image

Matthias Berghöfer (Hrsg.)

1904 Geschichten

Mit Schalke is wie wennze fliechs

VERLAG DIE WERKSTATT

Copyright © 2011 Verlag Die Werkstatt GmbH

ISBN 978-3-89533-828-1

Fotos: Stefan Barta: 32, 43, 61, 131; Matthias Berghöfer: 8, 20, 94/95; firo sportphoto: Buchrücken; Karl Hanisch: 17; Imago Sportfoto: Cover; Henning Mann: 10; Karin Nagel: 50; Torsten Wieland: 119

Inhalt

Vorwort

Meinem Vater | Henning Mann

Berliner Erwachen | Christoph Hümmeler

Heiliger Rasen | Marius Frye

Die Rettung kam aus Russland | Karl Hanisch

80.000 und mittendrin ich | Engelbert Wölbert

A great night out in Meppen | Thomas Wings

Grammatikalische Unzulänglichkeit | Markus Telgmann

Ins Licht | Enrico Schalk

Mitten in das Schalker Herz | Kees Jaratz

Leben mit „Andersgläubigen“ | Marcus Sabel

Mein Abschied vom Parkstadion | Jürgen Lehmann

Unfassbar in Kaiserslautern | Stefan Barta

Ein Hauch von Ge.chichte | Uwe Jung

Altamont anne Emscher | Jörg Buddenberg

Rumgondeln | Oliver Staude

Auswärts-Premiere | Karin Nagel

Der amerikanische Traum | „Panno“

Mein erstes Mal | Klaus Gockeln

Von Löwen und Teufeln | Wolfgang Heck

Sicherer Sieg | Thomas Schönebeck

Blau | Davor Vutuc

Schottische Rhapsodie | Jan Schneemann

Wie ich beinahe meinen Glauben verlor | Karl Hanisch

Der Uwe | Matthias Berghöfer

Zwei Spiele, fünf Tore und drei Tschechen | Andreas Weiler

Mit Gott im Stadion | Oliver Bartz

Kurt | Werner R. Weiss

Der böse Berg | Detlef Aghte

Schalke geht auch anders | Enrico Schalk

Die sind eh alle bekloppt! | Susanne Hein-Reipen

Leben | Ilona Caroli

Das Jahrhundertspiel | Stefan Berger

Hallo. Hier ist Ulli Potofski | Andreas Pyrchalla

Sein erstes Mal | Torsten Wieland

Das sture Volk | Hartmut Pakulla

100 nackte Frauen | Christian Vogt

„Total schön“ statt „Ultra Beauty“ | Olivier Kruschinski

Wenn der Vater mit dem Sohne | Stefan Barta

Niemals! | Kathrin Wegmann

Nachwort

Die Autoren

Für jeden, der gerne dabei gewesen

wäre –

und für alle, die’s wirklich waren!

Vorwort

Im Sommer 2010 saß ich in Österreich im Schatten einer Stadiontribüne, hörte die Geräusche des Trainingsbetriebes der Schalker Profis, durchblätterte nebenbei, wie das früher undenkbar gewesen wäre, auf dem Telefon meine aktuell eingegangenen Mitteilungen und las dabei von einer großartigen Veranstaltung im Rahmen der Kulturhauptstadt RUHR.2010 auf der gesperrten A40. Kees Jaratz schrieb in seinem „Zebrastreifenblog“ davon, wie er sich am Mittelstreifen von MSV-Fans Geschichten von früher erzählen ließ, und da fiel mir das Buch von Tom Watt wieder ein, der schon fast 20 Jahre zuvor einmal kurze und lange Erinnerungen von Fans seiner „Gunners“ gesammelt und veröffentlicht hatte.

Leise Melancholie überkam mich bei dem Gedanken, dass es da draußen so viele erzählenswerte Geschichten über den Fußball im Allgemeinen und über den FC Schalke 04 im Besonderen gab, die vielleicht niemals aufgeschrieben werden würden und die deshalb nach und nach dem Vergessen anheim fallen müssten. Schon jetzt war man für vieles zu spät, würde wohl kaum noch aus erster Hand etwas aus den ganz frühen Zeiten erfahren.

Aber die Menge der Abenteuer – erst recht die, die sich rund um einen Verein mit über 100-jähriger Tradition ereigneten – ist unendlich, und so entstand der Plan, einfach mit dem Sammeln zu beginnen, um irgendwann einmal 1904 Geschichten zusammenzubekommen. Geschichten, die wahr sein mussten, selbst erlebt, die Gefühle oder Ereignisse, profane Einzelheiten oder das „große Ganze“ beschreiben sollten und die in der Summe ein Bild von dem vermitteln würden, was Schalke 04 ausmacht, so unterschiedlich es auch von jedem erlebt worden sein mag.

Im Oktober 2010 wurde dieser Plan im „Auswärtssieg!“-Blog vorgestellt, und ich bat um Einsendung von Geschichten, Geschichten geschrieben von Fans, von Schalkern und von anderen, von Lesern des Blogs, von jedem, der mochte. Geschichten, die dann in unregelmäßigen Abständen dort auch veröffentlicht wurden. Von Anfang an gehörte zu der Idee auch das Vorhaben, diese Sammlung einmal in Buchform zu veröffentlichen, und die Leser beteiligten sich auch hier mit Vorschlägen zum Coverdesign, dem Titel, der Struktur des Inhalts und vielem mehr.

Hier also ist es nun, dieses Buch. Es enthält eine Auswahl der Beiträge, die im ersten halben Jahr des Sammelns zusammenkamen und die bis auf wenige Ausnahmen noch nicht in der „1904 Geschichten“-Serie im Internet veröffentlicht wurden.

Noch ist die „magische Zahl“ an aufgeschriebenen Abenteuern bei Weitem nicht erreicht, es wird also weiterhin gesammelt (einfach den Text per E-Mail an matthias.berghoefer@web.de senden) – und somit hoffentlich einmal eine Fortsetzung dieses Bandes geben.

So, genug der Vorrede – es wird Zeit für Königsblau: Vorhang auf!

Matthias Berghöfer, Sommer 2011

image

image

Meinem Vater

image HENNING MANN

Auf Schalke gehe ich jetzt seit über 21 Jahren, genauer gesagt seit dem Heimspiel 1989 gegen Blau-Weiß 90 Berlin, als uns der Sieg den Verbleib in der zweiten Liga sicherte. Über 66.000 Zuschauer waren aufgrund ermäßigter Eintrittspreise ins Parkstadion gekommen und erlebten die Rettung und den Start in eine neue, erfolgreichere Zukunft.

Das konnte damals natürlich noch keiner wissen. Am wenigsten wohl ich, doch das wäre mir in diesem Augenblick auch völlig egal gewesen. Ich habe noch heute das Bild von den Massen vor Augen, die sich in den Kurven sowie auf der Gegengeraden breitmachten. Ich bin heute noch im Besitz der Eintrittskarte: Haupttribüne, Block C, Vater-und-Sohn-Ticket, 10 DM, das stelle man sich heute mal vor. Ich weiß noch, wie fasziniert ich war von den Anfeuerungen aus der Nordkurve, von den blau-weißen Schals und Fahnen und von der tollen Stimmung, die natürlich aufgrund des Klassenerhaltes in Euphorie und Ekstase endete.

Ich war gefangen, infiziert vom blau-weißen Virus, der mich bis heute nicht losgelassen hat, mich mein ganzes Leben begleiten wird und den ich versuchen werde, auch an meine Tochter weiterzugeben (da bin ich auf einem guten Weg, auch wenn der Kuranyi-Wechsel ein böser Rückschlag dafür war)! Wem habe ich das Ganze zu verdanken? Meinem Vater!

Meinem Vater, der schon zu Zeiten der Glückauf-Kampfbahn auf Schalke gegangen ist.

Meinem Vater, der die Meisterschaft 1958, den Pokalsieg 1972, aber auch den Bundesligaskandal und den ersten Abstieg live miterlebte und daher wusste, was Höhen und Tiefen auf Schalke sind.

image

Meinem Vater, der es nicht hinnehmen wollte, dass sein Sohn ein „babyblauer“ (O-Ton meines Vaters zu den Bochumer Nachbarn, hat sich bis heute in unserem Sprachgebrauch total festgesetzt) wird. Dahin war ich nämlich auf dem besten Wege: Mein Onkel war VfL-Fan und nahm mich im Alter von sieben oder acht mal mit zu einem Bundesligaspiel. Das schien ich wohl recht toll gefunden zu haben, die genauere Erinnerung daran fehlt mir aber, von Emotionen und Gefühlen wie oben beschrieben weiß ich auch nichts mehr. Gab wohl keine, weil ich von vornherein die richtigen Gene hatte. Jedenfalls wollte mein Vater damals Schlimmeres verhindern und nahm mich alsbald mit auf Schalke. Mission erfüllt, würde ich heute sagen oder den Satz zitieren, der mal bei einem Spiel gegen den Club als Spruchband gezeigt wurde: „Tradition ist nicht Asche bewahren, sondern die Weitergabe des Feuers!“

Meinem Vater, der mich mit meiner ersten Schalke-Mütze ausstattete. Ein ganz komisches Ding, solche Mützen gibt es heute gar nicht mehr. S04-Abzeichen in der Mitte, sehr flach und am ehesten noch mit einer Kapitänsmütze vergleichbar, wenngleich ohne eigenen Schirm. Ich kann sie gar nicht genau beschreiben, in den Neunzigern waren die Dinger aber weit verbreitet! Sah wahrscheinlich verboten aus, aber ich war stolz wie Oskar!!

Meinem Vater, der mir durch lustige und skurrile Geschichten, die er selber mit und bei unseren Blauen erlebt hat, deutlich gemacht hat, dass „auf Schalke gehen“ eben mehr ist als 90 Minuten Fußball zu gucken. Hier jetzt Beispiele zu nennen, würde den Rahmen wohl etwas sprengen, stellvertretend sei der Ordner in Block H des Parkstadions genannt, der „seinen Jungs“ zu jedem Heimspiel selbstgemachte Frikadellen mitbrachte und immer traurig war, wenn mal keiner von denen auftauchte!

Meinem Vater, den die Liebe zu seinem Verein viel Geld kostete. Da wurden z. B. mal 1000 DM gewettet, dass Schalke bis 1999 Deutscher Meister wird, nur um den stichelnden Kollegen den Wind aus den Segeln zu nehmen (Zeitpunkt der Wette war der erste Abstieg). Es hat nicht geklappt, er hat gezahlt, aber das war es ihm wert!

Meinem Vater, der nach außen sehr ruhig und emotionslos wirkte, sich aber nirgends so schön ärgern oder freuen konnte wie auf der Tribüne.

Meinem Vater, der sich persönlich vom Stadiongang immer mehr verabschiedete, da seine Kumpels alle nicht mehr gingen und er ja schließlich den „Job“ an mich weitergegeben hatte.

Meinem Vater, der am 24. Februar 2010 nach schwerer Krebserkrankung, aber zu diesem Zeitpunkt doch recht plötzlich, verstarb. Etwas über 48 Stunden später sollte Schalke im Derby gegen Lüdenscheid antreten. Ein Spiel, das mich immer schon Tage vorher in seinen Bann zieht und die Vorfreude von Stunde zu Stunde wachsen lässt. Das Spiel des Jahres!

Diese Vorfreude war natürlich auf einen Schlag weg. Auch wenn der nahende Tod unübersehbar gewesen war, auf so etwas kann man sich nicht vorbereiten.

Dennoch stellte ich mir die Frage, ob ich das Spiel besuchen sollte, auch um mich abzulenken und ein wenig aus dem Alltag rauszukommen. Denn auch das ist ja ein Teil von Schalke, dieses Ausbrechen aus dem Alltagstrott! Trikot an heißt „Getz is Schalke“, und da ist dann irgendwie alles anders, auch wenn man immer die gleichen Leute trifft, dieselbe Biersorte trinkt oder am gleichen Stand seine Bratwurst isst. Dieses Gefühl zu beschreiben ist fast unmöglich, man muss es erleben und annehmen, um es zu begreifen!

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich ging zu dem Spiel, auch da mich meine Mutter und meine Frau darin bestärkten und vor allem, da ich wusste, dass mir mein Vater das Gleiche gesagt hätte: „Junge, sieh zu, dass du ins Stadion kommst!“ Für mich begann also sicherlich eines der emotionalsten Derbys meines bisherigen und zukünftigen Lebens. Und als Ivan den Ball zum 2:1 in den Winkel setze, schaute ich unwillkürlich nach oben, und ich wusste, wer hier heute zugesehen hatte! Und meine Gedanken waren: „Danke, Papa, für die Weitergabe des Feuers!“

image

Berliner Erwachen

image CHRISTOPH HÜMMELER

Mein Pokalfinale 2005: Über das Spiel selbst gibt es ja nicht viel zu berichten, das war eher langweilig. Höhepunkt der 90 Minuten war ein außer der Reihe anspringender Rasensprenger.

Nach Berlin war ich mit dem Motorrad angereist, zuvor war ich einige Tage bei einem Motorradtreffen in Mecklenburg-Vorpommern gewesen. Daher war das Moped beladen mit einer fetten Gepäckrolle samt Zelt und Schlafsack. Die Idee war, das Gepäck irgendwo an einem Bahnhof ins Schließfach zu stecken und dann das Moped abzustellen und zum Spiel zu gehen. Aber ein leeres Gepäckfach war nicht aufzutreiben. Daher habe ich mir ein sicheres Plätzchen gesucht, um das Motorrad samt Gepäck während des Spiels und über Nacht abstellen zu können, denn völlig außerhalb der Norm pflege ich während eines Fußballspiels Bier zu trinken, an eine abendliche Abreise war also nicht zu denken …

Nachdem ich hier und dort gesucht hatte, hatte ich einen geeigneten Platz entdeckt. Auf dem Grünstreifen in einem nahe am Stadion gelegenen Wohngebiet. Hier schien die Haute-Volée zu residieren, und eine massive Polizeipräsenz im Straßenbild suggerierte Sicherheit für Motorrad und Gepäck. Also stellte ich das Motorrad dort ab, betrachtete den Platz näher und stellte fest: Ja, hier war nicht nur mein Moped gut geparkt, nein, nach Spiel und anschließendem Biergenuss in der Stadt würde auch ich hier einen perfekten Platz für meinen Schlafsack vorfinden.

Nun ging es aber erst mal vor und dann später in das Stadion. 90 Minuten geringen Unterhaltungswerts, immerhin gab der Schalker Block die geschätzt letzten 20 Minuten durchgängig „Ein Leben lang“ zum Besten, in Verbindung mit ein paar Bier eine hervorragende Möglichkeit, mal wieder eine erotisch heisere Stimme zu bekommen. Immerhin etwas, wenn mit den Blau-Weißen auf dem Platz nicht allzu viel los ist.

Nach dem Spiel ging es hinein ins Berliner Nachtleben. Gemeinsam mit einem Freund, wir hatten uns im Stadion getroffen und noch eine Menge Bier getrunken. Er musste einen Zug früh morgens nehmen, fünf oder sechs Uhr, so genau weiß das niemand mehr, da blieb ausreichend Zeit, die Nacht zu rocken. Irgendwann morgens ging es also zurück zum Motorradparkplatz, Schlafsack rauskramen, ablegen, schlafen.

Morgens um elf Uhr, es war immer noch herrliches Wetter, weckte mich ein Polizist. Jajaja, dachte ich, natürlich, ich weiß, ich darf hier nicht schlafen, ja, ich werde gleich weggehen, ja doch, ich mach das auch nie wieder … „Sie sollten sich ein Stück dort rüber in den Schatten legen, hier in der Sonne ist es nicht so angenehm!“ Wie bitte? Hier lag ein nicht ganz nüchterner Schalker im Schlafsack im Edelwohngebiet neben seinem Motorrad, und der Polizist empfahl mir, der Sonne zu weichen und den Schatten aufzusuchen? Sachen gibt’s … „Oh, ähm, danke. Nein, nein, ich bin ja jetzt wach und rolle mal den Schlafsack ein. Danke, das ist ja toll.“

Ich schälte mich also aus dem Schlafsack, zur allgemeinen Erheiterung im Wesentlichen nur mit einem Schalke-Trikot bekleidet. Der Rest meiner Kleidung war fein säuberlich auf dem Motorrad drapiert. Während ich noch darüber nachdachte, ob ich nach einer langen Nacht selbst meine Sachen so ordentlich auf das Moped gehängt hatte oder ob da auch der Polizist dahintersteckte, öffnete sich gegenüber die Tür einer zugegebenermaßen sehr schönen Villa, die Frau des Hauses erschien, und es kam die nächste Überraschung: „Guten Morgen, möchten Sie vielleicht einen Kaffee?“ „Ähm, ja, also, ein Kaffee, ein Kaffee wäre brillant.“ Drei Minuten später hatte ich einen Kaffee, ein Glas Orangensaft und ein paar Stullen neben mir stehen. Und jede Menge sehr netter Gesprächspartner, die sich um mich sammelten. Hätten sie mich nicht andauernd auf die Niederlage von Schalke angesprochen, ich glaube, ich wäre auf dem Grünstreifen eingezogen.

image

Heiliger Rasen

image MARIUS FRYE

Ich kann trotz meines zarten Alters von 19 Jahren schon behaupten, bei vielen großen Momenten der Schalker Geschichte live dabei gewesen zu sein. Den 34. Spieltag der Saison 2000/2001 habe ich gesehen, ich war beim 19:04-Minuten-Schweigen gegen die Bayern dabei oder auch beim 3:3 bei den SchwachGelben. Ein Erlebnis, welches mir aber ganz besonders im Gedächtnis bleibt, spielte sich am 22. Mai 1999 ab. An diesem Tag fand der 33. Spieltag statt. Das letzte Heimspiel unserer Blauen gegen Eintracht Frankfurt. Aber von Anfang an …

Mein Vater, der schon seit fast 30 Jahren auf Schalke fährt, hat mir die blauen Gene quasi in die Wiege gelegt. Dies versichert er auch deshalb, weil bei meiner Geburt die Nabelschnur um meinen Hals gewickelt war und ich dadurch mit königsblauem Gesicht zur Welt kam. Von Anfang an nahm mein Vater mich mit ins Parkstadion. Noch heute bedauere ich, dass er mich aus Sicherheits- und/oder Sichtgründen nie mit in die Nordkurve nahm, sondern immer nur auf einen Sitzplatz. Da mein Vater nicht nur mich zum Blauen machte, sondern bis heute noch als königsblauer Missionar agiert, kam es dazu, dass er im Jahr 1999 auch meine Tante überredete, einmal mit auf Schalke zu fahren.

Das Besondere war, dass meine Tante viele Reisen gemacht und so auch einen Freund in Jamaika kennengelernt hatte, der sie zu eben dieser Zeit in Deutschland besuchte. Dieser Freund musste nun natürlich auch mit auf Schalke. So kam es am 22. Mai 1999 dazu, dass mein Vater seine Frau, seine Tochter, mich und seine Schwägerin inklusive des Jamaikaners Jerry ins Auto packte und vom beschaulichen Nordhessen gen Gelsenkirchen aufbrach.

An alle Einzelheiten dieses Tages kann ich mich nicht genau erinnern, da ich damals erst acht Jahre alt war. Ein paar Dinge sind mir aber nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Zum Beispiel werde ich nie vergessen, wie wir da so mit der ganzen Familie auf den harten Holzbänken der Haupttribüne saßen und Jerry auf einmal eine Machete aus seiner Tasche zog. Mein Vater erschrak und fragte sich, wie Jerry ein so großes Messer unbemerkt an den Ordnern hatte vorbeischmuggeln können. Na ja, denn … Das Spiel lief so dahin, wie wir es von den Schalkern kennen. Wir lagen schnell nach 15 Minuten mit 2:0 in Führung, durch Oliver Held und durch einen Hammerfreistoß von Hami Mandirali. Am Ende aber verloren wir das Spiel doch noch mit 2:3.

Mich beeindruckte total, wie am Ende des Spiels fast alle Schalker unter den 51.000 Zuschauern aufs Spielfeld rannten, um sich ein Stück „Heiligen Rasens“, wie es mein Vater nannte, oder etwas vom Tornetz mitzunehmen. Ich wollte unbedingt auch „Heiligen Rasen“ bekommen. Meine Mutter erlaubte mir allerdings nicht, auf den Platz zu rennen, da sie Angst hatte, mich nicht mehr wiederzufinden.

Nun gut. Wir gingen alle zusammen zurück Richtung Parkplatz, und ich war ziemlich bedrückt, dass ich keinen Rasen bekommen hatte. Auch wenn der Jamaikaner Jerry nur Englisch konnte, hatte er mitbekommen, wie enttäuscht ich war. Plötzlich sprach er einen Schalker an, der ein großes Stück Rasen mit sich trug. Dieser verstand zwar nicht viel Englisch, konnte aber durch Zeichensprache (ohne Einsatz der Machete!) von Jerry erfahren, dass er ihm doch bitte etwas von seinem Rasen abgeben solle.

Unter Schalkern ist das natürlich kein Problem, so dass Jerry mir tatsächlich ein Stück „Heiligen Rasens“ schenkte und mich damit superglücklich machte. In diesem Moment war ich wahrscheinlich der glücklichste Schalker, den es nach dieser 2:3-Niederlage gab.

Jerry reiste wieder zurück nach Jamaika, und ich sah ihn nie wieder, aber meinen „Heiligen Rasen“ pflanzte ich bei mir zuhause in einen Topf ein und pflegte ihn jeden Tag. So wurde dieses Stück Rasen von nun an auch jeden Samstag mein Glücksbringer, wenn unsere Blauen wieder um drei Punkte kämpften. Schließlich war er ja, wie mein Vater immer sagte, heilig.

image

Die Rettung kam aus Russland

image KARL HANISCH

Der 10. Juli 1946, damals war ich acht Jahre alt, war sportlich gesehen ein bedeutender Tag in meinem Leben. Es war der Tag, an dem meine Brüder mich zum ersten Mal mit zur Glückauf-Kampfbahn nahmen. Schalke 04 spielte damals gegen den Lokalrivalen Alemannia Gelsenkirchen. Große Erinnerungen habe ich nicht an das Spiel. Im Tor der Alemannen stand Sockel, das Tor der Schalker hütete Hans Klodt. Beide sahen imposant aus mit ihrer Schlägermütze. Schalke gewann, und ich meine, Ötte Tibulski hätte einen unberechtigten Elfmeter Richtung Eckfahne geschossen. Dieses Spiel war, wie ich später erfuhr, das zweite Spiel in der Glückauf-Kampfbahn nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Bombentrichter waren gerade erst beseitigt worden.

Altersbedingt sind meine weiteren Erinnerungen an die Schalker Nachkriegsjahre etwas verschwommen. Ich verbinde sie mit Spielen um die Meisterschaft der Britischen Zone gegen für mich damals exotische Vereine wie den FC St. Pauli und den Hamburger SV, mit Freundschaftsspielen gegen den VfB Stuttgart, mit riesigen Zuschauermengen, in denen eigentlich für mich kein Platz war. Spielernamen wie Spundflasche und Warning vom HSV und Karl Miller von St. Pauli sind mir immer noch ein Begriff. Der Ex-Schalker Kalli Barufka, der Torwart „Gummi Schmidt“ und der einarmige Torjäger Robert Schlienz vom VfB Stuttgart waren neben unseren Schalkern meine Helden. Na ja, so ganz stimmt das nicht. Vor allen anderen bewunderte ich Szepan, Kuzorra, Tibulski und Hans Klodt, die damals unser Trikot trugen.

Ich denke immer noch gerne an die schönen langen Sonntage in der Glückauf-Kampfbahn zurück: Es gab noch Vorspiele. Zuerst spielte die Jungliga-Mannschaft, dann die Reserve. Ich kann mich sogar an ein Handballspiel als Vorspiel erinnern. Unsere Handballer spielten gegen Polizei Hamburg, bei denen Otto Maychrzak spielte, bekannt als „Atom-Otto“.

Das war mein Anfang auf Schalke. Im Laufe der Zeit kam in mir ein Zwiespalt auf, den ich erst einmal verarbeiten musste. Meine Hauptlektüre zur damaligen Zeit war neben einer sehr schön illustrierten Kinderbibel ein Buch von Theodor Krein. Es hieß Die blau-weißen Fußballknappen. Alles das, was mir vorher noch nicht über die ruhmreiche Vergangenheit der Schalker erzählt worden war, erfuhr ich aus diesem Buch. Und es stimmte so gar nicht mit der Gegenwart überein. Die Gegenwart, das waren nicht Spiele gegen den 1. FC Nürnberg, den Dresdner SC, Admira und Vienna Wien oder gegen den FC Brentford, sondern Spiele in der Oberliga West gegen VfL Witten, Hamborn 07, VfR Köln, Preußen Dellbrück, den Nachbarn STV Horst und die Sportfreunde aus Katernberg, und fast alle Spiele gingen verloren.

image

So richtig wurde mir das 1948/49 bewusst, in einer Saison, in der wir bis auf den letzten Platz abrutschten. Zum ersten Mal spürte ich, der ich gerade zehn Jahre alt war, was Schalke für die Fans, für mich bedeutete. Zum ersten Mal zitterte ich um den Verein, und nicht zum letzten Mal ging es gut aus. Die Rettung kam … aus Russland. Vor dem letzten Saisonspiel standen wir also auf dem letzten Tabellenplatz, einen Punkt hinter Sportfreunde Katernberg. Im Spiel gegen Vohwinkel 80 musste unbedingt ein Sieg her, und gleichzeitig durfte Katernberg nicht gewinnen. Genau pünktlich, kurz vor dem Spiel, kehrten zwei Spieler aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück, vier Jahre nach Kriegsende. Was Kriegsgefangenschaft bedeutete, das konnte ich mir trotz meiner zehn Jahre ziemlich genau vorstellen, denn mein älterer Bruder, der als 17-jähriger Bursche ebenfalls in russische Gefangenschaft geriet, aber wegen seines jugendlichen Alters Gott sei Dank früh freigelassen wurde, hatte mir einiges darüber erzählt.