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Für Andi, Britt, Johanna,

Jakob, Jacques, Judith,

Matti, Pitt, Philip,

Simone, Tamara, Tom

und

Lena

Inhaltsverzeichnis

Die Zeit der Vorbereitung

Britt reimt sich nicht

Rund ist der nicht!

Karneval ist nicht

Konfer ist nicht

Kein Grund zum Feiern

Der Geist der Flasche?

Schafhaus

Warten

Dienstagnachmittag

Lose

Bücher sind zum Lesen da

Weihnachten verboten

Süßer die Glocken

Ihr Kinderlein, kommet

Nachfolgen

Ostern

Der Balken

Nur über meine Leiche

Zwölf

Keine Freizeit

Lena

Die erste Woche

Dann wollen wir mal

Peinlich

Überflüssig?

Möwenschiet

Es sind nur Haare

Füchse haben Gruben

Habe nun Ruhe!

Jeder Tag hat seine eigene Plage

Sorget nicht!

Vor wem sollte ich mich fürchten?

Ungeteilte Gewänder

Macht satt

Zu spät

Unser tägliches Brot

Die übrigen Brocken

Die Kleinen

Kleines wird groß

Talente

Die wahren Verwandten

In guten wie in schlechten Zeiten

Wasser zu Wein

Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht

Böses Erwachen

… der werfe

Die zweite Woche

Zu dreien

… der verleugne sich selbst

Müssen und Wollen

Menschenfischer

Wer mich verleugnet

Hase und Fuchs

Drei sind eins

Schwarzes Loch

Lasst die Kinder …

Den schmalen Weg gehen

Mädchen, steh auf!

Zwei Herren dienen

Maria Magdalena

Ihr werdet stille sein

… dass er diene

Einer trage des anderen Last

Wohin du gehst

Das Vogelnest

Der Hügel der Verklärung

Den Staub von den Füßen

Einkehr

Mühselig und beladen

Der Kindersegen

Auf dem Meer wandeln

Der Segen des Schweigens

Letzte Worte

Einer fehlt

Einer zu viel

Vom Regen in die Traufe

Aus dem Gleichgewicht

Der verlorene Vater

Regen und Segen

Maria aber hörte zu …

Gemeinsam einsam

Schwieriger als mit Jott

Der gewisse Moment

Dürfen wir reinkommen …?

Im Licht der Wahrheit

Die große Enttäuschung

Der Geist weht, wo er will

Tauben und Schlangen

Jotts Schwäche

Die große Revanche

Die Blume verwelkt

Die Einladung

In der Welt habt ihr Angst

Gestörte Verbindungen

Ein langer Tag

Dann aber bleiben diese drei

Die Vorladung

Die Festnahme

Die 12 Geschworenen

Die Verhandlung

Das Urteil

An Gottes Segen ist alles gelegen

Ja, mit Gottes Hilfe

Er muss abnehmen …

Die Zeit der VorbereitungDie Zeit der Vorbereitung

Britt reimt sich nichtBritt reimt sich nicht

Es begann eigentlich ganz unauffällig. Nichts deutete darauf hin, dass da etwas in der Luft lag, etwas, über das man in Weihbach später noch jahrelang reden würde.

Die Sommerferien waren schon eine Weile vorüber, vierzig Tage, um genau zu sein, und nun gingen auch die Herbstferien zu Ende, und bis Weihnachten würden die Menschen rund um die Weihbacher Kirche sich nun durch ihren Alltag mühen, durch immer kürzere und trübere Tage, Hausarbeit, fieldarbeit, Totengedenken.

Das Gemeindehaus neben der Kirche lag immer ein wenig im Schatten. Es gab zu viele hohe Bäume ringsum. Trockenes Laub raschelte unter den Füßen der zwölf, die sich der blau gestrichenen Eingangstür näherten. »Blau ist die Hoffnung«, sagte Pitt zu Andi. »Ob es wieder ausfällt?«

Britt sah zu ihnen hinüber. Sie saß auf der Lehne der Bank, die neben dem Eingang stand, und hatte die Beine übereinandergeschlagen. Sie ließ ihren langen Pony ins Gesicht fallen. Sie hasste Pitt – vor allem wegen seines Namens. Denn jeder, der beide Namen hörte – Britt, Pitt –, grinste und machte eine Bemerkung über Reime. »Gar nicht witzig«, murmelte Britt vor sich hin und beschloss, einfach sitzen zu bleiben.

Andi erreichte als Erster die Tür und rüttelte an der Klinke. »Seht ihr!«, rief er erleichtert. »Abgeschlossen.« Johanna, Britts Freundin, kam von hinten, über die Wiese. »Meine Mam wird allmählich nervös«, meinte sie. »Kein Konfer, keine Konfirmation? Dabei lässt sie schon Tischkärtchen drucken.« Pitt starrte sie an. »Nicht wirklich, oder?« Er stieß Andi an und wiederholte: »Tischkärtchen!« Britt hasste ihn noch mehr als sonst.

Auf einmal öffnete sich die Tür wie von selbst. Niemand zeigte sich, auch nicht der dicke, langweilige Diakon »Jott« für Jakobsen. Dennoch war das Öffnen der Tür eine Aufforderung einzutreten. Murrend kamen die zwölf ihr nach. Bock hatten sie nicht die Bohne.

Rund ist der nicht!Rund ist der nicht!

Die Räume rochen ein wenig muffig nach der langen Pause, Sommerferien, Herbstferien und dazwischen die Zeit, in der Diakon Jott nicht dagewesen war.

Er habe eine geistliche Krise, hatte man sich erzählt. »Geistliche Krise«, hatten die Leute von Weihbach gemurrt. »Wetten, die kommt aus der Flasche?« Der dicke, langweilige Diakon Jott war nicht aus Weihbach. Man konnte nicht viel mit ihm anfangen.

Die Stühle standen in einem halb zerstörten Kreis. Pitt nahm sich den erstbesten und schob ihn zum Fenster. Er setzte sich, streckte die Beine aufs Fensterbrett und legte die Hände entspannt in den Nacken. Andi suchte seine Nähe. Er verzichtete auf einen Stuhl und setzte sich direkt ins Fenster.

Die Mädchen machten ihren eigenen Kreis, Britt und Johanna, die kleine Judith und Simone mit den roten Haaren. Jeder dachte, sie seien gefärbt, und Simone wünschte sich nichts sehnlicher, als dass das wahr gewesen wäre.

Tamara, die Fremde, blieb für sich. »Soll sich an Jacques halten«, hatte Pitt mal zu Andi gesagt. »Der ist auch fremd.« Dann war da noch die Bande vom Mühlberg, Jakob, Matti, Philip, Tom – die verzogen sich in die letzte Ecke.

»Ein Kreis ist das nicht«, sagte auf einmal eine langweilig gleichmäßige Stimme. Die zwölf ließen sich Zeit damit, nach dem Sprecher zu sehen. Der stand in der Tür, angelehnt, die Arme gekreuzt, und wartete auf ein Wunder – darauf, dass sie einen Kreis bildeten?

»Kreis – hatten wir noch nicht«, murmelte Tom vom Berg unüberhörbar. Er tat, als besinne er sich auf die Mathestunden. »Kreis ist was für Babys«, ergänzte Jakob. Er hatte einen Bruder, der in den Kindergarten ging.

»Krasses Styling«, bemerkte Pitt, der es geschafft hatte, sich der Tür zuzuwenden, ohne seine Beine vom Fensterbrett zu nehmen. Bloß die Arme waren nicht mehr ganz so entspannt. Die anderen elf prusteten los. Zwei Worte von Pitt – und jetzt erst begriffen sie, dass etwas geschehen war.

Der da in der Tür stand und von einem Kindergartensitzkreis träumte, klang zwar wie der dicke, langweilige Diakon Jott. Aber er sah nicht so aus. Erst einmal: Er war nicht mehr dick. Blieb höchstens noch langweilig übrig. Aber wenn, dann hatte er es gut getarnt. Etwas Sackähnliches fiel ihm vom Hals und über die Schultern bis auf den Boden. Und da schauten seine Füße hervor – Füße, keine Schuhe. Nackt. Sein Haar, das kurz gewesen war, hing zipfelig bis zu den Schultern. »Wir haben ihn wirklich lange nicht gesehen«, sagte Johanna zu Britt. Britt verzog den Mund. »Lohnt auch nicht«, behauptete sie.

Karneval ist nichtKarneval ist nicht

Die anderen waren uncool genug, nachzufragen. »Was soll das?«, fuhr Matti vom Berg den Diakon an. »Wollen Sie zum Karneval?« »Mein Lieber«, sagte Diakon Jott. »Der Karneval endet mit dem Aschermittwoch. Danach beginnt die Zeit der Buße. Und die ist noch lange nicht vorbei.« Tamara, die Fremde, stand auf. »Da hat er recht«, sagte sie, sonst nichts, dann setzte sie sich wieder hin.

Es krachte, als Pitts Stuhl kippte. Einen Augenblick lang saß er verdutzt am Boden wie ein kleiner Junge. Die elf wagten zögerlich zu lachen. Da blitzten Pitts Augen, und er kam rasch auf die Füße. »Tu endlich was gegen deine Haarfarbe, Simone«, schoss er in eine beliebige Richtung. »Grausam, wie die in den Augen beißt!«

»Besser rote Haare als rot im Gesicht!«, fauchte die kleine Judith zurück. Und wieder lachten ein paar. Andi warf ihr einen erstaunten Blick zu. Cool war sie nicht, die Kleine, aber gut.

»Haltet doch mal die Klappe!«, rief Johanna. Sie stand auf und ging auf den Diakon zu. »Sie wollten uns was erklären«, erinnerte sie ihn. Sie sah sich flüchtig nach Britt um. Dann hob sie die Hand und zupfte an Diakon Jotts Gewand. »Zum Beispiel«, sagte sie, »was das ist?«

»Nein«, sagte Diakon Jott. »Warum sollte ich?« Auf einmal war es still. Pitt bückte sich und stellte seinen Stuhl wieder hin. Er drehte ihn aber diesmal zur Tür. Johanna schluckte, ließ die Hand sinken und schob sich rückwärts zu ihrem Platz zurück. »Und jetzt?«, flüsterte sie Britt zu. Britt hob die Schultern. »Wer hätte gedacht, dass er noch langweiliger werden könnte?«, bemerkte sie spitz.

Konfer ist nichtKonfer ist nicht

»Ich will euch nichts erklären«, sagte Diakon Jott mit seiner langweiligen Stimme. »Ich frag euch ja auch nicht, warum ihr Jeans tragt, die neu sind, aber alt und zerrissen aussehen, so als hättet ihr drei Jahre Wüstenwanderung hinter euch. Ich frag Matti nicht, was das Monster auf seinem Bauch zu bedeuten hat, und Britt nicht, ob sie davon träumt, einmal so schön zu sein wie die Sängerin auf ihrem Rücken. Ich frag Johanna nicht, warum sie ihre Füße in Stöckelschuhe zwängt, und Andi nicht, warum er alles drei Nummern zu groß kauft. Nee, Leute, ich frag nicht – und ich geb euch keine Antwort.«

Damit hatte er zum zweiten Mal in einer einzigen Konfirmandenstunde für Ruhe gesorgt. Matti vom Berg hatte sich hinter Jakob und Tom verzogen, Britts Kopf war so rot wie Simones Haare. Johanna kreuzte die Füße und Andi starrte erwartungsvoll auf seinen Bruder Pitt.

»Das sag ich meiner Mutter!«, erklärte auf einmal die kleine Judith. »Ich wette, das dürfen Sie nicht!« Diakon Jott stieß sich vom Türrahmen ab. Er sah sie an und nickte ihr zu. »Gut, dass du mich daran erinnerst«, sagte er mit seiner eintönigen Stimme. »Ich muss eure Eltern sprechen. Alle. Morgen Abend um sieben.« Damit drehte er sich um und verließ den Raum. »Und jetzt?«, sagte Johanna zu Britt. »Konfer ist nicht«, sagte Britt. Sie stand auf, marschierte an Pitt vorbei und stieg durchs Fenster nach draußen.

Kein Grund zum FeiernKein Grund zum Feiern

Es dämmerte schon, als vor dem Gemeindehaus wieder das Laub raschelte. Es waren wieder zwölf. Die Eltern von Jacques, Simone und Johanna waren zu zweit da, das machte sechs. Der große Dunkle war der Vater von Pitt und Andi, Judiths Mutter lief einen halben Schritt hinter ihm. Die Mühlberger, Tom, Jakob, Philip und Matti, wurden durch zwei Väter vertreten, Tamaras Eltern konnten nicht und Britts hatten sich geweigert. »Verstehen Sie das?«, fragte Johannas Mutter die rothaarige Mutter von Simone. »Nicht die Bohne«, sagte Simones Mutter. »Aber dass es eine Unverschämtheit ist, das weiß ich.«

Sie schoben sich durch die blau gestrichene Tür und in den Gemeinderaum. »Wie es hier schon aussieht!«, bemerkte Johannas Mutter naserümpfend. Stühle standen kreuz und quer, ein Fenster war angelehnt. Zwei Stühle lagen mitten im Weg. »Ein Kreis ist das nicht«, ergänzte Pitts Vater.

Diakon Jakobsen kam als Letzter. Die Erwachsenen hatten sich Stühle genommen und sich in zwei Reihen vor einen Tisch mit Kerzen und Gesangbüchern gesetzt, von dem sie annahmen, dass er der Platz des Redners sei.

Diakon Jakobsen musterte die Anordnung und ging mit langen, langsamen Schritten zum Fenster. Er setzte sich auf das Fensterbrett und verschränkte die Arme im Nacken. »Das ist der Lieblingsplatz von Pitt«, sagte er in die Richtung von Pitts Vater. »Wenn das ein Vorwurf ist«, fuhr Pitts Vater auf, »dann erklären Sie uns erst einmal Ihren Aufzug!«

Diakon Jakobsen trug ein ungefärbtes Gewand, und er war barfuß. Das Haar fiel ihm wellig auf die Schultern. Auch wenn er gekämmt und rasiert war, wirkte er irgendwie – unordentlich.

Judiths Mutter stieß Pitts Vater an. »Frag lieber nicht, Jonas«, flüsterte sie. »Sonst fragt er dich, warum du Tennissocken trägst.«

»Wir sind hier nicht zusammengekommen, weil wir uns austauschen wollen«, sagte Diakon Jakobsen mit seiner eintönigen Stimme. »Nein!«, bestätigte Johannas Mutter. »Denn dazu hätte es einer offiziellen Einladung bedurft, mit einer angemessenen Frist.« Diakon Jakobsen sah kurz in ihre Richtung und runzelte die Stirn. »Jaja«, sagte er irritiert. Dann holte er neu Atem.

»Wir sind hier zusammengekommen«, begann er wieder, »um uns aufzulösen.« Und dann erklärte er den sprachlosen Eltern, dass er ihren Kindern keinen Konfirmandenunterricht mehr erteilen und sie – unter den gegebenen Umständen – auch nicht konfirmieren werde.

Johannas Mutter stieß einen schrillen Schrei aus. »Sie lässt bereits Tischkärtchen drucken«, flüsterte Pitts Vater Judiths Mutter zu. Judiths Mutter verdrehte die Augen, und Pitts Vater grinste breit.

»Ich glaube nicht, dass Sie das dürfen«, sagte einer der Väter vom Berg. Die anderen Eltern nickten zustimmend. »Wo kämen wir da hin!«, murmelte einer, und ein anderer ergänzte: »Das ist Ihr Job, mein Lieber!« Diakon Jakobsen hörte ihnen zu und begann zu lächeln. Das Lächeln sah langweilig und freudlos aus – wie der ganze Mann.

»Gibt es dafür einen Grund?«, fragte Pitts Vater schließlich. Diakon Jakobsen nickte. »Ja«, sagte er. »Es ist Bußzeit. Wir haben keinen Grund zum Feiern.«

Der Geist der FlascheDer Geist der Flasche

In den nächsten Tagen geschah – für Weihbacher Verhältnisse – allerlei. Die Eltern der zwölf begannen, sich mit der Kirche auseinanderzusetzen. Die einen wandten sich an den Pfarrer, andere an den Propst. Die Beschwerde an den Bischof, die Johannas Mutter verfasste, wurde als Einschreiben zugestellt.

Leserbriefe erschienen in der lokalen Presse, sogar ein angriffslustiger Artikel über den Diakon J., der seinen Pflichten nicht mehr nachkommen könne, da er offenbar allzu tief in die Flasche schaue.

Seltsamerweise fanden all diese Bemühungen kein Echo. Weder der Propst noch der Bischof griffen ein. Die benachbarten Pfarrer weigerten sich, die zwölf in ihre eigenen Konfirmandengruppen aufzunehmen, niemand nahm Anstoß daran, dass es in Weihbach im übernächsten Mai keine Konfirmation geben würde. Und die zwölf hatten nach wie vor freie Dienstagnachmittage.

Eines Dienstagmittags setzte sich Andi im Schulbus neben die kleine Judith. Pitt hatte eine Stunde länger Unterricht, Simone auch. Er sah eine Weile aus dem Fenster. Dann sah er Judith an. Und endlich machte er den Mund auf. »Fragst du dich eigentlich nicht, warum?«

Sie wusste gleich, dass er den Diakon meinte und den Konfer. Den Rausschmiss. »Du weißt doch, was geredet wird.« Ihre Stimme klang seltsam. Sie sprach einen Punkt, aber sie meinte ein Fragezeichen. »Paps sagt, da sei nichts dran«, bemerkte Andi. »Sonst würde die Kirche längst eingreifen.«

Sie nickte. Andi rutschte auf seinem Sitz herum. »Was aber ist es dann?«, bohrte er nach. »Irgendwas stimmt nicht mit dem, das ist klar. Aber was?« Judith beugte sich vor und sah ihm direkt ins Gesicht. »Und wenn es an uns liegt?«

Der Schulbus fuhr einen weiten Bogen. Bevor er nach Weihbach fuhr, brachte er die Mühlberger auf ihren Berg. Und bergab gab es zwei weitere Dörfer. In Schafhaus stand Andi plötzlich auf und nahm seine Tasche. »Den Rest lauf ich«, erklärte er.

Seine Stimme klang seltsam. Er sprach einen Punkt, aber er meinte ein Fortsetzungszeichen. Judith nickte und griff sich ihren Rucksack. »Okay«, sagte sie, und dann stiegen sie beide aus.

SchafhausSchafhaus

Schafhaus war kleiner als Weihbach, eigentlich bloß ein paar Häuser und Gehöfte um einen Dorfplatz mit Brunnen. Andi und Judith fielen gleich auf. »Was wollen die denn hier?«, wunderten sich zwei Schulkameraden. Judith trat ohne Scheu auf sie zu. »Wo wohnt denn der Jott?«, fragte sie locker. Die beiden starrten sie bloß an. Dann wies einer mit einem Kopfnicken auf das letzte kleine Haus am Ende der holperigen Dorfstraße.

Judith und Andi wechselten einen Blick, der bedeutete: Das schauen wir uns mal an.

Das Haus war wirklich winzig. »Ein einziges Zimmer«, vermutete Judith. »Klo auf dem Hof?«, ergänzte Andi. Judith zog die Nase kraus. »Wohl kaum«, meinte sie. »Da machen schon andere ihr Geschäft …« Tatsächlich graste rund um das Häuschen eine kleine Herde Schafe. »Wenn ich das Pitt erzähle!«, sagte Andi. »So doof wirst du nicht sein«, behauptete Judith.

Keck klinkte sie das Gartentor auf und betrat das Grundstück. Sie ging aber nicht zur Haustür, sondern mogelte sich unter die Schafe. »Da bist du unter Deinesgleichen«, sagte Andi und grinste. Sie sah ihn schräg an. »Hattest du das jetzt nötig?« Er hob die Schultern. »Pitt hätte das auch gesagt.«

Der Jott stand in seiner Wohnküche – das Haus hatte tatsächlich nur einen Raum – über einen Tisch gebeugt und las. Judith und Andi erspähten ihn durch ein Fenster an der Rückseite. »Der liest«, sagte Judith. »Wundert dich das?«, fragte Andi. »Bestimmt in der Bibel.«

Judith schob sich noch näher heran. »Ein Kochbuch«, stellte sie fest. Sie hatte versehentlich das Fenster berührt. Jäh schwang es nach innen. Diakon Jott hob den Kopf und sah Judith und Andi ins Gesicht.

»Kommt rein«, befahl Diakon Jott, aber er machte keine Anstalten, die Tür zu öffnen. »Ist doch sonst eure Art, über Tische und Bänke und durch Fenster zu gehen.« Seelenruhig sah er zu, wie erst Andi, dann Judith bei ihm einstiegen. Judith zerriss sich ihre Hose und fluchte. »Wieso schimpfst du?«, meinte der Diakon. »Zerrissen ist in, oder nicht?«

Sie strich ihre Haare hinters Ohr und stellte sich gerade hin. »Wieso sind Sie so garstig?«, fragte sie. Andi bekam einen roten Kopf und tat, als lese er in dem Kochbuch. Diakon Jott lächelte sein freudloses, langweiliges Lächeln. »Seht ihr, es ist eben doch schlauer, die goldene Regel zu beherzigen.«

Judith fragte nicht nach. »Wenn Sie glauben, dass ich frage …«, sagte sie bloß und endete mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Behandele andere so, wie auch du behandelt werden willst«, zitierte Diakon Jott unbeirrt. Sie hob die Schultern. »War mir klar.«

»Mir ist nicht klar, was ihr hier wollt«, sagte Diakon Jott. »Mir auch nicht«, sagte Judith ärgerlich. Sie sah zu Andi, aber Andi las. »Dattelpaste«, sagte er plötzlich. »Ich wollte wissen, wie man die macht.« »Mit viel Zimt und einer Prise Muskat«, erläuterte Diakon Jott, ohne mit der Wimper zu zucken.

Judith fasste sich an die Stirn. »Was ist das für ein Kochbuch?«, fragte sie schließlich. »Indisch«, meinte Andi. »Unsinn«, widersprach Jott. »Israelisch.«

Er schlug das Buch zu und zeigte ihnen das Titelbild. Eine Wüste. In der Ferne eine Oase. »Ich will wissen, was er gegessen hat.« »Er …?«, sagte Andi. Judith biss sich auf die Lippen. »Ja«, sagte Jott. »Und was wollt ihr wirklich?«

»Konfer?«, sagte Andi. Dann schlug er sich entsetzt auf den Mund. Judith half ihm. »Das könnte Ihnen so passen, uns einfach in die Wüste zu schicken!« Diakon Jakobsen grinste. »Macht euch Dattelpaste«, riet er.

Andi und Judith rochen ein wenig nach Schaf, als sie später den Berg hinunterwanderten. »Du richtest dich wohl in allem nach Pitt«, sagte Judith. Andi schwieg ziemlich laut. »Wehe, du erzählst ihm was«, brachte er schließlich knirschend hervor. »Schaf!«, sagte sie und rannte voraus.

WartenWarten

Es dauerte bis zum ersten Advent, bevor die Weihbacher den Diakon Jakobsen dazu bewegen konnten, noch einmal mit ihnen über die Konfirmation ihrer Kinder zu sprechen.

Diesmal gab es sogar ein Einladungsschreiben. »Falls ihr Zeit zum Lesen habt«, begann es – denn es war an die zwölf gerichtet, nicht an ihre Eltern –, »dann lest das: Morgen Abend, sieben Uhr, bin ich am bekannten Ort. Ich erwarte einen Kreis. Und offene Ohren. Sonst behalte ich meinen Vorschlag für mich, und Johannas Mutter kann ihre Tischkärtchen endgültig einstampfen. Schalom.«

»Schalom heißt Frieden«, murmelte Judiths Mutter, als ihre Tochter ihr das zum Lesen gab. Pitts Vater war auch gleich herübergekommen, und sie starrten gemeinsam auf das handschriftlich verfasste Papier. »Ich wette, das weiß er nicht mal«, erklärte Pitt, der hinter seinem Vater stand. Andi neben ihm grinste.

»Gehen wir da hin?«, fragten sich im Laufe des nächsten Tages alle, die der Brief betraf. Sie alle waren sich einig, dass sie nicht gehen wollten. »Nicht in diesem Ton, Herr Diakon!«, reimte Britts Mutter, und Britt wurde wahnsinnig sauer und erklärte wieder einmal, wie sehr sie Reime hasste – und einen ganz besonders.

Trotzdem waren es zweimal zwölf, die kurz vor sieben im Gemeinderaum einen Stuhlkreis aufbauten. Sie hatten Herbstlaub mit hereingetragen und sogar die ersten schlappen Flocken Schnee. Alles in allem sah es nicht sehr ordentlich aus, als Diakon Jakobsen eintraf. Aber er selbst sah ebenfalls nicht sehr ordentlich aus. Das Haar war weiter gewachsen, und diesmal war er nicht einmal rasiert.

»Sind Sie echt … barfuß … durch den Matsch …?« Matti konnte nicht verhehlen, dass er beeindruckt war. »Er kommt aus Schafhaus«, bemerkte Pitt, als ob das alles erklärte. Andi lachte. Aber Judith sah ihn an, bis er verstummte.

»Ich mache euch und Ihnen ein Angebot«, sagte Diakon Jakobsen, ohne sich mit Begrüßungsworten aufzuhalten. »So und nicht anders.« Dann eröffnete er ihnen, dass es keine Dienstagnachmittage mehr geben werde.

Er verlangte stattdessen vierzehn Tage der nächsten Sommerferien. Er werde mit den zwölfen auf eine Nordseeinsel ziehen, und sie müssten tun, was er für sinnvoll halte. Unter der Bedingung würde er sie konfirmieren.

»Sonst«, sagte er, »nur über meine Leiche.« »Amen«, sagte Pitt in das verblüffte Schweigen. Aber diesmal lachte keiner.

DienstagnachmittagDienstagnachmittag

»Ich will das nicht«, sagte Britt schrill. Sie hockten zu zwölft auf der Bank vor dem Gemeindehaus und darum herum. »Lagebesprechung«, hatte Pitt es genannt, und alle hatten verstanden, dass es sein musste. Es schneite und war ziemlich kalt, feucht und matschig, durch und durch. »Die Frage stellt sich nicht«, erklärte Johanna betrübt. »Mam will, dass ich konfirmiert werde, koste es, was es wolle.«

»Auch wenn es heißt, dich derartig – auszuliefern?« Simone war außer sich. »Nur über meine Leiche …« Sie ahmte den schleppenden Tonfall von Diakon Jott nach. »Ich glaube, unsere Eltern wissen mehr«, mischte Tamara sich ein. »Ich weiß von einem Termin im Kirchenamt.« Die anderen starrten sie an. Tamara, die Fremde. Die wusste also was. »Spuck’s aus«, befahl Pitt ungeduldig. »Was weißt du noch?«

Johanna hatte eine Sprachreise geplant, Tom eine Hüttentour. Matti wollte seinen geschiedenen Vater besuchen und Pitt und Andi die geschiedene Mutter. Es dauerte eine Weile, bis jeder der zwölf von jedem wusste, warum er in den kommenden Sommerferien auf keinen Fall mit dem Jott auf die Insel konnte.

»Überhaupt«, seufzte Simone. »Eine Nordseeinsel! Nicht die Bohne von Bock!« »Das ist was für Babys«, ergänzte Jakob prompt. Es kam heraus, dass sie sich alle längst schlau gemacht hatten. Es handelte sich um eine kleine – eine sehr kleine – Insel.

Da gab es nichts als eine Vogelwarte, ein paar Fischerhäuser und einen Campingplatz. Und Sand und Watt, jede Menge. Touristen mochten das gut finden. Für die zwölf war es öde. »Warum nicht gleich in die Wüste?«, maulte Tom.

Judith und Andi tauschten einen Blick, und Andi grinste. Britt war die Einzige, die keine eigenen Pläne für die Sommerferien genannt hatte. »Ich will einfach nicht«, sagte sie stur. »Und ich lass mich nicht zwingen.«

Pitt schlug ihr auf die Schulter. »Du bist nur ein kleines Mädchen«, sagte er. Sie trat ihn mit voller Wucht vor das Schienbein und hasste ihn wieder ein paar Grad heißer.

LoseLose

Am nächsten Dienstag trafen sie sich wieder. Verabredet war es nicht. Aber es musste wohl sein. Es hatte wieder geschneit, und der Küster hantierte mit einem Schneeschieber. »Soll ich euch aufschließen?«, fragte er, als er die zwölf in Schal und Mütze an der Bank stehen sah.

Kurz darauf hatten sie die Stühle zu einem engen Kreis zusammengeschoben und zeigten sich gegenseitig schmale Streifen Papier. Jeder von ihnen hatte einen bekommen. »Uralt«, meinte Matti und strich seinen glatt. »Seht nur: So ein komisches Zeug gibt es heute gar nicht mehr.«

Die anderen glaubten ihm nicht. Aber zugeben mussten sie, noch nie so etwas Fremdes in den Händen gehalten zu haben. Papier war nicht das richtige Wort. Es war grober, körniger, ungleichmäßiger als Papier, aber weicher und biegsamer als Pappe. Es war mit Buchstaben bedeckt, die keinen Sinn ergaben. »Geheimschrift«, meinte Tom. »Oder ein Code«, sagte Philip.

»Meine Mutter sagt, das sind griechische Buchstaben«, erklärte Tamara, und von da an hasste Britt auch Tamara. »Lies es vor«, befahl Pitt. »Na, los, wenn du so schlau bist: Lies es vor!« Tamara rollte ihren Streifen zwischen den Fingern und tat, als hätte sie ihn nicht gehört.

»Wir schmeißen es weg«, sagte Simone plötzlich. »Ja, los, das wird das Beste sein. Wir schmeißen es weg. Wir lassen das nicht mit uns machen!« Zustimmendes Gemurmel erhob sich. »Was genau?«, fragte Judith plötzlich. »Was lassen wir nicht mit uns machen?« Simone hob die Schultern. »Was weiß ich«, sagte sie ungeduldig.