In seinen Erkundungen berührt Peter Sloterdijk alle klassischen und modernen Gattungen der Künste, von der Musik bis zur Architektur, von der Kunst der Erleuchtung zur Kunst der Bewegung, vom Design zur Typografie. Er durchstreift alle Felder des Sichtbaren und Unsichtbaren, des Hörbaren und Unhörbaren – die historische Spannweite seiner Beobachtungen reicht von der Antike bis Hollywood. Indem Sloterdijk die ihm eigene Methode der Diskursverfremdung auf die Betrachtung von Kunstwerken und -gattungen ausweitet, erscheinen die beschriebenen Objekte in einem jäh veränderten Licht – und führt uns der Autor mit seiner wachen, streitbaren Zeitgenossenschaft weg, weit weg von den ausgetretenen Pfaden des Kunstkommentars.

Die Beschäftigung des großen Philosophen mit den unterschiedlichsten Phänomenen des Ästhetischen – hier wird sie zur fröhlich-ernsten Arbeit an der Kunst und an den Künsten, am Ästhetischen höchstselbst.

Peter Sloterdijk, geboren 1947, ist Professor für Ästhetik und Philosophie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und deren Rektor.

Zuletzt erschienen von ihm: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit (2014), Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews 1993–2012 (2013), Zeilen und Tage. Notizen 2008–2011 (st 4485, 2013) und Mein Frankreich (st 4297, 2013).

Peter Sloterdijk

Der ästhetische Imperativ

Schriften zur Kunst

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Peter Weibel

Suhrkamp

Dieser Band erschien erstmals im Jahr 2007 bei Philo & Philo Fine Arts/EVA Europäische Verlagsanstalt, Hamburg.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4529.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

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Umschlagabbildung: Basso Cannarsa / Agence Opale

Umschlaggestaltung: Göllner, Michels, Zegarzewski

eISBN 978-3-518-74361-4

www.suhrkamp.de

Inhalt

I. KLANGWELT

La musique retrouvée

Erinnerung an die Schöne Politik

Wo sind wir, wenn wir Musik hören?

II. IM LICHT

Lichtung und Beleuchtung. Anmerkungen zur Metaphysik, Mystik und Politik des Lichts

Erleuchtung im schwarzen Kasten: Zur Geschichte der Undurchsichtigkeit

III. DESIGN

Das Zeug zur Macht: Bemerkungen zum Design als Modernisierung von Kompetenz

Vom Charisma der Zeichen

Für eine Philosophie des Spiels

IV. STADT UND ARCHITEKTUR

Die Stadt und ihr Gegenteil: Apolitologie im Umriss

Architekten machen nichts anderes als In-Theorie: Peter Sloterdijk im Gespräch mit Sabine Kraft und Nikolaus Kuhnert

Für eine Architektur der Teilhabe – Notiz zur Kunst Daniel Libeskinds mit Rücksicht auf Maurice Merleau-Ponty und Paul Valéry

V. CONDITIO HUMANA

Versuch über das Leben der Künstler: Andersgläubige * Verschwender * Fälle * Einwohner

Bekenntnisse eines Verlierers

Minima Cosmetica – Versuch über die Selbsterhöhung

VI. MUSEUM

Museum – Schule des Befremdens

Weltmuseum und Weltausstellung

VII. KUNSTSYSTEM

Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben

Die Kunst faltet sich ein

Sendboten der Gewalt – Zur Metaphysik des Aktions-Kinos

Taugenichts kehrt heim oder das Ende eines Alibis – Auch eine Theorie vom Ende der Kunst

Nachwort von Peter Weibel: Sloterdijk und die Frage nach einer Ästhetik

Quellennachweis

I. KLANGWELT

La musique retrouvée

1  Dämonisches Gebiet

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
es gibt eine Fülle von Versuchen, das Wesen der Musik zu definieren, sei es, dass man sie als gestaltete Zeit bestimmte oder als Synthese aus berechneter Ordnung und abgründiger Willkür, sei es, dass man in ihren höheren Ausprägungen die Begegnung der rigorosen Form mit den Gebärden der freien Selbstaussprache erkennen wollte oder geradewegs die Kollision von Zahlenwelt und Leidenschaft. Keine dieser Aussagen kommt dem bekannten Diktum Thomas Manns gleich, der in seinem unumgänglichen Roman Doktor Faustus die von Kierkegaard inspirierte Feststellung traf: »Die Musik ist dämonisches Gebiet …«

Dieser Satz, zu einem Mantra der Musikologen avanciert, ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert; zudem verlangt er in steigendem Maß nach Kommentar. Als er im Jahr 1947 zur Publikation gebracht wurde, wollte er nicht nur die düsteren Geheimnisse der deutschen Kultur beleuchten, wo sich, wie es hieß, Musikalität und Bestialität auf verwirrende Weise ineinander verschlungen hatten. Er sollte zugleich darauf aufmerksam machen, wie sich auf dem Boden der Moderne das Künstschöne in das Kunstböse wandeln konnte und wie sich die besten Kräfte einer hohen Zivilisation gleichsam durch Teufelslist in ihr Gegenteil zu verkehren vermochten. Was der Aussage von Thomas Mann aus heutiger Sicht besonderes Gewicht verleiht, ist der Umstand, dass hier eine Definition durch eine Warnung ersetzt wurde – als ob sich der Autor zu der Ansicht habe bekennen wollen, es könne von gewissen Gegenständen keine objektive Theorie geben, und zwar deswegen, weil diese Gegenstände während ihrer Theoretisierung nicht ruhig halten, sondern wie im Halbschlaf lauernde Ungeheuer den Kopf heben, sobald von ihnen die Rede ist. Dem Verfasser des Doktor Faustus zufolge schienen die Musikologen gut beraten zu sein, wenn sie die Einsicht der christlichen Dämonologen beherzigten, nach welcher der Dämon keine Neutralität gestattet. Er ist kein Modellobjekt, das sich in sicherer Entfernung erörtern ließe, sondern eine Macht, die auf Anrufung reagiert. Wer den dunklen Geist beim Namen nennt, hat ihn auch schon herbeigerufen, und wer ihn gerufen hat, soll wissen, dass er einer Instanz begegnen kann, die stärker sein wird als er selbst. Darum sagt das Volksbuch vom Doktor Faust: Weißt du was, so schweig.

Verweilen wir einen Augenblick bei der Frage, welche Art von Dämonie ins Spiel kommt, wenn man das Gebiet der Musik betritt – vorausgesetzt, es handle sich um ein »Gebiet«, das wie ein Boden oder ein Territorium betretbar wäre. Die Antwort muss bei der akustischen Anthropologie gesucht werden, die uns im Lauf der letzten Jahrzehnte eine Fülle stimulierender neuer Beobachtungen über die Genesis des menschlichen Gehörs bekannt gemacht hat. Ihr ist die Einsicht zu verdanken, dass bei den Angehörigen der Gattung homo sapiens, wie bei den übrigen Mammiferen, alias den lebendgebärenden Lebewesen, ja auch schon bei zahlreichen Vögeln, das Hören eine sehr früh, nämlich im pränatalen Raum, erworbene Kompetenz bedeutet. Das Ohr ist unzweifelhaft das Führungsorgan menschlicher Annäherungen an die Welt, und dies bereits zu einem Zeitpunkt der organismischen Entwicklung, in dem das Individuum als solches noch gar nicht »da« ist – sofern wir mit dem Zeigepartikel »da« die Möglichkeit kennzeichnen, dass ein Subjekt den Dingen in hinreichend weitem Abstand gegenübersteht, um auf einen Gegenstand oder Umstand hindeuten zu können. Nun ist das Hören überhaupt, auch beim Erwachsenen, nicht so sehr ein Effekt des Gegenüberstehens eines Subjekts in Bezug auf eine Geräuschquelle; es vollzieht sich als Eintauchen des sensiblen Organs und seines Trägers in ein akustisches Feld. Das gilt in noch ausgeprägterer Weise für das Hören der Ungeborenen. Wenn das erste Hören ein fötales Vorspiel zum reifen Gebrauch des akustischen Sinnes bedeutet, so vor allem, weil bei ihm das Merkmal des Schwebens in einem aktuell totalitären Umgebungsmilieu am reinsten ausgebildet ist. Schon das erste Hören besitzt von sich her die Züge einer Vorschule der Weltoffenheit, und doch besuchen wir diese Schule, die effektive école maternelle, in einem Lebensstadium, in dem wir selbst noch durchaus weltlos und vorweltlich sind. Das werdende Individuum verharrt bis auf weiteres in seiner intimen Reserve, eingeschlossen in eine dämpfende Nacht, und horcht doch schon an der Tür zum Dasein. Den hörenden Fötus aber nur wie einen Lauscher an der Wand zu beschreiben, wäre irreführend. Für die Seinsweise des Ur-Hörers ist bezeichnend, dass er von Anfang an in ein internes sonores Kontinuum eingebettet ist, das von zwei Emanationen des mütterlichen Milieus dominiert wird, zum einen den Herztönen, die wie eine stetige Rhythmusgruppe den existentiellen Beat vorgeben, zum anderen von der Stimme der Mutter, die mit ihren freien prosodischen Produktionen das fötale Ohr mit einem melodischen Dialekt imprägniert. Mit diesen beiden Universalien der intrauterinen Gehörformung, dem kardialen basso continuo und dem Parlandosopran der Mutterstimme, ist der utopische Kontinent der Proto-Musik oder Endo-Musik umschrieben, und erst jenseits dieser unauslöschlichen und mehr oder weniger stetigen Präsenzen öffnet sich der Horizont, in dem unvertrautere, heftigere, fernere Lautereignisse ein akustisches Wetterleuchten von der Welt her vermitteln.

Diese Verhältnisse müssen künftig mitgedacht werden, wenn wir das Wort von der Musik als einem dämonischen Gebiet wiederholen. Die Natur des musikdämonischen Phänomens wird etwas besser verständlich, sobald wir zugeben, dass mit dem hörenden Weltbezug, sobald er musikalisch wird, immer auch das Register der tiefen Regressionen angesprochen werden kann. Demnach vermag die Musik noch im erwachsenen, von der Härte des Realen geprägten Subjekts seine intime Vorgeschichte zu evozieren. Sie erinnert es an eine Phase seines Werdens, als es noch nicht im Habitus distanzfähiger Freiheit den Dingen und Umständen gegenüber stand, sondern als es in einem Modus konfliktfreien Umschlossenseins von dem vitalen klingenden Milieu getragen wurde. Zugleich kann Musik, wo sie Register der Heftigkeit aktiviert, die Dynamik früher Durchbruchskämpfe in Klangbilder setzen. So ist sie der Ort, an dem sich stets von neuem der Übergang von der Konfrontation zum Eintauchen artikuliert. Das musikalische Ohr bildet das Organ, das ausschließlich im Modus der Immersion an der Wirklichkeit der Lautund Klangereignisse teilhat. Immersion überhaupt ist das Thema einer gewagteren Aufklärung. Weißt du was, so rede trotzdem. Vermutlich hatte Nietzsche eben das im Sinn, als er den Wortschatz der Musikologie um den gefahrvollen Namen des Dionysos bereicherte.

Noch müssen wir klären, wodurch und auf welche Weise das Ohr ein musikalisches wird. Musikalität im engeren Sinn des Wortes setzt voraus, dass das erwachsene Ohr gelegentlich von der trivialen Arbeit des Hörens Urlaub nehmen kann und sich durch auserwählte Klänge aus dem Geräuschalltag entführen lässt. Wie wir die Welt gewöhnlich und zumeist erleben, ist sie ein durchaus musikferner Ort. Was an ihm an der Macht ist, sind die Geräuschereignisse unserer Umwelten – allem voran das unentrinnbare Gerede der Mitmenschen, das heute die höchsten medialen Verstärkungen erfährt, sodann die Lärmprofile des Alltags mit den akustischen Markenzeichen unserer Haushalte, unserer Arbeitsplätze und unseres Verkehrs. Das menschliche Ohr ist folglich ein sklavisches, sekretärisches, kammerdienerndes Organ, weil es fürs Erste nicht anders kann, als sich der Autorität der erstbesten Geräuschgegenwart zu beugen. Unmusikalität ist die Stimme des Herrn, und unmusikalisch befehlend redet die Realität der Sachen zur Einsicht. Hingegen wirkt die Musik von sich her entrückend. Sie übermittelt die Einladung zum Aufbruch in ein anderes Gehorchen – und dieser impliziert, wie mittelbar auch immer, die Rückkehr in das Reich des Herzschlags und des archaischen Soprans. Man kann sich die Implikationen dieser anthropologischen Beobachtungen kaum je in allen ferneren Konsequenzen vergegenwärtigen: Die Prosa des gewöhnlichen Daseins hat ihren Grund in der Tatsache, dass Menschenkinder vom Moment der Geburt an eine so triviale wie unbegreifliche Entdeckung machen: Die Welt ist ein von Stille ausgehöhlter Ort, an dem der Herzbeat und der Ur-Sopran katastrophisch verstummt sind. Mit dem Dasein in der gelichteten Welt ist eine Beraubung verbunden, der wir nie völlig auf den Grund gehen können: Von der ersten Minute an schließt das menschliche In-der-Welt-Sein die Zumutung ein, auf das Klangkontinuum der ersten Intimität zu verzichten. Die Stille überträgt jetzt den Alarm des Seins. Allein die Mutterstimme, jetzt von außen zu hören, baut eine prekäre Brücke zwischen Damals und Jetzt. Weil dieser Verzicht ans Unannehmbare grenzt, muss es den recht und schlecht zur Welt Gekommenen darum zu tun sein, die prosaische Barriere zu überwinden, die sie von der Sphäre der sonoren Bezauberungen trennt. Es gibt Musik, weil Menschen die Wesen sind, die darauf bestehen, das Beste wieder haben zu wollen. Alle Musik, die elementare oder primitive zumal, geschieht zunächst ganz im Zeichen des Wiederfindens, auch in dem der Wiederholungsobsession – und bis hinauf zu ihren höchsten Gebilden ist die spezifische Faszination der Tonkunst, mitsamt ihren Momenten der Evidenz, der Mitbewegtheit und des beglückten Erstaunens, an den Effekt gebunden, dass eine vergessen geglaubte sonore Präsenz sich wieder einstellt. Wenn die Musik am meisten sie selbst ist, spricht sie uns an als musique retrouvée.

Nach dem Exodus des Ohrs in die äußere Welt dreht sich alles um die Kunst des Wiederanknüpfens an das zerrissene Band der ersten Hörigkeit. Aber was in dieser ein unüberbietbar inniges und gänzlich singularisiertes Verhältnis war, kann später nur in der Klangöffentlichkeit der Kulturgruppe wiederaufgenommen werden. Für diese Wende ins Öffentliche und Kulturelle gilt die Regel, dass in Freiheit wiederkehren soll, was in der Verzauberung begann. Was wir die Völker nennen und später die »Gesellschaften«, sind immer auch sonore Konstrukte – ich beschreibe sie anderswo als die Phonotope –, die auf jeweils eigene Weise die Aufgabe lösen, die Ohren ihrer Angehörigen in eine gemeinsame Geräusch- und Klangwelt einzubetten. Diese bieten ihren Mitgliedern durch die Mittel des öffentlichen Hörens Substitute für das verlorene Paradies intimen Vernehmens an. Auf diese Weise lässt sich der Heimat-Effekt deuten – denn mit dem Wort »Heimat« evoziert man vor allem eine akustische Disposition, was die obsessive Liaison zwischen Ohr, Gemeinschaft und Landschaft ins Spiel bringt. Zu Recht wurde von Musiktheoretikern der letzten Generation das Routinehören des lokalisierten und vergesellschafteten Ohrs als Befangenheit in einer ortstypischen Klang-Landschaft alias soundscape gedeutet. Zu Unrecht wollte man diesen sound-Umgebungen eine direkte musikalische Bedeutung zusprechen, zu Unrecht, weil die alltäglichen sonoren Milieus allenfalls semi-musikalische Qualitäten aufweisen, indessen authentische Musik erst beginnt, wo das bloße Soundhören aufhört. Man kann sich hiervon überzeugen, wenn man beobachtet, wie die moderne Musikindustrie, als reine Soundindustrie, unter dem Vorwand von Volksmusik die Pest überträgt und unter dem Vorwand der Popmusik Epidemien provoziert, die man nur als akustische Gegenstücke zur Spanischen Grippe würdigen könnte – und gegen die gibt es, wie man weiß, bis heute nicht die Spur eines effektiven Medikaments.

Geben wir diese Feststellungen zu, so begreifen wir unmittelbar, wieso der Weg zur Musik untrennbar ist von der Wiedergewinnung der Individualität und Intimität des Hörens. Diese Restitution kann, wie bemerkt, nur auf dem Umweg über öffentliche Klangereignisse und auf der Höhe der technischen Mittel geschehen. In diesem Sinne lässt sich sagen, dass Teilhabe an Zivilisation bedeutet: unterwegs zu sein zur individuierten Musik. Mit dieser Aussage wird eine Ahnung geweckt von dem Ausmaß des Abenteuers, auf das die Komponisten und Musiker der europäischen Neuzeit sich einließen, als sie sich aufmachten, die neuen Länder hörbarer Gestalten zu entdecken.

2  In der Krümmung der Welt

Halten wir die eben gewonnene Bestimmung fest: Zivilisation, in einem anspruchsvollen Sinn des Wortes aufgefasst, ist der Prozess, in dessen Verlauf Individualisierungschancen freigesetzt werden, darunter solche, die bei erwachsenen Mitgliedern einer Kulturnation der Intimisierung des Hörens Vorschub leisten. Sofort wird hier die Spannung offenkundig, die zwischen den Anforderungen der individualisierten Erwachsenenexistenz und ihren Intimisierungstendenzen entsteht. Es ist die Spannung, deretwegen die Musik dämonisches Gebiet genannt werden durfte. Individualisierung schließt Musikalisierung ein. Dazu gehört die zunehmende Fähigkeit der Einzelnen, an ihre flüssigen, rezeptiven und medialen Zustände anzuknüpfen, gleich ob man diese als präsubjektiv oder als präobjektiv versteht, so dass der durchaus musikalisierte Mensch, extremes Bildungsprodukt der europäischen Moderne, zugleich derjenige wäre, der neben einer entfalteten Arbeits- und Konfliktfähigkeit über die am tiefsten ausgearbeitete Freiheit zur Regression verfügte. Wie immer es sich mit solchen psychagogischen Idealisierungen verhält: Nur innerhalb des Spannungsbogens, der die Verfügung über Instrumente und Verfahren mit der Hingabe an auflösende Ströme zusammenschließt, lässt sich sinnvoll von einer Entwicklung der Musik sprechen, mehr noch: von einer tendenzhaft gerichteten Musikgeschichte und schließlich von einer Teilhabe der musikalischen Produktionen an den Erfindungen, Entdeckungen und Forschungen der Neuzeit.

Man kann den Begriff der Neuzeit nicht erwähnen, ohne sich an Jacob Burckhardts klingende Formel für die Kultur der Renaissance zu erinnern, nach welcher diese »die Entdeckung der Welt und des Menschen« zum Inhalt gehabt habe. Es ist der Vorzug der klassischen Prägung, das Neuzeitgeschehen im Ganzen als eine Wendung nach außen zu erfassen. Der Geist, dem es mit der Forschung ernst ist, will immer »zu den Dingen«. Neuländer gibt es nur, wo die Einwohner alter, in sich gekehrter Kantone erwachen und sich der Extraversion verschreiben. In dieser Perspektive aufgefasst, ist die neue Musik, wie sie sich seit dem 16. und 17. Jahrhundert artikuliert, mit dem Expansionismus der europäischen Könnenskulturen im Ganzen solidarisch. So wie die Karten der Seefahrer, die nach Kolumbus die Ozeane regelmäßig überqueren, die vormals unberechenbare See durch klare Notationen navigabel machen, so halten die neuen Karten der Musiker, die ausgeschriebenen Partituren, die Fahrten der Stimmen im Raum der Tonereignisse für künftige vokale und instrumentale Bewegungen fest. In dem einen Fall wie in dem anderen werden nautische oder musikalische Unternehmen ganz an der Wiederholbarkeit ausgerichtet, und was auf der einen Seite die Investitionen der Reeder und ihre Fahrpläne leisten, tritt auf der anderen als das Geschäft der höfischen, klerikalen und bürgerlichen Aufführungs- und Inszenierungspraxis in Erscheinung. Das Neue an der authentischen Neuzeit zeigt sich darin, dass es den Radius der Verfügbarkeit zugleich sichert und erweitert – ist die Zivilisation unterwegs zur Musik, so die Musik unterwegs zur Virtuosität. Insofern ist sie eins mit Technik in Bewegung. Ihre Überlieferung durch die Generationen der Könnenden unterstützt die chronische Bereitschaft, vom Erreichten zum Noch-nicht-Erreichten weiterzugehen. Wäre das Bisherige nicht dem Bestand des Könnens auf gesicherte Weise einverleibt, könnte sich kein Vorgefühl, kein Vorwissen, kein Vorauswollen für die Richtung nächster Schritte ausbilden. Hätte sich umgekehrt nicht das Bewusstsein formiert, auf einem Kontinent zu leben, der jetzt mit Grund die Alte Welt heißt, so gäbe es noch keine Küste, von der aus sich artikulierte Aufbrüche in die Neue Welt versuchen ließen.

Nun gehört es zu den konstitutiven Erfahrungen der Neuzeit, dass man die Welt nicht entdecken kann, ohne zugleich die »Krümmung der Welt« zu erfahren. Wir nehmen hier eine spekulative Wendung Thomas Manns auf, mit der das paradoxe oder, wenn man will, dialektische Aneinanderrühren und Ineinanderübergehen von Konstruktivismus und Primitivismus in der Musik des frühen 20. Jahrhunderts charakterisiert werden sollte – eine Wendung, an der die Suggestionen der freudschen und rankschen Psychoanalyse ebensoviel Anteil haben wie die einsteinsche Doktrin von der Krümmung des universalen Raums. Es gibt demnach keine Ausfahrt ins Unbekannte, die nicht früher oder später Folgen für den Selbstbezug der Ausfahrer zeitigt. Dies gilt für elementare Manöver wie die erste Umrundung der Erde durch die Expedition des Magellan ebenso wie für subtilere Exkursionen von der Art jener, die die modernen Physiker, Systemiker und Biologen unternehmen, um zu den letzten Partikeln der Materie und den komplexen Strukturen des Gehirns, des Genoms, der Immunsysteme und der Biotope vorzustoßen. Im einen Fall wie in den anderen gerät durch diese Wendung nach außen die Identität der Entdecker in Bewegung.

Wir haben noch immer allen Grund, das folgende Bild als eine Urszene der Neuzeit im Gedächtnis zu halten: Am 22. September des Jahres 1522 läuft die Victoria, das letzte von den fünf Schiffen, die drei Jahre zuvor unter Magellans Kommando für eine Fahrt auf der Westroute zu den sagenhaften Gewürzinseln aufgebrochen waren, wieder in San Lucar de Barrameda, dem Hafen Andalusiens, ein, an Bord achtzehn nahezu verhungerte Gestalten, die man alsbald in Büßerkutten einkleidet und in die Kathedrale von Sevilla führt. Dort stimmt man ein Te Deum an auf die unerhörte Rückkehr – nicht ohne tiefere Berechtigung, wie wir verstehen, da seit der Vollendung dieser ozeanischen Schleife in Weltbildfragen nichts mehr so bleiben konnte wie zuvor. Die Entdecker der vollständigen Erdkrümmung hatten für ihre Erfahrungen einen hohen Preis entrichtet. Von zweihundertachtzig Mann kehrten nur die genannten achtzehn zu ihrem Heimathafen zurück, als erste Augenzeugen der Globalisierung, ein jeder durchdrungen von den Schrecken der Weltoffenheit, für alle Zeit imprägniert durch die Erinnerung an epische Qualen und vielfache Rettungswunder. Pigafettas Schiffstagebuch gibt davon, noch heute nachlesbar, lakonisch Kunde. Zugleich muss jeder der Heimgekehrten auf seine Weise die Ironie der Rückkehr empfunden haben. Wer nach dem Durchgang durchs Ganze an den Ausgangspunkt zurückgelangt, sieht diesen für immer mit anderen Augen an. Von nun an ist die Heimatstadt nicht mehr der in sich zentrierte Lebensherd, der die Welt um sich anordnet wie eine mit zunehmender Entfernung gleichgültiger werdende Peripherie; sie ist nicht länger der im Komfort der Unwissenheit ruhende Nabel des Universums. Sie wird zu einem Punkt in einem unruhigen Gitternetz und zu einem Knoten in einem Geflecht aus entgrenzten Verkehrswegen, Güterströmen und Nachrichtenflüssen. Mit der vollständigen Darstellung der Krümmung der Erde auf den neuen Erdgloben, diesen effektiven Medien der Neuzeit, beginnt die immerwährende Krise der Heimat, ausgelöst durch die Veränderungen des Selbstbezugs bei den Dagebliebenen, die sich, stets schwankend zwischen Faszination und Widerwillen, den Nachrichten aus dem Neuland Erde öffnen.

Man begreift ohne Mühe, dass mit dem nautischen Nachweis für die Kugelgestaltigkeit der Erde nur ein erster Schritt getan war. Das Abenteuer der Extraversion verrät seine wahren Dimensionen in dem Augenblick, da sich die Wende nach außen auch bei den übrigen Gegenstandsdimensionen in eine Wende nach innen übersetzt. Hierbei wird eine Krümmung des Seins offengelegt, dank welcher eine tiefere Ironie der Forschung nach uns greift. Wer strikt den Kurs ins Objektive hält und sich unbeirrbar der Suche nach den verborgenen Strukturen des Realen widmet, dem muss es früher oder später passieren, dass er sich selber am eigenen Rücken operiert. Die »Entdeckung der Welt und des Menschen«, begonnen unter einer apollinischen Sonne, erweist sich in ihrem avancierteren Fortgang als ein Unternehmen, bei dem die Welt für ihre Einwohner aufhört, dem eigenen vertrauten Haus zu gleichen. Das griechisch-antike Vorurteil zugunsten des Seins, wonach das Universum von sich her die Sterblichen unter den Zügen von Häuslichkeit anspricht, verliert mehr und mehr seinen Halt in den Sachen. Wo die Forschung radikal wird, vermondet und verfremdet sich das Seiende im Ganzen. Der Mensch erfährt sich als ein Wesen, dem es in steigendem Maß bei sich unheimlich wird. Unheimlichkeit bedeutet, dass die Präsenz des unbegriffenen, unruhigen, unbefriedbaren Fremden sich auch am eigenen Ort nicht mehr verkennen lässt.

Seit Heidegger wissen wir, dass die Krümmung des Seins als Krümmung der Zeit verstanden werden muss. Was man die Existenz des Menschen nennt, ist keine Gerade zwischen Anfang und Ende. Vielmehr wird die existentiale Linie durch eine seltsame Spannkraft verbogen: Die »Enden der Parabel«, die ein einzelnes Leben ausmacht, markieren Abschnitte im Kreis des Seins. So lautet zumindest die Lehre der resolutesten metaphysischen Denker des Westens zwischen Parmenides und dem Meister von Meßkirch, die nicht umsonst sich immer von neuem über die Figuren des Kreises oder der Kugel gebeugt haben. Wo so gedacht wird, sollen Herkunft und Zukunft in ungeheuren Bögen ineinander münden oder auseinander entspringen. Es ist diese kühne Spekulation, die Serenus Zeitblom neu zum Klingen bringt, wenn er in seinem apologetischen Kommentar zu dem vorgeblich barbarischen und intellektualistischen Hauptwerk des Tonsetzers Adrian Leverkühn, der »Apokalypse«, bemerkt, in diesem erschreckenden modernen Kunstgebilde habe sich die »Vereinigung des Ältesten mit dem Neuesten« vollzogen. »Mitnichten« aber stelle diese Näherung »eine Tat der Willkür« dar, sondern liege »in der Natur der Dinge«: »sie beruht auf der Krümmung der Welt, die im Spätesten das Früheste wiederkehren läßt«.

3  Aufbruch zur tönenden Schatzinsel: Calibans Vermächtnis

Nach dem hier Dargelegten sind wir darauf gefasst, dass die Geschichte der Musik auf ihre Weise verwoben ist in den Aufbruch der modernen, der unternehmerischen, der erfinderischen Menschen zu den neuen Ufern, die so oft beschworen und so selten intelligent auf ihre eigene Art die Krümmung der Welt zur Darstellung bringt. Sie tut dies, indem sie, ihrer dämonischen Natur gemäß, die gekrümmte Zeitlichkeit der menschlichen Existenz artikuliert.

Ist dies gesagt, so kostet es keinen großen Aufwand mehr, um plausibel zu machen, warum die Musik die wirkliche Religion der Modernen werden musste – jenseits aller Spaltung von Konfessionen und Abtrennung der Sekten. Wenn die Religion seit jeher mehr oder weniger tiefsinnige Interpretationen für die unvermeidliche Rückkehr des Sterblichen zum Ungeborenen anbot, so ist mit der neuzeitlichen Musik eine machtvolle Alternative entstanden, dieser Rückkehrdynamik eine gehegte Fassung zu geben. In Wahrheit ist die neuzeitliche Musik religiöser als die Religion, weil sie durch ihre privilegierte Allianz mit den latenten Dispositionen des Gehörs in innere Schichten vorzudringen vermochte, in denen man dem einfach Religiösen kaum begegnet. Der große Vorzug der neuzeitlichen Musik gegenüber der Religion gründet in dem Umstand, dass sie (vor allem seit ihrer Wende von der Polyphonie zum akkordischen Ausdrucksgeschehen und seit dem Übergang vom Komponieren unter gattungsgesetzlichen Formen zur freien Setzung eigenprogrammatischer Klangereignisse) eine Verkündigungsmacht erwirbt, von der die konventionelle Religiosität bis heute kaum etwas begreift.

Die höhere Musik wird seit dem 17. und 18. Jahrhundert aus ihrer eigenen Wesensdynamik unwiderstehlich evangelisch wirksam, weil sie von da an im Begriff ist, in Paradiesfragen, oder allgemeiner, in Fragen von Spannung und Entspannung, eine überlegene Eloquenz zu entwickeln. Diese ist allenfalls zu teilen mit der modernen Lyrik, die seit der Goethe- und Eichendorff-Zeit, der Lermontow- und Lamartine-Zeit, kein Geheimnis macht aus ihrer Ambition, mit dem Ohr des aktuell musikalisierten Subjekts zu wetteifern. So eröffnet die Musik, in ihren gesteigerten Formen, seit den Tagen der ersten Wiener Klassik ein unendliches Gespräch in Tönen über den Unterschied zwischen Paradies und Welt. Ihre Überlegenheit gründet in der Tatsache, dass sie sich ausschließlich an das Ohr zu wenden hat – an jenes Ohr, das, wie man heute wissen kann, von seiner eigenen reminiszenten Verfasstheit her den Ort der Unterscheidung zwischen Welt und Vor-Welt bildet. Die Größe der modernen Musik und ihre Solidarität mit dem Projekt der Neuzeit lässt sich ermessen, wenn man in ihr das Medium eines kraftvollen Weltbezugs erkennt, der sich gleichwohl den Rufen aus der Tiefe nicht verweigert. In diesem Medium schlägt das abenteuerliche Herz der Neuzeit. Wenn die Religion in ihren ordinierten Formen regelmäßig dem Rückzug von obsessiven weltlichen Sorgen, und gar der Weltflucht Vorschub leisten musste, um Menschenseelen vor dem Säkulum und seinen Verheerungen zu retten, war es der Vorzug der neuzeitlichen Musik, dass sie ein Übergangsmedium schuf, in dem die unentäußerbaren Rechte der Regression und der Erinnerung an vorweltliche Urverletztheit zum Ausgleich gebracht wurden mit dem Sinn für Selbstentfaltung und Weltbejahung.

Das »Projekt der Neuzeit« und die Solidarität der Musik mit ihm: Es dürfte passend sein, diese bedenklichen Wendungen zum Schluss in Kürze zu erläutern. Tatsächlich, mit welchem Recht sprächen wir von einem Zeitalter, das Neuzeit heißt, wenn wir damit nicht sagen wollten, dass die Menschen des Westens damals begonnen haben, den Haushalt ihres Begehrens zu reformieren. Damit die Renaissance wirklich eine Epoche der Entdeckungen werden konnte, musste sie sich als die Ära einer großen Wunsch-Wende bestimmen. Um summarisch zu reden, geht es den Neuzeitmenschen, was immer sie selber von ihren letzten Zwecken sagen mögen, von nun an stets auch darum, die Pfeile des Begehrens von jenseitigen Zielen auf diesseitige, zu Lebzeiten erreichbare und genießbare Gegenstände umzulenken. Das geographische Symbol für diese Wende heißt Amerika, das romanhafte heißt die Schatzinsel, das mythologische heißt Fortuna. Gewiss, seit jeher erschien den Menschen des westlichen Kulturzusammenhangs das Streben von einem schlechten Hier nach einem guten Dort als heilsam und vernunftgemäß, und wäre das Letztere bis auf weiteres nur im Himmel der Trinität erreichbar. Doch erst die Jahrhunderte, die auf die Kolumbusfahrten folgten, haben aus den Europäern Schatzsucher gemacht, und dies nicht beiläufig und okkasionell, sondern prinzipiell und konstitutiv. Seit der Entdeckung der Kontinente jenseits des Ozeans ist die Schatzsuche die eigentlich metaphysische Tätigkeit der europäischen Psyche.

Im Bild des Schatzes fassen wir die Idee des magnetischen Objekts, das mit dem Dämonischen das Merkmal gemeinsam hat, dass es nicht ruhig hält, während man es theoretisiert. Man kann den Schatz nicht vorstellen, ohne ihn auch schon zu suchen, und man könnte ihn nicht suchen, wäre man nicht bereits von seiner Attraktion erfasst. Es genügt, die Welt als einen Ort zu beschreiben, an dem Schätze findbar sind, um sich sofort in einen Suchenden zu verwandeln, nicht mehr im Sinn der transzendenten und masochistischen Gottsucherei mittelalterlichen Stils, sondern im Sinn des modernen, des ästhetisch-magisch-ökonomischen Unternehmertums. Unternehmer sein heißt von jenseitigen Belohnungen auf diesseitige Gewinnerwartungen umstellen. Die Schatz-Vermutung liefert die Rechtfertigung für den hybriden Mut, mit dem die Neuzeitmenschen sich auf die Weite von Welt und Erde eingelassen haben. Künftig kann die Bedeutung des Neulands allein darin liegen, dass es die Möglichkeit von Schatzhöhlen verkörpert. Wenn wir mit einem Mal das Neue loben, so weil es mit den Menschenrechten des Findens im Bündnis steht. Den Schatz zu finden bedeutet den Beweis zu liefern, dass niemand zu Unrecht glücklich wird. Das Glück denken impliziert, die Koinzidenz von Gerechtigkeit und Bevorzugung für möglich halten, und nicht bloß für möglich, sondern für legitim. Neuland: In diesem Wort zeigt der Geist der Utopie seine Farben; er ist zugleich der Geist des Risikos. Das klingt nun wie ein Evangelium, das als Geographie erscheint. Ihm Glauben schenken heißt überzeugt sein, dass an fernen Küsten, auf bisher unzugänglichen Inseln, in nächtlichen Werkstätten der Natur, in glühenden Kolben, in glitzernden Grotten Schätze bereit liegen und auf ihre Finder warten. Sie liegen bereit dank einer ursprünglichen Akkumulation der Glücksmittel, von deren Herkunft, Erzeugung und Verteilung man immer zu wenig weiß; sie warten, weil es kein Glück gibt, das nicht schon den Glücklichen im Auge hat, den es bevorzugen will. Wo die Fortuna wiederkehrt, ist der Fortunatus zur Stelle – der Mann, der sich auf das Annehmen von Geschenken aus launischen Händen spezialisiert hat. Darum ist Fortunatus der erste Künstlername der Neuzeit. Die Schätze der Fortuna sind Strahlenkränze a priori, die sich um das Haupt ihres Trägers legen möchten, sobald der sich als Finder auszeichnet.

Ist dies gesagt und mit der angeratenen Vorsicht zugegeben, so lässt sich in einer letzten Wendung des Gedankens andeuten, auf welche Weise die Musiker der Neuzeit zu Agenten der Schatzsuche haben werden können. Es versteht sich von selbst, warum sie nicht die Schiffe besteigen, um die Schatzinsel zu erreichen. Sie benutzen andere Karten als die Seefahrer und tragen andere Küstenlinien ein, um ihr Amerika zu bezeichnen. Das wahre innere Amerika zieht die Komponisten an, sobald sie, anders suchend und anders findend, sich auf den Weg machen, um die sonoren Schatzhöhlen aufzuspüren. Was aber die Künstler dort finden, müssen sie selber erst erzeugen. Was sie wiederfinden, war niemals vor dem Fund gegeben.

Ich erlaube mir hier, um zum Ende zu kommen, zu suggerieren, dass es Shakespeare war, der in seinem Inselspiel Der Sturm zuerst an diese gefährlichen Liaisonen zwischen der tönenden und der von Schätzen illuminierten Neuen Welt gerührt hat. Der Kronzeuge dieser Entdeckung ist kein anderer als der Urbewohner der exquisiten Insel, welche dank Zauberei (wir würden heute Technik sagen) zu Prosperos Imperium geworden war, ein Eingeborener namens Caliban, von einem der Besucher im kolonialen Hochmut als »Mondkalb«, »verdorbener Fisch« und »most ignorant monster« angesprochen, ein karibischer Papageno, Naturmensch und Erzproletarier, und doch ausgestattet mit einem Privileg, von dem die steifen neuen Herrn der Welt nur ungewisse Ahnungen besitzen. Er verfügt über das Vorrecht, inmitten einer ersten tönenden Natur zu leben – um von dieser her die Fabrikationen der höheren Kultur mit einer Mischung aus Skepsis, Staunen, Unterwürfigkeit und Rebellion zu beobachten. Diesem amphibischen, geboren-ungeborenen Ungeheuer, ganzer Mensch und ganzer Künstler, legt Shakespeare Verse in den Mund, die wir als das permanente Manifest der Neuen Musik studieren sollten:

Be not afeard; the isle is full of noises,

Sounds and sweet airs, that give delight, and hurt not.

Sometimes a thousand twangling instruments

Will hum about mine ears; and sometime voices,

That, if I then had wak’d after long sleep,

Will make me sleep again: and than, in dreaming,

The clouds methought would open, and show riches

Ready to drop upon me; that, when I wak’d,

I cried to dream again.

Fürchte dich nicht; die Insel ist voll Tönen, Klängen und süßen Weisen, die erfreun

Und keinen Schaden tun. Mir klimpern manchmal

Im Ohr, und summen, tausend Instrumente, –

Und manchmal Stimmen, die, wenn ich erwacht wär

Nach langem Schlaf, mich wieder schlafen machten.

Und träumt’ ich dann, war’s mir, als würden Wolken

Sich auftun und mir Schätze zeigen, die

Schon auf mich fallen wollten. Dann erwacht ich

Und weinte, weil ich wieder träumen wollte.1

Mit diesem Bericht gelangt ein Missverständnis in die Welt, dessen Spuren sich noch im heutigen Musikbetrieb nachweisen lassen. Stefano, der Prätendent, der auf der Insel nach der Macht greift, zieht aus dem Gehörten einen verhängnisvollen Schluss: Er möchte Calibans Schilderung der klingenden Schatzinsel umstandslos für die Darstellung eines Territoriums, einer Domäne, eines bequemen Palastes halten, in dem musikalische Domestiken ihre Pflicht erfüllen. Daher die biedere, durchaus feudale und durchaus bürgerliche Konklusion:

This will prove a brave kingdom to me, where I shall have my music for nothing.

Das wird mir aber ein gutes Königreich sein, wo ich meine Musik ganz umsonst haben werde.

Meine Damen und Herren, Jahrhunderte sind seit diesem prophetischen Dialog vergangen. Noch immer kommen die Calibane und die Stefanos von Zeit zu Zeit zusammen, um über das seltsame Inselreich zu diskutieren. Man hat die Konvention getroffen, diese meist sommerlichen Zusammenkünfte Festivals zu nennen, doch es wäre angemessener, in solchen Ereignissen konstituierende Versammlungen zu erkennen. In ihnen wird weiter die musikalische Verfassung der Welt verhandelt. Aufmerksame Beobachter drücken ihre Zweifel daran aus, dass es in absehbarer Zeit zu einer gemeinsamen Schlusserklärung kommen wird. Noch immer tragen die Anwälte der Calibane ihre Ansicht vor, die Musik sei dämonisches Gebiet; ebenso unbeirrbar beharren die Stefaniden auf dem Standpunkt, man müsse, wenn schon Musik nicht ganz umsonst zu haben sei, doch ihre Kosten senken. Noch begreift man kaum, wie die Krümmung der Welt auch das Reich der Werte durchgreift. Unter dem festlichen Dach einer Musikveranstaltung ist immerhin die Ahnung auszusprechen, dass nichts so teuer sein darf wie das, was wir vom Moment der Geburt an wieder umsonst haben wollen.

Anmerkung

1 Shakespeare, The Tempest, Act III, Scene 2; deutsch von Erich Fried.

Erinnerung an die Schöne Politik

Meine sehr geehrten Damen und Herren,
lassen Sie mich dieses kurze rhetorische Vorspiel zur Aufführung von Beethovens 9. Symphonie durch das Philharmonische Staatsorchester Hamburg an diesem 3. Oktober des Jahres 2000 mit der Bemerkung eröffnen, dass niemand so sehr wie der Redner die Seltsamkeit der hier versuchten Konfiguration von Rede und Musik empfinden könnte – es fehlt, scheint mir, nicht viel dazu, dass man einen Verstoß gegen die guten Sitten des Konzertbetriebs vermuten dürfte oder gar ein Attentat auf das Grundrecht der Musik, ausschließlich mit ihren Mitteln für sich zu sprechen. Seit wann hätte ein bedeutendes Orchester es nötig gehabt, sein Programm durch eine Verbalnote moderieren zu lassen? Seit wann hätten Werke der Tonkunst sich darauf einlassen müssen, mit musikfernen Ergänzungen aufzutreten? Die einzige Rechtfertigung für ein Unternehmen dieser Art lässt sich aus seinem Anlass herleiten, aus der Tatsache mithin, dass wir den 3. Oktober schreiben, den Tag der Deutschen Einheit, diesen Gedenktag zum Abschluss des Vertrages über die Herstellung der politischen Union zwischen den beiden deutschen Staaten, die aus den Dramen der Jahrhundertmitte hervorgegangen waren. Ein Festtag also, der ein politisches Gedächtnis statuiert, ein Tag gleichwohl, zu dem den meisten deutschen Bürgern heute, zehn Jahre nach der Ratifizierung des Dokuments, bemerkenswert wenig Festwürdiges einfällt, wie die Redeübungen der jubiläumspflichtigen Klasse unseres Landes zeigen. Ein Tag, an dem man vielleicht wirklich nichts Besseres tun kann, als Beethoven zu spielen – so wie es hier und wohl auch anderswo zu dieser Stunde geschieht, den Beethoven der 9. Symphonie, wie sich versteht, eines Stücks, das sich aufzwingt, weil es seit jeher als ein Konzentrat politischer Festkultur angesehen werden konnte. Daher ist die hier gewählte Konfiguration von Rede und Musik wohl doch nicht nur äußerlich gesucht, sie ist nicht nur eine Veranstalterlaune. Weil eben die 9. Symphonie, zumal in ihrem grenzenlos berühmten Chorfinale, selbst schon ein musikrhetorisches, ja ein musikpolitisches Ereignis darstellt, liegt keine gänzliche Verfehlung vor, weder in Bezug auf die Situation noch auf das Genre, wenn der Aufführung des Stückes selbst hier einige Worte im kommentierenden und reflektierenden Stil vorausgeschickt werden, Worte, die nicht die musikalische, sondern, wenn man so sagen darf, die ideologische Partitur des Werkes betreffen. Es genügt, uns zu vergegenwärtigen, wieso die 9. Symphonie seit ihrer triumphalen Wiener Uraufführung im Jahr 1824 das bekannteste und wirkungsmächtigste Tonkunstwerk der Neuzeit hat werden können: Ihr geradezu numinoser und eben durch sein Übermaß prekärer Erfolg ist nicht zuletzt in dem Umstand zu suchen, dass sie von sich her, an den bewussten, den vokalischen Stellen zumindest, einen plädierenden Charakter besitzt, der auf Zustimmung zu außermusikalischen Ideen, auf enthusiastischen Konsensus, auf Überwältigung durch Programmatisches angelegt ist. Man darf bemerken, dass diese musikpolitische Konsensuswelle noch in der Gegenwart so mächtig rollt, wie selbst das 19. Jahrhundert es kaum erträumen konnte. Es ist kein Zufall, wenn nach der Wahl des Chorfinales der 9. Symphonie zur Europahymne, anfangs der siebziger Jahre, jetzt auch die Vereinten Nationen in diesem Stück ihr musikalisches Erkennungszeichen gefunden haben. Selbst wenn man also nicht verkennt, dass mit der großen Musik als solcher nicht zu reden ist, heben sich in den thesenhaften Überschüssen von Beethovens »politischer Kantate« deutliche Ansatzpunkte ab, die einem gesprochenen Zusatz entgegenkommen.

Ich möchte mir im folgenden die Freiheit nehmen, an die historischen Prämissen des musiksemantischen Komplexes zu erinnern, aus dem die 9. Symphonie und ihre Ode an die Freude hervorgegangen sind. Der Ausdruck Erinnerung ist hier in besonderer Weise am Platz, weil es zu diesem Zwecke nötig ist, weitgehend vergessene Verhältnisse zur Sprache zu bringen. Wenn wir uns an den generativen Pol des beethovenschen Kunstereignisses versetzen wollen, so gilt es, um mit Hegel zu reden, einen »Weltzustand« heraufzubeschwören, in dem der Konsensus noch Enthusiasmus hieß. Zu jener Zeit war es unter Bürgern nicht so sehr darum zu tun, einer Meinung zu sein, sondern einer Ergriffenheit. Erinnerung ist nötig, um imaginär zurückzukehren zu jenem Stand der Dinge, in dem die progressiven Stimmen der Gesellschaft noch so gut wie alles, was sie zu sagen hatten, im Modus der Antizipation vorbringen mussten – sofern sie nicht schon früh auf Gründe stießen, in idealisierte Vergangenheiten auszuweichen. Wir müssen zurückgehen auf eine Zeit, in der das Denken in großen Würfen zur Umgangssprache einer aufsteigenden Elite geworden war. Wir müssen die Erinnerung beschwören an eine Phase der Geschichte, in der die Einzelnen sich mit ihrem privaten Traumvermögen zu Medien dessen machten, was sie für Menschheitsträume hielten.

Die bürgerliche Kultur vor ihrem Sieg spricht einen enthusiastischen Dialekt, so wie die Konsultanten der Globalisierung heute mit ihren Kunden den Dialekt der Visionen und Missionen einüben. Ohne hier in angemessener Weise erläutern zu können, was Enthusiasmus philosophisch, psychologisch und systemisch bedeutet, dürfen wir festhalten, dass diese scharfgemachte Gestalt des politischen Platonismus eine Schlüsselrolle bei der Selbstmotivation von aufbruchslustigen Bürgergesellschaften gespielt hat. In ihm war, kaum verborgen, ein kategorischer Imperativ der Zuversicht am Werk. Mit seiner Hilfe brachte sich eine an der Macht interessierte Mittelschicht in Form, indem sie sich ohne Umschweife als die Menschheit ausgab. Enthusiasmus ist bürgerlich stets ein Delirium der Inklusivität. Er geht Hand in Hand mit dem Vorrecht, mit sich selber noch keine Erfahrung gemacht zu haben – mit sich nicht, mit dem Geist der Institutionen nicht, und mit den Spielregeln der geldbewegten Wirtschaftsverhältnisse erst recht nicht. Er spiegelt den Zustand der Gnade wider, wie sie über denen schwebt, die noch nicht an der Macht sind – die Gnade des guten Gewissens in der Unterkomplexität. Diese selige, kräftige Unerfahrenheit ist die Tonart des jungen Schiller – in ihr verfasste er um 1785, kaum 26 Jahre alt, das Primärdokument für die künftige Politik der Begeisterung, die Ode An die Freude, in deren Erfolgskurve auch wir am heutigen Tag eine kleine Stelle einzunehmen suchen.

Das deutlichste und auf bedenkliche Weise schönste Zeugnis für dieses Schweben im vorpolitischen Ausgriff auf ein nur von der Ahnung umspanntes Ganzes ist in der deutschen Tradition jedoch bei Hölderlin zu finden. Sein Briefroman Hyperion, der zwischen 1792 und 1799 entstand, behandelt vor dem Hintergrund des russischtürkischen Krieges von 1770 das schicksalhafte Engagement des griechischen Jünglings, dessen Name im Romantitel erscheint, für den beginnenden Freiheitskampf der Griechen gegen das osmanische Reich. Schon damals war die Frage nach dem Geist Europas mit dem verknüpft, was man später die orientalische Frage nennen sollte. Ohne Ostgrenze keine westliche Wertegemeinschaft. In Hyperions Begründung vor seiner Freundin Diotima, warum er nicht anders könne, als freiwillig an der Seite von Freunden in diesen notwendigen Krieg zu ziehen, kommen die Leitworte der frühbürgerlichen Enthusiasmuspolitik mit einer nirgendwo sonst wieder erreichten Klarheit zum Ausdruck. Hyperions Plädoyer gipfelt in der These:

Der neue Geistesbund kann in der Luft nicht leben, die heilige Theokratie des Schönen muß in einem Freistaat wohnen, und der will Platz auf Erden haben und diesen Platz erobern wir gewiß.1

Diese selten zitierten Sätze haben epochalen Rang. Sie liefern den Schlüssel zu jener Schönen Politik, ohne deren Wahrnehmung man von den Dramen der letzten zwei Jahrhunderte kaum etwas verstehen wird und von deren Existenz und Einsatz die Nachgeborenen doch in der Regel nichts mehr wissen. Schön darf diese Politik heißen, sofern sie, um kantisch zu reden, über ihren moralischen Wert hinaus, »als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird«; politisch darf dieses Schöne heißen, weil es von einem Hunger nach Verwirklichung, oder um mit Marx zu sprechen, nach Praxis, angetrieben wird. Das nachmals einflussreich gewordene Schema von Theorie und Praxis ist hier in dem Verhältnis von Drehbuch und Inszenierung beziehungsweise Kriegsplan und Feldzug vorgebildet. In ihm ist vorgesehen, dass das Schöne aus der Ohnmacht erwacht und im Realen das Kommando ergreift. Die Späteren können von dieser Formation keine Kenntnis mehr haben in dem Maß, wie für sie die Trennung zwischen den Sphären von Macht, Kunst und Religion zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist, an die zu rühren sich kaum noch Gründe finden lassen. Nichts erscheint in der von der Ausdifferenzierung der Teilsysteme bestimmten Gesellschaft so peinlich und so schädlich wie dieses Ineinandergreifen und Zusammenfließen von Dimensionen oder Ordnungen, von denen wir längst überzeugt sind, dass sie nur Nachbarschaft halten, aber niemals fusionieren können und dürfen. Aber was war der Enthusiasmus in seinem heroischen und naiven Zeitalter anderes als die allgemeine Matrix der Peinlichkeiten, die durch die unpolitische Politik, durch die schwärmerische Umarmung des Alls, durch die unnachgiebige Gleichsetzung von Bürgertum und Menschheit hervorgerufen wurden?

Man ahnt immerhin, solange man Hyperions Argument im Ohr behält, dass Immanuel Kant die Haupttatsache der Ästhetik seiner Zeit schon aus dem Auge verloren hatte, als er in seiner Kritik der Urteilskraft den Versuch unternahm, das Schöne in die Grenzen der bloßen Künste einzuweisen: »Es gibt« – sagt Kant – »weder eine Wissenschaft des Schönen, sondern nur Kritik, noch schöne Wissenschaft, sondern nur schöne Kunst.«2 Mit dem Anspruch, dem Schönen – und seinen Produzenten, den Genies – ein abgezirkeltes Spielfeld, eine spezialisierte Region von Kunstsachen zuzuweisen, verfehlt Kant den modus operandi