Charles Dickens

Oliver Twist

Roman

Mit den 24 Illustrationen der englischen Erstausgabe von George Cruikshank

Aus dem Englischen von Gustav Meyrink

Mit einem Nachwort und einer Zeittafel von Rudolf Beck

Ausgabe 2007
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

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eBook ISBN 978-3-423-40170-8 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-13616-7

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Inhaltsübersicht

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

Anhang

Nachwort

Zeittafel

1. KAPITEL

Schildert den Ort, wo Oliver auf die Welt kam, sowie die seine Geburt begleitenden Umstände

 

Unter andern öffentlichen Gebäuden in einer gewissen Stadt, die ich nicht nennen, der ich aber auch andrerseits keinen erdichteten Namen beilegen möchte, befand sich eines, wie es wohl die meisten Städte, ob groß oder klein, besitzen, nämlich ein Arbeitshaus; und in diesem wurde eines Tages der kleine Weltbürger geboren, dessen Name dieses Buch trägt.

Lange Zeit, nachdem der Arzt des Kirchspiels ihm zum Eintritt in diese Welt der Mühen und Sorgen geholfen, schien es recht zweifelhaft, ob er lange genug würde am Leben bleiben, um überhaupt einen Namen nötig zu haben.

Obwohl ich nicht behaupten möchte, daß es vielleicht ein glücklicher oder beneidenswerter Umstand wäre, der einem menschlichen Wesen zustoßen könnte, in einem Arbeitshaus geboren zu werden, so schien es doch in diesem besondern Fall für Oliver Twist das Beste, was sich augenblicklich für ihn ereignen konnte. Immerhin war es mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, ihn so weit zu bringen, daß er sich der Aufgabe des Atmens selbst unterzog, und eine Weilelang lag er als kleiner Weltbürger nach Luft schnappend auf einer Wollmatratze, bedenklich hin und her schwankend, ob er sich für diese oder jene Welt entscheiden sollte, wobei sich die Waage beträchtlich mehr für das Jenseits als für das Diesseits neigte. Wäre Oliver in diesem kritischen Zeitabschnitt von besorgten Großmüttern, ängstlichen Tanten, erfahrenen Ammen und Ärzten voll tiefer Weisheit umgeben gewesen, er hätte selbstverständlich die Stunde nicht überlebt. Da jedoch niemand zugegen war als ein armes altes Weib, das überdies infolge des ungewohnten Genusses von Bier sich in ziemlich angeheiterter Stimmung befand, und da auch der Kirchspielarzt die Sache ganz gewohnheitsmäßig behandelte, so focht Oliver seinen Kampf mit der Natur auf eigene Faust aus. Und die Folge davon war, daß er nach kurzem Kampfe atmete, nieste und endlich den Bewohnern des Arbeitshauses die Tatsache kund und zu wissen gab, daß er der Gemeinde eine neue Last aufgebürdet habe – das heißt, entschlossen sei, am Leben zu bleiben. Er erhob zu diesem Zweck ein so lautes Geschrei, wie man es von einem Kind männlichen Geschlechtes füglich nur erwarten durfte.

Als Oliver diesen ersten Beweis selbständiger Tätigkeit gab, bewegte sich eine Flickendecke, die nachlässig über eine eiserne Bettstelle geworfen war, und das bleiche Gesicht einer jungen Frau erhob sich matt von dem harten Kissen, und eine schwache Stimme hauchte mühsam die Worte: »Lassen Sie mich das Kind sehen; dann will ich gern sterben.«

Der Arzt, der, das Gesicht dem Feuer zugewandt, am Kamin saß und sich die Hände wärmte, trat bei diesen Worten der jungen Frau an das Kopfende des Bettes und sagte mit mehr Freundlichkeit im Ton, als man von ihm wohl erwartet hätte: »Sie haben durchaus keinen Grund, ans Sterben zu denken.«

»I Gott bewahre«, mischte sich die Wärterin ein und versenkte in ihrer Tasche eine grüne Flasche, von deren Inhalt sie sich bisher in einer verschwiegenen Ecke mit sichtlichem Behagen gestärkt hatte. »I Gott bewahr, wenn sie erst amal so alt g’worden is wie ich, Herr Doktor, und dreizehn Kinder g’habt hat und ihr erst alle gestorben sein werden wie mir bis auf zwei, die jetzt mit mir zusamm im Arbeitshaus sin, dann wird sie schon auf vernünftigere Gedanken kommen. Gott o Gott, denken Sie sich doch nur, was es heißt, Mutter sein von so an hübschen kleinen Buberl; vergessen ’S dös net.«

Ihre tröstlichen Worte schienen indes ihre Wirkung zu verfehlen, denn die Wöchnerin schüttelte den Kopf und streckte nur stumm ihre Arme nach dem Kinde aus. Der Arzt reichte es ihr, sie preßte ihre kalten blutleeren Lippen heftig auf die Stirn des Kindes, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, blickte wild umher, schauderte zusammen, sank zurück – und starb. Sie rieben ihr Brust, Hände und Schläfen, aber das Herz hatte für immer zu schlagen aufgehört. Sie sprachen auf sie ein von Hoffnung und Zuversicht, aber Hoffnung und Zuversicht waren der Armen seit langem fremd geworden.

»Es ist vorbei mit ihr, Mrs. Thingummy«, sagte der Arzt schließlich.

»Ja, ja die Arme«, sagte die Wärterin und bückte sich nach dem Propfen der grünen Flasche, der auf das Kissen gefallen war, als sie sich niedergebeugt, um das Kind aufzunehmen. »Das arme Kleine.«

»Sie brauchen nicht nach mir zu schicken, wenn das Kind schreien sollte«, sagte der Arzt und zog sich mit großer Sorgfalt seine Handschuhe an. »Es wird wahrscheinlich unruhig werden, dann geben Sie ihm etwas Haferschleim.« Damit setzte er seinen Hut auf und fragte, als er auf seinem Weg zur Tür an dem Bett vorüberkam. »Es war eine recht hübsche Person, wo ist sie denn hergekommen?«

»Man hat sie gestern nacht hergeschafft«, erwiderte die alte Frau, »auf Befehl des Herrn Vorstands. Man hat sie auf der Gasse liegend gefunden. Sie muß hübsch weit hergekommen sein, denn ihre Schuhe waren zerrissen; aber wo sie herkommen ist oder wohin sie hat gehen wollen, weiß niemand.«

Der Arzt beugte sich über die Tote und ergriff ihre linke Hand. »Die alte Geschichte«, murmelte er kopfschüttelnd, »kein Ehering, wie ich sehe. Also gute Nacht.«

Damit ging er zu seinem Abendessen, und die Wärterin setzte sich, nachdem sie noch einmal der grünen Flasche zugesprochen, auf einen Stuhl in der Nähe des Kamins und begann, das Kind in Windeln zu wickeln.

Da sah man wieder, wie wahr das Wort ist, daß Kleider Leute machen: bisher in ein Tuch gehüllt und in sonst nichts, hätte Oliver ebensogut das Kind eines Adeligen wie das eines Bettlers sein können, aber jetzt, wo er in dem alten Kattunsteckkissen untergebracht war, dessen Farbe in langjährigem Dienst zu einem häßlichen Gelb verschossen war, sah man ihm sofort das Waisenkind des Arbeitshauses an, das nur dazu da war, durch die Welt geknufft zu werden, verspottet und verachtet von jedermann und von niemand bemitleidet. Oliver schrie aus vollem Halse. Hätte er gewußt, daß er eine Waise war und nur der Barmherzigkeit von Kirchenvorstehern ausgeliefert, hätte er wahrscheinlich noch viel lauter geschrien.

2. KAPITEL

Wie Oliver Twist aufwuchs, erzogen und verpflegt wurde

 

Die nächsten acht bis zehn Monate war Oliver das Opfer systematischer Säuglingsfürsorge. Er wurde mit der Flasche aufgezogen. Von der elenden Lage des kleinen Waisenjungen machte man seitens der Vorstände des Arbeitshauses pflichtgemäß denen des Kirchspiels Meldung, worauf von letzteren in aller Form die Anfrage einlief, ob sich denn nicht im »Hause« eine Frauensperson befände, die in der Lage sei, Oliver seine natürliche Nahrung reichen zu können. Der Vorstand des Armenarbeitshauses erwiderte darauf untertänigst, daß dies leider nicht der Fall sei, worauf die Kirchspielbehörde den hochherzigen Entschluß faßte, Oliver in ein etwa drei Meilen entferntes Zweigarmenhaus bringen zu lassen, wo etwa zwanzig andre kleine Übertreter des Zuständigkeitsgesetzes unter der mütterlichen Aufsicht und ohne allzusehr mit Nahrung oder Kleidung behelligt zu werden auf dem Stubenfußboden umherkollerten, was mit achteinhalb Pence pro Kopf und Woche in Rechnung gestellt wurde. Mit achteinhalb Pence läßt sich nicht viel bestreiten, aber die würdige Hausdame war eine kluge und erfahrene Frau und wußte, wie leicht sich Kinder überfressen können und was ihnen zuträglich ist; andrerseits aber auch, was ihr selbst zuträglich war. Sie verwendete daher den größeren Teil des Kostgeldes zu ihrem eigenen Wohl und verstand es auf diese Weise, die gesetzliche Grausamkeit noch um ein Beträchtliches zu vertiefen; sie bewies damit, wie weit sie es in der Experimentalphilosophie auf eigene Faust gebracht hatte.

Wohl jeder kennt die Geschichte des bekannten Experimentalphilosophen, der sich vorgenommen hatte, einem Pferde das Fressen abzugewöhnen, und diese Theorie so vorzüglich in die Praxis umsetzte, daß er sein Pferd bis auf einen Strohhalm pro Tag heruntertrainierte und zweifelsohne ein außerordentliches, kräftiges, jedem Futter abholdes Tier aus ihm gemacht haben würde, wäre es nicht leider vierundzwanzig Stunden vor dem ersten kompletten Fasttag gestorben. Leider waren die Erfolge der erwähnten trefflichen Kostfrau nicht selten, was die Kirchspielkinder anbelangte, von gleichem Mißerfolg gekrönt, indem die Kleinen entweder vor Kälte oder Hunger, oder weil sie sich tödlich verletzten oder verbrannten, frühzeitig starben und zu ihren Vätern, die sie nie gekannt, versammelt wurden.

Stellten wirklich einmal die Vorstände schärfere Nachforschungen als sonst nach dem Verbleib irgendeines Waisenkindes an, oder mischte sich das Gericht hinein und beschwerte sich den Kopf mit überflüssigen Fragen, so schützte das Zeugnis und die Aussage des Arztes und des Kirchspieldieners die Treffliche jedesmal gegen Ungemach. Jedesmal hatte der erstere dann die Leichen geöffnet und begreiflicherweise nichts darin gefunden, oder letzterer beschwor rastlos, was dem Kirchspiel paßte, und lieferte damit einen Beweis seiner Hingebung und Selbstaufopferung. Besuchte das Vorstandskollegium von Zeit zu Zeit einmal die Zweiganstalt des Arbeitshauses, so versäumte es nie, jedesmal Tags zuvor den Kirchspieldiener vorauszusenden, damit auch alles in Ordnung sei. Und jedesmal sahen dann die Kleinen reinlich und gut genährt aus –! Was konnte man mehr verlangen.

Daß dieses Pflege- und Ernährungssystem ein allzu kräftiges Gedeihen der Kinder zur Folge gehabt hätte, ließ sich nicht erwarten, und so zeigte sich denn auch Oliver Twist von seinem neunten Geburtstage an als ein schwaches, bläßliches, im Wachstum zurückgebliebenes Kind. Dennoch lebte, ob von Natur oder als Erbschaft seiner Vorfahren, in Olivers Brust ein kräftiger energischer Geist, der dank der strengen Diät des Hauses Raum genug hatte, sich noch weiter zu entfalten.

Es war an Olivers neuntem Geburtstage. Während er diese Feier im Kohlenkeller zusammen mit zwei andern jungen Herrn beging, die sich gleich ihm von einer ordentlichen Tracht Prügel erholten, die ihnen zuteil geworden, weil sie sich erfrecht hatten, hungrig gewesen zu sein, wurde Mrs. Mann, die treffliche Pflegefrau, durch das plötzliche Erscheinen Mr. Bumbles, des Kirchspieldieners, der seine Schritte dem Gartenpförtchen zulenkte, in Schrecken gesetzt.

»Du mein Gott, Mr. Bumble, sind Sie’s wirklich?« rief Mrs. Mann und steckte den Kopf anscheinend hocherfreut aus dem Fenster. »Susanna! Holen Sie gleich den kleinen Oliver herauf und die beiden andern Lausbuben und waschen Sie sie – ach, Mr. Bumble, wie ich mich freue, Sie wieder einmal zu sehen!« Mr. Bumble war nun aber ein wohlbeleibter und ebenso heißblütiger Herr, und daher rüttelte er anstatt auf diese freundliche Bewillkommnung in höflicher Weise zu antworten, wütend an der Gartenpforte und stieß mit dem Fuß in einer Weise dagegen, wie sie eben nur ein Kirchspieldiener beherrscht.

»Gott im Himmel«, rief Mrs. Mann aus dem Zimmer stürzend – die drei Jungen hatte man inzwischen weggebracht –, »ich habe ganz vergessen, daß ich der lieben Kleinen wegen das Gattertor von innen verriegelt habe. So spazieren Sie doch weiter, Sir. Bitte, treten Sie ein, Mr. Bumble.«

Ihre Einladung war von einem so freundlichen Lächeln begleitet, daß es sicherlich sogar das Herz eines Kirchenpresbyters erweicht haben würde; dennoch besänftigte es den Kirchspieldiener nicht im mindesten.

»Nennen Sie das einen respektvollen Empfang, Mrs. Mann?« fragte Mr. Bumble und faßte seinen Amtsstab noch fester, »daß Sie die Kirchspielbeamten an Ihrer Türe warten lassen, wenn sie in Parochialangelegenheiten und in betreff der Parochialkinder hierher kommen? Sie wissen doch, Mrs. Mann, daß Sie von der Parochialbehörde angestellt sind und von der Parochialbehörde bezahlt werden!«

»Ich erzählte gerade einem paar der lieben Kleinen, Mr. Bumble, derentwegen Sie so freundlich sind sich herzubemühen, daß Sie kommen würden«, wendete Mrs. Mann mit großer Unterwürfigkeit ein.

Mr. Bumble hatte eine sehr hohe Meinung von seiner Rednergabe und seiner amtlichen Wichtigkeit. Er hatte soeben die eine entfaltet und die andre gewahrt. Er schlug daher einen milderen Ton an.

»Nun, nun, Mrs. Mann«, sagte er, »ich bezweifle das ja gar nicht. Lassen Sie mich aber jetzt hinein, Mrs. Mann. Ich komme in Geschäften und habe Ihnen etwas mitzuteilen.«

Mrs. Mann führte den Kirchspieldiener in ein kleines Sprechzimmer, bot ihm einen Sessel an und legte dienstbeflissen seinen dreieckigen Hut und seinen Amtsstab auf den Tisch. Mr. Bumble wischte sich den Schweiß von der Stirn, blickte wohlgefällig auf seinen Dreispitz und lächelte. Wirklich und wahrhaftig, er lächelte! Aber Kirchspieldiener sind eben auch nur Menschen, daher lächelte Mr. Bumble.

»Sie dürfen jetzt nicht beleidigt sein wegen dem, was ich Ihnen sagen will«, begann Mrs. Mann mit bestrickender Liebenswürdigkeit. »Sie haben einen weiten Weg hinter sich, sonst würde ich gar nicht davon anfangen, aber sagen Sie, wollen Sie nicht ein Gläschen nehmen?«

»Nicht einen Tropfen, nicht einen Tropfen«, wehrte Mr. Bumble ab und schwenkte seine Rechte in würdevoller, aber freundlicher Weise.

»Sie werden mir gewiß den Gefallen tun«, beharrte Mrs. Mann auf ihrer Bitte, den Ton, in dem die Weigerung gesprochen worden, aber auch die begleitende Gebärde wohl erfassend. »Nur ein ganz kleines Gläschen mit einem bissel kaltem Wasser und einem Stückchen Zucker?«

Mr. Bumble hüstelte.

»Nur ein ganz kleines Gläschen«, wiederholte Mrs. Mann ihre Bitte in dringendem Ton.

»Was ist es denn?« fragte der Kirchspieldiener.

»Ach Gott, ich muß immer ein bisserl davon hier haben, daß ich den lieben Kleinen eine kleine Herzstärkung geben kann, wenn ihnen nicht recht gut ist, Mr. Bumble«, erwiderte Mrs. Mann, öffnete ein Schränkchen und holte eine Flasche und ein Glas hervor. »Es ist Genevre, ich will Ihnen nichts vormachen, Mr. Bumble, es ist nur Genevre.«

»Geben Sie denn den Kindern Schnaps, Mrs. Mann?« fragte der Kirchspieldiener und verfolgte mit den Blicken den interessanten Prozeß der Mischung.

»O mein, ich tue’s halt, so teuer es auch kommen mag«, versetzte die Pflegefrau. »Sie wissen doch, ich könnt die armen Kleinen niemals nicht leiden sehen.«

»Nein, nein«, sagte Mr. Bumble zustimmend, »Sie können es nicht. Sie sind überhaupt eine sehr humane Frau« – dabei setzte sie das Glas vor ihn hin – »ich werde nicht versäumen, bei der nächsten besten Gelegenheit es den Vorständen gegenüber zur Sprache zu bringen, Mrs. Mann«, (dabei zog er das Glas näher zu sich) »Sie fühlen wie eine Mutter«, (dabei ergriff er das Glas) »Ich trinke hiermit auf Ihre Gesundheit, Mrs. Mann« (dabei goß er das Glas zur Hälfte hinunter). »So und jetzt wollen wir vom Geschäft reden«, sagte er und holte ein ledernes Taschenbuch hervor. »Der Knabe, der in der Waisentaufe den Namen Oliver Twist bekommen hat, wird heute neun Jahre alt.«

»Gottes Segen über ihn«, warf Mrs. Mann dazwischen und konnte nicht umhin, sich die Augen mit der Schürze zu trocknen.

»Trotz der ausgeschriebenen Belohnung von zehn Pfund, und später sogar von zwanzig Pfund, und trotz der geradezu übernatürlichen Anstrengungen des Kirchspiels«, fuhr Mr. Bumble fort, »sind wir nicht imstande gewesen, seinen Vater zu eruieren oder in Erfahrung zu bringen, wie seine Mutter hieß, was sie war und woher sie stammte.«

Mrs. Mann hob erstaunt die Hände gen Himmel, dachte einen Augenblick nach und fragte: »Wie kommt es denn dann, daß er überhaupt einen Namen hat?«

Der Kirchspieldiener warf sich in die Brust und antwortete: »Den hab’ ich erfunden.«

»Sie, Mr. Bumble?«

»Jawohl, ich, Mrs. Mann. Wir benennen unsre Zöglinge immer nach dem Alphabet. Zuletzt hielten wir bei S – Swubble, so nannte ich das vorletzte Waisenkind, und der nächste war ein T – Twist; ich habe ebenfalls den Namen erfunden. Wenn wieder einer kommt, wird er Unwin heißen, und der Nächstfolgende Vilkins. Ich habe mir schon eine ganze Reihe von Namen ausgedacht, durchs ganze Alphabet hindurch; und wenn ich bei Z angekommen bin, fange ich beim A wieder an.«

»Ja, ja, Sie sind halt fast ein Dichter«, sagte Mrs. Mann.

»Nun, nun, mag sein«, gab der Kirchspieldiener zu, durch dieses Kompliment sichtlich geschmeichelt; »mag sein, Mrs. Mann.« Damit trank er sein Glas aus und setzte hinzu: »Oliver ist jetzt schon viel zu alt, um noch länger hier bleiben zu dürfen. Deshalb hat die Behörde beschlossen, ihn wieder zurück ins Arbeitshaus zu nehmen. Ich bin selber hergekommen, um ihn abzuholen. Wo steckt er?«

»Ich werde ihn sogleich holen«, sagte Mrs. Mann und ging zur Türe.

Gleich darauf erschien sie wieder mit Oliver, der inzwischen gewaschen, gestriegelt und angekleidet worden war. »Mach ein Buckerl vor dem Herrn, Oliver«, sagte sie.

Oliver machte einen Kratzfuß, der zur Hälfte dem Kirchspieldiener und zur anderen Hälfte dem Dreispitz auf dem Tische galt.

»Willst du mit mir gehen, Oliver?« fragte Mr. Bumble feierlichst.

Oliver wollte schon antworten, daß er jederzeit aufs bereitwilligste mit wem immer fortzugehen willens sei, blickte aber zufällig dabei Mrs. Mann an, die hinter den Stuhl des Kirchspieldieners getreten war und Oliver mit fürchterlicher Miene mit der Faust drohte. Er begriff sofort, denn er wußte nur zu gut, was diese Faust alles vermochte.

»Kommt sie auch mit?« fragte er schüchtern.

»Nein, sie kann nicht mitkommen«, sagte Mr. Bumble, »aber sie wird dich schon zuweilen besuchen dürfen.«

Das war gewiß kein besonderer Trost für Oliver, aber trotz seiner Jugend hatte er Grütze genug, sich zu stellen, als verließe er das Haus nur ungern, und überdies waren ihm die Tränen infolge des ewigen Hungerleidens und der erst vor kurzem erfahrenen Züchtigung näher als das Lachen. Wiederholt umarmte ihn Mrs. Mann und gab ihm, was er am meisten brauchte, nämlich ein großes Stück Butterbrot, damit er im Arbeitshaus nicht allzu hungrig ankäme. Damit war die Sache abgemacht. Mit dem Stück Brot in der Hand und seiner kleinen Waisenjungenkappe aus braunem Tuch auf dem Kopf, wurde er sogleich von Mr. Bumble aus dem fürchterlichen Heim geführt, wo niemals der Strahl eines freundlichen Blickes die Finsternis seiner ersten Kinderjahre erhellt hatte. Dennoch konnte er Tränen kindlichen Schmerzes nicht zurückdrängen, als sich das Gartentor hinter ihm schloß; verließ er doch seine Leidensgefährten, die einzigen Kameraden, die er je gekannt, und jetzt zum erstenmal, seit er wußte, was Erinnerung ist, wurde ihm das Gefühl gänzlicher Verlassenheit in der großen weiten Welt bewußt.

Mit schnellen Schritten eilte Mr. Bumble vorwärts, und der kleine Oliver klammerte sich an seine mit Goldborten besetzten Schöße, trottete neben ihm her und fragte, als sie kaum eine Viertelmeile hinter sich hatten, ob sie bald am Ziele wären. Auf diese öfters wiederholten Fragen gab Mr. Bumble jedesmal nur sehr kurze und brummige Antworten, denn die Milde, die der Genevre mit heißem Wasser gemischt in seinem Gemüt vielleicht erzeugt haben müßte, war längst verflogen, und er fühlte sich wieder Kirchspieldiener vom Scheitel bis zur Sohle. Oliver war noch nicht eine Viertelstunde innerhalb der Mauern des Arbeitshauses und hatte kaum ein zweites Stückchen Brot verschlungen, als Mr. Bumble, der ihn der Obhut einer alten Frau inzwischen anvertraut, zurückkehrte und ihm erklärte, die Herren Vorstände hätten befohlen, er solle unverzüglich vor ihnen erscheinen.

Oliver, der keine besonders klare Vorstellung von dem hatte, was ein Vorstand alles sein kann, war von dieser überraschenden Mitteilung förmlich betäubt und wußte nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Es blieb ihm jedoch keine Zeit, über diesen Punkt ins reine zu kommen, denn Mr. Bumble versetzte ihm eins mit dem Stock über den Kopf, um seine Geisteskräfte zu erwecken, und eins über den Rücken, um ihn zur Eile anzuspornen. Dann befahl er, ihm zu folgen, und führte ihn in ein großes weißgetünchtes Zimmer, in dem acht oder zehn wohlbeleibte Herren um einen Tisch herumsaßen. Zu oberst in einem Armstuhl, der ein bißchen höher war als die übrigen, ein ganz besonders wohlbeleibter Herr mit einem kugelrunden roten Kopf.

»Mach den Herrn Vorständen deine Verbeugung«, befahl Mr. Bumble.

Oliver wischte sich die Tränen aus den Augen und, da er nicht recht begriff, wer von den Anwesenden die Herren Vorstände sein könnten, machte er instinktiv und aufs Geratewohl einen Kratzfuß.

»Wie heißt du, Junge?« fragte der Herr auf dem hohen Stuhl.

Oliver zitterte am ganzen Leib, denn der Anblick so vieler Gentlemen brachte ihn gänzlich außer Fassung. Mr. Bumble versuchte ihn durch eine kräftige Berührung mit seinem Kirchspieldienerstab zu belehren, und das hatte zur Folge, daß er wiederum anfing zu weinen. Er antwortete daher mit leiser und zaghafter Stimme, und das veranlaßte einen Herrn in einer weißen Weste auszurufen, er wäre ein dummer Junge – das beste Mittel, ihm Mut einzuflößen.

»Junge«, begann der Herr in dem hohen Stuhl abermals, »höre jetzt, was ich dir zu sagen habe. Du weißt doch, daß du ein Waisenkind bist?«

»Was ist das, Sir?« fragte der unglückliche Oliver.

»Er ist wirklich ein dummer Junge, ich hab’ mir’s gleich gedacht«, sagte der Herr mit der weißen Weste.

»Du weißt doch«, nahm der erste Herr wieder das Wort, »daß du weder Vater noch Mutter hast und vom Kirchspiel erzogen wirst?«

»Ja«, antwortete Oliver unter Tränen.

»Warum heulst du?« fragte der Herr mit der weißen Weste, denn es war doch höchst auffallend, daß Oliver weinte. Welchen Grund konnte er nur haben?

»Ich hoffe, du betest doch jeden Abend«, fragte ein anderer Gentleman in barschem Ton, »und betest für die, die dir zu essen geben und für dich sorgen, so wie es einem Christenmenschen geziemt.«

»Ja, Sir«, hauchte Oliver. In Wirklichkeit hatte er jedoch nie gebetet, weil es ihn niemand gelehrt hatte.

»Man hat dich hierhergerufen«, fuhr der Präsident fort, »um dich erziehen zu lassen, und damit du ein nützliches Handwerk lernst.« – »Du wirst also morgen früh um sechs Uhr anfangen, Werg zu zupfen«, setzte der mürrische Gentleman mit der weißen Weste hinzu.

Zum Dank für die Ankündigung dieser beiden Wohltaten machte Oliver unter Nachhilfe des Kirchspieldieners einen tiefen Kratzfuß vor den »Herren Vorständen« und wurde dann in einen großen Saal gesteckt, wo er sich auf einem harten rauhen Bett in den Schlaf weinen durfte.

Der arme Oliver ahnte nicht, wie er so dalag und schlief, daß die Herren Vorstände noch am selben Tage zu einem Entschluß gelangten, der von größtem Einfluß auf sein künftiges Geschick sein sollte.

Die Herren Vorstandsmitglieder waren äußerst kluge Männer von tiefer philosophischer Einsicht, und kaum hatten sie ihre Tätigkeit dem Arbeitshause und was damit zusammenhing zugewendet, so fanden sie auch sofort heraus, was ein gewöhnlicher Sterblicher kaum jemals entdeckt hätte, nämlich: daß es darin den Armen ganz über Gebühr gut gehe. Als wäre das Arbeitshaus nichts als ein öffentliches Vergnügungslokal für die ärmeren Klassen, eine Kneipe, in der man nichts zu bezahlen brauche, ein Ort, an dem man auf Kosten der Gemeinde Frühstück, Mittagessen, Tee und Abendbrot einnehmen könne – ein Elysium aus Ziegelsteinen und Mörtel, in dem gescherzt und gespielt, in Wirklichkeit aber nicht gearbeitet würde. Wir sind die richtigen Männer, um hier Ordnung zu schaffen, sagte sich die Vorstandschaft. Und so ordneten sie denn an, daß alle armen Leute die Wahl haben sollten – von Zwang könne natürlich keine Rede sein –, entweder langsam und nach und nach im Arbeitshaus zu verhungern, oder schnell und plötzlich außerhalb. Von diesem Gesichtspunkte aus schlossen sie mit den Wasserwerken einen Vertrag über Lieferung einer unbegrenzten Menge Trinkwassers und mit einem Getreidehändler einen ebensolchen, was die jeweilige Lieferung von kleinen Quantitäten Hafermehl anbelangte, und gaben täglich drei Portionen Haferschleim aus und außerdem zweimal wöchentlich eine Zwiebel dazu pro Mahlzeit und sonntags eine halbe Semmel.

Im ersten Halbjahr nach Olivers Ankunft war das System bereits in vollem Gange. Der Raum, in dem die Knaben ihr Essen bekamen, war eine Art Küche, und der Koch, von ein paar Frauenzimmern unterstützt, teilte ihnen aus einem Kupferkessel ihre drei Portionen Hafer zu – einen Napf voll und nicht mehr, ausgenommen, wie gesagt, die Sonn- und Feiertage, wo ein nicht allzu großes Stückchen Brot dazukam. Die Näpfe auszuwaschen war überflüssig, da die Jungen mit ihren Löffeln sowieso so lange darin herumkratzten, bis alles wieder glänzend war. Und wenn sie mit ihrer Tätigkeit fertig waren, was nie allzulange Zeit in Anspruch nahm, da die Löffel beinahe so groß waren wie die Näpfe selber, – saßen sie da und starrten auf den Kupferkessel mit so gierigen Augen, als ob sie am liebsten sogar die Ziegelsteine, aus denen der Herd aufgebaut war, verschlungen hätten, und saugten dabei an ihren Fingern in der Hoffnung, dort vielleicht noch irgendwo ein verirrtes Tröpfchen Haferschleim aufzulecken. Kinder pflegen nämlich einen vortrefflichen Appetit zu haben.

Drei Monate lang hatten Oliver und seine Kameraden die Qualen langsamen Hungertodes durchgemacht und waren kaum mehr imstande, diesen Zustand länger zu ertragen. Ein für sein Alter sehr großer Junge, dessen Vater Koch gewesen war, gab eines Tages seinen Gefährten zu verstehen, wenn er nicht bald eine Schüssel Haferschleim pro Tag mehr bekomme, so würde er sich nicht helfen können und müsse höchst wahrscheinlich eines Nachts seinen Schlafnachbar auffressen. Dieser Vielfraß hatte ein wildes hungriges Auge, und seine Reden riefen große Angst unter seinen Kameraden hervor. So beratschlagten sie untereinander, und es wurde gelost, wer von ihnen nach dem Abendessen zum Speisemeister gehen und noch um einen Napf bitten solle. Das Los fiel auf Oliver.

Der Abend kam, und die Jungen nahmen ihre Plätze ein. Der Speisemeister stellte sich in seiner weißen Kochschürze an den Kessel, der Haferbrei wurde ausgeteilt und ein langes Tischgebet gesprochen. Als die Mahlzeit vorüber war, flüsterten die Jungen untereinander, gaben Oliver Winke, und die ihm Zunächstsitzenden stießen ihn mit den Ellbogen an. Der Hunger machte ihn alle Rücksichten vergessen. Er stand auf, trat mit Napf und Löffel vor den Koch hin und sagte mit bebender Stimme:

»Ich bitte um Verzeihung, Sir, ich möchte noch um ein wenig bitten.«

Der Koch, ein feister rotbackiger Mann, wurde blaß wie der Kalk an der Wand. In maßlosem Staunen starrte er einige Sekunden den kleinen Rebellen an und mußte sich am Kessel festhalten, um nicht umzufallen. Die beiden Frauenzimmer waren geradezu gelähmt vor Entsetzen, und auch die Jungen konnten vor Furcht kein Wort hervorbringen.

»Was?« fragte der Koch endlich mit schwacher Stimme.

»Ich bitte, Herr«, wiederholte Oliver, »ich möchte noch etwas haben.«

Der Koch gab ihm eins mit dem Löffel über den Kopf, faßte ihn dann am Arm und schrie laut nach dem Kirchspieldiener.

Die Herren Vorstände saßen gerade zusammen bei einer Beratung, als Mr. Bumble in höchster Erregung ins Zimmer stürzte und dem Herren auf dem hohen Stuhl meldete:

»Mr. Limbkins, ich bitte um Verzeihung, Sir, Oliver Twist hat mehr zu essen verlangt.«

Alles fuhr auf. Entsetzen malte sich auf allen Gesichtern.

»Mehr?« rief Mr. Limbkins. »Kommen Sie zu sich, Bumble! Antworten Sie mir klar und deutlich. Verstehe ich recht? Er hat mehr gefordert als die ihm von der Vorstandschaft festgesetzte Ration?«