cover.jpg

 

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

Epilog

In Memoriam Robert Feldhoff

Glossar

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

 

img1.jpg

 

Nr. 2510

 

Die Whistler-Legende

 

Die Stardust-Chroniken – ein Terraner verwandelt sich auf unheimliche Weise

 

Hubert Haensel

 

img2.jpg

 

Auf der Erde und den zahlreichen Planeten in der Milchstraße, auf denen Menschen leben, schreibt man das Jahr 1463 Neuer Galaktischer Zeitrechnung – das entspricht dem Jahr 5050 christlicher Zeitrechnung. Seit über hundert Jahren herrscht in der Galaxis weitestgehend Frieden: Die Sternenreiche arbeiten zusammen daran, eine gemeinsame Zukunft zu schaffen. Die Konflikte der Vergangenheit scheinen verschwunden zu sein.

Vor allem die Liga Freier Terraner, in der Perry Rhodan das Amt eines Terranischen Residenten trägt, hat sich auf Forschung und Wissenschaft konzentriert. Der aufgefundene Polyport-Hof ITHAFOR stellt eine neue, geheimnisvolle Transport-Technologie zur Verfügung. Gerade als man diese zu entschlüsseln beginnt, dringt eine Macht, die sich Frequenz-Monarchie nennt, in diesen Polyport-Hof vor und kann zumindest zeitweilig zurückgeschlagen werden.

Doch auch andere Menschen geraten in Gefahr: So ereilt Perry Rhodan ein Hilferuf der Terraner, die vor etwas mehr als hundert Jahren in die angeblich sicheren Fernen Stätten ausgewandert sind.

Die Geschichte dieser Terraner im Kugelsternhaufen Far Away birgt viele überraschende Wendungen und Geheimnisse. Ein Mann erlebt all dies mit – er ist DIE WHISTLERLEGENDE ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Belyona Anshin – Die Frau an Whistlers Seite trifft wichtige Entscheidungen.

Rikoph Furtok – Den Unternehmer zieht es an einen schicksalsträchtigen Ort zurück.

Sean Legrange – Der Sohn eines Verräters wird zur neuen Stütze des ehemaligen ersten Administrators von Stardust.

Stuart Lexa – Er wächst zu einem ähnlich begabten Piloten heran wie sein Vater.

Timber F. Whistler – Der Unternehmer muss miterleben, wie sein Körper sich verändert.

Prolog

 

»Duncan, pass auf!«

Whistlers Warnschrei verklang im entsetzten Gurgeln. Vor dem Gleiter tauchte eine zerklüftete Felswand aus dem Toben des Sturms. Sie war viel zu nahe.

Bis zum Aufprall blieb nur ein Sekundenbruchteil – dennoch eine gefühlte Ewigkeit. Als halte die Zeit den Atem an, weil der Tod zu früh kam.

Um Jahrzehnte zu früh ..., durchzuckte es den Administrator des Stardust-Systems.

Die unkontrollierbar gewordene schwere Maschine schrammte über einen Grat hinweg und verlor anschließend abrupt an Geschwindigkeit. Ohrenbetäubend schrill klang nun das Kreischen des berstenden Stahls.

Whistler sah nur noch ein wirbelndes Chaos aus Eis und Geröll. Verkrampft wartete er auf den alles auslöschenden letzten Aufschlag.

Wie würde der Tod sein?

Schmerz und unerträgliche Qual? Oder nicht mehr als der Hauch, der eine Kerzenflamme erlöschen lässt?

Felszacken rissen die rechte Bordwand auf und eisige Kälte breitete sich aus. Sie lähmte den Atem, ließ die Gedanken träge werden ...

Noch hielten die Gurte Whistler im Sessel. Der Gleiter überschlug sich, die berstende Frontscheibe ließ eine erstickende Woge aus Schnee und Eis hereinbranden. Jäh aufzuckender Feuerschein folgte, im Hintergrund erklang das Dröhnen einer Explosion.

Ich lebe noch ...

Eine ungläubige Feststellung. Erst vor Sekunden hatte Whistler die Arme vors Gesicht gerissen, jetzt waren sie eine einzige klaffende Wunde. Er spürte sein Blut warm und klebrig, nicht nur an den Armen, ebenso im Gesicht und am Oberkörper. Sogar im Mund sammelte sich die Wärme, und er würgte sie hervor. Überhaupt stieg ein grässliches Brennen in ihm auf, begleitet von unerträglich werdender Übelkeit.

Der Gleiter stürzte in die Tiefe, schlug irgendwo auf. Wahrscheinlich inmitten eines Geröllfelds, denn ein unheimliches Prasseln und Dröhnen erklang. Begriffe wie oben und unten wurden für Whistler bedeutungslos. Tobende Schmerzen verdrängten jeden klaren Gedanken, und tief in ihm wuchs der Wunsch, es möge endlich vorbei sein. Er wartete nur noch auf das Ende dieser Qual.

Sein Herzschlag stockte, setzte aber einen Augenblick später wieder ein. Schwärze umfing ihn.

Fühlte er Bedauern?

Er wusste es nicht.

Dennoch ein letztes bebendes Aufbäumen, ein Hauch von Verzweiflung, der das weichende Leben zurückhalten wollte.

Nicht jetzt schon!, dröhnte es unter seiner Schädeldecke. Später ... irgendwann ...

Der panische Gedanke verwehte.

1.

 

Aveda, Stardust City,

26. Februar 1394 NGZ

Erinnerungen brechen auf.

 

Übergangslos schreckte Whistler hoch. Ihm war, als erwachte er aus einem langen Albtraum. Bebend atmete er ein, konnte die quälende Benommenheit damit aber nicht vertreiben. Sein Pulsschlag schien sich kaum beschleunigt zu haben. Er schwitzte nicht einmal. Natürlich nicht.

Für einen Moment wuchs in ihm die irrsinnige Hoffnung, nicht bloß der Absturz möge nur ein böser Traum gewesen sein – doch irgendetwas sagte ihm, dass er nicht fantasierte und dass die Realität noch sehr viel schlimmer war.

Sie hatte ein verdammt hässliches Gesicht.

Er wollte sich aufrichten, aber plötzlich waren Hände da, die ihn daran hinderten. Eine Frau redete beruhigend auf ihn ein. Er sah sie nicht, weil er die Augen geschlossen hielt, aber er roch ihre exotische Duftnote, die sich mit dem sterilen Aroma ihrer Kleidung verbunden hatte. Kosmischer Wind. Das Parfum stammte noch von Terra; Whistler wusste, dass es die Grundessenzen dafür im Stardust-System nicht gab.

Erinnerungen an die Erde stiegen in ihm auf. Er verdrängte sie sofort, denn im Hintergrund wurden Stimmen laut. Sie klangen besorgt. Whistler verstand nur bruchstückhaft, was sie sagten, trotzdem wurde ihm bewusst, dass sie über ihn redeten.

»... möglicherweise ein Problem, das während der genetischen Rückzüchtung unerkannt blieb. Alles musste schnell gehen, innerhalb weniger Monate und ohne das notwendige Zeitfenster.«

»Wie groß ist die Bedrohung tatsächlich?«

»Ich wünschte, ich könnte schon mehr darüber sagen. Wir müssen wohl Genfragmente suchen, nichts, was auf Anhieb ...«

Whistler schob die Hände zur Seite, die ihn festhielten. Die Frau stöhnte verhalten. Dabei hatte er ihr bestimmt nicht wehgetan. Nicht absichtlich jedenfalls.

Die Bilder des Gleiterabsturzes beherrschten sein Denken – als wolle der Albtraum sich wiederholen.

Endlich öffnete er die Augen und stellte sich der Wirklichkeit. Er sah die Frau in völlig verschobener Farbwahrnehmung. Ihr Gesicht war grün, beinahe schon oliv. Ihre schwarzen Lippen bewegten sich, aber was sie sagte, klang wie fernes Donnergrollen.

Absolut falsche Sinneseindrücke. Whistler kniff die Augen wieder zusammen. Im nächsten Moment riss er die Arme hoch und presste beide Handballen auf seine Ohren. In der nachfolgenden Stille vermisste er das Pochen seines Herzschlags.

Er spürte Zorn in sich aufsteigen. Was immer geschehen sein mochte, Whistler wusste instinktiv, dass ihm die Wahrheit nicht gefallen würde.

Nur langsam löste er sich aus der Verkrampfung.

»Er versteht offenbar nicht, was vorgefallen ist.« Das war die Stimme der Frau wieder. »Falls toxische Keime die Filtersysteme der Hirnkapsel überwunden haben ...«

Whistler achtete nicht darauf. Siedend heiß entsann er sich, dass Duncan Legrange den Gleiter gesteuert hatte. Er musste wissen, was mit dem Freund geschehen war, musste ...

Ein eigenartiger, kaum zu lokalisierender Schmerz raste durch seinen Leib. Whistler rang nach Luft. Es war ein entsetzliches Gefühl, einatmen zu wollen, aber nicht dazu in der Lage zu sein. In wachsender Panik krümmte er sich zur Seite, als könne er so das Ersticken verhindern.

Während er sich zusammenrollte, wurden seine Arme mit unwiderstehlicher Härte zur Seite gezerrt. Er glaubte, die Umrisse eines Medoroboters zu erkennen, doch sein Blick verschwamm schon wieder.

Er zog die Beine an den Leib. Unnachgiebige Hände packten ihn und drehten ihn auf den Rücken. Verzweifelt rang er nach Luft. Er würde das nicht überstehen ...

Eine Berührung am Hals, ein leises Zischen – eisige Kälte breitete sich in ihm aus.

Sein Körper erstarrte.

Der letzte Gedanke galt dem Gleiterabsturz und Duncan Legrange, der die Maschine geflogen hatte – dann war nichts mehr.

 

*

 

Als Timber F. Whistler die Augen wieder öffnete, hingen hoch über ihm zarte Wolkenschleier in fahlem Türkis. Ein Schwarm prächtiger Buntschwanzsegler faszinierte mit wilden Flugkünsten, aber schon nach wenigen Sekunden stoben die großen Vögel davon. Zwei Frachtgleiter näherten sich. Die Maschinen drehten jedoch ab, bevor Whistler ihre Kennungen sehen konnte.

Leichter Dunst verschleierte die Sicht. Erst vor Kurzem musste ein heftiger Wolkenbruch über dem Ashawar-Delta niedergegangen sein. Es roch nach feuchter Erde. Ebenso nach den Wasserpflanzen, die sich entlang der Uferböschungen ausbreiteten und in diesen Tagen ihre purpurfarbenen Blütenstränge abstießen. Ein Blütenteppich trieb dem Meer entgegen. Whistler kannte dieses Schauspiel, das jährlich Millionen Siedler ins Delta zog.

Tief atmete er ein. Er fühlte eine schwache Benommenheit, eine Störung des Gleichgewichtssinns, die er sich nicht erklären konnte.

Über ihm schimmerte die Sonne wie ein mattes Riesenauge durch die Wolkenschleier. Sie stand im frühen Nachmittag.

Whistler fragte sich, wie er an diesen Ort gelangt war. Er entsann sich jedenfalls nicht.

Von Dunst umwölkt, ragte in der Ferne die Stardust-Nadel auf.

»Er ist jetzt bei Bewusstsein!«

Die aus dem Hintergrund erklingende Feststellung schreckte ihn auf. Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht und massierte Stirn und Schläfen mit den Fingerspitzen.

Ein Teil des Himmels über ihm verwischte und ließ die technischen Installationen erkennbar werden.

»Es gab keine Komplikationen, Timber.« Die Stimme redete nun zu ihm. »Der Eingriff ist zu aller Zufriedenheit verlaufen; es geht nur noch um eine letzte Kontrolle.«

Whistler hörte auf, sein Gesicht zu massieren. Sekundenlang versuchte er, an gar nichts zu denken, doch das gelang ihm nicht.

»Wo ist Belyona?«

»Sie analysiert die Gewebeproben, als müsse sie sogar die Medoroboter kontrollieren, weil sie fremde DNS-Fragmente in einer der Organrückzüchtungen vermutet. Das werden wir aber schnell in den Griff bekommen.«

Die Feststellung klang zu glatt und zu selbstsicher. Für einen Moment fühlte Whistler sich hilflos wie jemand, der nackt in eine enge Zelle gesperrt wurde. Es gab in diesem Verlies keine Tür, kein Fenster; Decke, Wände und Boden ließen nicht einmal Unebenheiten erkennen. Ihm blieb nur, sich in eine Ecke zu kauern und darauf zu warten, dass alles anders wurde – oder immer wieder gegen die Mauern anzurennen, bis er entweder daran zerbrach oder seine Verzweiflung endlich den Widerstand überwand.

Und dann?

Warum kann ich diesen verdammten Roboterkörper nicht akzeptieren?

Vielleicht, weil er bislang nicht mit sich selbst im Reinen war. Nicht zu wissen, was auf Katarakt damals wirklich geschehen war, belastete ihn weit mehr, als er sich je eingestanden hätte. Das war ihm erst richtig bewusst geworden, nachdem seine verschüttete Erinnerung wenigstens ein Stück weit freigelegt war.

Elf Jahre lang hatte er an einen Unfall geglaubt und dann erfahren müssen, dass sein bester Freund den Gleiter manipuliert hatte.

Warum?

Whistler hatte keine glaubwürdige Antwort parat. Im Hintergrund stand vielleicht die potenzielle Unsterblichkeit: die beiden Aktivatorchips, die ES den Siedlern versprochen hatte. Andererseits war er sich gar nicht bewusst, der Lösung des Rätsels irgendwann nahegekommen zu sein. Und die Firma als Motiv? War es Duncan ganz banal um Reichtum und Ansehen gegangen? Immerhin hatte er an Whistlers Stelle die Geschäfte geführt.

Die Zweifel zerrissen Whistler bis zu diesem Tag.

»Wie lange soll das so weitergehen?« Härter als beabsichtigt stieß er die Frage hervor – eine heftige Anklage gegen die Mediker, gegen sein ungnädiges Schicksal und sich selbst. Er konnte nicht akzeptieren, was geschehen war, und danach zur Tagesordnung übergehen. Obwohl es sicherlich das Beste gewesen wäre, einen Schlussstrich zu ziehen und neu zu beginnen.

Whistler dachte an den Speicherkristall mit dem Holo, den Beweis dafür, dass Duncan Legrange den Antrieb des Gleiters manipuliert hatte. War die kurze Trividsequenz eine Fälschung? Zumindest keine, die er als solche mit all den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln hätte erkennen können.

Fünf Jahre waren vergangen, seit er den Freund deshalb zur Rede gestellt hatte – gereizt und verbittert, ohne Duncan eine Chance zur Rechtfertigung zu lassen. Seitdem war Legrange unauffindbar, als hätte er nie existiert.

Whistler stemmte sich hoch. Instinktiv wartete er auf einen neuerlichen Anflug von Benommenheit, der ihm verriet, dass die Arbeit der Mediker keineswegs so perfekt war, wie sie behaupteten. Abstoßungsreaktionen zwischen dem Robotertorso und seinen verbliebenen Organen waren erst nach Jahren aufgetreten, dann jedoch heftig und für alle Informierten überraschend.

In der Zwischenzeit waren mehrere Nachoperationen nötig geworden. Kleinigkeiten, verglichen mit der umfassenden Sanierung der letzten beiden Wochen.

Sanierung ...

Obwohl ihm keineswegs danach zumute war, hätte Whistler beinahe schallend gelacht. Eine gehörige Portion Sarkasmus kam darin zum Vorschein.

Warum nenne ich die Dinge nicht beim Namen? Die Ärzte haben eine Reparatur ausgeführt. Mein Körper ist ein Stück Metall, ich selbst bin nur noch Gehirn. Ich lebe, weil der künstliche Nährstoffkreislauf rund tausendvierhundert Gramm komprimierte Nervenzellen versorgt. Wenn das alles ist ...

Nein, ich darf nicht ungerecht werden. Ich bin mehr, sehr viel mehr: Ich bestehe aus Muskeln, Fleisch und Sehnen und der Haut darüber. Das alles ist eine genetische Rückzüchtung, die mich äußerlich als Mensch erhalten soll.

Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich tatsächlich den Timber F. Whistler, der ich immer war. Ich kann mich schneiden, dann tropft Blut aus der Wunde. Meine Haare wachsen, langsamer als früher zwar, aber sie wachsen. Doch unter den Haarwurzeln ist das, was Whistler-Stardust & Co. in Fülle zu bieten hat: qualitativ bester Roboterstahl, perfekt verarbeitet. Manchmal glaube ich, die Roboter müssten mich dafür hassen, dass ich wie sie geworden bin.

 

*

 

Nur mit Mühe unterdrückte Whistler den kratzenden Hustenreiz. Sein Schluckreflex war eine Reaktion, die er sich in all den Jahren nicht abgewöhnt hatte. Die Speichelmenge, die Mund und Rachen geschmeidig hielten, wurde nun über bionische Rezeptorfolien reguliert.

Er entsann sich, beinahe erstickt zu sein. Prompt griff er sich mit beiden Händen an den Hals. Er tastete am Kinn entlang und über den Kehlkopf hinweg, aber er spürte mit den Fingersensoren nicht den Hauch einer Narbe.

»Die Luftröhre bereitet weiterhin Probleme«, stellte er heftig fest. »Ich dachte, Belyona hätte sich dieser Symptomatik ebenfalls angenommen.«

Whistler redete mit dem Mediker, der seine aktuellen Messdaten auswertete. Die anderen waren schon nach wenigen Minuten wieder gegangen.

Bakterielle und virale Infektionen als potenzielle Gefahrenquelle – davon hatte Belyona Anshin nach den ersten Operationen gesprochen. Whistlers Verwunderung darüber war bald der Erkenntnis gewichen, dass sogar Sepsis eine von vielen Bedrohungen sein konnte. Weil es nicht nur um Keime ging, die leicht zu therapieren waren. Gerade die Verbindungsstellen zwischen den robotisch-technischen Komponenten und den genetischen Rückzüchtungen bedurften in den ersten Jahren, womöglich gar Jahrzehnten, der Überwachung.

Die aus dem Solsystem mitgebrachten Rohstoffe waren bis auf geringe Restbestände längst verarbeitet. Die Stardust-Welten ebenso wie die Planeten mehrerer naher Sonnen lieferten mittlerweile die wichtigsten Elemente, aus denen vieles synthetisiert werden konnte, wenn man es darauf anlegte und über genügend Finanzmittel verfügte. Die daraus erstellten Legierungen waren in ihrer Wirkung auf den menschlichen Organismus allerdings keineswegs umfassend erforscht. Die statistischen Grundlagen standen wegen des kurzen Zeitrahmens noch auf wackligen Beinen. Stardust war eben nicht die gewohnte Umwelt, sondern Neuland.

Nach wie vor verging keine Woche, in der nicht etliche unbekannte mikroskopische Lebensformen aufgespürt und katalogisiert wurden. Nichts war dabei, was für sich allein eine Bedrohung bedeutet hätte, doch die Gefahr lag in der Kombination. Die Nanobeschichtungen der mechanischen Elemente lösten womöglich Nebenwirkungen aus, die bislang niemand in Erwägung zog. Rückwirkungen auf einzelne Bakterienstämme mochten unerwartete Mutationen zur Folge haben.

Schon deshalb fühlte sich Whistler als Versuchsobjekt par excellence. Das war ein Grund, den Robotkörper zu verwünschen. Andererseits konnte er sich einer gewissen Neugierde nicht entziehen. Es musste eine Grenze geben, einen Bereich, bis zu dem er Mensch blieb. Und darüber hinaus? Wie fühlte es sich an, falls er diese Schwelle überschritt – vor allem: Wo lag die Grenze?

Whistler stellte sich diese verrückte Frage immer wieder. Dabei wollte er die Antwort gar nicht herausfinden – er fürchtete sich sogar davor.

Er starrte den Mediker an, den er seit Jahren kannte, und ertappte sich dabei, dass dieser sich an der Nase kratzte. Die Geste erinnerte ihn an Duncan Legrange. Zornig biss er die Zähne zusammen.

Duncan hatte ihn aus dem brennenden Gleiterwrack gezogen und dabei sein eigenes Leben aufs Spiel gesetzt. Whistler verstand nicht, was Duncan überhaupt angetrieben hatte. Zufall, eine glückliche Fügung – oder doch eiskalte Berechnung?

Doc Stelzer schaute für einige Sekunden von seinen vielfältigen Holoskalen auf. »Belyona unternimmt alles Menschenmögliche, um künftige Komplikationen zu verhindern.«

Whistler hustete unterdrückt. Durchdringend taxierte er den Mediker, schwieg aber.

»Die beiden letzten Lungenlappen wurden diesmal ersetzt.« Stelzer hielt dem Blick mühelos stand. »Bislang waren die Atemwege eine Kombination aus Nachzüchtung und Kunstprodukt. Wegen der entzündlichen Reaktion fiel die Entscheidung zugunsten der vollständigen mechanischen Lunge.«

Um Whistlers Mundwinkel zuckte es leicht. Er hielt den Atem an, dann sog er die Luft prüfend durch die Nase ein.

»Du wirst den Unterschied nicht wahrnehmen«, stellte der Mediker fest. »Die menschliche Sensorik ist dafür zu schwach entwickelt. Die Gefahr einer Abstoßungsreaktion besteht zu keinem Zeitpunkt; der Integrationsprozess ist innerhalb weniger Tage ideal verlaufen.«

»Erwarte nicht, dass ich vor Freude in Jubel ausbreche.« Whistler hustete wieder und lauschte in sich hinein.

»Wir verzeichnen eine Steigerung deines Lungenvolumens um nahezu zwanzig Prozent. Schon der Ersatz des Flimmerepithels speichert Sauerstoff in ungewöhnlich hoher Konzentration, gibt ihn aber bei Bedarf an die Alveolen ab. Die Oxygenierung des Blutes ...«

»Es reicht!« Whistler winkte unwillig ab. »Wenn ich dich frage, ob es wirklich nötig war, noch ein wenig mehr biologisches Gewebe zu entfernen, wirst du natürlich antworten ...«

»Das war nötig!«, sagte eine Frauenstimme. »Wir hatten keine andere Wahl, als sofort eine vollmechanische Externlunge anzuschließen und eine Notoperation einzuleiten.«

Belyona Anshin kam näher. Für ihn hatte es den Anschein, dass sie schon eine Weile am Seiteneingang gestanden und ihn beobachtet hatte. Wahrscheinlich lange genug, um seine Zweifel zu bemerken.

Die Frau, mit der er seit Jahren zusammenlebte, hatte ihn nach dem Absturz zusammengeflickt. Von jener Zeit, die er im künstlichen Koma zugebracht hatte, kannte Whistler nur einige Aufzeichnungen.

Er war dem Tod näher gewesen als dem Leben. Die Wirbelsäule mehrfach gebrochen, Nervenstränge irreparabel geschädigt. Er wäre nicht einmal mehr in der Lage gewesen, die Arme zu bewegen. Von der Hüfte abwärts hatte er kaum einen heilen Knochen aufgewiesen. Eigentlich grenzte es an ein Wunder, dass er das Eintreffen der Rettungsmannschaft erlebt hatte. Ohne die Minusgrade des Eissturms und seinen dadurch reduzierten Stoffwechsel wäre es um ihn geschehen gewesen. Belyona hatte ihm das längst in aller Eindringlichkeit zu verstehen gegeben.

»Wie fühlst du dich?«

Whistler verzog das Gesicht. »Ein bisschen viel Fleisch, Haut und Kreislauf für eine Maschine.« Er sagte das mit dem Zynismus des alternden Mannes, der jeden Respekt vor dem Tod verloren hatte.

»Du bist kein Roboter!«, widersprach Belyona heftig.

»Und warum fühle ich mich so?«

»Vielleicht gehört eine Portion Wunschdenken dazu.«