollar dürft ihr sie mal anfassen.«

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Aber man merkte, dass er sich nicht wohl dabei fühlte. Und wenn die Jungen auch noch ihre Witze machten: »Muskeln?

Das ist doch nur Fett. Wo sollen denn da Muskeln sein? Da braucht man ja ein Vergrößerungsglas«, und die Mädchen in der Klasse darüber lachten, konnte es geschehen, dass Leander sich umdrehte und schnell aus dem Klassenzimmer rannte, damit die anderen nicht sahen, dass ihm die Tränen in die Augen stiegen.

Wenn er dann wiederkam, ließ er seine ganze Wut an den Schwächeren in der Klasse aus; ganz egal, ob die »Plattfuß« gerufen und mitgelacht hatten oder nicht.

Nun kann man zwar recht gut verstehen, woher es kommt, wenn einer manchmal so fies und gemein zu Kleineren ist. Deswegen leiden die aber trotzdem darunter und haben eine Sauwut auf ihn.

Martin und Roland konnten Leander Plattner jedenfalls nicht ausstehen.

Leander war auch schuld daran, das Martin nicht dazu kam, Roland gleich nach der Schule von seinem Fund auf dem Dachboden zu berichten.

Auf dem Heimweg ging er ständig hinter Roland und Martin her, schubste sie, trat Martin auf die Fersen oder versuchte, Roland ein Bein zu stellen. Die beiden konnten noch so oft »Lass das endlich!« oder »Hör auf damit!« rufen, er tat es immer wieder.

Schließlich war ihre Wut auf Leander größer als ihr Respekt vor ihm, und sie stürzten sich zu zweit auf den Großen. Aber der stieß sie einfach beiseite, rannte über die Straße und rief von dort:

»Kommt doch rüber, ihr Zwerge, wenn ihr euch traut. Kommt doch!«

»Pass auf, wenn wir rüberkommen, dann kannst du was erleben!«, schrie Roland.

Leander lachte, boxte ein paarmal in die Luft und rief zurück: »Dann kommt doch, kommt doch her, ich warte schon sehnsüchtig auf euch!«

Roland rief: »Komm du doch! Wirst schon sehen, was dir dann passiert!«

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Leander blieb stehen. Er legte die Hände wie ein Sprachrohr vor den Mund, drehte sich nach links und rechts und schrie dabei: »Kann mir jemand mal dreißig Pfennige fürs Telefonieren leihen? Ich will schon mal den Krankenwagen für die zwei Kleinen da drüben bestellen. Tatü-tata, tatü-tataaa!«

Das konnten Martin und Roland nicht auf sich sitzen lassen. Sie blieben auch stehen und sangen über die Straße:

»Wer will platte Füße sehn,

der muss zu Leander gehn.

Platsch, platsch, platsch,

platsch, platsch, platsch,

der Plattfuß plattert durch den Matsch.«

Damit brachten sie Leander fürchterlich in Wut, und er kam mit einem so zornigen Gesicht über die Straße gestürzt, dass sie es vorzogen, ihrerseits schnell wegzurennen. Im Laufen rief Martin Roland noch zu: »Ich komme heut Nachmittag zu dir, ja?«, und Roland schrie zurück: »Wie immer um drei, ja?« Dann machten sie, dass sie wegkamen, bevor Leander einen von ihnen erwischen konnte.

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Pünktlich um drei klingelte Martin bei Steffenhagens an der Haustür. Roland öffnete. Seine Mutter war wie immer nicht zu Hause, sie arbeitete bis fünf im Wasserwirtschaftsamt.

»Komm rein«, sagte Roland. »Ich habe Commander Keen auf eine fliegende Plattform gestellt, als du geklingelt hast. So kann ihn kein Roboter angreifen, während ich dir die Tür aufmache.« Roland war also gerade mitten in einem Computerspiel.

Normalerweise setzte sich Martin neben Roland vor den Computer und spielte mit. Er drückte zwar keine Tasten, das war Rolands Aufgabe, aber er gab gute Ratschläge und fand für die schwierigsten Probleme eine Lösung. Beide liebten nämlich Computerspiele, bei denen man nicht nur hüpfen, rennen und schießen musste, sondern wo es darauf ankam, zu kombinieren, Zusammenhänge herauszufinden und die richtige Geschichte zu erraten.

So hatte Martin zum Beispiel vorgeschlagen, dass sich Keen von der Eiskanone über die Mauer schießen lassen solle. Eine glänzende Idee, wie sich herausstellte. Denn Keen landete im verborgenen Level und sammelte dort mehr als tausend Punkte ein.

Aber heute hatte Martin keine Lust zu spielen, er wollte lieber reden. Er setzte sich neben Roland und guckte still zu, wie der seine Spielfigur auf gefährlichen Wegen durch den Kristallpalast lotste, vorbei an gefährlichen Hüpfpilzen und rasenden Robotern. Dabei durfte man nicht stören.

Als Roland das Männchen heil zum Ausgang gebracht hatte und den Spielstand speicherte, sagte Martin: »Ich muss dir was erzählen …«

»Dann tu’s doch«, antwortete Roland, den Blick zum Bildschirm gerichtet.

»Gestern hab ich auf unserm Dachboden einen Taucheranzug gefunden, ganz hinten in einem Schrank«, fing Martin an.

»Taucheranzug? Wie bei Commander Keen. Da kriegt man den Taucheranzug auch erst ganz oben, hinten, am Ende von diesem durchsichtigen Palast, erinnerst du dich?«

»Ja, ja«, sagte Martin. »Jetzt lass mich doch mal erzählen. Findest du es nicht auch merkwürdig, dass da oben ein Taucheranzug ist?«

»Wieso?«, fragte Roland. »Wenn Keen den Taucheranzug nicht hat, kann er nicht auf die Insel schwimmen. Und auf der einen Insel …«

Martin unterbrach ihn. »Jetzt lass doch mal den Keen! Ich spreche vom Taucheranzug oben auf unserem Dachboden.«

»Was soll daran merkwürdig sein?«, fragte Roland. »Der gehört bestimmt deinem Vater. Wenn mein Vater noch da wäre, hätte er vielleicht auch einen Taucheranzug.«

»Er kann aber meinem Vater nicht gehören, er ist nämlich viel zu klein. Er sieht aus wie ein Taucheranzug für Kinder. Er würde mir gerade passen.«

»Vielleicht hat er deinem Vater schon gehört, als der noch ein Kind war«, schlug Roland vor.

»Nein, hat er nicht«, sagte Martin. »Erstens ist Papa als Kind bestimmt nicht getaucht, dazu ist er viel zu unsportlich. Außerdem hab ich ihn danach gefragt.«

»Gefragt? Dann weißt du doch alles. Wo liegt das Problem?«, wollte Roland wissen.

»Nichts weiß ich. Das ist es doch gerade. Deswegen will ich ja mit dir darüber reden«, sagte Martin. »Mein Vater war nämlich ganz merkwürdig, als ich ihm von dem Taucheranzug erzählt habe. Er wollte mir einfach nicht sagen, wem er gehört.«

»Vielleicht weiß er es ja auch nicht«, sagte Roland.

»Doch, er weiß es. Ich habe nämlich zufällig ein Gespräch zwischen meinem Vater und Onkel Anton belauscht. Onkel Anton hat gefragt: ›Warum willst du denn Martin nicht erzählen, wem der Taucheranzug gehört hat?‹, und Papa hat geantwortet: ›Später, wenn Martin ein bisschen älter ist. Ich weiß nicht, wie er es jetzt auffassen würde.‹ Das ist doch merkwürdig, oder?«

»Allerdings. Sehr merkwürdig«, sagte Roland, drückte auf PAUSE und drehte seinen Stuhl zu Martin hin. »Das ist ja so spannend wie ein Computerspiel! Lass uns kombinieren, was kann das bedeuten? Es muss einmal bei euch ein Kind gegeben haben, dem der Anzug gepasst hat. Von diesem Kind will man nicht reden. Warum? Ich glaube, ich hab’s: Deine Eltern haben vor dir schon mal ein Kind gehabt.«

»Und wo ist es jetzt?«, fragte Martin.

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»Es gibt drei Möglichkeiten, und alle sind gleich traurig. Kein Wunder, dass deine Eltern nicht darüber reden wollen. Entweder es ist von zu Hause ausgerissen, oder es wurde entführt, oder es ist gestorben. Das Ganze hat stattgefunden, bevor du geboren wurdest. Sonst wüsstest du ja davon. Gut kombiniert, stimmt’s?«

»Hm«, machte Martin. »Dieses Kind wäre ja dann mein Bruder oder meine Schwester. Und warum haben sie mir das nie gesagt?«

Roland kombinierte weiter. »Wenn es noch am Leben wäre und wiederkommen könnte, hätten sie dir’s bestimmt gesagt. Damit du nicht zu sehr überrascht bist, wenn dein Bruder eines Tages vor der Tür steht. Ich fürchte, das Kind ist gestorben. Sie wollen es dir nicht erzählen, weil es so traurig für dich wäre.«

»Traurig?«, sagte Martin. »Ich hab das Kind doch gar nicht gekannt.«

»Dann wollen sie nicht darüber reden, weil es für sie selbst zu traurig ist«, sagte Roland. »Genau das ist es. Meine Mutter will auch nie über meinen Vater reden. Das ist die Lösung.«

»Meinst du?«, fragte Martin.

»Ganz bestimmt«, versicherte Roland. »Außerdem gibt es eine todsichere Möglichkeit, wie wir es herausfinden können.« Er war jetzt ganz in seinem Element. Das Ganze war wirklich wie ein neues, spannendes Computerspiel. »Wir gehen auf den Friedhof und gucken uns die Grabsteine an. Dein Bruder muss ja wie du geheißen haben. Wenn wir einen finden, auf dem ›Taschenbier‹ steht, haben wir die Lösung.«

»Ich weiß nicht …« Martin zögerte. »Erstens geh ich nicht gern auf den Friedhof …«

»Wieso?«, fragte Roland. »Bei ›COSMO, Teil 1‹ bist du doch besonders gern in den Level mit dem Friedhof gegangen. Und da war auch noch Nacht, und es hat geblitzt und gestürmt!«

»… und zweitens ist der Friedhof ziemlich groß. Das dauert doch ewig, bis wir da alle Inschriften gelesen haben«, sagte Martin.

»Das schaffen wir schon. Du nimmst den linken Level, ich meine, den linken Teil vom Friedhof, ich den rechten. Gehen wir gleich los?«

»Wenn du meinst«, sagte Martin und stand unschlüssig auf. Roland stellte den Computer ab. »Ich geh nur mal schnell in die Küche und hol uns was zu trinken«, sagte er. »Dann ziehn wir los.«

Als er zurückkam, hatte Martin den Computer wieder angestellt. Auf dem Bildschirm marschierten Lemminge in einer langen Reihe hinter ihrem Anführer her.

»Was ist?«, fragte Roland. »Soll ich alleine gehn, oder was?«

»Wir müssen gar nicht weg. Ich hab nämlich in der Zwischenzeit auch kombiniert«, sagte Martin und ließ die Lemminge durch ein Loch im Boden in den nächsten Level wuseln. »Ich kann gar keinen Bruder gehabt haben.«

»Warum nicht?«, fragte Roland und setzte sich auf den Stuhl, auf dem vorher Martin gesessen hatte.

Martin drückte die PAUSE-Taste. »Rechne mal mit: Ich bin jetzt zehn, und der Taucheranzug ist gerade so groß, dass er mir passen würde. Also müsste mein Bruder damals auch zehn gewesen sein, als er ihn getragen hat. Er wäre also jetzt mindestens zwanzig Jahre alt. Und das kann einfach nicht sein.«

»Warum nicht?«, fragte Roland. »So was gibt’s. meine Mutter hatte auch mal einen zwanzigjährigen Bruder. Das ist allerdings schon zehn Jahre her. Jetzt ist er dreißig.«

»Verstehst du’s nicht: Wie kann denn meine Mutter einen zwanzigjährigen Sohn haben, wo sie doch gerade ein paar Jahre älter als dreißig ist!«, sagte Martin. »Außerdem hat mein Vater meine Mutter erst vor zwölf Jahren kennengelernt. In einem Fahrstuhl. Hat er mir selbst erzählt. Die Geschichte mit dem Bruder können wir streichen.«

»Stimmt«, sagte Roland. »Im Rechnen bist du besser als ich. Aber wem gehört dann der Taucheranzug?«

»Ich hab nicht die kleinste Idee«, sagte Martin. »Vielleicht erfahren wir es nie.«

»Nein, das stimmt nicht«, sagte Roland, der damit bewies, dass er gut zuhören konnte, auch wenn er dabei auf den Bildschirm guckte. »Dein Vater hat doch zu deinem Onkel gesagt: ›Später, wenn Martin ein bisschen älter ist.‹ Du musst also nur ein paar Jährchen warten, dann erzählt er’s dir.«

Aber so lange musste Martin gar nicht warten. Es dauerte ungefähr drei Monate, genauer gesagt: bis zur Woche nach den Weihnachtsferien, dann wusste er, wem der Taucheranzug gehörte.