Impressum

Max Walter Schulz

Wir sind nicht Staub im Wind

Roman einer unverlorenen Generation

ISBN 978-3-95655-272-4 (E-Book)

 

Die Druckausgabe erschien erstmals 1962 im Mitteldeutschen Verlag Halle.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

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„… DER MENSCH IST ABER EIN GOTT,

SOBALD ER MENSCH IST.

UND IST ER EIN GOTT, SO IST ER SCHÖN ...“

HÖLDERLIN, „HYPERION“

ERSTER TEIL: HAHNENSCHREI MORGEN

ERSTES KAPITEL

An diesem helllichten Aprilmorgen im letzten Kriegsfrühling trottete ein Unteroffizier von der Panzerabwehr mutterseelenallein auf der breiten gepflasterten Straße, die von Eberstedt aus siebeneinhalb Kilometer fast schnurgerade bis zur Abzweigung nach Rayna führt. Gestern mit einem Schub halb Toter aus dem Reservelazarett entlassen, eine immer noch nässende Schusswunde in der Hüfte, war er von einer Frontleitstelle zu der schweren Flak hinter dem Dorf Rayna in Marsch gesetzt worden, um dort die fünf Jahre Fronterfahrung, die er auf dem Buckel hatte, an den Mann, genauer gesagt an die Luftwaffenhelfer, zu bringen. Das großdeutsche Vaterland von der Maas bis an die Memel, der in den Schulatlanten mächtig breit gelaufene himbeerrote Fleck, war nun zusammengedrückt wie eine Eiswaffel für’n Groschen. Die Russen waren schon über die Oder geflutet, und die Amerikaner mussten, wenn sie das Vormarschtempo der letzten Woche einhielten, in etwa zwei Tagen mit den Panzerspitzen hier am Westrand des mitteldeutschen Braunkohlen- und Industriegebietes auftauchen.

Dem Unteroffizier, einem robust aussehenden Burschen, war es in den letzten beiden Kriegsjahren nach und nach völlig gleichgültig geworden, unter welchen Himmelsstrich und zu welchem Einsatz man ihn verfrachtete. Denn auf die Dauer gab es überall die gleiche Gummiwurst, den gleichen Tubenkäse und Kunsthonig zwischen die Zähne und für die armen Teufel, die daran glauben mussten, die gleichen Eisenstückchen zwischen die Rippen. In Russland hatte der Unteroffizier einen älteren Obergefreiten als Ladekanonier auf der Selbstfahrlafette gehabt, einen kleinen, zähen, flachbrüstigen Menschen, Metteur von Beruf, nach wie vor Naturfreund von Gesinnung, bescheiden wie ein Eremit, aussehend mit seiner bändergehaltenen Nickelbrille unterm Stahlhelm und dem ewig stoppeligen Kinn wie ein Waldschrat. Otto Siebelt hieß dieser Sonderling, dessen stoische Ruhe Vorgesetzte zur Raserei oder zu achselzuckendem Erstaunen brachte. Aber er hatte trotz alledem auch ins Gras beißen müssen. Während des Rückzuges durch die Wälder von Brjansk war es gewesen, auf einer sonnigen Schneise voller Brombeeren. Da lag er neben dem Fahrzeugwrack, das er „Gottsdonner“ getauft hatte, und blutete aus.

„Mensch, Otto, warum?“, hatte der Unteroffizier den Sterbenden mit Kehlwürgen gefragt. „Warum denn das alles?“ Der hier lag, war ihm wie ein Vater geworden. Zum ersten Mal in diesem Krieg spürte er, der Unteroffizier, ein stechendes Entsetzen vor der Sinnlosigkeit des Sterbens.

Der zu Tode Getroffene sah ihn mit verschwimmendem Blick an. „Fängst auf meine alten Tage noch anzuquatschen. Halt die Schnauze, Hagedorn. Gab mal einen, der hieß Angelus Silesius, und der hat gesagt: ,Die Rose blühet und verblühet ohn’ Warum.‘ - Das ist der ganze Sinn der Welt. Setz mir die Brille ab, Rudi, ich habe genug gesehen. - Und hau ab, sonst schnappt dich der Iwan …“

Die Rose blühet und verblühet ohn’ Warum, und der Soldat marschiert, krepiert ohn’ Warum. Ist das wirklich der ganze Sinn der Welt? - So viel Gedanken sich dieser Unteroffizier Rudi Hagedorn auch über das Warum gemacht hatte, seine Gedanken brüteten flügellahmen Vögeln gleich, die auf Windeiern sitzen. Ruckediguh, ruckediguh singt der Wildtäuberich und stößt auf die hölzerne Locktaube herab, die oben auf dem First der Feldscheune sitzt, mit einem rostigen Nagel, der aus dem Rücken ragt und den sich der Wildtäuberich ins Herz rennt.

Der Morgen versprach einen wunderschönen Frühlingstag. Die Frühnebelschleier zerrissen über den Saatfeldern, verflüchtigten sich aus dem schwarzen Geäst der Straßenbäume vor der gleißend aufgestiegenen Sonne. In diese Sonne konnte man nur noch schauen, wenn man die Hand über die Augen hielt und die Augen verkniff. Hagedorn tat das hin und wieder, weil er in Eberstedt vor den amerikanischen Jagdbombern und Tieffliegern gewarnt worden war, die mit Vorliebe aus der Sonne auf die schnurgerade Straße herabstießen. „Da bleibt kein Auge trocken …“ Längs der Straße lagen die Beweisstücke: Autos, ausgebrannt, einfach in den Graben gestürzt, die Räder mit den verkohlten Reifenfetzen nach oben, zerschellte Treckwagen, mit denen die Gäule durchgegangen sein mochten. Die Leere und Stille auf der großen Straße mutete fast gespenstisch an. Nirgendwo, auch nicht auf den Feldern, war ein Mensch zu sehen, und zu hören war nichts als die abgerissenen Triller einiger Lerchen, die unsichtbar hoch im Blau hingen.

Dem Dahintrottenden war es, als ritte ihn ein Hund. Die dumpfe Revolte der Gedanken, die sich immer wieder selbst erstickte, war durch einen besonderen Umstand erneut in Bewegung geraten. Das Schicksal spielte wie in weibischer Bosheit den Zufall gegen ihn aus. Er war laut Marschbefehl unterwegs zu der Batterie, deren Chef Hauptmann Saliger hieß. Einem dicken Major auf der Frontleitstelle, der sich’s angelegen sein ließ, Hagedorns Einsatz selbst zu steuern, war der Name bei der Einweisung auf der Karte beiläufig über die Lippen gekommen: „... das ist hier bei dem poplichten Nest Rayna, ’ne Großkampfstellung in der Einflugschneise. Kenne den Chef, Hauptmann Saliger, kann in seinem Kindergarten so ’n altes Frontschwein wie Sie dringend benötigen. Trage Ihnen meine Grüße auf. Is ’n alter Bekannter von mir, na ja, schön …“ „Auch von mir“, wollte Hagedorn schon bestürzt sagen, doch er verschluckte diese zivilistische Anmaßung noch rechtzeitig. Überdies und hoffentlich konnte es ja auch ein anderer Saliger sein als jener, als der Jugendfreund, den er als Zehnjährigen aus dem Fischerteich gerettet, mit dem er in der tiefen Höhle des Katzensteins Blutsbrüderschaft geschlossen, mit dem er in den herrlich törichten Jahren des Erwachens ein und dasselbe Mädchen angebetet hatte: Lea, die Schöne, Reine, Kluge, Unerreichbare, die Göttin. Aber seine Hoffnung, dieser Saliger wäre es nicht, scheiterte durch nähere Nachfrage bei einem Schreibstubenschnäpser der Frontleitstelle. Saliger war Saliger, war Armin, der Haderlump, der bei der ersten Bewährungsprobe ihre Freundschaft verraten, der sich Leas Vertrauen und dann ihre Liebe erschlichen und sie, als es plötzlich um seine Karriere als Offiziersanwärter ging, sitzen gelassen hatte wie der erste beste erbärmliche Schuft.

Damals, als das passierte, war Hagedorn, fiebrig vor Scham und Verachtung, an den Ort geflohen, wo sie sich als Knaben den kleinen Finger aufgeritzt und jeder vom anderen drei Blutstropfen getrunken hatten. Dort in der Katzensteinhöhle tat er einen entsetzlich kindischen Schwur, der, anstatt die Wunde zu heilen, die ihm Saliger geschlagen, zur Geißel wurde, mit der er sich selbst die Seele fort und fort wund schlug. Denn er hatte geschworen, Saliger umzubringen, und nicht den Mut zur Tat gefunden, den Mut nicht und den Hass nicht und auch nicht den Humor, das alberne Rachegelöbnis als eine Jugendeselei zu vergessen. Hätte er, der Straßenkehrersohn, doch lieber seine tausend Hemmungen abgestreift, wäre er hingegangen zu Lea, der Nichte und Pflegetochter seines verehrten Lehrers Dr. Füßler, ihr zu sagen: Lass mich gutmachen, was Saliger an dir gesündigt hat. Ich habe dich je und je geliebt. Doch ja, einmal war es so weit gewesen, nach Ottos Tod, nachdem er selbst wieder einmal davongekommen war, als die heimwärts rollende Ostfront an der Weichsel ausruhte. Da schrieb er endlich an Lea und offenbarte sich ihr. Aber da war es zu spät. Lea Füßler war von der Gestapo abgeholt worden und seither verschollen. Mutter schrieb’s ihm in den Tagen, in denen er den Brief an Lea noch im Soldbuch bei sich trug. So wanderte der schöne gute Brief ins Feuer, und der schlimme Zettel blieb im Brustbeutel bei der Erkennungsmarke. Hagedorn hätte im Tiefschlaf aufsagen können, was auf dem Zettel stand: „Ich schwöre bei meinem Leben und bei allem, was mir heilig ist: bei Deutschland, bei der steilen Flamme des Sonnenwendfeuers, beim Rauschen des nächtlichen Waldes, bei den Felsen auf der Heide, bei Leas Augensternen und bei ihrem Mutterschoß: dich, armin saliger (auf dem Zettel klein geschrieben), vom Leben zum Tode zu bringen, wann ich dich treffe. Der Verräter stirbt.“ Darunter stand, mit eigenem Blut geschrieben, sein voller Taufnahme: „Rudi Paul Christian Hagedorn.“

Und nun war er unterwegs zu dem, dessen Name auf dem Zettel klein geschrieben stand, in symbolischer Bedeutung für „abgeschrieben“. Und nun musste etwas geschehen. Heute noch würde er Saliger Auge in Auge gegenüberstehen, und Saliger würde - ja, er würde sich freudig überrascht gebärden, tun, als ob nichts, gar nichts zwischen ihnen stünde, nicht einmal Zeit, höchstens einige Dienstgrade. „Menschenskinder, Rudi, alter Knabe, lass dich beaugapfeln! Bisschen kantig geworden - aber sonst herrlicher denn je, besonders das klassische Näschen … Hagedorns etwas breitlöcherig geratene Nase hatte Saliger schon immer zum Foppen angeregt. Ach, Saliger konnte lieb sein wie eine alte Nutte. Und davor fürchtete sich Hagedorn. Träte ihm doch dieser Herr Hauptmann in kühler Höflichkeit gegenüber, das Vergangene beiseiteschiebend wie eine leer getrunkene Tasse. Vielleicht gebrauchte er sogar den vertrauten Necknamen, nannte ihn „Amos“. Hagedorn spürte noch jetzt die heiße Welle der Beschämung, wenn er daran dachte, wie er dazu gekommen war. Saliger, der Apothekersohn, zwei Jahre älter als er, war 1930 aufs Reiffenberger Gymnasium gekommen. Danach fing er an, Rudi zu examinieren, sogar oben auf ihrer Baumburg in der alten Kastanie vor dem Straßenwärterhaus. „Welche römischen Götter kennst du? Rudi kannte keinen einzigen. „Du musst doch wenigstens den Gott der Liebe kennen, Kleiner! Na los, mit A fängt er an, A - M, Am… Überglücklich, es doch zu wissen, sagte Rudi: „Amos. Seine fromme Mutter hatte mitunter, um ihre Bibelfestigkeit und ihr gutes Gedächtnis zu beweisen, die Reihe der Propheten hergesagt:

„… Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk …“ Davon war ihm, dem damals Neunjährigen, der Name im Gedächtnis hängen geblieben. Saliger wollte sich vor Lachen ausschütten. Fortan nannte er den Freund Amos. Das blieb aber zwischen ihnen beiden, sonst wäre es zur Keilerei gekommen, bei der Armin den kürzeren gezogen hätte.

Und nun musste etwas geschehen. Reiner Tisch musste gemacht werden. Aber wie? Hagedorn sinnierte: „Es geht um Gerechtigkeit, nicht um Rache. In der Bibel steht: „Mein ist die Rache, spricht der Herr.“ Das hatte Mutter oft gesagt, wenn sie mit krummem Rücken und schmerzenden Augen von der pusseligen Posamentierarbeit aufgestanden war. Saliger kann ein anderer Mensch geworden sein. Vielleicht hat ihn die Reue durchgeschüttelt, vielleicht hat auch das verfluchte Kriegselend sein kodderiges, schnodderiges Wesen geändert. Wir sind ja alle anders geworden. Ich bin auch nicht mehr der dummscheue Liebhaber von damals, habe mit mancher Schönen den Psalm vom Fleisch inniglich heruntergebetet. Nur geliebt habe ich keine dabei. Was Schuld betrifft, da stehen wir alle bei unserem Gewissen in der Kreide. Wir müssen jetzt mehr voraus- als zurückdenken, wenn wir gerecht sein wollen, jawoll ...

Um Lea Füßler wob sich vom ersten Tag ihres Erscheinens in Reiffenberg ein lockendes Geheimnis. Sie war fünfzehneinhalb Jahre, als sie ihr Onkel Dr. Theo Füßler, ein Junggeselle, Rektor der Goetheschule, als Pflegetochter zu sich nahm. Mit ihrem blauschwarzen Haar, dem hohen, schmalhüftigen Wuchs, den mandelbraunen Augen und dem etwas üppigen Mund in dem madonnenreinen Gesicht war sie einfach die Stadtschönheit. Gleich als sie das erste Mal mit ihrem Onkel durchs Städtchen ging, als er sie vom Bahnhof abholte, verschlug es Knaben und Kerlen den Atem, grüßten Männer in den besten Jahren den Doktor mit außerordentlicher Hochachtung und meinten in Ergebenheit seine Begleiterin, wiegten sich junge Mädchen auf einmal herausfordernd stolz im Schritt und taten beleidigend kühl, lächelten Frauen erinnerungsvoll, blieben alte Weiblein ungeniert stehen und nickten sich zu: „So was Auffälliges, nein! Wo kommt das junge Ding denn her? Und der kanariengelbe Mantel, habt ihr das gesehen ...“ Und ein kleines Mädel, das den Reifen schlug, rannte nach Hause zur Mutter und berichtete mit hochroten Wangen: „Ich habe das Schneewittchen gesehen ...“ Woher Lea Füßler kam, wusste niemand genau. Man entsann sich, dass in der Großvätergeneration der Füßlerschen Familie ein italienischer Baumeister aufgegangen sei, ein schöner Mann mit feurigem Auge und pechschwarzen Locken. „Vielleicht kommt sie von dort unten, wo wir doch jetzt mit den Italienischen große Freundschaft haben. Vielleicht spricht sie sogar fremd …“ Aber Lea sprach ein fast bühnenmäßig reines Hochdeutsch, nur mit einem - man möchte hier wirklich schreiben - allerliebsten Anklang ans rheinische Platt. Nicht in den Worten, nur in der Sprechmelodie. Wenn sie sagte: „Bitte, drei Zigarren für meinen Onkel“, dann klang es eben ganz anders wie von einem Reiffenberger Mädchen. Das sagte: „Bitte, drei Zigarr’n for mein’ Onkel.“

Doch es dauerte nicht lange, da erfuhr man, dass die Mutter des schönen Mädchens, Dr. Füßlers jüngere Schwester, eine Schauspielerin gewesen war, die sich vom Theater bereits längere Zeit zurückgezogen hatte, zuletzt unter ihrem Künstlernamen in Düsseldorf gelebt und unlängst an der Schwindsucht gestorben war. Über den Vater Leas erfuhr man aber nichts. „Glaubt es nur; sie ist das Kind einer großen Liebesleidenschaft. Wer weiß, was für ein hochgestellter Herr der Vater ist, vielleicht ein Fürstensohn oder ein Millionärssohn, der die Mutter nicht hat heiraten können, weil sie bloß eine vom Theater war. So geht’s zu in der Welt ...“

In solchen und ähnlichen Reden liefen Vermutungen und Klatsch hinter dem Mädchen her, und Lea tat, als höre sie nichts davon, grüßte jedermann freundlich und bescheiden, grüßte auch in die Fenster, dahinter die Gardinen sich bewegten, wechselte für Reiffenberger Begriffe nicht nur provozierend oft die Garderobe, wechselte dazu auch die Frisur, trug einmal Zöpfe, dann Schnecken, dann Kranz, dann Knoten und - was Knaben und Kerle reinweg toll machte - lose fallendes Haar, gehalten mit einem hellen Band.

Doch so viele Prinzen sich ihrethalben gern in jede Dornenhecke gestürzt hätten, sie vereitelte alle diese Opfertaten von vornherein durch freundliche, allerweltskluge Unschuld, von der man nicht sagen konnte, sie wäre Unnahbarkeit gewesen. Ihre waghalsigen Liebhaber empfanden wohl, dass sie abgetölpelt worden waren, doch keiner gestand sich’s mit Zorn in der Brust, weil es die Schöne so fein getan hatte. Auf diese Weise gewann sich Lea auch die Herzen der Frauen, Mütter und Gattinnen, die einen jüngeren oder älteren Prinzen zu Hause hatten.

Es war auch bekannt geworden, dass Lea nach den Sommerferien in die Obertertia der Goetheschule käme. An diesem ersten Schultag putzten sich alle Pennäler die Schuhe, kratzten sich die Fingernägel sauber, leckten sich wie die Maikater. Die Wochendienst habende Hitlerjugend-Kameradschaft des Internats stolzierte mit Bügelfalten in den kurzen braunen Hosen einher, trug strichgerade, pomadisierte Scheitel und bemühte sich um kühne Gesichter. Als endlich Lea, die Ledermappe unterm nackten Arm, wunderschön verlegen die Portalstufen emporkam und durch die Haustür schritt, erdröhnte der ganze Steinkasten vom Hochschlag der Herzen. Ein schmächtiges Tertianerlein raunte seinem Nebenmann zu: „Du, wenn die’s von mir verlangt, schlachte ich den Pedell.“ Und der war ein gefürchtetes Raubein, ein altverdienter SA-Bulle, der hier seine heiz- und kochgeldfreie Pfründe entgegennahm. Denn er wohnte im Souterrain der Schule, verwaltete neben seinem Hausmeisterposten die Internatsküche, zeigte absolut keine Achtung vor der geistigen Atmosphäre des Hauses, hatte schon manchem Jungen, der sich über schlechtes Essen beklagte, die Nase blutig gedroschen, besonders seitdem ihm dauernd Hühner an Giftweizen verreckten.

Lea kam in Rudi Hagedorns Klasse. Dass Rudi Hagedorn auch die Oberschule besuchte, verdankte er nicht seiner Anschlägigkeit, sondern zuerst dem Herrn Apotheker Saliger, der ihm auf die Dauer der Schulzeit in hochherziger Weise eine Monatsrente von fünfzehn Mark ausgesetzt hatte als Dank für die Lebensrettungstat an seinem Sohn Armin. Das Schulgeld kostete im Monat zwanzig Mark. Zehn Mark hatte Rudi Nachlass wegen guter Noten und weil ihm Dr. Füßler gewogen war. Blieben ihm noch fünf Mark im Monat für Bücher, Schreibzeug, Schuhbesohlen und für die Fahrtenkasse. Das langte verdammt nicht hin und nicht her. Und die Mutter seufzte sogar manchmal, dass sie von ihm kein Kostgeld bekäme. Er wohnte als Ortsansässiger nicht im Internat, er wohnte zu Hause, aß zu Hause und hatte lange Seiten. Zwar wünschte die Mutter auch, dass aus ihrem Ältesten mal etwas Besonderes würde, aber sie konnte sich nicht daran gewöhnen, dass der Junge, der nun schon ein Jahr konfirmiert war, den Alten immer noch auf der Tasche lag und auch noch jahrelang auf der Tasche liegen würde. Ihr war noch die unerbittliche Regel eingebrannt, die Regel, die seit Gedenken auf die Kinder in allen Arbeiterfamilien zutraf: Aus der Schule - aus dem Haus. Aus der Schule kam man mit vierzehn Jahren, von da an steckte man die Beine woanders unter den Tisch oder gab Kostgeld zu Hause.

Paul Hagedorn, Rudis Vater, brüstete sich allenthalben: „Ich lass’ meinen Großen studier’n, das kost’ schließlich was. Aber die Kinder sollen’s mal besser ha’m als unsereins. Lieber will ich Wasser saufen, eh’ er mir von der Schul’ ’runtergeht.“ Der Vater verdiente als Kommunalarbeiter bei der Stadt immer noch ein Blutgeld. Die Mutter machte als Heimarbeiterin Lampenschirmfransen, häkelte Chenillemützen, stach Knoten auf Lampenschirmrohre. Pfennige gab es dafür. Und vier hungrige Kindermäuler wollten gestopft sein. Da waren der Rudi, die Käte, der Christoph, die Bärbel. Von Beruf war der Vater Strumpfwirker, hatte lange Zeit in der Hähnel-Bude gearbeitet, voll oder kurz, wie die Zeiten kamen, hatte auch in der Bude Kassierer von der freien Gewerkschaft gemacht. Dann ging die Massenstempelei los. Bald ausgesteuerter Krisenunterstützungs-Empfänger, musste er Notstandsarbeiten bei der Stadt verrichten, um wieder in die Arbeitslosenunterstützung zu kommen. Und bei der Stadt war er schließlich hängen geblieben. Er hatte sich unentbehrlich zu machen gewusst, war die Wasseruhren ablesen gegangen, hatte im Steinbruch Schotter geklopft, hatte den Ratsboten vertreten und den Totengräber. Es war ihm nicht darauf angekommen. Nur arbeitslos wollte der Vater nicht mehr sein. Ohne Arbeit war er ein hilfloser, verzweifelter, schnapsgieriger Mensch. Und nun war der Vater vom Kommunalhilfsarbeiter zum Hilfsstraßenwärter aufgestiegen. Mit der „Nazibagasche“ konnte er sich nicht anfreunden. Aber er schwieg, wenn in der Straßenmeisterei politisiert wurde; er verrichtete zuverlässig seine Arbeit, zahlte pünktlich seinen Arbeitsfrontbeitrag und ließ sich im „Reichsbund der Kinderreichen“ organisieren. Zum Lohn ließ man dem braven Mann das alte Wärterhäuschen am Stadtrand mit Hof und Garten zu billiger Miete. Darüber war auch die Mutter froh, die sich mit den Nazis noch weniger anfreunden wollte und die ihr Heil in der „Bekenntniskirche“ suchte.

Weil Rudi seine Mutter sehr liebte, hielt er sich in der Hitlerjugend zurück, soweit es anging. Und um den Geschwistern nicht die Butter vom Brot zu stehlen, arbeitete er viermal in der Woche nachmittags als Mädchen für alles in der Auto-, Motor- und Fahrräder-Reparatur von Albert Wünschmann jun. Dafür bekam er drei Mark die Woche. Zwei Mark fünfzig gab er der Mutter, die es ihm nun wieder gern gespart hätte, aber nie dazu kam. Ein Fünfziger und manchmal ein paar Groschen Trinkgeld blieben ihm. Sein Haushalt hatte seit Leas Erscheinen in der Schule eine zusätzliche Belastung erfahren. Er kaufte sich heimlich gehämmertes Büttenpapier, worauf er in gereimter oder hochgestelzter prosaischer Form seiner glühenden Verehrung Ausdruck zu geben suchte. Ja, er war ihr verfallen wie zehn Bäckerdutzend andere. Doch er verschwieg seinen Namen. Er unterzeichnete seine Episteln mit der schrulligen Wendung: „Ihr herzensaufrichtiger Freund Hyperion, der sich erklären wird, wann die Zeit reif ist.“ Aber jeder Blick, jedes belanglose Wort von ihr schien ihm Bündnis zu sein. Er glaubte fest daran, dass sie wüsste, wer sich hinter „Hyperion“ verbarg, dass sie seine Zurückhaltung stillschweigend und mit Genugtuung vor anderen Aufdringlichen billige. Er konnte nicht wissen, dass sich noch andere Zurückhaltende den Namen dieses klassischen Liebenden zugelegt hatten. Denn alle wussten schließlich, wie jünglingshaft verschwärmt ihr Rektor, der nun einmal Leas Onkel war, dem Hölderlinschen Hyperion anhing. Vielleicht bekam er die Briefe zu Gesicht und empfahl am Ende seiner wunderschönen Nichte, sich den Hyperion vorzuziehen. - Ach, wie selten wurde in der Weltgeschichte so viel Herzenspoesie in so kurzer Zeit und auf so engem Raum und in solcher Unschuld vergossen. Lea, die an allem schuldig Gepriesene, blieb dabei die Kühlste. Die Pennäler nannten sie „die Welt“, eine seltsam magisch-nüchterne Bezeichnung, die das höchste ihrer Gefühle ausdrücken sollte: Sehnsucht in die Ferne, Betrübnis in der Näh’. Denn wie nahe die geheimnisvolle Ferne auch herbeigerückt war, sie entschwand beim Draufzugehen, sie ließ sich nicht umfangen mit zwei Armen, nicht berühren mit zwei Lippen. Und nach einem solchen Ding suchen die Romantisch-Verliebten seit jeher mit den angenehmsten Schmerzen. Wo Leas Fuß gegangen war, erblühten auf dem Reiffenberger Holperpflaster blaue Blumen, und wer die Blumen sah, flüsterte: „Die Welt sehen und sterben …“

Aber dann kamen nach dem Pfingstfest im nächsten Jahr aus heiterem Himmel Blitz und Donnerschlag, danach fast alle Ritter der blauen Blume ihr Wappen plötzlich verleugneten. Lea Füßler erschien von einem Tag zum andern nicht mehr im Unterricht. Zu gleicher Zeit wurde ihr Onkel und Pflegevater seines Rektoramtes enthoben und bei voller Gesundheit vorzeitig mit halber Pension in den Ruhestand versetzt. Er reiste über Nacht mit Lea zur Kur nach Karlsbad ab, obwohl hierzulande alles wütend auf die Tschechen war, die den sudetendeutschen Brüdern, wie die Zeitungen schrieben, das Leben zur Hölle machten.

An Füßlers Stelle trat der ehemalige Turnlehrer, der ein hoher Amtswalter der Partei war. Dieser athletische Dummkopf gab in der Aula vor versammelter Lehrer- und Schülerschaft vom hakenkreuzgeschmückten Katheder herab die Ursachen bekannt, die zur Entfernung des alten Rektors und seines Pfleglings geführt hätten. Mit geschwollener Zornesader enthüllte der von den Schülern „Mussolini“ genannte neue Rektor die Ungeheuerlichkeit, dass „die Füßler“ (er sagte tatsächlich „die Füßler“) eine Halbjüdin sei, Tochter eines jüdischen Intellektuellen namens van Bouden, der heute in England sitze und das nationalsozialistische Deutsche Reich anbelle wie der Mops den Mond. Und Herr Füßler habe diese ihm wohlbekannten Tatbestände zu verschleiern gesucht. Nach dieser Mitteilung ertönten aus den Reihen der vorn sitzenden, das Podium flankierenden Lehrerschaft ostentative Pfui-Rufe, die sich sofort in der Schülerschaft fortpflanzten, bis sie durch eine lässige Handbewegung des Redners abstarben.

„Es ist uns weiterhin zu Ohren gekommen“, maulhackte der Mann vom hohen Katheder, das unter dem Wandgemälde von der Speisung der fünftausend am See Genezareth stand, „und zwar von tief empörten jungen Kameraden zu Ohren gekommen, dass der Halbjüdin Füßler massenweise Briefe und gereimte Duseleien von Schülern unserer Anstalt zugegangen sind, und zwar ebenfalls in Unkenntnis der genannten Tatsache. Wir werden“ - und jetzt ließ der Mann seine Stimme furios anschwellen, mit den Worten in seinem riesigen Mund rasselnd wie mit Glassplittern in einer Blechbüchse - „wir werden und wollen das heute noch als missbrauchte Gefühle ansehen und nachsehen. Morgen aber, Kameraden, wenn morgen noch einer seinem Gelüstchen nachtrauern sollte, werden wir diesem pflaumenweichen Heini unsere Begriffe von Blut und Ehre so beibringen, dass ihm sein Gelüstchen vergeht. Schandbuben werden in unserm Reich gebrandmarkt.“

In dieser Minute suchte Rudi Hagedorn den Blick seines Freundes Armin Saliger. Er fand ihn nur für Sekunden. Aber er sah die gleiche Wut, die gleiche Ungehorsamkeit darin, die in ihm selbst bis zur Verzehrung brannte. Auch Saliger hatte Lea Briefe geschrieben. Es war ein offenes Geheimnis, wer alles ihr Briefe geschrieben hatte. - Rudi Hagedorn hörte nicht mehr viel von dem nun folgenden feierlichen Akt, in dem die Goetheschule in eine „Dietrich-Eckart-Schule“ umbenannt wurde.

Am späten Nachmittag holte ihn Armin von Wünschmann ab. Sie gingen den schmalen Weg unter der alten, jasminüberwucherten Stadtmauer. „Das mache ich nicht mit, Rudi. Ich halte mich nicht gerade für einen schlechten Deutschen. Für den Führer gehe ich durchs Feuer, und die Judengesetze sind auch richtig. Aber man muss doch von Fall zu Fall urteilen. Erstens ist Lea nur Halbjüdin, zweitens hat sie ihren Vater nie im Leben gesehen. Das weiß ich von meinem alten Herrn, der stand ja immer gut mit Dr. Füßler. Es gibt eine Grenze, wo der Gehorsam aufhört, sonst wird der Mensch zum Kadaver. Aber - was ich gesagt habe, bleibt unter uns. Ich sagte dir das, weil du mein Freund bist.“

Wie stolz war da Rudi auf den Freund! Armin war der Mitverschworene, machte es ihm leichter, nun allen Drohungen zum Trotz sein fast rührend schönes Herzgefühl für Lea weiterhin auf feines, gehämmertes Briefpapier auszubreiten:

„… und eines Tages, Herrlichste, will ich Ihnen als Mann unter die Augen treten, als ein Mann, der geachtet ist in der Welt, der Autos konstruiert und baut, welche die Menschheit begeistern werden. Aber das schönste soll Ihnen gehören! Wie im Traum werden wir unter blühenden Bäumen hinunter nach Italien fahren, ebenso an die Gräber von Romeo und Julia. Aber meine Liebe will nicht im Tod, sondern im Leben triumphieren. Für mich gibt es nichts Trennendes zwischen Ihnen und mir als Raum und Zeit. Aber was sind Raum und Zeit gegen meine Liebe. Ich will stark sein. Warten Sie auf mich, bis ich ein Mann bin …“

Auch Saliger schrieb weiter an Lea. Rudi wusste es und empfand nicht die mindeste Eifersucht, so bereit war er, sein Schicksal ganz und gar in Leas Hand zu legen, sich ihrer Entscheidung wie ein Sklave zu unterwerfen. Saliger sah in seinem Freund Rudi keinen ernsthaften Rivalen. Er vermittelte ihm sogar die Karlsbader Adresse der Füßlers.

Im Oktober, nachdem die Armee das Sudetenland besetzt hatte, kamen Lea und Dr. Füßler nach Reiffenberg zurück. Der Karlsbader Freund, der ihnen auf unbegrenzte Zeit Quartier geboten, musste sein Versprechen zurücknehmen. Er hatte sein Haus verkauft und war nach Prag übergesiedelt.

In Reiffenberg lebten die Füßlers fortan völlig zurückgezogen. Lea ließ sich nur zu notwendigen Besorgungen auf den Straßen blicken, der Doktor vergrub sich in seine Welt der Musik, der Philosophie und der klassischen Literaturen. Den Leuten, die Lea grüßten, dankte sie freundlich, aber ohne den Kopf zu wenden, ohne Zunicken. Sie hielt den Blick auf irgendeinen fernen Punkt geheftet, trug eine heitere Miene zur Schau, konnte aber die Wehmut, die sich um den üppigen Mund einzugraben begann, nicht verbergen. Sie dankte auch Rudi Hagedorn nicht anders als jedem, der sie grüßte. So war sie ihm nah und ferner als je zuvor.

Saliger brachte den Mut und das Geld auf, bei Dr. Füßler Klavierstunde zu nehmen. Die Liebe zur Musik trieb ihn nicht hin. Er spielte schon ganz passabel und hatte kein musikalisches Bedürfnis außer dem, einige Walzer recht belebend für die älteren Damen zu spielen, einige Nocturnos recht erregend für Backfische, Märsche recht schmissig für die Herren, Capriccios recht frech für jedermann. Die Gefahr, dass man ihm von öffentlicher Seite den wahren Zweck seines Stundennehmens auf den Kopf zusagte, hielt er für nicht sehr groß. Er teilte die in seinem reputierlichen Elternhaus herrschende Ansicht, dass der „böhmische Gefreite“, wenn er genug für die Ankurbelung der Wirtschaft getan, auch seine Schuldigkeit getan habe. Über diese „realpolitische“ Ansicht zog er den Freund nie ins Vertrauen, das hatte ihm sein Vater allerstrengstens verboten.

Rudi beneidete den Freund um die Gelegenheit und um dessen Mut. Er war aber auch jetzt noch nicht eifersüchtig, er war nur etwas traurig, wenn er Armin mit der Notenmappe in das hohe Haus am Ende der Dreibrüderstraße verschwinden sah. Saliger erzählte ihm, wie Dr. Füßler die Umtaufe seiner alten Goetheschule aufgenommen habe. Füßler habe die Sache gelassen hingenommen, habe ein Goethezitat gebraucht, als er sich humorig über den neuen Rektor äußerte:

 

„Schau, Liebchen, hin! Wie geht’s dem Feuerwerker,

drauf ausgelernt, wie man nach Maßen wettert?

Irrgänglich-klug miniert er seine Grüfte;

 

Allein die Macht des Elements ist stärker,

und eh er sich’s versieht, geht er zerschmettert

mit allen seinen Künsten in die Lüfte.“

 

„Na ja, Rudi, der Füßler ist natürlich ein Allround-Genie. Das kann er genauso gut auf seinen würdigen Nachfolger wie auf den Führer gemünzt haben. Aber das letzte nehme ich ihm nicht ab, und du quatschst nicht drüber, klar?“

„Und siehst du Lea? Kannst du mit ihr sprechen?“

„Sie macht sich unsichtbar, das schöne Kind.“

Das glaubte Rudi Hagedorn. Dass ihn der Freund in diesem Punkt so infam belügen könnte, lag außerhalb seiner Vorstellungen. Denn Saliger sprach stundenlang mit Lea und nahm sie immer mehr für sich ein, während Füßler spielte. Lea begann über die naiven Herzensergüsse ihres „Hyperion des Letzten“, hinter dem sie durchaus den Richtigen vermutete, schon nachsichtig zu lächeln. Saliger tat ein übriges, den Freund auf die feine, spöttische Art als tumben Toren hinzustellen. Noch vor dem Weihnachtsfest hatte Saliger die Lea so weit: Sie ließ sich von ihm küssen - und nicht nur geziemlich. „Betrachte das als Verlöbnis, Lea. Im März baue ich mein Abitur. Will sehen, dass ich gleich zum Studium komme. Medizinern schenken sie den Kommiss halb und halb. Denke, in sechs Jahren bist du meine kleine Frau. Und wenn die Welt voll Teufel wär’... Lass mich die Tür abschließen, meine geliebte Lea … bitte …“ Drüben im Musikzimmer spielte Dr. Füßler irgendein Prelude auf dem Cello, auf seinem Lieblingsinstrument ...

Rudi geschah das andere: Bei einer Mappenkontrolle - angeblich war jemandem ein Füllhalter gestohlen worden - fand sich bei ihm ein an Lea Füßler adressierter Brief. (Natürlich war nur nach solchen Briefen gesucht worden.) Nun war der Teufel los. Der forschbraune Rektor wollte den „Schandbuben“ sofort von der Schule „wippen“. Er bekam aber einen Wink von seiner Vorgesetzten Schulbehörde und sprach Hagedorn nur das Consilium abeundi aus. Den Leuten dort oben ging es bei ihrem Anraten zur Vorsicht beileibe nicht um die Rettung des Untersekundaners Hagedorn. Man nahm nur noch einmal Rücksicht auf die starken Sympathien, die Füßler in Reiffenberg, besonders aber in der pädagogischen Fachwelt besaß. Füßler korrespondierte mit pädagogischen Institutionen in vielen Ländern der Erde.

Doch der forschbraune Rektor, der diese diplomatische Rücksichtnahme verachtete, der mit allen Kräften und Mitteln darauf hinarbeitete, aus dem Schatten seines größeren Vorgängers zu treten, gab nun seinerseits auch einen Wink. Den erhielt der Führer der HJ-Gefolgschaft „Dietrich Eckart“, ein Primaner, der sich mit dem neuen Rektor ausgezeichnet verstand. Der Gefolgschaftsführer rief seine drei Scharführer zu einer vertraulichen Besprechung zusammen und verlangte, dass gegen Hagedorn jenes offiziell verbotene, unter dem alten Rektor schwer geahndete Ehrenverfahren anzuwenden sei, das sich das „Geistergericht“ nannte. Das Geistergericht war eine uralte Tradition an der Schule, wahrscheinlich stammte es noch aus vorreformatorischen Klosterschulzeiten. Die Tortur, die der „Delinquent“ dort auszustehen hatte, musste vorzeiten noch der Inquisition abgesehen sein, lediglich, dass die verhängten grausamen Strafen nur noch symbolisch vollzogen wurden. - Dem Verlangen des Gefolgschaftsführers entsprachen seine drei Scharführer ohne nennenswerte Widerrede. Einer der drei Scharführer hieß Armin Saliger.

Am nächsten Morgen, am Morgen des vorletzten Schultages vor den Weihnachtsferien, fand Rudi Hagedorn einen siebenfach versiegelten Umschlag unter dem Klappdeckel seines Platzes. In lateinischen Großbuchstaben stand sein Name darauf und in lateinischer Sprache die Aufforderung, die Siegel stehenden Fußes zu erbrechen. Hagedorn wusste sofort, was die Glocke geschlagen hatte. Es brauchte einer kein Latein zu können, um zu verstehen, was hinter den sieben Siegeln zu lesen war: eine admonitio severa, eine scharfe Ermahnung an den discipulum Hagedornum, sich um die septima hora dem tribunali spirituum, dem Gericht der hohen Geister, zu stellen - sed quod totum voluntarium est, was aber ganz in freiem Willen steht ...

Um sieben Uhr abends, genau als der große Zeiger der elektrischen Uhr über dem Portal auf die Zwölf sprang, klopfte der Schüler Hagedorn aus freiem Willen an die schwere eichene Schultür. Drinnen rasselte der Schlüssel im Schloss. Der Flügel tat sich auf. Zwei in weiße Laken gehüllte „Schergen“ mit roten, tütenartigen Kapuzen über den Köpfen drehten dem Eintretenden sofort die Arme auf den Rücken und stießen ihn vorwärts, die Treppe hinunter auf den Kellergang. Dieser lange, pechschwarze Gang war alle drei Meter durch seltsame Kandelaber erhellt. Das waren die „Wächter“, ganz weiß vermummte Gestalten, die brennende Wachskerzen in den Händen trugen. Sobald die Schergen mit dem Delinquenten an einem Wächter vorbeigegangen waren, folgte dieser nach, und der nächste schloss sich im Gänsemarsch an. Das Ritual war genau festgelegt. Die Schergen stießen Hagedorn in den Raum, wo der Heizer Papierkörbe entleerte. Dort roch es süßlich nach faulendem Einwickelpapier und schimmelnden Obstresten. Im Lichterkreis der Wächter rissen die Schergen Hagedorn den Mantel, die Jacke und alle Kleidungsstücke vom Leibe, bis er nackt dastand. Hagedorn half ihnen dabei willig, damit sie ihm nichts zerrissen und die Mutter nichts merkte. Dann stülpten sie ihm einen Kohlensack über, dessen Quernaht ein Stück aufgetrennt war, sodass der Kopf durchstieß. Alles geschah ohne ein Wort. Schergen und Wächter hatten sich zu benehmen, als wären ihnen die Zungen herausgerissen; sie zählten zu den niederen, den „dienstbaren“ Geistern. Einer streute Hagedorn aus einem Blumentopf eine Handvoll Asche aufs Haupt.

Als Schergen und Wächter mit dem Delinquenten in ihrer Mitte wieder auf den Kellergang traten, setzte aus dunklen Ecken eine schaurige, hohl tönende Musik ein. Das taten andere niedere Geister, die „Pfeifer“. Sie bliesen auf den hölzernen vierkantigen Pfeifen der Übungsorgel, die Dr. Füßler vor Jahren angeschafft hatte. Und dazu bumste eine Landknechtstrommel den uralten Marschierertakt: eins zwei - eins, zwei, drei ... Hagedorn kannte den ganzen Höllenspuk. Er war selbst schon einmal Pfeifer beim Geistergericht gewesen. Dennoch schauderte ihm.

Dieser zweite Akt hieß „die Prozession“. Die Pfeifer, weiß vermummt wie die Wächter, der Trommler, der eine schwarze Schärpe dazu trug, kamen pfeifend und trommelnd aus den dunklen Ecken und vergrößerten den Pulk. Dann sprangen aus der Nische eines Treppenaufganges plötzlich die zwei „Mediziner“ mit dem „Schaman“ hervor. Die Mediziner hatten statt der Tütenkapuzen runde Kappen wie Operationsärzte auf, an denen Schellen klingelten. Sie bliesen in die kürzesten Quiekpfeifen und umsprangen wie närrisch vor Freude den Schaman, das mit Drähten zusammengehaltene Menschenskelett aus dem Biologiezimmer, das der „Beinhalter“, dem zur üblichen Vermummung ein schwarzer Leichenträger-Dreispitz zugestanden war, an einer Stange vor sich herschleifte und so bewegte, dass die knöchernen Arme und Beinen schlenkerten und klapperten.

Die Prozession führte hinab bis zum Eingang der „Katakomben“, der halbmannshohen, rundgemauerten Gänge unter der Kellersohle, durch welche die dick verpackten Heizrohre liefen. Vor diesem Mundloch blieb alles außer den Schergen und dem Delinquenten zurück. Das schaurige Getön der Zurückbleibenden verstärkte sich, weil sich der Schall hier unten eigenartig dumpf-laut an den Ziegelwänden brach.

Von den Schergen in die Knie gedrückt, musste Rudi Hagedorn nun die letzte Strecke bis zum Sitz der hohen Geister, zehn Meter etwa, auf den Knien rutschen, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Der Boden war mit Ziegelsplitt und grobem Sand bedeckt. Wer die hohen Geister von vornherein zu seinen Gunsten stimmen wollte, der richtete während dieses schmerzhaften Bußgangs unverwandt, ohne eine Miene zu verziehen, das Gesicht auf sie. Die hohen Geister studierten dieses Gesicht und lasen von ihm ab, in welchem Grade der Zerknirschung des Herzens und des Geistes der Beklagte vor ihnen erschien. Auch Hagedorn verbiss erhobenen Hauptes den Schmerz. Er hatte sich vorgenommen, den traurigen Mummenschanz gefühllos und gedankenlos über sich ergehen zu lassen wie ein Stein, den Blick in die eigene Brust zu senken, nichts anderes zu sehen als Leas Bild. So rutschte er wie eine mechanisch bewegte Puppe auf die hohen Geister zu, die auf Lederkissen zu ebener Erde hinter dem Gerichtstisch saßen, statuenhaft, in Bettlaken gewickelte Götzen, Pappkronen auf den Köpfen, die Gesichter mit schwarzen Dreieckshalstüchern verhängt, in die Augenschlitze geschnitten waren: zur Rechten der „Präfekt“, zur Linken die drei „Geschworenen“. Der Tisch vor ihnen, eine ausgehängte Tür, war mit dem grünen Tischtuch aus dem Lehrerzimmer bedeckt. Drei Kerzen brannten auf ihm, die eine Menge grausiges Gerümpel beschienen: die vier HJ-Dolche der hohen Geister, aus der Scheide gezogen, die Spitze auf den Delinquenten gerichtet, die Klingenseiten mit der eingebrannten Aufschrift „Blut und Ehre“ nach oben gekehrt, ein geschältes Buchenstäbchen, das vor dem Präfekten lag, rostige Handschellen, ein Halseisen, stockfleckige, schweinsledergebundene Schwarten.

Das Verhör begann. Der Präfekt nahm eine der Schwarten zur Hand und las etwa zehn Minuten lang aus einer mittelalterlichen, lateinisch abgefassten Halsgerichtsordnung. Das hohle Getön der Pfeifen und der Trommel begleitete sein stupides Rezitativ wie Hexensabbatsmusik. Wider seinen Willen verlor sich Leas Bild vor Rudi Hagedorns Auge. Er sah eine schmale, dünnfingrige Hand auf dem grünen Tuch des Tisches liegen, deren kleiner Finger halb bedeckt war vom Ringfinger. Diese Hand kannte er wie seine eigene. Aus diesem kleinen Finger hatte er einmal drei Blutstropfen getrunken. Und plötzlich ekelte er sich vor dieser Hand. Er wollte es nicht. Er wusste ja, dass Saliger unter den Geschworenen saß. Dem Geistergericht konnte sich weder der eine noch der andere Teil entziehen, wenn er nicht als Feigling angesehen und geschnitten werden wollte. Hagedorn hatte gebangt, den Freund zu erkennen. Die Mumien da vorn gingen ihn nichts an. Aber nun wusste er, unter welcher Mumienhaut der Freund steckte.

Das Getön brach ab. Der Präfekt richtete nach Bekanntgabe der Anklage sofort die erste „scharfe Frage“ an den vor ihm Knienden: „Bekennt Er sich schuldig, mit einem Wechselbalg auf geistige oder körperliche Weise ein blutschänderisches Verhältnis gehabt zu haben? Ja oder Nein!“ Hagedorn suchte hinter den schwarzen Schlitzen der Mumienhaut die Augen des Freundes. - Jetzt ein Bündnis haben, die erpresste Verleumdung, die ich nicht anerkenne, nicht allein begehen ... Er fand nicht die Augen des Freundes. Und so schwieg er auf die Frage, schwieg entgegen aller Spielregel der Jasagerei. Er konnte nicht sprechen. Etwas verschloss ihm die Kehle. Er sah nicht mehr Leas Bild. Er sah, wenn er die Augen schloss bei jedem Hammerschlag seines Herzens, wie eine rötliche Woge das Auge überflutete, eine nach der anderen; er sah die Kaskade seines Blutes. Und darin floss wie Schleim sein Ekel, der Ekel gegen dieses Treiben, gegen diesen Freund.