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Stefano Benni

BROT und UNWETTER

Roman

Aus dem Italienischen von Mirjam Bitter

Verlag Klaus Wagenbach    Berlin

Die italienische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel Pane e tempesta bei Giangiacomo Feltrinelli Editore in Mailand.

Wagenbachs E-Book-Ausgabe 2013

© 2009 Giangiacomo Feltrinelli Editore, Milano

ISBN 978 3 8031 4134 7

Inhalt

ERSTER TEIL

Das Erwachen des alten Sehers

Der Opa Seher geht in die Bar

Zwille, Alice und andere Jugendliche

Der erste Kampf um die Bar Sport

Die gespenstische Zelle

Igelo Goldhand

Was tun? Die Versammlung der Hirne

Der klügste Hund der Welt

Rex kommt an

Dick und der große Omar

ZWEITER TEIL

Dick Big Italian Boy

Vellutis Sermon

Die Geschichte von Inclinatus und seinem Denkmal

Geschichte und Metamorphose der Bar

Die Geschichte von Grandocca

Der Erzählwettstreit

Tore entdeckt das Web

Giangos Erzählung

Die süße Verlockung

Verbrechen und Hühner

Die Wolke

Sofronia gegen Rasputin

DRITTER TEIL

Der Triotraum und der verhängnisvolle Brief

Die Erzählung des Gnoms

Trincone der Liebende

Der Ausflug ans Meer

Der Verrat

Adieu, Bar Sport

Die große Hungersnot

Die Erzählung vom Brunnen

Der Gesang des Waldes

Gleichwie das Weinen gemäß den Gefühlsregungen variiert, so verwickelt und kostbar und jedes Mal anders ist auch das Lachen.

LEONARDO DA VINCI

image Erster Teil

Das Erwachen des alten Sehers

In den nächtlichen Träumen bitten die Bösen um Vergebung, und die Guten morden.

Doch hinter den geschlossenen Augen behält jeder sein Geheimnis für sich.

Deshalb werden wir nie erfahren, was der Opa Seher in jener Nacht träumte, als im Morgengrauen seine Nase erwachte.

Tatsächlich war das Erste, was der Opa jeden Morgen tat, nicht etwa die Augen aufschlagen, sondern schnuppern.

So prüfte er, ob er eine weitere Nacht überstanden hatte und in diesem Moment noch am Leben war.

Hätte er die Augen geöffnet, wären nur das Dunkel und die Schatten seines Zimmers zu sehen gewesen. Und er hätte sich noch in irgendeinem trügerischen Traumbild oder einer obskuren Parallelwelt befinden können.

Doch schnuppernd konnte er nicht falsch liegen.

Hätte er Schwefel und Grillanzünder gerochen, hätte das die Hölle sein können. Brot und Most, das Paradies. Vom Purgatorium hatte er keine klare Vorstellung, aber er glaubte, es rieche nach Grieß.

Manchmal fürchtete der Opa Seher, in den Gerüchen eines vergangenen Lebens aufzuwachen. Zum Beispiel hätte ihn ein grobes Aroma von Militärdecken und Füßesalat zurück in die Kaserne versetzt. Bleistift und Tafelkreide, er würde wieder die Schulbank drücken. Nebel und Strumpfmaskenwolle, auf dem Rad zur Arbeit. Tinte und Blei, die Druckerei.

Doch wenn er Lavendel und gedünstete Paprika gerochen hätte, jetzt hier an seiner Seite, im Bett, dann wäre Jole dagewesen. Denn seine langjährige Lebensgefährtin Jole hatte jene bezaubernde Geruchsmischung ausgeströmt: Ihre erst blonden, später weißen Haare hatten angenehm nach Shampoo gerochen, aber sie waren von fünfzig Jahren Paprikadunst in der Küche durchdrungen, und wie oft und womit man die Haare auch wusch, nichts hatte jenen Ehebund trennen können.

Den Opa rührte diese Erinnerung, und die Rührung nahm nicht in Form von Tränen Gestalt an, sondern in einem Furz.

Der Furz war der Beweis seiner Einsamkeit. Jahrelang hatte er diese notwendigen nächtlichen Manifestationen aus Respekt gegenüber Jole unterdrückt. Manchmal war er nachts aufgestanden, auf den Balkon gegangen und hatte moduliert. Wer vorbeilief, hatte denken können, dass dort oben eine Katze wäre, oder ein schlafloser Saxophonist. Manchmal war ein Freund vorübergegangen und hatte aus Solidarität mit einem Gegengesang geantwortet.

Es war jedoch vorgekommen, dass ihm ein heimtückisches und unbändiges Gis entfuhr. Dann hatte sich Jole ein wenig im Bett herumgewälzt, irgendetwas gemurmelt oder so getan, als wäre nichts.

Der Furz des Opas an jenem Morgen verlor sich in den Lüften, und niemand protestierte.

Hätte ein Teufel mit einem schwefligen Kontrapunkt geantwortet, wäre er in der Hölle gewesen.

Hätte ein Engel die Luft mit einem Weihrauchfass gereinigt, wäre er im Paradies gewesen.

Hätte ein Buchhalter aus Varese protestiert, wäre es wie in jener Nacht im Schlafwagen gewesen.

Nichts dergleichen geschah, und so dachte der Opa, dass er wieder einmal und in diesem Moment am Leben war, in der üblichen Welt.

Doch er wollte einen sicheren Beweis.

Er schnupperte stärker und nahm Gerüche wahr, die ihn beruhigten.

Brotgeruch zuallererst.

Wunderbarer Brotgeruch aus der Bäckerei, Beweis für die menschliche Arbeitsamkeit und den täglichen Kampf ums Überleben. Zu dem Duft gesellte sich die kräftige Stimme des Bäckers Selim, der eine italienisch-ägyptische Punkversion von E se domani anstimmte.

Dann schnupperte der Opa Kaffeegeruch. In seine Nase drangen Kolumbien, Arabien, Maracaibo, die Schiffe des Freibeuters Morgan und Posillipo. Die Bar wurde gerade geöffnet.

So schickte er sich an, aufzustehen und die siebenundzwanzig Tätigkeiten zu verrichten, die ein erwachsener Mensch verrichten muss, um seinen Platz in der Welt wieder einzunehmen. Sich wieder auf zwei Beine stellen, sich waschen, sich ankleiden, sich die Schuhe anziehen, sich die Taschen mit den üblichen Dingen vollstopfen, kontrollieren, dass nichts fehlt, und so weiter.

Der primitive Mensch, dachte der Opa, musste nur drei Dinge tun.

Sich vorsichtig erheben, um sich den Kopf nicht an der Höhlenwand anzustoßen, und pinkeln. Manchmal erfolgten diese beiden Tätigkeiten gleichzeitig.

Er musste sich nicht aus dem Schlafanzug schälen und sich etwas anderes anziehen, denn Nacht- und Arbeitsbekleidung waren dieselbe: das Fell eines Affen oder eines anderen Spenders.

Die dritte Tätigkeit war, sich den Schädel zu kratzen und die Abwesenheit von Zahnpasta, einer Kaffeemaschine, eines Toasters und anderer zukünftiger Erfindungen zu konstatieren. So verließ er enttäuscht, aber unbeschwert die Höhle für einen neuen Tag.

Der Übergang von den drei grundlegenden Tätigkeiten des Pythekanthropus zu den siebenundzwanzig des Durchschnittsmenschen nannte sich Kultur.

Der Opa Seher stieg aus dem Bett.

Wenn man jung ist, springt man mit einem einzigen Satz vom Lager, wie die Katzen. Wenn man im Greisenalter ist, steigt man aus dem Bett wie eine Python, die sechs Wassermelonen gefressen hat, eine Stufe nach der anderen.

Vor allem gab es dann ja, wenn man erst einmal aufgestanden war, noch viele Dinge zu tun.

Einige davon waren extrem tückisch, wie zum Beispiel das Hosenanziehen.

Hosen haben drei Seelen und drei Gesichter.

Eitel, friedlich und ordentlich gebügelt im Schaufenster des Geschäfts.

Unförmig, plump und schlafend, wenn du sie zu Boden fallen lässt oder sie auf den Stuhl legst.

Kompliziert, streitsüchtig und voller Verzweigungen, wenn du morgens hineinschlüpfen musst, besonders wenn du es eilig hast.

Doch noch heimtückischer sind die Socken.

Der Opa Seher hatte festgestellt, dass es in seinem Alter drei mögliche Arten gab hineinzuschlüpfen.

Erstens, die sogenannte ›Stripperinnenposition‹, auf dem Bett ausgestreckt mit einem sinnlich angehobenen Bein. Dafür benötigte Zeit: eine Minute, vorbehaltlich Sockenperforation mittels des großen Zehnagels.

Zweitens, aufrechte Position ›Bein auf dem Stuhl‹. Einziges Risiko: ein Zusammenkrachen des Holzes oder ein Hexenschuss.

Drittens, Position ›der Umwelt zuliebe‹: mit den Socken schlafen gehen und am nächsten Morgen dieselben benutzen. Die unhygienischste, aber schnellste Variante.

Ferner musste man bei der Auswahl des Paares der Existenz des SUG Rechnung tragen, des Sockenuntreuegesetzes, das da lautet:

Ein Socken wird, wenn man ihn in die Schublade legt, fast immer versuchen, sich mit einem verschiedenartigen zu paaren.

Die Socken tendierten also dazu, einer banalen Ähnlichkeit zu entfliehen, und bildeten phantasievolle Duette: kurzer schwarzer mit langem blauem, gerippte Baumwolle mit Wolle im Rautenmuster und so weiter.

Dann musste man mit geduldiger ballistischer Berechnung pinkeln. Dann ...

Doch der Opa Seher war noch ein strahlender Siebzigjähriger. Nachdem er die siebenundzwanzig Verrichtungen der menschlichen Kultur ausgeführt hatte, stieg er die Treppe hinunter und befand sich auf der Straße.

Der Opa Seher geht in die Bar

Der Opa schlief gewöhnlich wenig, deshalb graute gerade erst der Morgen.

Die Sonne ging eben auf und versteckte sich zwischen den Zinnen der alten Stadtmauer wie ein Spion. Alles schwieg in diesem Dorf, das sich am Gipfel des Berges entlangrankte, nicht einmal der sanfte Tritt einer Katze auf dem Kopfsteinpflaster der alten Straßen, nicht das unangenehme Krähen eines Raben und auch keine Stimme oder Musik aus den geschlossenen Fenstern. Und die entfernten Strapazen des Springbrunnens waren so ruhig, dass sie wie eine zusätzliche Einladung zur Stille wirkten. Und an der Spitze des Dorfes im verlassenen Kastell der Mediamoguls waren die Gespenster gerade aufgewacht und kamen aus den Rissen in den Mauern.

Die Schritte des Opas dröhnten, und er dachte an diesen Ort, an dem er geboren worden, von dem er weggegangen und zu dem er zurückgekehrt war.

Sie nannten es weiterhin Montelfo, ›Elfenberg‹ oder ›das Dorf des günstigen Windes‹, aber es ähnelte seinem Namen nicht mehr. Mittlerweile war das Klima verpestet. Es schwankte zwischen Stürmen und plötzlichem Aufklaren, Frosteinbrüchen und Hitzeperioden, wie eine verbrauchte Liebe in einen ständigen Wechsel von Streit und Versöhnung, Wutanfällen und vorübergehender Vergebung übergeht. Die Verbrechen, die die Welt aus dem Takt gebracht hatten, waren auch über dieses schöne Tal hergefallen.

Doch an jenem Septembertag war ein wenig Gefühl zurückgekehrt, in der Erinnerung an andere Herbste. Der Himmel war strahlend und wolkenlos.

Um zu der Piazzetta mit der Bar zu kommen, brauchte der Opa etwa dreihundert Schritte. Er kannte die Strecke Stein für Stein, so genau, dass er sie in vergangenen Zeiten gerne mit geschlossenen Augen zurückgelegt hatte. Aber das riskierte er nicht mehr, seit die dickste Kuh des Tals ihm einmal vorangegangen war und eine unzweifelhafte und dampfende Spur hinterlassen hatte.

Nach dreihundertundzwei Schritten kam er an und sah das Schild der Bar Sport im morgendlichen Dunst flimmern.

Der Rollladen war noch halb heruntergelassen, aber von drinnen drangen Geräusche von gerückten Stühlen und Wohlgeruch vielfältigen Gebäcks zu ihm.

Draußen behängte der Tau Stühle und Tischchen mit Juwelen.

Der Opa setzte sich an das Geländer der Aussichtsterrasse, um den Wald zu betrachten.

Und er hörte dieses Geräusch. Ein unverwechselbarer Klang, schrill und grausam, wenn auch von kraftvoller Musikalität.

Es kam von einem Baum, der gefällt wurde, umfiel und beim Zerbrechen die Zweige knacken ließ.

So begriff der Opa, dass jemand dabei war, einen Weg in den Wald zu schlagen. Er hörte den Schrei der Eichhörnchen, als ihre Hauseiche zusammenbrach. Er hörte eine Kastanienlawine und das Winseln der Wurzeln. Er sah einen Schwarm Stare davonfliegen. Der Leitvogel war kosakenbraun, mit einem leicht schielenden Äuglein.

Der Opa konnte wie ein Falke sehen, nahm das leiseste Geräusch wahr, witterte wie ein Spürhund, sprach mit den Tieren, beherrschte die fröhliche Sprache des Wassers der Gebirgsbäche und kannte die furchtsame Stimme des Brunnens, er spürte, was unter der Erde und über den Wolken geschah. Und er hörte das Klavier seines Sohnes, wenn dieser in Amerika spielte.

Deshalb nannten sie ihn den Seher.

Zwille, Alice und andere Jugendliche

Der Opa Seher schwieg lange und hörte jenen weit entfernten Geräuschen zu.

Die Fliegen summten um ihn herum und redeten wie immer alle auf einmal, sodass man kein Wort verstand.

Sie waren besorgt.

Der Wirt Trincone kam heraus und setzte sich auf seinen Lieblingsplatz, einen Liegestuhl, der die Titanic überlebt hatte. Verschlafen und majestätisch hielt er in der rechten Hand eine Mokkatasse und in der linken ein Glas Grappa. Das war seine Auffassung von ›Caffè corretto‹.

Auch er hörte die Geräusche im Wald und kratzte sich am Kopf. Aus seinem Haar zog er eine Kreatur, von der so gut wie sicher war, dass sie lebte, und die er mit Sorgfalt untersuchte, bevor er sie wieder dem Ökosystem zuführte.

Der treue Hund Merlot kam an seine Seite. Mit der Hand zermalmte ihm Trincone die Schnauze und verknotete ihm die Eckzähne. Das war seine übliche Liebesgeste. Der Hund erwiderte sie, indem er auf seinen Liegestuhl pinkelte. Dann ging er zum Opa und grüßte ihn, indem er in einem hündischen Vocalese jaulte:

»Uooo ee, ii ee?«

Das sollte heißen: Buongiorno, Seher, wie geht’s?

»Mir geht’s gut und selbst? Wie läuft es mit der Pudeldame von der Apothekerin?«

Merlot antwortete nicht und pinkelte erneut. Er legte großen Wert auf seine Privatsphäre.

Vom Ende der Straße kamen zwei Gestalten näher. Der Opa nahm noch vor ihrem Erscheinen ihren Geruch wahr. Eine roch nach Blumen und Betäubungsmittel. Die andere nach Schießpulver und Misthaufen.

Voraus lief ein weißgekleidetes Mädchen mit blondem Erzengelhaar. Von allen Sonnenstrahlen war sie umgeben und strahlte sie wie ein wertvoller Kristall zurück. Die Vöglein umkreisten sie, und die Blumen neigten sich, wenn sie vorüberschritt.

Es war Alice, die Tochter des Tierarztes Rettganso, sie war dreizehn Jahre alt.

Mit wenigen Metern Abstand, nicht auf der Straße, sondern mitten im hohen Gras laufend, folgte ihr ein schlechtgekleideter Junge mit finsterem Antlitz und Haaren, die wie Igelstacheln zu Berge standen. Die Schatten der Bäume überragten ihn bedrohlich, die Hasen flohen bei seinem Anblick, und ein Brennnesselstrauch biss ihm in die Wade. Sogar eine sanfte Amsel überflog ihn und traf ihn mit zwei Guanobomben.

Es war Zwille, der Neffe des Wilderers Garbe, er war dreizehn Jahre alt.

Alice grüßte den Opa von Weitem, dann drehte sie sich um und sagte irgendetwas zu Zwille.

Doch Zwille antwortete nicht, im Gegenteil, er versteckte sich noch mehr im hohen Gras, folgte ihr aber weiterhin.

Alice liebte die Natur in all ihren Erscheinungsformen, vom niedrigsten Kuhfladen bis zum raffiniertesten Muster auf den Flügeln eines Schmetterlings.

Zwille hingegen wusste, dass die Natur stiefmütterlich, übel riechend und anstrengend war. Er wusste, dass der Schmetterling nur einen Tag lebt und dass das Schwein schreiend stirbt.

In seiner zugigen Behausung unter dem Kornspeicher, wo Mäuse und Siebenschläfer auf Trab waren, gab es an der abgebröckelten Wand seines Zimmers ein Geheimnis.

Eine Photographie von Alice, als Schneewittchen verkleidet beim Schultheater. Im Hintergrund sieben anbetende Zwerge. Der dritte von rechts war er, im unmissverständlichen Akt begriffen, sich die Nüsse in der grünen Strumpfhose zurechtzurücken.

Denn Zwille liebte Alice mit einer unmöglichen, verzweifelten, totalen und schmerzhaften Liebe. Und das reicht, weil die Verschwendung von Adjektiven zwar zu den Gefühlen vermögender Romantiker passt, nicht aber zu einem proletarischen Knaben vom Land.

Alice erreichte den Opa und grüßte ihn mit einem fröhlichen Lächeln.

Zwille kletterte auf einen Baum, genauer gesagt auf den großen Walnussbaum, der die Piazzetta der Bar Sport beschattete.

Die beiden Heranwachsenden hatten in der Tat, neben seltenen Gaben, einige riskante Eigenschaften.

Alice liebte und küsste alle, Blumen, Tiere und Menschen, und ihre unreife Schönheit enthielt schon all den Saft und das Fruchtfleisch der zukünftigen Frucht. Das zog in gleichem Maße junge Hirsche wie Wüstlinge an. Sie war zudem gut in der Schule, wenn sie auch oft das Thema verfehlte. Schließlich spielte sie Tennis mit bezaubernder Anmut, und ihre Stärke war die Rückhand, begleitet von einem wütenden kleinen Schrei, mit dem sie berühmte und schöne Spitzensportlerinnen nachahmte.

Zwille wurde nicht geliebt, sondern gefürchtet, vor allem wegen der tödlichen Präzision seiner Steinschleuder, die aus der Astgabel eines Birnbaums und einer Traktorriemenscheibe gebaut war. Er half dem Onkel, Patronen herzustellen, und liebte es, auf Bäume zu klettern, in Stollen zu schlüpfen, Tierbauten zu entdecken und Fallen zu stellen. Und er sprach mit den Gnomen, besonders wenn er etwas Stechapfelkraut gekaut hatte. Doch er trug einen Fluch mit sich herum. Die Bäume schüttelten ihn ab. Die Tiere, die den Beruf seines Onkels kannten, griffen ihn an. Also kämpfte er: gegen das Schicksal und gegen seinen Rivalen in der Liebe, Giango.

Der Laufbursche Gianni, genannt Giango, der nach Gel und Brioche roch, kam aus der Bar und sah Alice mit Stecherblick an. Er war der Neffe des Wirts Trincone und arbeitete als Aushilfsbarmann, seitdem er sieben Jahre alt war, noch nicht bis zum Tresen reichte und den Wein auf einem Stuhl stehend servierte.

Jetzt war er ein hochmoderner Fünfzehnjähriger, der sein Haar mit Gel zu einem Schnabel, einem Bananendildo, einer Panzerpolenta zementiert hatte und es bei Zusammenstößen auf Konzerten als Waffe einsetzte.

Er war außerdem Sänger und Bandleader von Kastagna, einer Rockgruppe, die für ihr rural-brutal oder shovel metal abgöttisch geliebt und abgrundtief gehasst wurde. Mit ihm spielten Blacksmoke, Tagelöhner und Schlagzeuger, Bum Bum Delirium am Bass und Bubba Bonazzi, E-Gitarrenmelker. Ihre bekanntesten Stücke waren Kuhkick und Mamma guck mal, ich kann ohne Hände fahren. Ihre Konzerte waren legendär und höllisch laut. Sie hatten schon überall gespielt: vom Bratknödelfest bis zu Rave Partys, von der Disco Grünspecht bis zum Obst- und Gemüsemarkt. Und überall schlugen, berauschten und bespuckten sich die Leute und warfen mit Gemüse. Sie hatten auch den Mute-Rock erfunden. Für eine Minute feuerten sie Musik in voller Lautstärke ab, hundertfünfzig Dezibel, bis das Publikum taub war. Dann taten sie für den Rest des Konzertes bloß noch so, als ob sie spielten. Sie wurden nur ein einziges Mal ertappt: von einem Arbeiter am Presslufthammer, der die Dezibel locker wegsteckte.

Die Kastagna waren die berühmteste Band der Gegend, zusammen mit den Veterans, einer Gruppe mittlerweile sechzigjähriger Rocksänger mit glänzenden Bäuchen und hochtoupierten Haaren. Dann gab es noch das Gesellschaftstanzorchester Zaira und die Erzengel, deren Sängerin Zaira berühmt dafür war, die weltweit einzige Sängerin zu sein, die kleiner ist als die Absätze ihrer Schuhe. Statt Pfennigabsätzen hatte sie Nudelholzabsätze.

Giango war, wie viele Schaufelmetaller, immer schwarz gekleidet und trug ein Nasenpiercing zur Schau, das er sich selbst gestochen hatte. Er hatte sich mit dem Tacker nicht bloß durch ein Nasenloch, sondern durch beide geschossen. Deshalb atmete er nur schwer und sprach mit einer etwas dumpfen Stimme.

»Bella Alice, was willst du?«, fragte er.

»Ich möchte einen Feldkräutertee«, sagte die Strahlende, »und Sie, Opa, was nehmen Sie?«

»Ich nehme einen Beerentee«, antwortete der Opa.

»Ich esse Walnüsse«, sagte Zwille, da ihn niemand fragte.

Angekündigt von seinem berühmten ›Mameli-Rülpser‹, der diesen Namen trug, weil er in etwa so lange dauerte wie die vom gleichnamigen Dichter verfasste Nationalhymne, erschien auf der Schwelle wieder der Wirt Trincone der Schwarze, so genannt wegen seines dichten, kohlrabenschwarzen Bartes. Er war der älteste der vier Brüder, außer ihm gab es noch: Trincone den Stier, Trincone das Aas und den dahingeschiedenen Trincone den Liebenden. Der Wirt hatte eine bewegte Nacht überstanden, in der er, Archimedes Archivio, Igelo Goldhand und der Tankwart Diogenes über das Leben, den Tod und die Möglichkeiten gradueller Zwischenstufen diskutiert hatten, zum Beispiel ein sechstägiger Rausch.

Nun atmete Trincone die Morgenluft ein und rasierte sich, wobei er Vanilleeis als Rasiercreme benutzte. Das Geräusch des Rasiermessers auf der Haut glich dem Häuten eines Elefanten.

»Sind Sie verärgert, Signor Trincone?«, fragte Alice.

»Ein wenig«, sagte der Schwarze. Und er war kurz davor, seinen berühmten ökumenischen Fluch auszustoßen, der als Basis das Schwein hatte und als Überbau alle höchsten Repräsentanten der monotheistischen Religionen und auch die Trimurti, Jupiter Grabovius, Pomona und einige seltene heidnische Kulte Ozeaniens. Doch um Alice nicht zu bestürzen, sagte er:

»Ja, ich bin verärgert, Schweineheft der Schwester Priscilla.«

Schwester Priscilla hatte, wie alle wussten, ein Heft, in dem sie wie in einem Sammelheft sechstausend Heiligenbildchen eingeklebt hatte, und sie tauschte die Bildchen per Post mit Nonnen aus der ganzen Welt.

»Und was betrübt dich, guter Freund?«, fragte der Opa.

»Das weißt du nur zu gut, Seher«, antwortete der Wirt, »hast du die Geräusche im Wald gehört? Ein gigantischer Bagger ist dabei, einen Weg zu bahnen, dann werden die Sägemaschinen kommen. Sie werden eine Straße bauen. Und hier, wo jetzt die Aussichtsterrasse der Bar ist, wollen sie Apartments bauen und ein Luxusrestaurant und einen Supermarkt und einen Tenniszirkel, auch wenn ich nicht verstehe, wo man da einen Zirkel braucht, die Tennisfelder sind doch fast quadratisch.«

»Eines Tages werde ich dir das erklären«, sagte der Opa Seher, »aber auch ich bin besorgt. Schon seit Jahren wollen sie uns eine Bauspekulation verpassen.«

»Es gibt doch Dutzende Häuser zu restaurieren, erdbebenbeschädigte, einsturzgefährdete, verlassene, wieso noch mehr bauen?«, fragte Alice.

»Müssen sie denn unbedingt mitten durch die Bäume?«, brummelte Zwille.

»Leere Häuser sind mehr wert als volle«, sagte der Opa, »und nackter Boden ist mehr wert als ein Wald. Und was machst du jetzt, Trincone?«

»Die Bar verkaufe ich ihnen nicht«, sagte der Wirt, »aber du wirst sehen, irgendwie werden sie es doch schaffen, alles zu zerstören. Es wird enden wie Troja, wie Pearl Harbour, wie ein Hagelschauer auf dem Muskateller, wie ein Abstieg in die Serie B.«

»Armer Wald«, seufzte Alice, »was wird mit den hundertjährigen Eichen geschehen?«

»Und was wird aus den Hasen?«, fragte Zwille.

»Hey, wär aber voll geil, wenn sie ein Hotel bauen«, sagte Giango. »Wenn das dann auch ’ne Kellerbardisco hat, könnte ich da spielen.«

Man hörte den Schrei einer großen Kastanie, die an einer Seite von der Säge angefressen wurde.

»Maledetti«, sagte Trincone. »Sie werden bis hier hochkommen ...«

»Ruhig Blut, Trincone«, sagte der Opa Seher. »Wir werden uns zu verteidigen wissen. Ich erinnere mich an eine Begebenheit vor ziemlich vielen Jahren, zu den Zeiten deines Vaters ...«

Der erste Kampf um die Bar Sport

»Der erste Kampf um die Bar Sport fand vor vielen Jahren statt«, sagte der Opa, »und nahm seinen Anfang mit dem Verschwinden des Wirts Umfullone des Zweiten.

Umfullone der Zweite war der Sohn des großen Umfullone des Ersten und Enkel des mythischen Gründers der Bar, Trincone di Chasselas.

Der Zweite, eine wahrlich legendäre Persönlichkeit, machte die Bar Sport zum Treffpunkt von Philosophen, Saufbolden, Sportfachsimplern, Lügenbaronen, Nichtstuern, Geschichtenerzählerinnen und Klatschbasen aus dem ganzen Tal.

Er war kräftig und leutselig und hatte eine große rote Nase, die nach dem vierten Liter wie ein Rückstrahler leuchtete. In Nebelnächten konnte er, wenn er nach Hause zurückkehrte, leicht mit einem Motorroller verwechselt werden. Natürlich war er ein großer Önologe. Wenn du ihm ein Glas Wein zum Probieren gabst, sagte er dir nicht nur den Jahrgang und den Weinberg, sondern auch, wessen Füße die Trauben gekeltert hatten, denn damals wurden die Trauben auf diese Weise gepresst.

Er kostete und fällte sein Urteil:

›Moscato vom kleinen Weinberg meines Cousins, fruchtig im Abgang, mit einem Nachgeschmack des Füßleins seiner Ehefrau Eleonora.‹

Oder:

›Trebbiano vom dritten Hügel bergaufwärts von Alfredo, im Abgang Bittermandel und Taleggio, also von Alfredo selbst gekeltert, mit einer Honignote, vermutlich weil ihn irgendeine Biene in den Fuß gestochen hat, während er stampfte.‹

Oder:

›Minderwertiger Morello, im Abgang Gummi und Brill-Schuhcreme, weil Gandolino derart betrunken war, dass er sich noch nicht einmal die Schuhe ausgezogen hat.‹

Umfullone war außerdem ein großartiger Spuntini- und Paninimacher. Sein Panino Mistero, mit Mortadella und einer geheimen Zutat, war über viele Jahre die Attraktion der Bar. Bis jemand bemerkte, dass Umfullone im Winter, wenn er erkältet war, kein Taschentuch, sondern eine Scheibe Mortadella in der Tasche hatte. Das war das Geheimnis des unnachahmlichen Geschmacks.

Umfullone schied als Opfer eines Arbeitsunfalls dahin, den ich euch erzählen werde.

Unter der Bar gab es einen Keller, der nach Käse und Würsten duftete und zudem voller Fässer und großer Weinballons war. Jedes Jahr ging Umfullone höchstpersönlich hinunter zum Anzapfen, das heißt, um den Wein in die Flaschen umzufüllen.

Er ging mit seinem Önologen- und Philosophenfreund Archimedes, genannt Archivio, Erfinder der Trincvir’schen Konstante, mit der das folgende önometrische Paradoxon gelöst wurde:

Aus vier Ballons à vierundfünfzig Liter gewinnt man hundertsechsundsiebzig Flaschen à einem Liter.

Rechnerisch gab es da einen Fehler, einen Fehlbetrag, der sich nur erklären ließ, wenn man die berühmte Trincvir’sche Konstante, auch TVK, anwandte, also:

4 × 54 = 216 − 40 (TVK) = 176

Vier mal vierundfünfzig ist gleich zweihundertsechzehn Liter, minus vierzig Liter, denn die trinken wir.

In jenem Jahr gab es ein besonders vielversprechendes Fass Sangue di Giove umzufüllen, Umfullone erzählte, dass er schon unruhig geworden war, als er im September die Trauben betrachtet hatte.

In der Bar und im ganzen Tal waren also alle in großer Erwartung auf diese Geburtsstunde.

In einer windstillen Nacht begaben sich Umfullone und Archivio dann in den Keller und schickten sich an, mit der Operation zu beginnen. Die Flaschen waren in Zehnerreihen aufgestellt wie gehorsame Zinnsoldaten. Die Korkenmaschine und der Trichter lagen bereit. Es herrschte eine Atmosphäre wie bei einem heiligen Ritus, einem historischen Ereignis, einem Wunder.

Umfullone führte das Zapfröhrchen in den Ballon ein, damit würde er das Startzeichen für die Zeremonie geben. Durch Einsaugen würde er den ersten Schwall verursachen, das Hervorsprudeln des Weins, den Big Bang.

Er näherte das Röhrchen seinem Mund und saugte den ersten Schluck.

Er hätte sich nun von dem Röhrchen trennen und den so zum Fließen angeregten Wein in den Trichter und die erste Flasche gießen sollen.

Stattdessen blieb er mit aufgerissenen Augen, wo er war, und schlürfte weiter. Der Wein hatte einen solchen Körper, Geschmack, Zauber, dass es ihm unmöglich war, sich zu lösen.

Archivio lachte und kommentierte: ›Der scheint dir echt zu schmecken, du willst wohl den ersten Liter selbst trinken, was?‹

Nach etwa zehn Minuten begann er sich Sorgen zu machen. Umfullone saugte weiter den Nektar, und ein Ausdruck von Seligkeit überstrahlte sein purpurrotes Gesicht.

Die Nase glänzte wie ein Rubin, und der Bauch blähte sich, während er unbeweglich wie ein Buddha vom Sangue di Giove, dem magischen Jupiterblut, durchdrungen wurde.

Vergeblich versuchte Archivio, ihn loszumachen. Durch einen kräftigen Schlag mit der Hand donnerte Umfullone ihn an die Wand und suckelte weiter.

›Es reicht, mein Freund, basta‹, rief Archivio.

Doch Umfullone, nunmehr sturzbesoffen, im Banne des Zeuszaubers, blähte sich weiter auf und vergrößerte sein Volumen. Die Hälfte des Ballons war mittlerweile in ihm drin, und er hatte sich in einen menschlichen Weinschlauch verwandelt. Ab und zu lief ihm ein bisschen Wein aus der Nase oder aus den Ohren, und dann und wann entströmte mit leichtem Geräusch ein alkoholischer Dunststrahl seinen Arschbacken, doch Umfullone löste sich nicht von seinem tödlichen Vergnügen.

Als die ganzen vierundfünfzig Liter umgefüllt waren, rollte Umfullone, der mittlerweile kugelförmig war, langsam mit seligem Ausdruck gegen die Wand und blieb dort liegen.

So starb als glücklicher Mann Umfullone der Zweite.

Nach einigen Tagen der Trauer erwartete man in der Bar mit Ungeduld, wer Umfullones Posten übernehmen würde. Man wusste, dass der Dahingeschiedene keine Kinder hatte, nur einen Neffen aus der Stadt, der den Betrieb erben sollte. Sein Name war Gaudenzio. An einem kalten Wintertag stieg dieser aus dem Bus. Er war blass und grünlich wie eine Raupe. Und an drei Eigenheiten merkten wir sofort, dass er sehr verschieden von seinem Onkel war und dass er kein guter Wirt sein würde.

Erstens. Er rauchte Mentholzigaretten. Und Archivio der Philosoph pflegte zu sagen: »Seid auf der Hut, wer Mentholzigaretten raucht, ist zu allem fähig.«

Zweitens. Alle Hunde des Dorfs kamen, um ihn zu begrüßen, unter den ersten waren Urmerlot und Medora die Schmächtige und Set Setter und Fuxherzl und Poldo Killhuhn und der Veteran unter den Hunden, Pendolone der Krüppel, der sich ihm näherte und ihm freundlich die Pobacken beschnüffelte.

Gaudenzio zuckte zusammen und schrie: ›Wem gehört dieses Mistvieh?‹

Er mochte keine Hunde.

Drittens. Sein Krawattenknoten war winzig klein.

Die Schneiderin Simona Bell’Eugele kommentierte:

›Wer einen kleinen und engen Krawattenknoten hat, hat auch ein kleines und enges Herz. Großer Knoten, großes Herz. Mein Mann Baruch machte Knoten, die wie Goliaths Ravioli aussahen. Und er hatte ein großes Herz.‹

›Und nicht nur ein großes Herz‹, sagte Marcella die Schreibwarenhändlerin, ›wenn es denn stimmt, dass sie ihn Settallumette nannten, weil seiner so lang war wie sieben aneinandergereihte Streichhölzer.‹

›Ach geh wo, ein bisschen Zurückhaltung, bitte‹, errötete Simona.

›Gaudenzio ist keiner von uns‹, sagte kopfschüttelnd Archivio.

›Meiner Meinung nach ist er ein guter Mensch‹, sagte Raab der Unglücksbringer.

Raab brachte wie immer Pech. Man brauchte nicht lange, um zu verstehen, dass Gaudenzio sogar schlimmer war, als wir befürchtet hatten. Er rief sofort Leandro zu sich, den Laufburschen der Bar, der wegen seiner Tendenz zur erotischen Selbstgenügsamkeit Leghandò genannt wurde. Er vertraute ihm an, dass diese Bar schäbig und hinterwäldlerisch sei, genauso wie ihre Klientel. Er würde das Lokal von oben bis unten verändern, um es vornehm und einladend zu machen wie eine städtische Bar. Schließlich war die Landstraße nur einen Kilometer entfernt. Es reichte, wenn man ein Schild aufstellte: ›Bar Sport, vini e spuntini‹, mit einem schönen roten Pfeil. Die Autos würden abbiegen, und eine bestimmte Sorte Gäste würde eine andere Sorte Gäste ersetzen.

Dann bereitete er die Neuerungen vor.

Aufschläge auf alle Preise.

Austauschen der alten Kaffeemaschine Faema Venere 3030, genannt Lokomotive des Westens, pfeifend und jaulend, durch eine neue Maschine, die den Caffè in drei Sekunden zubereitete und aussah wie ein Atom-U-Boot.

Verbot offener Weine, nur noch Flaschen.

Kein Zutritt für Hunde.

Kartenspielen verboten.

Austauschen der alten bauchigen Gläser durch magere Kelche.

Auftritt von Kaugummireihen.

Auftritt von kalorienarmem Süßstoff.

Abschaffung des Flippers.

Anschlagen der folgenden Schilder:

Der gesittete Mensch spuckt nicht.
Der gesittete Mensch flucht nicht.
Es wird gebeten, die Toilette so zu hinterlassen, als
wäre es die eigene zuhause.

Wir trafen uns in loser Ordnung am Eingang der Bar. Da gab es nichts zu diskutieren. Gaudenzio, die blasse Raupe, musste weg. Der erste Kampf um die Bar Sport hatte begonnen.

Wir traten ein und setzten uns an das Tischchen in der Mitte, dann bestellten wir eine Flasche Wein.

Gaudenzio beobachtete uns argwöhnisch.

Unterdessen hatte eine heimliche Hand unter dem Schild

Der gesittete Mensch spuckt nicht.
Der gesittete Mensch flucht nicht.

ein handgeschriebenes hinzugefügt:

Der gesittete Mensch geht seinem Nächsten nicht auf den Sack.

Dann begannen wir, Karten zu spielen. Das heißt, Karten waren keine da, schließlich waren sie verboten. Doch mittlerweile waren wir so gut darin, uns gegenseitig Zeichen zu geben, dass wir auch sehr gut ohne auskamen.

So begann das erste virtuelle Tressette der Geschichte.

Zum Beispiel führte Imoteo, der Maurer, eine kleine naserümpfende Bewegung aus. Das sollte heißen: eine Lusche der Stöcke.

Ich sah meinen Partner Archivio den Philosophen an und machte ein Spitzmäulchen. Das sollte heißen: Ich spiele das Pferd aus, und er verdrehte das rechte Auge, was heißen sollte: Ist gut.

Darauf kratzte sich Igelo Goldhand am rechten Ohr, um auszudrücken: Und ich steche mit einer Drei der Stöcke.

Der Philosoph sah zweimal zum Himmel, um zu sagen: Ich bin im Arsch, ich habe nur die Zwei. Und er spielte mit einem kleinen Lippenschnalzer die Sieben.

Das war die Proberunde. Doch dann stiegen Qualität und Interesse am Spiel, sowohl taktisch als auch mimisch. Gaudenzio konnte nichts anderes tun, als diesen Austausch von Augenverdrehungen, Ticks, Schnauben, Naserümpfen, Grinsen, Grimassen, Kratzen am Kopf und am Sack mitanzusehen, eine Art primordiales Alphabet, in dem wir unsere großartigen Fähigkeiten im Tressettespiel buchstabierten.

Die Partie ging noch lange weiter, mehr noch, es kamen zwei weitere Tische mit virtuellem Tressette hinzu.

Doch oh weh, unserem professionellen Quartett schlossen sich Spieler mit weniger Expertise an, und damit begannen die Probleme.

Am zweiten Tisch etwa begann Leoschwarto zu spielen, ehemaliger Schweineschlachter im Ruhestand, der unter einer Reihe fürchterlicher Ticks litt, seitdem ihm eines Nachts auf dem Weg nach Hause das Phantasma eines sprechenden Schweins erschienen war.

Leoschwartos Ticks stürzten den ganzen Tisch in eine Krise. Er erklärte in derselben Partie sechs Asse der Stöcke, die Zwölf der Schwerter und eine Karte, deren Existenz niemand kannte: die Drei der Ferkel, angekündigt von drei aufeinanderfolgenden Rülpsern.

Die anderen Spieler blieben stumm, doch das Spiel versank in Klagen und in immer unpräziseren und gewalttätigeren Gesten, wie etwa Fausthiebe auf den Tisch. Gaudenzio begann, Verdacht zu schöpfen.

Doch das Schlimmste geschah am Tisch hinter dem Billard, der ›verfluchter Tisch‹ genannt wurde, weil die Spieler dort häufig von abprallenden Kugeln getroffen wurden.

Hier spielten der Schrotthändler Amato, der Ampel genannt wurde, gemeinsam mit Cotelettina, dem Herrenfriseur, und auf der anderen Seite Trincone der Stier gemeinsam mit Ottavio Maolvurfio, einem zweiundneunzigjährigen, fast blinden ehemaligen Polizisten, der keine Brille tragen wollte.

Es begann so: Cotelettina, welcher der gay community angehörte, auch wenn man das damals noch nicht so nannte, fing an, Küsschen und Schmatzer in Richtung des virilen und muskulösen Schrotthändlers zu werfen. Ampel registrierte dies zunächst als Erklärung eines Asses der Münzen oder Kelche, dann, als er merkte, dass das Ass nicht kam, fing er an, rot vor Wut zu werden, was sein besonderes Merkmal war. Cotelettina interpretierte dies als Zeichen verliebter Schamhaftigkeit, und seine Küsschen wurden inbrünstiger, wodurch sie das semantische Gleichgewicht des Tisches in eine Krise stürzten. Noch schlimmer war die Kommunikationsunfähigkeit zwischen Trincone und Maolvurfio. Trincone kratzte sich augenfällig an der Nase, um die Rückkehr zu den Schwertern zu verlangen, Maolvurfio sah ihn nicht und kam mit Kelchen heraus. Trincone fing an, übertriebene Gesten und Geräusche zu machen: Er verdrehte die Augen, schob imaginäre Karten über den Tisch, irgendwann wollte er das Pferd der Schwerter verlangen, weshalb er wieherte und mit einem Messer im Mund um den Tisch herumgaloppierte. Nichts. Gaudenzio sah zu.

Unter Wundern der Mimik gelangte man zur finalen Partie. Nach einem mitreißenden Kopf-an-Kopf-Rennen fehlte Trincone dem Stier und Ottavio Maolvurfio nur ein einziger Punkt zum Sieg. Es hätte genügt, dass Ottavio die Zwei der Stöcke spielte. Da hob Trincone die Hände, und statt zweimal mit einem Finger zu klopfen, wie es in unserem Alphabet üblich ist, haute er zwei Faustschläge auf den Tisch, dass die Stühle und Gläser nur so bebten.

›Es hat an der Tür geklopft‹, sagte Ottavio Maolvurfio ruhig und spielte den Buben.

Da stand Trincone auf und stieß einen weder virtuellen noch figurativen Fluch aus, ein so lautes und sonores Schweinundsoweiter, dass es bis zur Pfarrkirche drei Kilometer nördlich zu hören war.

Der Pfarrer war mit dem Fahrrad in weniger als dreißig Sekunden da.

Er öffnete die Tür und sagte:

›Fluchen schön und gut. Aber so laut fluchen, dass mir der Beichtstuhl umfällt, das geht zu weit!‹

Das war tatsächlich geschehen, und die Signora, die gerade beichtete, sah in diesem Umstand ein Zeichen göttlicher Missbilligung und wurde noch im selben Monat Nonne.

Nach diesen Vorfällen verbot Gaudenzio in der Bar nicht nur das virtuelle Tressette, sondern auch die Tischchen im Freien, an welche die Frauen zum Debattieren, Scopaspielen und Aufzählen der erlaubten und verbotenen Liebschaften des Dorfs kamen.

Dazu addierten sich weitere Bosheiten, wie das Austauschen aller Photos von Fußballmannschaften durch Bilder mit Sonnenblumen und Clowns. Die Postkarten, die wir von unseren abenteuerlichen Reisen ins Ausland, besonders nach San Marino, geschickt hatten, wurden weggeworfen und die legendären Spirituosen eliminiert, wie der Tombolino, der Millefiori Cucchi, der Blaubeerschwips, der Karamellbonbongrappa, der Düngerling und andere Gaumenfreuden.

Abermals wurden die Preise für den Caffè und dessen ›Korrekturen‹ angehoben, und anstelle des legendären Photos vom einundzwanzig Kilo schweren Katzenfisch wurde ein Fernseher von einundzwanzig Zoll aufgehängt.

Damals hatte zwar manch einer einen Fernseher zuhause, aber wenn man ausging, wollte man davon nichts wissen. Wir konnten auch alleine Unsinn reden. Also billigte das niemand, außer Ottavio Maolvurfio, der in seiner Blindheit nur den Ton hörte und immer wieder auf die Fragen von Mike Bongiorno antwortete. Er sagte etwa:

›Entschuldigen Sie bitte, aber das weiß ich wirklich nicht‹, und dann fügte er hinzu: ›Wer ist denn dieser neugierige Herr, der einem ständig auf den Sack geht?‹

Zu allem Überfluss war Gaudenzio auch noch taub und ließ den Fernseher immer auf voller Lautstärke laufen. Und er verbot uns, den einzigen Fernsehmoment, den wir wirklich liebten, aus vollem Halse mitzusingen: die Titelmelodie zum Programmbeginn, das Finale von Wilhelm Teil.

Bis eines Abends Trincone das Aas, das schwarze Schaf unter den Trincone-Brüdern, eintrat und fragte: ›Darf ich den Fernseher anmachen?‹

›Bitte‹, sagte Gaudenzio, angenehm überrascht.

Eine Minute später war der Fernseher abgesoffen. Trincone das Aas hatte Essig und Öl sowie ein wenig Salz und Pfeffer genommen, das Gehäuse geöffnet und den Fernseher damit ›angemacht‹.

Im selben Moment kam Zeppa der Maurer mit der Kloschüssel unter dem Arm aus der Toilette, nachdem er sie mit Gewalt herausgerissen hatte.

›Da steht, man soll die Toilette so hinterlassen, als wäre es die eigene zuhause. Tja, bei mir zuhause habe ich ein Stehklo.‹

Es war eine schlimme Woche. Trincone das Aas wurde wegen Elektrohaushaltsgerätebeschädigung angezeigt und Zeppa wegen Sanitäranlagensabotage, weshalb beiden der Zutritt zur Bar untersagt wurde.

Zudem wurde Garbes Hund, der legendäre Tom, der schwanzwedelnd in die Bar gekommen war, mit Besenhieben auf den Kopf angegriffen und bekam einen Schock, der ihn ein ganzes Jahr lang rückwärts laufen ließ.

All das verpestete das Klima. Doch die Bar Sport war die beste Bar im Dorf, und wir waren die besten Gäste. Also gingen wir weiter dorthin, unter Provokationen und Gegenschlägen.

Nachdem das Hinweisschild aufgestellt worden war, wagte sich manch einer von der Landstraße bis zur Bar vor. Die Autofahrer auf der Durchreise begannen, unsere Ruhe zu stören.

Etwa der Vertreter aus Mailand, der sich an einem Süßwarendelikt mitschuldig machte. In der Bar Sport wird nämlich so gut wie nie gegessen. Zwar gibt es einen Schaukasten mit Gebäck, aber der ist rein choreographisch. Es handelt sich um Ziergebäck, oft richtiges Kunsthandwerk. Es liegt seit Jahren da, sodass die Stammgäste schon alle Teigwaren persönlich kennen. Sie kommen herein und sagen: ›Die Meringe sieht heute ein wenig mitgenommen aus. Das wird die Hitze sein.‹ Oder: ›Es wird Zeit, dem Krapfen eine Ladung Pulver zu geben.‹ Nur manchmal wagt es ein Gelegenheitsgast, sich dem Sakrarium zu nähern.