Patrick Modiano

Damit du dich im Viertel nicht verirrst

Roman

Aus dem Französischen
von Elisabeth Edl

Carl Hanser Verlag

Die französische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel Pour que tu ne te perdes pas dans le quartier bei Gallimard in Paris.

ISBN 978-3-446-25006-2

© Éditions Gallimard Paris 2014

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2015

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

© akg-images/ Paul Almasy

Satz: Gaby Michel, Hamburg

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Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Ich kann die Wirklichkeit

des Geschehenen nicht darstellen,

ich kann nur seinen Schatten zeigen.

STENDHAL

Fast nichts. Wie ein Insektenstich, der dir zunächst ganz leicht vorkommt. Wenigstens sagst du dir das leise, um dich zu beruhigen. Das Telefon hatte am Nachmittag gegen vier bei Jean Daragane geklingelt, in dem Zimmer, das er »Büro« nannte. Er war eingenickt auf dem Kanapee, das ganz hinten stand, vor der Sonne geschützt. Und dieses Klingeln, an das er seit langem kaum noch gewöhnt war, verstummte nicht. Warum diese Hartnäckigkeit? Am anderen Ende der Leitung hatte man vielleicht vergessen aufzulegen. Schließlich erhob er sich und ging in jenen Teil des Raums unweit der Fenster, wo die Sonne hinbrannte.

»Ich würde gern mit Monsieur Jean Daragane sprechen.«

Eine weiche und bedrohliche Stimme. Das war sein erster Eindruck.

»Monsieur Daragane? Hören Sie mich?«

Daragane wollte auflegen. Doch wozu? Das Klingeln würde von neuem anfangen und nie wieder verstummen. Und wenn er die Telefonschnur nicht ein für allemal durchschnitt …

»Am Apparat.«

»Es geht um Ihr Adressbüchlein, Monsieur …«

Er hatte es letzten Monat in einem Zug verloren, der ihn an die Côte d’Azur brachte. Ja, es konnte nur in diesem Zug gewesen sein. Das Adressbüchlein war bestimmt aus seiner Jackentasche gerutscht, als er seinen Fahrschein hervorgezogen hatte, um ihn dem Schaffner vorzuweisen.

»Ich habe ein Adressbüchlein mit Ihrem Namen gefunden.«

Auf dem grauen Einband stand: BEI VERLUST DIESES BÜCHLEIN ZURÜCKSCHICKEN AN. Und Daragane hatte eines Tages gedankenlos seinen Namen hingeschrieben, seine Adresse und seine Telefonnummer.

»Ich bringe es Ihnen nach Hause. An welchem Tag und um welche Uhrzeit Sie möchten.«

Ja, wirklich, eine weiche und bedrohliche Stimme. Und dazu noch, dachte Daragane, ein Erpressertonfall.

»Mir wäre lieber, wir würden uns irgendwo treffen.«

Er hatte sich einen Ruck gegeben, um das Unbehagen zu überwinden. Doch plötzlich war seine Stimme, die gleichgültig klingen sollte, eine tonlose Stimme.

»Wie Sie möchten, Monsieur.«

Dann herrschte Stille.

»Schade. Ich bin ganz in Ihrer Nähe. Ich hätte es Ihnen gern eigenhändig übergeben.«

Daragane fragte sich, ob der Mann nicht vor dem Haus stand und ob er nicht dort stehenbleiben würde, auf der Lauer. Er musste ihn so schnell wie möglich loswerden.

»Wir können uns morgen nachmittag sehen«, sagte er endlich.

»Wenn Sie wollen. Aber dann nicht weit von meiner Arbeit. In der Nähe der Gare Saint-Lazare.«

Er wollte schon auflegen, beherrschte sich aber.

»Kennen Sie die Rue de l’Arcade?«, fragte der andere. »Wir könnten uns im Café treffen. In der Nummer 42, Rue de l’Arcade.«

Daragane notierte sich die Adresse. Er atmete durch und sagte:

»Gut, Monsieur. Nummer 42, Rue de l’Arcade, morgen abend um fünf.«

Dann legte er auf, ohne die Antwort seines Gesprächspartners abzuwarten. Er bedauerte sogleich, sich so grob verhalten zu haben, schrieb das jedoch der Hitze zu, die seit einigen Tagen auf Paris lastete, eine für September ungewöhnliche Hitze. Sie verstärkte seine Einsamkeit. Sie zwang ihn, in diesem Zimmer eingeschlossen zu bleiben bis Sonnenuntergang. Und außerdem hatte das Telefon seit Monaten nicht mehr geklingelt. Und er fragte sich, wann er das Handy auf seinem Schreibtisch zum letzten Mal benutzt hatte. Er kam damit kaum zurecht und vertat sich oft, wenn er auf die Tasten drückte.

Ohne den Anruf des Unbekannten hätte er den Verlust dieses Büchleins für immer vergessen. Er versuchte sich an Namen zu erinnern, die darinstanden. In der Vorwoche wollte er es sogar neu anlegen und hatte begonnen, auf einem weißen Blatt eine Liste aufzustellen. Nach kurzer Zeit hatte er das Blatt zerrissen. Keiner von den Namen gehörte Personen, die in seinem Leben gezählt hatten – deren Adressen und Telefonnummern hatte er nicht aufschreiben müssen. Er wusste sie auswendig. In diesem Büchlein nichts als Bekanntschaften, von denen man sagt, dass sie »beruflicher Natur« sind, ein paar sogenannte nützliche Adressen, nicht mehr als etwa dreißig Namen. Und darunter mehrere, die er hätte streichen müssen, weil sie nicht mehr gültig waren. Was ihm nach dem Verlust des Adressbüchleins Sorgen bereitet hatte, war allein, dass er seinen eigenen Namen und seine Adresse daraufgeschrieben hatte. Natürlich konnte er die Sache beiseiteschieben und diesen Menschen vergeblich in der Nummer 42 der Rue de l’Arcade warten lassen. Aber dann würde immer etwas in der Schwebe bleiben, eine Drohung. Oft, an manchen Nachmittagen voller Einsamkeit, hatte er geträumt, das Telefon würde klingeln und eine sanfte Stimme würde ihm ein Treffen vorschlagen. Er erinnerte sich an den Titel eines Romans, den er gelesen hatte: Die Zeit der Begegnungen. Vielleicht war diese Zeit für ihn noch nicht vorüber. Aber die Stimme von vorhin flößte ihm kein Vertrauen ein. Weich und zugleich bedrohlich, diese Stimme. Ja.

*

Er bat den Taxifahrer, ihn an der Madeleine aussteigen zu lassen. Es war weniger heiß als an den anderen Tagen, und man konnte zu Fuß gehen, vorausgesetzt, man nahm die Schattenseite. Er folgte der Rue de l’Arcade, die still und verlassen unter der Sonne lag.

Er war seit einer Ewigkeit nicht mehr in diese Gegend gekommen. Ihm fiel ein, dass seine Mutter in einem Theater hier in der Umgebung spielte und dass sein Vater ein Büro ganz am Ende der Straße besaß, links, in der Nummer 73 des Boulevard Haussmann. Er wunderte sich, dass er die Nummer 73 noch im Gedächtnis hatte. Aber diese ganze Vergangenheit war so durchscheinend geworden mit der Zeit … ein Dunst, der sich auflöste in der Sonne.

Das Café war an der Ecke Rue de l’Arcade/Boulevard Haussmann. Ein leerer Raum, ein langer Tresen und darüber Regale wie in einem Selbstbedienungsrestaurant oder einem alten Wimpy. Daragane setzte sich an einen Tisch ganz hinten. Würde dieser Unbekannte zu dem Treffen erscheinen? Die beiden Türen standen offen, die eine zur Straße und die andere zum Boulevard, wegen der Hitze. Auf der anderen Straßenseite, das große Gebäude der 73 … Er fragte sich, ob eines der Fenster im Büro seines Vaters nicht auf diese Seite hinausging. Auf welchem Stockwerk? Aber diese Erinnerungen entzogen sich ihm nach und nach, wie Seifenblasen oder Fetzen eines Traums, die beim Erwachen verfliegen. Sein Gedächtnis wäre reger gewesen in dem Café Rue des Mathurins, vor dem Theater, dort, wo er auf seine Mutter wartete, oder im Umkreis der Gare Saint-Lazare, eine Zone, wo er sich früher viel herumgetrieben hatte. Ach, nein. Bestimmt nicht. Das war nicht mehr dieselbe Stadt.

»Monsieur Jean Daragane?«

Er hatte die Stimme wiedererkannt. Ein Mann um die Vierzig stand vor ihm, in Begleitung eines Mädchens, das jünger war als er.

»Gilles Ottolini.«

Es war dieselbe Stimme, weich und bedrohlich. Er deutete auf das Mädchen:

»Eine Freundin … Chantal Grippay.«

Daragane blieb auf der Bank sitzen, reglos, ohne ihnen auch nur die Hand zu reichen. Sie setzten sich beide ihm gegenüber.

»Bitte entschuldigen Sie … Wir haben ein bisschen Verspätung …«

Er hatte einen ironischen Ton angeschlagen, wahrscheinlich um gelassen zu wirken. Ja, es war dieselbe Stimme, mit einem leichten, kaum wahrnehmbaren südlichen Akzent, der Daragane tags zuvor am Telefon nicht aufgefallen war.

Elfenbeinfarbene Haut, schwarze Augen, Adlernase. Das Gesicht war scharfkantig, von vorne ebenso wie im Profil.

»Hier ist Ihr Eigentum«, sagte er zu Daragane, im selben ironischen Ton, der eine gewisse Verlegenheit überspielen sollte.

Und er zog das Adressbüchlein aus der Jackentasche. Er legte es auf den Tisch, verdeckte es jedoch mit der Handfläche, wobei er die Finger spreizte. Man hätte meinen können, er wolle Daragane hindern, es an sich zu nehmen.

Das Mädchen hielt sich ein wenig im Hintergrund, so, als wolle sie keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, eine Brünette von etwa dreißig Jahren, mit halblangem Haar. Sie trug eine schwarze Bluse und eine schwarze Hose. Sie warf einen ängstlichen Blick auf Daragane. Wegen ihrer Wangenknochen und ihrer Schlitzaugen fragte er sich, ob sie nicht vietnamesischer – oder chinesischer – Herkunft war.

»Und wo haben Sie das Büchlein gefunden?«

»Auf dem Boden, unter einer Bank im Buffet der Gare de Lyon.«

Er reichte ihm das Adressbüchlein. Daragane steckte es in die Tasche. Tatsächlich, er erinnerte sich, dass er am Tag seiner Abreise an die Côte d’Azur zu früh am Bahnhof gewesen war und sich in das Buffet der ersten Etage gesetzt hatte.

»Möchten Sie etwas trinken?«, fragte dieser Gilles Ottolini.

Daragane bekam Lust, sich aus dem Staub zu machen. Doch er besann sich.

»Ein Schweppes.«

»Versuch doch jemanden zu finden, der die Bestellung aufnimmt. Für mich einen Kaffee«, sagte Ottolini, an das Mädchen gewandt.

Sie stand sofort auf. Offenbar war sie es gewohnt, ihm zu gehorchen.

»Es muss unangenehm für Sie gewesen sein, dieses Büchlein verloren zu haben …«

Er lächelte mit einem merkwürdigen Lächeln, das Daragane frech vorkam. Vielleicht aber war das bei ihm auch bloß Unbeholfenheit oder Schüchternheit.

»Wissen Sie«, sagte Daragane, »ich telefoniere fast überhaupt nicht mehr.«

Der andere schaute überrascht. Das Mädchen kam zurück an den Tisch und setzte sich wieder.

»Um diese Uhrzeit bedienen sie nicht mehr. Sie schließen gleich.«

Zum ersten Mal hörte Daragane die Stimme dieses Mädchens, eine heisere Stimme, ohne den leichten südlichen Akzent ihres Tischnachbarn. Eher schon ein Pariser Akzent, wenn das noch irgendetwas bedeutet.

»Sie arbeiten hier in der Ecke?«, fragte Daragane.

»In einer Werbeagentur, Rue Pasquier. Die Agentur Sweerts.«

»Und Sie auch?«

Er hatte sich dem Mädchen zugewandt.

»Nein«, sagte Ottolini, ohne dem Mädchen Zeit zu lassen für eine Antwort. »Im Augenblick macht sie gar nichts.« Und wieder dieses verkrampfte Lächeln. Auch das Mädchen hatte ein Lächeln angedeutet.

Daragane hatte es eilig, sich zu verabschieden. Wenn er das nicht sogleich tat, wie sollte er sie je wieder loswerden?

»Ich will ganz offen mit Ihnen reden …« Er beugte sich zu Daragane, und seine Stimme klang höher.

Daragane überkam dasselbe Gefühl wie tags zuvor am Telefon. Ja, dieser Mann war lästig wie ein Insekt.

»Ich habe mir erlaubt, in Ihrem Adressbüchlein zu blättern … reine Neugier …«

Das Mädchen hatte den Kopf abgewandt, so als würde sie nicht zuhören.

»Sie nehmen mir das nicht übel?«

Daragane blickte ihm gerade in die Augen. Der andere hielt seinem Blick stand.

»Warum sollte ich Ihnen das übelnehmen?«

Schweigen. Der andere hatte schließlich den Blick gesenkt. Dann, mit derselben metallischen Stimme:

»Da ist jemand, dessen Namen ich in Ihrem Adressbüchlein gefunden habe. Ich hätte über ihn gern einige Auskünfte …«

Der Ton war unterwürfiger geworden.

»Verzeihen Sie meine Indiskretion …«

»Um wen handelt es sich?«, fragte Daragane widerwillig.

Plötzlich spürte er das Bedürfnis, aufzustehen und mit raschem Schritt durch die offene Tür hinauszugehen auf den Boulevard Haussmann. Und in der freien Luft zu atmen.

»Um einen gewissen Guy Torstel.«

Er hatte Vornamen und Namen mit Betonung der einzelnen Silben ausgesprochen, wie um die eingeschlafene Erinnerung seines Gegenübers zu wecken.

»Wie bitte?«

»Guy Torstel.«

Daragane zog das Adressbüchlein aus der Tasche und schlug es beim Buchstaben T auf. Er las den Namen ganz oben auf der Seite, aber mit diesem Guy Torstel konnte er nichts verbinden.

»Ich weiß nicht, wer das sein könnte.«

»Wirklich?«

Der andere schien enttäuscht.

»Da steht eine Telefonnummer mit sieben Ziffern«, sagte Daragane. »Die muss mindestens an die dreißig Jahre alt sein …«

Er blätterte. Alle anderen Telefonnummern waren eindeutig von heute. Mit zehn Ziffern. Und dieses Adressbüchlein benutzte er doch erst seit fünf Jahren.

»Der Name sagt Ihnen nichts?«

»Nein.«

Vor ein paar Jahren noch hätte er jene Freundlichkeit an den Tag gelegt, die alle Welt ihm bescheinigte. Er hätte gesagt: »Geben Sie mir ein wenig Zeit, um dieses Rätsel zu lösen …« Aber die Worte kamen ihm nicht über die Lippen.

»Es geht um einen Kriminalfall, über den ich eine Menge Material zusammengetragen habe«, fuhr der andere fort. »Dieser Name wird erwähnt. Das ist alles …«

Plötzlich schien er in der Defensive.

»Was für eine Art Kriminalfall?«

Daragane hatte die Frage automatisch gestellt, so, als käme seine alte Höflichkeit wieder zum Vorschein.

»Ein sehr alter Kriminalfall … Ich möchte einen Artikel darüber schreiben … Früher mal habe ich als Journalist gearbeitet, wissen Sie …«

Aber Daraganes Aufmerksamkeit erlahmte. Er musste sich wirklich so schnell wie möglich aus dem Staub machen, sonst würde dieser Mann ihm noch sein ganzes Leben erzählen.

»Es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe diesen Torstel vergessen … In meinem Alter hat man Erinnerungslücken … Ich muss Sie bedauerlicherweise verlassen …«

Er stand auf und gab beiden die Hand. Ottolini bedachte ihn mit einem harten Blick, als habe Daragane ihn beleidigt und als würde er nun am liebsten wütend antworten. Das Mädchen hatte den Blick gesenkt.

Er ging zu der weit geöffneten Glastür, die hinaus auf den Boulevard Haussmann führte, und hoffte, der andere werde ihm nicht den Weg versperren. Draußen atmete er tief durch. Was für ein komischer Einfall, dieses Treffen mit einem Unbekannten, ausgerechnet er, der seit drei Monaten niemanden gesehen hatte und dem das nicht gerade schlecht bekam … Im Gegenteil. In dieser Einsamkeit hatte er sich so leicht gefühlt wie nie zuvor, mit merkwürdigen Augenblicken exaltierter Erregung morgens oder abends, als sei noch alles möglich und als warte, dem Titel eines alten Films entsprechend, das Abenteuer an der nächsten Straßenecke … Nie zuvor, nicht einmal während der Sommer seiner Jugendzeit, war ihm das Leben so schwerelos erschienen wie seit dem Anfang dieses Sommers. Doch im Sommer ist alles in der Schwebe – eine »metaphysische« Jahreszeit, sagte einst sein Philosophielehrer Maurice Caveing. Komisch, an den Namen »Caveing« erinnerte er sich, doch wer dieser Torstel war, wusste er nicht mehr.

Die Sonne schien noch, und ein leichter Wind machte die Hitze erträglicher. Um diese Uhrzeit war der Boulevard Haussmann menschenleer.

Im Laufe der letzten fünfzig Jahre war er oft hierher gekommen, und sogar während seiner Kindheit, wenn seine Mutter ihn mitnahm ins Kaufhaus Le Printemps, ein Stück weiter oben am Boulevard. Doch heute abend war die Stadt ihm fremd. Er hatte alle Anker gelichtet, die ihn noch mit ihr verbinden konnten, oder vielmehr sie hatte ihn von sich gestoßen.

Er setzte sich auf eine Bank und zog das Adressbüchlein aus der Tasche. Er wollte es schon zerreißen und die Stücke in den grünen Plastikkorb neben der Bank streuen. Doch er zögerte. Nein, das konnte er nachher tun, zu Hause, in aller Ruhe. Er blätterte geistesabwesend in dem Büchlein. Unter diesen Telefonnummern war keine einzige, die zu wählen er Lust gehabt hätte. Und bei den zwei oder drei fehlenden Nummern, jenen, die für ihn gezählt hatten und die er auswendig wusste, da würde niemand mehr abheben.

Gegen neun Uhr morgens klingelte das Telefon. Er war gerade aufgewacht.

»Monsieur Daragane? Gilles Ottolini.«

Die Stimme schien ihm weniger aggressiv als am Vortag.

»Es tut mir leid wegen gestern … ich habe das Gefühl, dass ich aufdringlich war …«

Der Ton war höflich und sogar respektvoll. Nichts mehr von dieser Lästigkeit eines Insekts, die Daragane so gestört hatte.

»Gestern … wollte ich Ihnen auf der Straße nachlaufen … Sie sind so unvermittelt gegangen …«

Schweigen. Aber diesmal war es nicht bedrohlich.

»Wissen Sie, ich habe einige Ihrer Bücher gelesen. Vor allem Das Schwarz des Sommers …«

Das Schwarz des Sommers. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass es sich tatsächlich um einen Roman handelte, den er einmal geschrieben hatte. Sein erstes Buch. Das war so weit weg …

»Ich habe Das Schwarz des Sommers sehr gemocht. Dieser Name, der in Ihrem Adressbüchlein steht und von dem wir gesprochen haben … Torstel … in Das Schwarz des Sommers haben Sie ihn verwendet

Daragane konnte sich nicht im leisesten daran erinnern. Übrigens auch nicht an den Rest des Buches.

»Sind Sie sicher?«

»Sie erwähnen diesen Namen bloß …«

»Ich müsste Das Schwarz des Sommers wiederlesen. Aber ich besitze kein einziges Exemplar mehr.«

»Ich könnte Ihnen meines leihen.«

Der Ton schien Daragane schroffer, beinahe frech. Er täuschte sich wahrscheinlich. Durch allzu lange Einsamkeit – er hatte seit Anfang des Sommers mit niemandem gesprochen – wird man misstrauisch und scheu gegenüber seinesgleichen und läuft Gefahr, sie falsch einzuschätzen. Nein, so schlimm sind sie gar nicht.

»Gestern hatten wir keine Zeit, ins Detail zu gehen … Was wollen Sie denn eigentlich von diesem Torstel …?«

Daragane hatte nun wieder seine liebenswürdige Stimme. Man brauchte nur mit irgendwem zu sprechen. Das war ein bisschen so wie bei Turnübungen, die einen von neuem gelenkig machen.

»Offenbar ist er in einen alten Kriminalfall verwickelt … Wenn wir uns das nächste Mal sehen, zeige ich Ihnen die ganzen Unterlagen … Ich habe Ihnen ja gesagt, dass ich einen Artikel darüber schreibe …«

Dieser Mensch wollte ihn also wiedersehen. Warum nicht? Seit einiger Zeit war ihm der Gedanke zuwider, dass irgendwelche neuen Leute in sein Leben treten könnten. Doch in anderen Augenblicken fühlte er sich noch dazu bereit. Das hing ganz vom Tag ab. Schließlich sagte er:

»Nun, was kann ich für Sie tun?«

»Ich muss meiner Arbeit wegen für zwei Tage verreisen. Ich rufe sie nach meiner Rückkehr an. Und wir verabreden uns.«

»Wenn Sie wollen.«