Cover

Frank M. Reifenberg

Schwesternlüge

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Frank M. Reifenberg

Frank M. Reifenberg, im Westerwald aufgewachsen, seit 20 Jahren Wahlkölner, nach dem Abitur Ausbildung zum Buchhändler, danach Texter in Public-Relations-Agenturen, später mit eigener Agentur, zum Jahrtausendwechsel noch einmal von vorne begonnen: Ausbildung an der Internationalen Filmschule Köln. Schreibt seit über zehn Jahren Drehbücher und Konzepte für Film und Fernsehen, Romane und Erzählungen oder auch mal das Libretto für eine Jugendoper, wenn man ihn – wie die Bayerische Staatsoper – darum bittet.

Über dieses Buch

Mira hat ihre Eltern verloren, als sie noch ein kleines Kind war. Und nun auch noch Jana, ihre ältere Schwester. Nach einem Streit flüchtete Jana nach Berlin. Als Mira sie wiedersieht, liegt sie bewusstlos in einem Krankenhaus. Und Mira muss sich eingestehen, dass sie wenig über Jana weiß. Was ist passiert? Warum liegt Jana schwerverletzt in der Klinik? Auf der Suche nach Antworten wird es für Mira gefährlich, denn Jana scheint sich mit der Mafia angelegt zu haben. Doch die richtige Spur führt nach Hause ...

 

Spannend! Aufwühlend! Verstörend! Ein Roman über Vertrauen, Schwesternliebe und dunkle Familiengeheimnisse.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, April 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Lektorat Silke Kramer

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Umschlagabbildungen: mauritius images/OJO images; thinkstock)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-21656-5 (1. Auflage 2013)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-49301-8

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-49301-8

1 Montag, 18. Juni 2012

Wir Schwestern zwei, wir schönen,

so gleich von Angesicht,

so gleicht kein Ei dem andern,

kein Stern dem andern nicht.

 

Aus dem Gedicht «Die Schwestern» von Eduard Mörike (18041875)

Berliner Vorwahl, dann eine endlose Zahlenreihe. Meine Durchwahl, da erreichen Sie mich direkt, ganz sicher, hatte die Stimme gesagt, und es noch einmal wiederholt. Ganz sicher. Voll und sanft hatte sie geklungen, aber auch neutral, ungerührt. Und sie blieb unverändert, als ich mich gerade eben zwölf Stunden später vor dem dazugehörigen Mann wiederfand und meinen Namen stotterte: «Mira, Mira … Ich bin Mira.»

Sozialdienst stand auf einem Plastikschild, ungefähr auf Augenhöhe neben der Tür zu seinem Büro im ersten Stock des Krankenhauses. Jemand hatte mit der Hand Bitte einzeln eintreten! auf ein Stück Pappe geschrieben und es in die bröckelnde Ritze zwischen Rahmen und Wand geklemmt.

Meine Haut schien zu glühen, obwohl ich fror. Seit ich in Echternach den Bus bestiegen hatte, fühlte ich mich so. Trier, Köln, Umstieg in den ICE, mein Bargeld war fast komplett draufgegangen, aber ich hatte gezahlt, nicht versucht, den Schaffnern zu entkommen.

Der Sozialarbeiter stellte sich mit seiner sanften, vollen Stimme vor. Sanft und voll. Und ungerührt. Die perfekte Stimme für solche Botschaften. «Der Unfall ereignete sich vor siebzehn Tagen, nein, Überfall», korrigierte er sich mit einem Blick in eine lindgrüne Aktenmappe, ganz hell, nur noch ein Hauch von Grün. Er las vor: Misshandlungen, Kopfverletzungen, keine Zeugen, der Kommissar, persönliche Habe – die Worte fluteten an mir vorbei.

Was ist Habe, was ist Habe?, fragte ich mich, unterbrach den Mann jedoch nicht. Quittieren, dort, ja, gut so, der Kommissar, Karte, anrufen. Meine Bewegungen liefen automatisch ab, ich unterschrieb, nahm entgegen, steckte ein.

«Vergewaltigt? Nein, keine Vergewaltigung, nein. Ich bringe dich zu ihr, darf ich du sagen? Ich bin Peter, wenn du magst …»

Hatte ich ihn danach gefragt?

«Nur Misshandlungen, keine Vergewaltigung», wiederholte der Sozialarbeiter.

Ich erinnerte mich nicht. Hatte ich ihn danach gefragt? Ich würde nie so etwas fragen. Warum eigentlich nicht? Weil du verklemmt bist, würde Jana sagen.

Bin ich nicht. – Bist du doch. – Bin ich gar nicht!

«Möchtest du sie jetzt sehen?»

«Bitte?», fragte ich.

«Deine Schwester, Jana.»

Ich nickte und ging einfach hinter ihm her. Er trug Sandalen und gelbe Wollsocken, eine an der Ferse gestopft. Dunkelgrünes Garn. Lange Gänge, auch grün, grüne Streifen rechts und links auf halber Höhe, im nächsten Stockwerk gelbe Streifen, eine Flügeltür aus Glas, Zimmer rechts und links, an einer Tür blieb er stehen und ließ mir den Vortritt.

«Sie hat das Zimmer noch für sich», sagte er und dass er uns beide nun allein ließe, der Knopf, neben dem Bett, für Notfälle, falls sie Hilfe brauche, er mache gleich Schluss.

Und ich war allein mit Jana.

Mit den Schläuchen. Der Maske über Mund und Nase. Den Maschinen. Schalter. Lämpchen. Nur grüne leuchteten. Gut. Grün. Grün ist gut.

Was von Jana nicht unter schneeweißen Verbänden verschwand, bedeckte eine Beatmungsmaske oder es schimmerte grün und blau. An den Unterarmen schwollen die Blutergüsse schon ab.

Die Decke, unter der sie lag, franste an den Kanten ein wenig aus.

Die Decke gehörte nicht ihr. Ich hatte sie noch nie gesehen. Aber ich war auch noch nicht in ihrer neuen Welt gewesen. Nichts wusste ich von Janas neuer Welt, so gut wie nichts, außer dass meine Schwester nun vor mir lag. Still. Unter einer Decke, die gar nicht zu ihr passte.

Es ist wie eine neue Welt, Mirabella, hatte Jana geschrieben, voller Wunder, obwohl es nur Berlin ist. In den Ferien kommst du her. Ich werde dir alles erklären, ALLES, das ist versprochen, aber ich muss jetzt den Dingen auf den Grund gehen, allein, ich brauche Zeit. Die Adresse schicke ich dir, sobald es so weit ist. Okay?

Dieses Okay erlaubte keine Widerworte, es klang mir geradezu in den Ohren. Ich kannte den Ton, den meine Schwester für diese Art von okay anschlug.

Du hast von einer Welt voller Wunder geschrieben, nicht voller Gefahren, hätte ich nun gerne gesagt, nicht von Typen, randvoll mit Drogen, die auf deinen Kopf treten. Bis er platzt.

Doch ich schwieg.

Wem gehörte die Decke? Baumwolle, hell, wie Sand, ein Schaukelpferd darauf, in Rot, ein blauer Elefant, Bär, Sterne, Mond, verblasste Farben, kaum groß genug, um ein Kinderbett zu bedecken.

Auf unseren Betten hatten nie Tagesdecken gelegen, nur die schweren Plumeaus, eingehüllt in die Bettwäsche der Saison: Hello Kitty, bunte Ponys, Lillifee – wir hatten beide keine Geschmacklosigkeit ausgelassen.

«Reden Sie mit ihr», sagte eine Frau.

Ich erschrak. Ich hatte niemanden hereinkommen gehört.

Die Frau trat ans Bett. Auf dem Schild an ihrem Kittel stand ihr Name. Elke Sommer. Stationsschwester. «Sind Sie eine Freundin? Verwandte?»

«Schwester, ihre Schwester», flüsterte ich.

«Reden hilft. Sie hört es … irgendwie», murmelte sie und kontrollierte die Schläuche, das Gerät.

Es ist alles grün, dachte ich.

Und Elke Sommer nickte zufrieden, als habe sie es gehört. «Alles im grünen Bereich», sagte sie. «Mit dem Arzt können Sie erst morgen sprechen. Setzen Sie sich einfach zu ihr und wie gesagt: Reden Sie mit ihr. Mehr können Sie nicht für sie tun. Erzählen Sie ihr schöne Dinge.»

 

Als ich Stunden später das Krankenhaus verließ, hatte ich keinen Ton hervorgebracht. Ich hatte ihre Hand gehalten, sie an meine Wange geschmiegt und die Augen geschlossen, um nicht zu sehen, nur zu spüren. Alles sollte wie früher sein.

16. März 2011
(Janas Tagebuch)

Ein Spatz kann alles zerstören. Wenn er nicht durch die morschen Latten der Fensterläden geschlüpft wäre und so schrecklich getschilpt hätte, wäre alles beim Alten geblieben. Vielleicht.

Wie konnten sie die Wahrheit so viele Jahre vor uns verbergen, was haben sie sich bloß gedacht? Dass wir nie Fragen stellen? Aber es stimmt, wir haben nie Fragen gestellt. Mira nicht und ich nicht.

Und jetzt hat ein Sperling alles an den Tag gebracht, ein kleiner Zappler, Passer domesticus, Unterstamm, Klasse, Ordnung, Unterordnung. Familie: Sperling. Alle haben damals in der Schule gelacht, dass ich den langweiligsten aus der Unterordnung der Singvögel erwischt hatte. Mit zwölf tut so etwas weh. Egal, warum sie über dich lachen, es tut weh. Umso verbissener habe ich mich in die Vorbereitungen gestürzt. Für nichts und niemand habe ich mich je wieder so angestrengt wie für dieses Referat.

Du bist volljährig, Jana, volljährig, mehr als das! Du bist kein kleines Mädchen in der Grundschule, du bist gar nicht mehr in der Schule. Du darfst wählen und ein Auto fahren, kommst in den Knast, wenn du Mist machst. Und du hast Augen und Ohren und vor allem einen Bauch, der es hätte fühlen müssen.

Kein einziges Bild gab es, außer dem im Kinderzimmer, die Geschichten dazu, der Umzugskarton mit all den privaten Dingen, der angeblich verloren ging. Ich hätte es spüren müssen, dass etwas nicht stimmte, jedes Kind spürt, wenn es betrogen wird, wenn die Gefühle nicht dem entsprechen, was jemand sagt, gerade ein Kind, es tut weh, so gut kann sich doch niemand verstellen?

Wir wurden all die Jahre belogen, allein gelassen. Wie oft hat Mira geweint, wenn sie aus der Schule kam und die Kinder sie Waisenwurst genannt hatten. Und wenn der Spatz mich nicht in dieses Zimmer gelockt hätte, wäre es so geblieben.

Ich hasse Sperlinge. Ich werde nie wieder ein so verdammtes, langweiliges, braunes Nichts von einem Vogel aus einem verbotenen Raum befreien. Soll er doch schreien und flattern und gegen die Wände fliegen, solange er will.

Beim Betreten des Hauses nahm ich zuerst den Geruch wahr. Er drang mir in jede Pore. Der Flur war getränkt davon. Es fiel mir schwer zu glauben, Jana könnte ausgerechnet hier ihre Welt der Wunder gefunden haben, aber es war die Adresse, die der Sozialarbeiter mir gegeben hatte.

In meinem Leben gab es keinen Menschen wie Jana, die mit so offenen Sinnen durch die Welt ging, immer auf Empfang, alle fünf, alles aufsaugen, alles hineinlassen und dann erst entscheiden, ob es gut ist oder schlecht. In der behüteten Heimat konnte Jana das tun. Die Gefahren, die dort drohten, steckte Jana weg wie nichts.

Welt der Wunder. Schäbig. Das Glas in der Haustür gesprungen, die Briefkästen lose, einer heruntergerissen, er stand an der Hauswand, die mit Schmierereien übersäht war. Ich konnte nichts davon lesen, weil nur ein spärlicher Lichtschein der Straßenlaterne in das Treppenhaus fiel; genau auf den Resten der zersplitterten Flurlampe, ehemals ein Ballon aus milchweißem Glas, sammelte sich noch ein bisschen Licht von draußen.

Ich tastete trotzdem nach einem Lichtschalter, spürte ihn rechter Hand, drückte, ein Funke schlug heraus und entlockte meiner trockenen Kehle einen Schrei, der in die Stimmbänder schnitt, aber kaum einen Ton hervorbrachte. Ich schluckte. Es half nicht.

In den oberen Stockwerken flackerten Lampen auf, hell wurde es unten in der Halle nicht. Ich blieb an der Haustür stehen, ein Luftzug streifte meinen Nacken, die Scheiben aus buntem Glas hinter dem eisernen Gitter waren zerbrochen, eine Scherbe fehlte, daher der kalte Hauch. Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus, durch den Mund, aber der Geruch bahnte sich trotzdem seinen Weg.

Es war mehr als ein Geruch. Es war das traurige Abbild von traurigen Existenzen: Blumenkohl, vor Wohnungstüren ausdampfende Sneaker, ranziges Fett, nasser Hund, irgendwo ein Hauch von Cannabis, Schimmel.

Hier also war sie gelandet. Das sollte es gewesen sein, wovon sie geträumt hatte, nicht nur das, sie hatte davon geschwärmt, in fast romantischen Tönen. Aroma, davon hatte sie gesprochen. Nicht Mief, Gestank, Ausdünstung oder irgendein anderes Wort, das dieser abgestandenen Mischung irgendwie gerecht wurde, hatte sie gewählt, sondern Aroma, als habe die Armut im Leben der Leute hier auch nur einen Hauch von Würze, die dieses Begriffs würdig wäre.

Du hättest auf sie aufpassen müssen. Manchmal muss die kleine Schwester aufpassen. Schwesterchen, komm tanz mit mir. Beide Hände reich ich dir. Hin. Her. Das ist nicht schwer. Es ist längst kein Verdacht mehr, keine Ahnung, Argwohn, Befürchtung. Du weißt es, Mira.

Ein Mann mit Krückstock tippte mich an. «Rein oder raus oder watt», krächzte er halb ungeduldig, halb neugierig und zog den Foxterrier, dessen Leine er sich um die Hüfte geschlungen hatte, hinter sich her. Das Tier lahmte genauso wie sein Herr. Ich hatte die beiden nicht kommen hören, obwohl beider Lunge bei jedem Atemzug rasselten.

Ich begriff, dass ich immer noch in der Haustür der Nummer 356 stand. Tährenmunder Straße 356. Ganz oben. Das Dachgeschoss, klar, Janas Sternzeichen war der Schütze. Schützen brauchten Freiheit, Übersicht.

Ich brauche Luft, Mira, Licht. Da darf nichts drüber sein.

Das hatte sie an dem Abend im März gesagt. Am nächsten Tag war sie weg gewesen.

Ich holte tief Luft und erklomm Etage für Etage die Treppe. Im obersten Stockwerk endete der Gang links an einer Tür, hinter der sich die Toilette befand, jedenfalls deutete ein pinkelndes Männchen, das mit seinem Strahl auf einen Nachttopf zielte, darauf hin. Das Messingschild baumelte an nur noch einem Nägelchen, war hintenübergekippt und das Männchen strullerte nun in die Luft.

Rechts führte eine Stiege mit offenen Stufen hinauf zu einer Luke aus Stahl. Sieben Stufen. Ein massives Schloss sicherte den Zugang. Ich umklammerte die Schlüssel, bis die Haut an den Innenflächen meiner Hand schmerzte. Ich setzte mich auf die unterste Stufe und legte den Kopf an die unverputzte Wand. Etwas hielt mich zurück.

Meine Füße brannten. Der Hunger quälte mich, obwohl ich wusste, dass ich keinen Bissen bei mir behalten würde. Trotzdem fürchtete ich mich davor, Janas Wohnung zu betreten.

Ich kramte in dem alten Armeerucksack, den Großvater mir vor ein paar Jahren überlassen hatte; ich weiß nicht, warum ich so um dieses zerschlissene Ding gebettelt hatte, vielleicht weil es mich an die Wanderungen mit ihm und Jana erinnerte; er vorweg, den Rucksack auf dem Rücken, eine Wasserflasche an einem Karabinerhaken hin und her baumelnd. Ich war immer in der Mitte gegangen, Jana bildete die Nachhut. Das war die Reihenfolge, so musste es sein. Das Küken sicher in der Mitte, weil es oft trödelte und den Anschluss verlor. Mit Jana im Rücken konnte das nicht passieren.

In den Pausen zauberte er mit Fleischwurst belegte Brote und selbstgemachte Limonade in Literflaschen hervor, eine karierte Decke und manchmal auch Marmorkuchen, den Tante Walli gebacken hatte.

Jana hatte die Ausflüge gehasst.

Ganz unten im Rucksack fand ich, was ich suchte: mein Handy. Stumm, tot, leer. Der Akku hielt meistens nur noch ein paar Stunden; das Ladekabel hing zu Hause in der Steckdose neben dem Klavier, auf das ich das Gerät immer legte, während es lud.

«Mist», seufzte ich und stopfte das Handy in eine der Seitentaschen.

Obenauf im Rucksack schimmerte die paillettenbestickte Handtasche.

Habe. Bitte quittieren. Janas Habe. Der Sozialarbeiter hatte sie mir ausgehändigt. Nur dieses Täschchen schien von Jana übrig geblieben zu sein. Es wirkte billig. Es war billig und vor allem war es nicht Jana.

Der Verschluss der Handtasche klemmte; beim Öffnen der Schnalle platzte ein wenig silberner Lack ab. Ein Lippenstift, Marke L. A. Girl, Last Night. Ich schob die Kappe hoch, das Plastik war zerbrochen, ein Riss zog sich hindurch und ein Stück fehlte. Ein grelles Pink schrie mich an. Das Rouge in einer ähnlichen Schattierung. Ein abgebrochener Kajalstift. Eine Strumpfhose, noch in der Verpackung. Eine Dose mit Kompaktpuder hatte sich geöffnet und verschmierte das Futter der Tasche.

Das alles benutzte Jana nicht. Das war nicht meine Jana. Sie war so verliebt in ihre zarte und reine Haut, blütenzart und blütenrein, die tintenblauen Augen, deren Iris an den Rändern fast wie mit einem grafitgrauen Stift nachgezogen zu sein schien, irritierend, beunruhigend fast, wenn man ihrem Blick länger standhielt, was nur wenige schafften.

Niemals verklebe ich mir die Poren mit so einem Make-up-Zeug, niemals, hatte Jana immer beteuert.

Alle hatten sie bewundert, ein strahlender Teint, klare, geradezu scharfe Konturen der Lippen, die dunkel umschatteten Augen, die durch keinen Lidschatten oder schwarze Striche oder sonst etwas aufgemotzt, verrucht gemacht werden mussten.

Ich zog den Reißverschluss eines kleinen Seitenfachs auf. Ein Kondom und drei neue Hunderteuroscheine kamen zum Vorschein. Viel Geld. Warum hatten die Kerle, die Jana das angetan hatten, es nicht mitgenommen?

Die Zeitschaltuhr der Flurbeleuchtung sorgte wieder für Dunkelheit. Dunkelheit über mir, Dunkelheit überall, in mir, um mich herum. Dunkelheit. Ich zog die Beine zur Brust und umklammerte sie mit beiden Armen. Versenkte den Kopf darin.

Du musst Großvater anrufen, ging es mir durch den Kopf. Er machte sich Sorgen, er hatte sich immer Sorgen gemacht, mehr als genug und jedes Jahr nahmen sie zu, worüber ich mich schon oft gewundert hatte. Wir waren doch erwachsen, wir schlugen nie über die Stränge, nicht so wild jedenfalls wie die anderen, wir machten keine Sorgen, aber er hatte sie aufgehäuft, Sorge um Sorge. Oder er war einfach nur alt geworden.

Solange ich das Recht dazu habe, werde ich euch auch beschützen!, hatte er mehr als einmal gesagt. Recht. Das Wort hatte er mit einer Härte herausgestoßen, dass ich zusammengezuckt war.

Ich bin die einzige Verwandte, hatte ich im Krankenhaus gesagt. Wie kam ich dazu? Verlor sich alles, wenn jemand das Band kappte, einfach davonlief, seine Familie, einen Teil davon verleugnete?

Jana hatte Echternach vor etwas mehr als vierzehn Monaten verlassen. Hals über Kopf und mit einem Koffer.

«Sie ist volljährig. Sie kann gehen, wohin sie will», hatte Bert Godoll gesagt, der mit Großvater im Chor sang und in der Polizeiwache an der Rue du Pont auf die Pension wartete. «Du kannst deine Enkelin vermisst melden, aber da passiert nichts. Außer, dass sie deinen Garten umgraben und sie dort suchen.»

Ein paar Wochen später musste Jana noch einmal im Haus gewesen sein. Jemand hatte einen schäbigen Ford Transit in der Einfahrt gesehen, Berliner Kennzeichen, Aufkleber aus allen Ecken der Welt bedeckten die komplette Heckklappe, wie unser Nachbar Herr Wessling behauptete.

«Sogar das Rückfenster, unglaublich, dabei hatte er gar keinen Rückspiegel rechts», entrüstete er sich. Und das Auto sei älter als der Fahrer gewesen, der Junge könne gar nicht all die Länder bereist haben. «Im Leben nicht!»

Mich interessierte natürlich mehr der Junge als sein Fortbewegungsmittel, aber Wessling hatte zu ihm nicht viel zu sagen. So ein zotteliger Typ eben, mit langen Haaren, so quer über die Stirn und ins Gesicht. Da war er schon vor vierzig Jahren gegen gewesen, Hippies, aber alles käme wieder, einfach alles.

Jana hatte sich diesen Dienstag mit Bedacht ausgesucht, um ihr Zimmer im zweiten Stock auszuräumen. Großvater, Tante Walli, die sich schon um den Haushalt gekümmert hatte, bevor wir als Kleinkinder bei Großvater eingezogen waren, fast die ganze Stadt war am Dienstag nach Pfingsten auf den Beinen; die Springprozession verpasste niemand und gleichzeitig erzeugte die Veranstaltung einen solchen Rummel, dass Fremde niemandem auffielen. Außer Wessling.

Spät am Abend, als ich müde und trotzdem aufgekratzt von dem Umzug in den Straßen und dem traditionellen Grillen am See nach Hause kam, fand ich auf meinem Bett einen Zettel mit einer Botschaft, die mir nicht neu war.

Ich werde dir alles erklären, aber nicht jetzt. Vertraue mir.

Ich verstand, dass sie Großvater nicht sehen wollte, nachdem sie einfach abgehauen war. Ich verstand so eben gerade noch, dass Tante Walli ihre Entschlossenheit vielleicht zum Bröckeln gebracht hätte.

Für mich blieb sie eine Art Ersatzoma, aber Waltraud, wie Jana sie seit einiger Zeit bei ihrem richtigen Namen nannte, war immer mehr zur Freundin und Vertrauten meiner Schwester geworden. Manchmal war ich gleich doppelt eifersüchtig gewesen.

Tante Walli hätte Jana weichgeklopft, sie nicht ein zweites Mal gehen lassen. Mit mir hätte sie jedoch sprechen können.

Sie musste doch wissen, dass ich immer zu ihr halten würde, egal welche Gründe sie nach Berlin getrieben hatten. Immerhin wusste ich, dass sie dort war, auch erst nach Wochen und nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Kein Wort mehr hätte sie mit mir gewechselt, wenn ich den beiden alten Leuten etwas verraten hätte.

Sie hatte sich mit Großvater gestritten, oben im dritten Stock, in einem der Zimmer, die wir noch nie betreten hatten. Die Türen waren immer verriegelt; an dem Eisenring, der unter der Treppe am Haken hing und den Zugang zu allen anderen Räumen der Villa ermöglichte, gab es für die beiden Räume keinen Schlüssel. Das hatten wir schon vor Jahren herausgefunden.

Der Fledermäuse wegen, sagte Großvater. Ihnen hatte er diese Zuflucht überlassen und man durfte sie nicht stören: eine seltene Art, unter Naturschutz und so weiter. Ich hatte keinen Grund daran zu zweifeln.

Der Streit hatte mit den Räumen zu tun oder etwas, das darin gewesen war. Jana war einem Vogel nachgestiegen, der sich dort hinein verirrt hatte. Sie hatte ihn befreit und dann hatte es den Streit gegeben. Jana und Großvater schrien sich an, wie ich es noch nie zuvor gehört hatte.

Streit gab es oft und immer häufiger im Laufe der Jahre. Die Querelen in der Pubertät hatten sich nicht gelegt. Als sie bei mir gar nicht erst in dem Maß auftauchten und auch schnell wieder verschwanden, fühlte er sich erst recht bestätigt. Oft schaute er Jana an, mit einem tieftraurigen Blick, traurig und immer häufiger verzweifelt.

Er war ungerecht.

An mir sah er nur die guten Seiten, ich war die Goldmarie. Jana hatte die Arschkarte gezogen. Pechmarie. Sie konnte es ihm mit nichts recht machen, allerdings gab sie sich auch nicht viel Mühe dabei. Die Karten waren verteilt, die Fronten geklärt und eine Gemeinsamkeit hatten beide ganz bestimmt: einen unglaublichen Dickschädel.

Ich hatte oft ein schlechtes Gewissen, weil ich doch beide liebte. Sie war meine Schwester. Und er war mein Großvater. Voller Sorge und Fürsorge. Ich konnte beides annehmen.

Nach einem Tagesausflug mit der Klasse – es war ungefähr eine Woche nachdem der Ford Transit in der Einfahrt gestanden hatte – loderte hinten am Zaun, der unser Grundstück an der Rückseite begrenzte, ein Feuer. Die Zimmer im zweiten Stock waren leer geräumt, ihr Inhalt in Flammen aufgegangen. Tante Walli musste ihm geholfen haben. Ihre Kittelschürze lag mit rußigen Flecken in der Waschküche.

Am nächsten Tag fand ich ein paar Schritte neben dem schwarzen staubigen Rund aus Asche eine kleine Figur im Gras: Ein Zinnsoldat auf einem Pferd, ein Husar, der entschlossen den Säbel schwang. Er war dem Scheiterhaufen entkommen.

Ich trug ihn seitdem bei mir, warum wusste ich nicht. Ich durchsuchte meine Taschen danach, als könne er mich mit seinem lächerlichen kleinen Säbel beschützen. Mich und Jana.

Du musst. Musst. Du musst dich um alles kümmern, Mira. Jetzt musst du dich kümmern, hämmerte ich mir ein und verstaute den Zinnsoldat wieder in der Tasche.

Ich hatte das Schlimmste schon gesehen, jetzt konnte nichts Schlimmeres mehr kommen. Ich musste die Luke öffnen. Janas Wohnung, vielleicht ein passendes Ladekabel; wir hatten zu Hause das auf dem Klavier benutzt, es lag immer dort, weil man es nicht aus dem Stecker ziehen konnte, ohne das schwere Instrument zu verschieben. Wir benutzten beide dasselbe und stritten, wenn eine das Telefon der anderen zu früh abstöpselte.

Ihre Wohnung, mehr war da oben nicht, aber ich hatte Angst, dass ich dort Dinge sehen würde, die ich nicht sehen wollte.

Du hast das Schlimmste gesehen, sagte ich mir. Jana, die Schläuche, der Beutel am Bett, in den die Wundflüssigkeit tropfte, ein anderer, der sie mit Schmerz- und Betäubungsmittel versorgte.

Die Kälte schüttelte mich wieder durch. Du wirst krank, dachte ich und erhob mich, einen Moment lang schwindelte es mir. Ich betrachtete den Bund in meiner Hand, die vier Schlüssel wurden nur von einem Metallring zusammengehalten. Zu Hause hatte immer eine kleine Katze aus grauem Plüsch daran gebaumelt. Zwei kleine Schlüssel, vielleicht für den Briefkasten, zwei Sicherheitsschlüssel. Ich probierte den ersten aus, er passte nicht, beim zweiten hörte ich bei jeder Drehung das schleifende Geräusch eines Riegels, der sich auf der anderen Seite aus den Verankerungen zog. Es kostete einige Kraft, die Luke aus Stahl mitsamt dem massiven Riegel über dem Kopf aufzustoßen. Endlich krachte sie zur Seite. Ich stieg hinauf.

9. Mai 2011
(Janas Tagebuch)

Berlin. Ich verlasse das Haus und weiß, dass alleine in den nächsten drei Blocks mehr Menschen leben als in Echternach, und ohne die Grenzen des Kiez zu überschreiten, passiert in einem Augenblick mehr um mich herum, als in den vergangenen fünf Jahren in meinem Leben Platz gehabt hätte.

Eigentlich wollte ich mir nur ein Eis holen. Hier gibt es Eisdielen, die nur sechs Sorten verkaufen. Mit einem kurzen Umweg über deine Zunge schicken sie dich auf eine Weltreise: Weiße-Schokolade-Ingwer, Nougat-Chili oder Mango-Lassi.

Wenn du die Augen schließt, rauschen nicht mehr die Pappeln auf dem Falkplatz gegenüber, sondern die Takelage eines Schoners der ostindischen Compagnie, einen Herzschlag lang, bis dir der Grillanzünder aus dem Mauerpark in die Nase zieht oder ein ungeduldiger BMW-Fahrer auf der Hupe klebt.

In den Mosaikboden vor der Theke sind walnussgroße Glasperlen in allen Farben eingelassen, was nicht nur mir Vergnügen bereitet, sondern auch einem Mädchen mit braunen Zöpfen, die von Gummis mit je zwei knallroten Plastikkirschen gehalten werden. Sie liegt bäuchlings da und quetscht ein Auge ganz nah an die bunten Halbkugeln.

Ich lächle das Mädchen an, als sie zu mir aufschaut. Sie springt auf und drückt ihr Gesicht in Mamas Schoß und presst ein paar Schluchzer hervor.

Lächeln ist in dieser Stadt ganz schlecht, lächeln ist das Todesurteil schlechthin, das habe ich schon am dritten Tag gelernt. Nur Weicheier lächeln und wenn sie auch noch lächeln zwecks Anbahnung zwischenmenschlicher Kontakte – oh Gott!

Aber gerade die Anonymität hier tut mir so gut. So frei! Ich fühle mich so frei. Vielleicht habe ich diesen Streit, die Flucht aus Echternach gebraucht. Passieren solche Dinge zufällig? Ich weiß es nicht.

Nein, es gibt keine Zufälle. Und schon gar nicht in Familien.

Alles hängt zusammen, dessen bin ich mir mittlerweile sicher. Jede Entscheidung in deinem Leben ist Glied einer langen Kette von Ereignissen, oft unscheinbare, kaum spürbare Regungen, die etwas in Gang setzen und so einen Ring nach dem anderen formen, der sich mit dem nächsten umschließt, bis sie endlich zu einem Hemd verwoben sind, ein Kettenhemd, das dich vor den Pfeilen deiner Feinde schützt.

Oder dir auf den Schultern lastet und dich niederdrückt, auf den Grund des Wassers zerrt, falls du so unvorsichtig bist, den festen Boden zu verlassen.

Aber nun ist das Gegenteil passiert. Ich fühle mich frei und leicht. Vielleicht hätte ich mit Mira sprechen sollen, vielleicht sollte ich es jetzt tun, sie anrufen, ihr erklären. Aber kann man das erklären, am Telefon? Nein, nein. Auf keinen Fall.

Wie oft habe ich Mira heimlich beobachtet und sie bewundert, für eben diese Leichtigkeit, die mir nie vergönnt war.

Vergönnt, mir vergönnt war! Wie hört sich das an. Als habe sie mir jemand verweigert!

Nein, mach dir nichts vor, Jana, du hast sie dir nicht genommen. Du hast dich für Mira verantwortlich gefühlt, für Großvater, ja, sogar für ihn. Für alles. Auch wenn das niemand von dir gefordert hat, steckte das Gefühl, für alles sorgen zu müssen, immer tief in dir drin, weil ältere Schwestern nun einmal auf die jüngeren achtgeben müssen in einem solchen Leben. Und auch jetzt nehme ich mir wieder heraus, die Entscheidungen zu treffen, es ihr nicht zu sagen. Raube ich ihr die Leichtigkeit, wenn ich es tue? Früher oder später wird sie es erfahren. Nicht jetzt. Ich muss mir zuerst sicher sein. Vielleicht ist es besser, wenn alles so bleibt, wie es ist. Wer suchet, der findet. Ich werde mir Zeit geben, aber dann werde ich suchen. Und finden.

2 Dienstag, 19. Juni 2012

Da sah sie mir fragend und fremd ins Gesicht:

«Meine Schwester? Ich kenn’ meine Schwester nicht!»

 

Aus dem Gedicht «Die fremden Schwestern» von Hugo Salus (18661929)

Hör genau hin», flüsterte die Stimme. Sie klang so vertraut. «Hörst du das Rauschen?» Ich hörte es. Und ich fühlte es, es strich über meine Unterarme, zauste in den feinen Härchen. Der Wind trug Schwaden der nebelfeinen Gischt herüber; wenn ich die Lippen öffnete, schmeckte ich die salzige Luft; in den Geruch mischte sich hier und da ein Hauch von Fäulnis, Algen, die verrotteten, vielleicht ein Seestern, der angespült worden war und sich in der Sonne zersetzte.

Die Sonne. Ihre Kraft reichte noch nicht aus, um sich gegen die Frische des Meeres zur Wehr zu setzen, aber ich spürte, wie die Strahlen um die Vorherrschaft kämpften, bald überzögen sie alles mit ihrem warmen Schimmer, bis am Mittag das Laub der Tamarisken unter den Sohlen knisterte, wenn wir barfuß hinauf zu der Mauer –

Ich riss die Augen auf.

Es fiel mir schwer. Die Lider klebten aufeinander, die Nacht war unruhig und von Träumen zerrissen gewesen, nachdem ich mich im Stockdunkeln bis zu dem Bett getastet hatte, in dem ich nun lag. Erst jetzt entdeckte ich die Kordel in der Mitte des Raums. Wahrscheinlich hätte ich einfach daran ziehen müssen und die Leuchtröhren in der dreistrahligen Deckenlampe wären aufgeflammt.

Aber ich war zu müde gewesen. Und vielleicht hatte ich auch gar nicht mehr sehen wollen. Sich in der nachtschwarzen Fremde einfach ins Bett fallen lassen, Janas Duft noch erahnend, sich verkriechen, in den Klamotten, nur die Schuhe abstreifen, das war alles, was noch möglich gewesen war. Sogar die Dachluke hatte ich offen stehen lassen.

Der alte Herr und sein Hund waren wahrscheinlich keine ernsthafte Gefahr für eine Achtzehnjährige auf diesem Dachboden und auch sonst hatte Jana die Bewohner im Haus eher harmlos beschrieben. Die alte Frau im dritten Stock, daneben der Busfahrer der Berliner Verkehrsbetriebe, der sich ab und zu Stricher bestellte.

Nur Kevin aus dem vierten Stock war vielleicht mit Vorsicht zu genießen; laut Jana war er ungefähr in meinem Alter und ein ziemlich verrückter Typ, der sich vor dem amerikanischen Geheimdienst fürchtete und an jeder Ecke eine Verschwörung roch.

Der Morgen traute sich noch nicht so recht hervor. Ich blieb liegen und schloss die Augen wieder. Vielleicht konnte ich das Meer noch einmal zurückholen.

Ich war schon oft an diesem Ort gewesen, nicht in der Wirklichkeit, allerdings auch nicht im Traum; ohne Janas Stimme, die wie das Murmeln von Kiesel in einem Bergbach klang, hatte ich nie in diese andere Welt gefunden. An das erste Mal erinnerte ich mich noch genau, es war an meinem ersten Schultag gewesen, und ich kam weinend nach Hause. Die Kinder hatten mich aufgezogen, weil ich die Einzige sei, die keine Mami und keinen Papi hatte, jedes Kind habe die und wer nicht, sei eine arme Wurst, eine Waisenwurst.

«Waisenwurst, Waisenwurst», gellten die Schreie gelegentlich noch heute in meinen Ohren, tausendmal zurückgeworfen von schmutzigen Scheiben in der Pausenhalle, die nur bei Monsunregen und arktischer Kälte genutzt werden durfte, ansonsten mussten wir draußen spielen.

In dem weitläufigen Zimmer, das wir uns im Haus des Großvaters teilten – obwohl genug Platz war, zog Jana erst Jahre später in den zweiten Stock –, hatte sie mich dann auf den Schoß gezogen, es musste ein lächerliches Bild gewesen sein, weil Jana selbst nur zwei Jahre älter war. «Scht», hatte sie gesagt und mir befohlen, in ihre blauen Augen zu schauen. Augen wie ein Ozean. «Höre genau hin», waren Janas Worte, «hörst du das Meer, wie es rauscht?»

Und sie beschrieb ein Haus, mit einer kleinen Mauer um den Garten, von dem aus sie aufs Meer schauen konnten.

Ich versuchte und schaffte es: Ich sah das Meer in Janas Augen, und ich hörte es, so eindringlich malte meine Schwester mit schwebender Stimme diesen Ort aus, den sie doch selbst nie gesehen hatte. Immer, wenn die Sehnsucht in mir aufwallte oder die Traurigkeit, entführte Jana mich so, in eine andere Welt, nur mit ihren Augen, den blauen Augen unseres Vaters, die ich selbst nicht geerbt hatte, was mich bei aller sonstigen Ähnlichkeit sehr von meiner Schwester unterschied.

Das Haus nah der Küste, ein bisschen versetzt von der Klippe, unten der Strand und das Rauschen. Süden. Flimmernde Luft. Zypressen entlang der Landstraße. Dort hatte unsere Mutter gelebt, behauptete Jana, als wir noch Kinder gewesen waren. Eigentlich sollte ich das Meer hassen, es hatte mich und Jana zu Waisen gemacht, uns die Eltern genommen, die ich vermisste, obwohl ich keinerlei Erinnerung an sie hatte. Kein Bild in meinem Kopf war zurückgeblieben und auch sonst nichts. Nicht einmal zwei Jahre war ich gewesen, als es passierte. Nicht einmal ein Fotoalbum gab es, weil eine Kiste beim Umzug nach Echternach verloren gegangen war.

Ich schüttelte die Phantasiebilder ab. Ich war in Berlin, in einer Wohnung, die ich noch nie gesehen hatte. Kein Strand, kein Meer.

Janas Bleibe bestand aus einem einzigen großen Raum, dem seine Vergangenheit als Dachboden noch anzusehen war. Grobe Holzdielen, keine einzige gerade Wand, sogar die Badewanne stand auf ihren Löwentatzen aus Messing frei im Raum. Wie konnte man darin duschen, ohne alles unter Wasser zu setzen?