Umschlag
Verlagslogo

DER WEISSE BRASILIANER

ANSGAR

BRINKMANN

AUFGEZEICHNET VON BASTIAN HENRICHS

 

Delius Klasing Verlag

Für die Fans,
die mich immer unterstützt haben!

1. Auflage

© by Delius, Klasing & Co. KG, Bielefeld

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

ISBN 978-3-7688-3264-9 (Print)

ISBN 978-3-7688-8132-6 (E-Book)

ISBN 978-3-7688-8327-6 (E-Pub)

Lektorat: Klaus Bartelt, Ute Maack

Schutzumschlaggestaltung: Jörg Weusthoff/Hamburg unter
Verwendung dreier Fotos von Axel Struwe, Bielefeld

Datenkonvertierung E-Book: CPI – Clausen & Bosse, Leck
 
Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis
des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus,
nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

 

www.delius-klasing.de

Inhalt

Vorwort von Reiner Calmund

Überall. Zu jeder Zeit – Wie alles begann

Thunfisch aus der Dose

»Ihr könnt hier auf mich warten«

Wechselspiele

Der letzte Rebell – Ein Porträt von Reinhard Rehberg

Ich werde auch nass, wenn es regnet

Oberkörper frei

Clowns und Kriminelle – Wo das ganze Geld landete

Mut zum Träumen, Kraft zum Kämpfen

Der beste Coach

Weggefährten über den »Nichtdisziplinierbaren«

30 Vorlagen

Die Ansgar-Brinkmann-Traumelf

Vereins- und Torstatistik

»Ich habe 316 Zweitligaspiele und 59 Bundesligaspiele gemacht. Ich weiß, dass mehr drin gewesen wäre, so sagen es zumindest viele Experten. Aber das beschäftigt mich nicht. Ich bin ein Mensch, der sich das Schöne bewahrt. Der Weg, den ich gegangen bin, war nicht immer richtig. Aber das war ich.«

Ansgar Brinkmann



»Ansgar war ein total begnadeter Fußballer mit hervorragender Technik. Er hatte unglaublich viele Tricks drauf und war neben dem Platz ein Typ, der immer zu einem Spaß bereit war und mit dem man viel lachen konnte. Deshalb ist der Spitzname ›weißer Brasilianer‹ absolut berechtigt. Er wurde schon lange vor mir so getauft. Mich nannte man erst nach dem WM-Endspiel 2002 gegen Brasilien so; alle sagten, ich wäre der Einzige auf dem Platz gewesen, der gespielt hätte wie ein Brasilianer. Ich habe aber gleich angemerkt, dass mein Kumpel Ansgar Brinkmann schon der ›weiße Brasilianer‹ ist. Wir hatten technisch ähnliche Voraussetzungen und ähnlich viele Sachen drauf, trotzdem möchte ich mich mit ihm gar nicht vergleichen. Mein Spitzname ist ›Schnix‹, Ansgar ist der ›weiße Brasilianer‹.

Bernd Schneider

Vorwort

von Reiner Calmund

Es war mein Geburtstag, der 23. November 2002. Der Spielplan sah vor, dass Bayer Leverkusen bei Arminia Bielefeld anzutreten hatte. Kein Wunschgegner, schon gar nicht im November, der in Ostwestfalen noch einen Tick grauer, trüber und nebliger ist als anderswo.

Wir schlugen uns mehr schlecht als recht, und die Partie endete 2:2. Ich ärgerte mich nur deshalb nicht, weil ich keine Zeit dazu hatte. Ich musste direkt nach Spielschluss nach Barcelona fliegen, um mit Trainer Klaus Toppmöller unseren nächsten Champions-League-Gegner, den FC Barcelona, zu beobachten. Von Bielefeld nach Barca, es konnte gar nicht schnell genug gehen. Doch auch bei diesem Klassiker – CF Barcelona gegen Real Madrid – am späten Abend nahm keiner Rücksicht auf meinen Geburtstag; es gab nur ein hart umkämpftes mageres 0:0.

Im Flieger nach Hause unterhielten wir uns dann noch einmal über die 90 Minuten auf der Alm. Und ich hatte die Zornesfalte auf der Stirn. Mich hatte der blonde Rechtsaußen der Arminia dermaßen aufgeregt, dass ich mich fast nicht mehr einkriegte. »Dem klebt der Ball wie Pattex am Fuß, der hält den Arsch raus, dreht drei Kringel und kann frei flanken. Oder er lässt sich fallen, der Fandel pfeift, und unsere Mickymäuse in der Abwehr gucken dumm aus der Wäsche – das geht gar nicht«, schimpfte ich. Und weiter: »Jedes Mal der gleiche Trick, der gleiche Hinfaller, die gefährlichen Flanken, und dann kommt der lange Reinhardt beim Freistoß von hinten angelaufen, und bei uns brennt’s lichterloh im Strafraum.« Vorwurfsvoll schaute ich Klaus Toppmöller an: »Da musst du den Jungs doch sagen, die sollen den Salontänzer mal richtig rasieren.«

Ansgar Brinkmann hatte mir den Geburtstag vermiest. Dabei kannte ich den Jungen persönlich überhaupt nicht. Was ich über ihn gehört hatte, charakterisierte ihn als lockeren, lustigen Vogel, als »Enfant terrible«, als einen Straßenfußballer, der unheimlich viel konnte, aber viel zu wenig aus seinen Fähigkeiten machte.

Unser Nationalspieler Bernd Schneider hatte schon vor der Partie vor Ansgar gewarnt: »Ein netter Kerl. Ein Top-Techniker, mit allen Wassern gewaschen und dreimal chemisch gereinigt.« Die beiden hatten gemeinsam für die Frankfurter Eintracht am rechten Flügel gespielt, sich dort ausgezeichnet verstanden – menschlich und fußballerisch.

Den Menschen Ansgar Brinkmann lernte ich erst viel später kennen. Die Umstände waren wenig schön, doch der Junge, der sich mir da präsentierte, war aufrichtig, geradeaus und sensibel. Ich kannte seine problematische Vergangenheit und war mir sicher, dass er mit den richtigen Beratern an seiner Seite das Zeug zum Nationalspieler gehabt hätte. Selbst Berti Vogts, immer streng und kritisch, war von Ansgars sportlichem Talent mehr als überzeugt. Heute kenne ich Ansgar als jungen Mann, der aus seinen Fehlern gelernt hat und trotzdem zu allem steht, was ihm in den 20 Profijahren passiert ist.

Der Fußball hat ihm viel gegeben, jetzt will er dem Fußball einiges zurückgeben und diesem Sport verbunden bleiben. »Fußball ist mein Leben, und in dem Bereich werde ich auch was machen«, sagte er mir voller Überzeugung nach dem Ende seiner aktiven Laufbahn. »Egal ob als Trainer, Scout oder Platzwart!« Die Trainer-A-Lizenz hat Ansgar bereits mit Bravour gemacht.

Ich wünsche ihm alles Gute auf seinem Weg und bin sicher, dass die Platzwarte durch ihn keine Konkurrenz bekommen werden.

Reiner Calmund

Überall. Zu jeder Zeit –
Wie alles begann

Der Bollerwagen, in dem ich sitze, ist Teil eines vom Kindergarten organisierten Umzuges. Eigentlich will ich dabei gar nicht mitmachen, lieber würde ich Fußball spielen. Nun verpasse ich das Training. In den Händen halte ich ein Schild: »Helmut, ich komme«, steht darauf. Gemeint ist der Bundestrainer Helmut Schön. Es ist der Sommer 1974, der Sommer der ersten Fußballweltmeisterschaft in Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt bin ich fünf Jahre alt. Ich wusste schon früh, was ich wollte.

Die Weltmeisterschaft wurde zu einem großen Event in unserem Wohnzimmer. Mal kamen Nachbarn und Freunde vorbei, die keinen eigenen Fernseher besaßen und sich an unserem Schwarz-Weiß-Gerät erfreuten, mal saß ich nur mit meinen Eltern und meinen sechs älteren Geschwistern vor der Glotze und verfolgte die Spiele. Das Wohnzimmer war jedenfalls ständig voll. Zu den Deutschlandspielen gab es immer das Gleiche zu essen. Wenn ich sah, dass Currywurst mit Pommes auf den Tisch kam, stieg meine Aufregung. Und umgekehrt, wenn ich wusste, es stand ein Spiel an, konnte ich mich schon auf das Essen freuen. Ich habe die WM, obwohl ich erst fünf Jahre alt war, extrem gut in Erinnerung. Weil sie über viele Wochen hinweg wie ein Fest gefeiert wurde. Und weil mein Vater ein Riesenfußballfan war, der jedes Tor so laut bejubelte, dass es die ganze Straße mitbekam.

Mein Vater interessierte sich aber auch für andere Sportarten, und seine Begeisterung hat er an mich weitergegeben. Neben der Fußball-WM gab es 1974 noch ein zweites Sportereignis, eines, das die Weltmeisterschaft, was die weltweite Aufmerksamkeit betraf, sogar noch überstrahlte: der »Rumble in the Jungle«. Muhammad Ali gegen George Foreman. Mein Vater redete tagelang von nichts anderem, und er versprach mir, dass er mich wecken würde. Dass er das auch tatsächlich tat, werde ich ihm nie vergessen. Wochenlang sprach ich mit meinen Freunden über diesen Kampf; ich war der Einzige, der ihn live gesehen hatte. Bis heute hält meine Faszination für Ali an. Ich schaue alle Filme über ihn, habe Bücher über ihn gelesen und seine Geschichte verfolgt. Der Mann ist atemberaubend. Ali ist auf diese Welt gekommen, und der liebe Gott hat gesagt: »Du musst boxen.« Der sollte nichts anderes machen. Alles entwickelt sich weiter, die Leute springen weiter und höher, laufen immer schneller. Aber wenn man sieht, wie Ali damals geboxt hat – das ist nicht steigerungsfähig. Da können alle heutigen Weltmeister einpacken. Passion, Mut, der schmale Grat zwischen Selbstvertrauen und Überheblichkeit – das hat mich damals an ihm fasziniert, und das fasziniert mich heute noch. Ali hat ständig Sprüche gekloppt, aber es steckte etwas dahinter, und ich halte ihn sogar für äußerst intelligent. Politisch war es keine einfache Zeit für einen schwarzen Amerikaner – und der Typ hat einfach seine Meinung kundgetan und sich allem widersetzt, was er nicht für richtig hielt. Ali war seiner Zeit voraus, ein Freigeist und eine einzigartige Persönlichkeit, mit der sich niemand vergleichen sollte. Er hat mir gezeigt, was der Sport aus einem Menschen machen kann, welchen Einfluss man haben kann, wie populär und erfolgreich man als Sportler werden kann.

Ich war ein eher zurückhaltendes, introvertiertes Kind. Nur wenn es um Sport ging, lief ich vorneweg. Allein schon, dass einen alle mögen und respektieren, dass man als Erster gewählt wird, nur weil man gut Fußball spielen kann – ist doch klar, dass einem das gefällt. Beim Fußball wusste ich schon früh: Da kann mir keiner was.

Diese beiden Fernsehevents 1974, die WM und den Boxkampf einige Monate später, feierten wir als Familie. Wir jubelten gemeinsam und sprachen mehr miteinander als sonst. Das habe ich sehr genossen, denn der Alltag sah anders aus.

Unser Haus war recht groß, ein Einfamilienhaus in einem ruhigen Wohngebiet in Bakum, einem Ort im Landkreis Vechta nahe Osnabrück. Ein eigenes Zimmer hatte ich als jüngster Sohn und Nachzügler trotzdem nicht. Ich schlief bei meinen Eltern, am Fußende ihres Bettes, bis ich elf Jahre alt war und zwei meiner Geschwister auszogen. In meiner Welt gab es nicht viel mehr als die Straßenzüge um unser Haus, den Fußballverein und den Bolzplatz. Andere Kinder fuhren in den Urlaub nach Italien und nach Spanien; ich durfte höchstens mal zur Kur nach Wangerooge. Und auch das nur, weil ich schweres Asthma hatte. Ich bekam nachts regelmäßig Hustenanfälle, die mehrere Stunden anhielten. Die Schwestern in dem Erholungsheim mussten mich dann betreuen, weil ich völlig erschöpft war.

Tagsüber, wenn ich Fußball spielte oder draußen rumlief, war mir nichts anzumerken. Aber sobald ich zur Ruhe kam, ging es los. Husten bis zur Atemnot. Das war brutal. Ich bekam Spray und Medikamente, die ich aber nicht immer einnahm. Als kleiner Junge machte ich mir keine Gedanken, ich glaubte auch nicht daran, dass mir die Medizin helfen würde. In der Schule war ich häufig total übermüdet, weil ich erst am frühen Morgen hatte einschlafen können. Ich schleppte das Asthma mit mir herum, bis ich erwachsen war. Es wurde mit der Zeit zwar schwächer, aber erst mit 18 hatte ich fast keine Probleme mehr – einer von vielen Kämpfen in meinem Leben, den ich schließlich gewann.

Mein Vater war Schuhverkäufer, zeitweise auch sehr erfolgreich. Er besaß zwar keinen eigenen Laden, aber er fuhr mit dem Auto durch die Gegend und verkaufte die Schuhe in verschiedenen Siedlungen und nahe gelegenen Orten. Meine Mutter war an erster Stelle Mutter und Hausfrau, später musste sie in der Schlachterei arbeiten, weil mein Vater nicht genug geklebt hatte. Wir hatten nicht viel Geld, aber wir waren auch nicht arm. Ich besaß Fahrräder, sogar eine Carrera-Bahn, und es kam immer genug Essen auf den Tisch. Aber am glücklichsten war ich, wenn ich draußen sein und Fußball spielen konnte, egal ob es regnete oder ob die Sonne schien.

Mein Tagesablauf sah fast immer gleich aus: Ich kam von der Schule nach Hause, Mittagessen, raus auf die Straße oder zum Training. Mit vier hatten mich meine Eltern im Verein angemeldet. In der E-Jugend des Schwarz-Weiß Bakum. Eigentlich war ich noch viel zu klein, aber eine F-Jugend gab es halt nicht. Nach uns trainierten immer die Älteren, D-Jugend, C-Jugend, dann die B-Jugend, bis abends die Herrenmannschaft kam. Ich verbrachte oft den ganzen Tag auf dem Sportplatz, schaute zu, schoss die Bälle zurück und hoffte ständig, dass ich mitspielen durfte. Selbst wenn die Mannschaft die verhassten Runden um den Platz drehte, lief ich mit. Immer vorneweg. Und wenn die Letzten vom Platz runtergingen und keine Sau mehr da war, spielte ich allein, bis das Flutlicht ausging, versuchte Ecken ins Tor zu drehen, hielt den Ball hoch und schoss aufs Tor.

Es gab Leute, die mich für äußerst sonderbar hielten, und manche habe ich sicher genervt mit meiner ewigen Fragerei, ob ich mitspielen dürfe. Aber für mich gab es kaum etwas anderes, ich wollte immer spielen. In der Schule, auf der Straße, auf dem Sportplatz oder am Garagentor mit meiner Schwester Ingrid, die es später auch in die Bundesliga geschafft hat und sogar Nationalspielerin geworden ist. Der Ball war eine Droge, und ich war süchtig. Ich fuhr mit meinen Freunden auch mal mit dem Fahrrad durch die Gegend oder spielte Räuber und Gendarm, aber wir hatten meistens einen Ball dabei. Das war damals einfach so. Ich spielte überall. Und zu jeder Zeit.

Heute treffen sich die Kinder ja kaum noch auf der Straße, weil es in jedem Haushalt drei Fernseher gibt und die Kids mit fünf schon ihren eigenen haben. Oder sie spielen den ganzen Tag mit Konsolen und surfen im Internet. Man kann den Kindern gar keinen Vorwurf machen. Aber wir hatten so etwas damals eben nicht. Genauso wenig wie Trikots von Spielern, die wir verehrten. Die gab es nicht, und darauf legten wir auch keinen Wert. Geputzte Schuhe und ein sauberes T-Shirt? Völlig egal. Ich war froh, wenn ich mal etwas von Adidas oder Puma besaß, aber ich hätte auch barfuß gespielt.

Zehn, fünfzehn Kinder kamen immer zusammen. Hans-Jürgen Luxoll war dabei, die Brüder Dieter und Siegfried Bense, der »Flitzer« Manfred Kalkhoff, Torsten Renze, Thomas Kemper und ein paar andere mehr. In den Ferien trafen wir uns oft schon um neun Uhr morgens auf dem Bolzplatz. Am Anfang standen da nur Holztore, dann irgendwann ein Gestänge und schließlich sogar ein richtiges Tor mit Netz, das wir selbst wieder zusammenknüpften, wenn es mal kaputt war. So ein Netz fanden wir natürlich geil, schon allein des Geräusches wegen, das es gab, wenn der Ball ins Tor zischte.

Wenn keiner da war, mit dem ich spielen konnte, kam ich manchmal auf abstruse Ideen. Ich erinnere mich noch, dass ich einmal neun Runden um die Siedlung gelaufen bin mit dem Ball am Fuß. Die Nachbarn machten sich schon Sorgen, dass ich irgendwann umkippe, weil es an dem Tag so heiß war. Das störte mich aber nicht, ich dribbelte immer wieder die gleiche Strecke, die gleichen Straßen, rauf und runter. Zwei Stunden lang, völlig ohne Sinn, wie ein Irrer. Und auf den 350 Metern zum Sportplatz versuchte ich immer den Ball hochzuhalten. Ich wollte es schaffen, dass er auf dem Weg von meiner Haustür bis zum Sportplatz nicht den Boden berührte. Irgendwann – ich habe das sicher einige Hundert Mal probiert – gelang es mir. Und dann wieder und wieder. Immer mit rechts, nie abwechselnd. Minutenlang.

Im Verein wurde schnell klar, dass ich besser war als andere in meinem Alter. Ich war nicht groß, aber kompakt und athletisch, und ich konnte viel geschickter mit dem Ball umgehen. Außerdem war ich sehr schnell. Deswegen habe ich eine Zeit lang auch recht erfolgreich Leichtathletik gemacht. Als ich neun oder zehn war, wurde ich sogar Niedersachsenmeister. Aber ich ging nicht gern zum Training. Mit fehlte der Ball. Irgendwann habe ich nur noch die Wettkämpfe bestritten. Ich saß im Startblock, der Schuss fiel, ich lief los, wurde Erster, und dann haute ich wieder ab. Ich kannte es nicht, Zweiter zu werden.

Beim Fußball war es ähnlich. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir von der E-Jugend bis zur C-Jugend jemals verloren haben. Ich spielte auf allen Positionen, meist vorn und meist da, wo ich spielen wollte. Mit allen Freiheiten, damals schon. Wenn ich den Ball bekam, wo auch immer ich gerade herumlief, dann war ich nicht mehr zu stoppen. Als Anfänger hätte ich zwar noch zum Torwart zurückspielen dürfen, aber ich kann mich nicht erinnern, dass ich das je gemacht hätte. Das war nicht meine Art. Wenn ich abspielte, war der Ball meist weg. Wir sind trotzdem immer Meister geworden, und ich habe oft in zwei Mannschaften mitgespielt, weil ich bei den Älteren ausgeholfen habe. In einem Jahr wurden wir D-Jugend-Meister und stiegen mit der C-Jugend in die höchste Klasse auf. Im nächsten hielten wir die Klasse locker, dann verließ ich den Verein, und die Mannschaft holte in der nächsten Spielzeit nur drei Punkte.

Meine Trainer hatten sicher ihren Spaß an mir, andererseits machte ich es ihnen auch nicht leicht. Ich hatte schon immer Probleme mit Autoritäten, war rebellisch von klein auf und machte mir selten Gedanken über Konsequenzen. Es mag daran gelegen haben, dass ich schlechte Vorbilder hatte.

Mein größtes Problem waren meine Brüder. Sie feierten ständig, tranken zu viel und randalierten. Martin, der Älteste, hat einiges auf dem Kerbholz. Er ist sogar in Supermärkte eingebrochen. Der Ruf meiner Brüder eilte mir voraus. Es wurde viel getuschelt im Dorf, bei den Nachbarn, auch im Verein, wo meine Brüder ebenfalls kickten. Es hieß immer: Ach, der Ansgar, der wird wie seine Brüder, der wird es zu nichts bringen, der hat auch keine Disziplin. Manchmal war es der ganz normale Neid, manchmal ging es über die Schmerzgrenze hinaus. Denn vor allem was den Fußball betrifft, war ich diszipliniert. Immerhin da. Das Gerede weckte zusätzlichen Ehrgeiz in mir. »Was willst du denn da?«, habe ich oft gehört, als ich später zu Bayer Uerdingen ging, um dort in der Jugend zu spielen. Abschätzig. Dieselben Leute grüßen mich heute und klopfen mir auf die Schulter. Das macht mich sauer, aber ich sage meistens nichts.

Die Vorbehalte und abfälligen Urteile, die meist nur hinter vorgehaltener Hand geäußert wurden, haben auch mit den vielen exzessiven Partys zu tun, die bei uns zu Hause gefeiert wurden. In der Provinz gab es damals überall Partybuden. Fast jeder Jugendliche hatte irgendeinen Raum oder Keller umgebaut. Theke rein, Musikanlage rein, ein paar Bänke oder Stühle dazu – Partybude fertig. Meistens war sie holzvertäfelt, und es hingen Poster an den Wänden. Unsere Partybude hatten wir in der Garage eingerichtet. Meine Eltern konnten sich gar nicht dagegen wehren, dass dort die Post abging, sie wollten das auch nicht unbedingt. »Lass die mal machen«, hieß es immer. Wir sollten unsere eigenen Erfahrungen sammeln.

Das nutzte jeder von uns auf seine eigene Weise aus. Wir wollen leben, wir wollen Spaß haben, das war das Motto meiner Brüder. Es war eine hemmungslose Zeit und ich – noch ein kleiner Junge – mittendrin. Ich konnte eh nicht schlafen. Selbst wenn ich um elf Uhr rausgeschickt wurde, ich bekam alles mit: die Trinkgelage und die Pöbeleien der Halbstarken. Ich sah die Polizei vor dem Haus und Geschirr durchs Wohnzimmer fliegen, schaute zu, wenn es Streit gab, wenn die Eltern versuchten, die Party zu beenden, und die Schreierei losging. Es war ein ständiger Kampf. Und es wurde nicht viel diskutiert. Da flogen schnell die Gläser, und es kam sogar zu körperlichen Konfrontationen, bei denen auch schon mal gewürgt und geschlagen wurde. Mutter gegen Vater, Schwester gegen Mutter, Bruder gegen Vater. Oft stand ich mit meinen beiden jüngsten Schwestern da und schaute verängstigt dabei zu, wie die Welt unterging. So richtig war mir noch nicht bewusst, welche Bedeutung das alles eigentlich hatte, und ich wusste auch meistens nicht, worum es ging. Allerdings merkte ich schnell, dass meine Brüder übertrieben, und es fiel mir schwer, all das Gesehene zu verarbeiten. Meine Eltern waren machtlos. Es war sowieso eine schwierige Zeit für Eltern in den rebellischen 1970er-Jahren. Aber ich war der Jüngste, ich musste vor niemandem Angst haben. Auf mich passten alle auf.

Obwohl ich oft dabei war, gefielen mir die Partys überhaupt nicht. Meistens stand ich in der Ecke und sah den anderen zu. Oder ich fuhr Mofa. Mein Bruder hatte mir das Fahren beigebracht, als ich gerade mal sechs Jahre alt war, und bei solchen Partys nutzte ich dann die Gelegenheit, mir eines der vielen Mofas zu leihen, die vor der Garage abgestellt waren. Alle wussten, dass ich mit den Dingern mal ein bisschen herumfahre, und es war ihnen egal. Für mich war es trotzdem ein Nervenkitzel. Ich saß unten auf dem Trittbrett, die Hände am Lenker und die Füße vorn auf den Muttern direkt am Rad. Gesehen habe ich eigentlich nichts, aber ich bin auch nur die Straße rauf und runter gefahren. Da konnte nichts passieren.

Ein paar Jahre später, ich war gerade zehn, entdeckte ich das Auto als mein Gefährt. Auch Auto fahren hat mir mein Bruder gezeigt, und später, als ich es einigermaßen konnte, habe ich mir einfach den Schlüssel genommen und bin los, wenn keiner da war. Mit dreizehn traute ich mich erstmals auf die Autobahn. Zum Glück ist nie etwas Schlimmes passiert. Nur einmal habe ich den Wagen meines Vaters mitsamt dem kompletten Schuhsortiment im Kofferraum gegen einen Baum gefahren. Ich war nicht schnell unterwegs gewesen, schließlich fuhr ich auch noch nicht richtig sicher und konnte kaum über das Lenkrad gucken, aber eine dicke Beule an der rechten Wagenseite war schon zu sehen.

Mein Kumpel Thomas Sieveke, der dabei war, bekam sofort Panik. Ich glaube mehr aus Angst vor meinem Vater als wegen des Schocks. Er versuchte sich mit Schokolade zu beruhigen und hielt mir mit zitternder Hand ein Raider vor die Nase. »Willst du auch?«, fragte er mit bebender Stimme. Er wollte schnellstmöglich nach Hause. Ich dagegen blieb ruhig, fuhr noch ein bisschen weiter und überlegte, wie ich aus diesem Schlamassel wieder herauskommen könnte. Schließlich stellte ich das Auto in unsere Einfahrt, legte den Schlüssel wieder dorthin zurück, wo er gelegen hatte, und ging ins Bett. Am nächsten Morgen stieg mein Vater in den Wagen, ohne die Beule zu bemerken, denn die war ja auf der Beifahrerseite. Erst nachmittags kam er wutentbrannt nach Hause und erzählte, dass ihm jemand ins Auto gefahren und dann einfach abgehauen sei. Ich sagte nichts. Das Problem schien sich von selbst gelöst zu haben.

Aber ich war so doof und fuhr wieder mit dem Auto los. Hätte ich das nicht getan, hätte er wahrscheinlich nie erfahren, dass die Beule auf mein Konto ging. Es war ein halbes Jahr vergangen, als ich mir nachts den Wagen schnappte. Mein Kumpel und ich hatten einen Plan ausgeheckt. Ich wusste, dass mein Vater eine Lieferung neuer Arbeitsschuhe bekommen hatte, richtig gute Boots. Wir fuhren zur nächsten Disko, stellten uns auf den Parkplatz nahe dem Eingang und verkauften die Dinger aus dem Kofferraum heraus. Zwanzig Mark das Stück. Ruckzuck hatten wir einen dicken Batzen Scheine und machten uns stolz auf den Heimweg. Die Kohle konnten wir an dem Abend gar nicht mehr ausgeben. Also fuhren wir nur tanken und dann nach Hause, wo wir uns ins Bett hauten. Aber so eine Aktion ist in einem Dorf wie Bakum nicht zu verheimlichen, da spricht sich alles sofort rum. Irgendjemand rief an, und dann gab es richtig Stress zu Hause. Mein Vater war vor allem sauer wegen der neuen Schuhe, die ich so billig verhökert hatte. Ich habe ganz selten mal eine Ohrfeige bekommen, aber an diesem Abend war es so weit. Es kam ja häufiger vor, dass ich mir Ärger einhandelte. Wenn ich Mist gebaut hatte, sah ich das auch meistens ein, aber grundlose Ohrfeigen gab es nie.

Als ich acht oder neun war, feierte mein Bruder wieder mal eine dieser großen Partys bei uns in der Garage. Es war schon spät, und die meisten Gäste waren bereits nach Hause gegangen, als plötzlich die Musik ausging. Ich war noch wach und sah ein paar Leute über die Terrasse springen. Da stimmte was nicht. Ich lief los, hinter meiner Mutter her, die auch irgendetwas mitbekommen hatte und Schlimmes zu befürchten schien. Innerhalb von wenigen Minuten war die Einfahrt leer. Meine Mutter stieß die Tür auf, und da hing er. Unter der Decke. Ich erstarrte. Meine Mutter schrie und wurde hysterisch, während meine Schwester loslief und ein Messer holte.

Mein Bruder lebte noch, aber es ging ihm augenscheinlich nicht gut. Wären wir zwei Minuten später gekommen, wäre er wohl tot gewesen. Ich weiß bis heute nicht, warum er das gemacht hat und wieso ihn keiner seiner Freunde daran hinderte. Er war sicherlich ziemlich betrunken, vielleicht hatte er auch eine schlechte Stimmung, aber grundsätzlich war er kein depressiver Mensch. Im Gegenteil: Er liebte sein Leben. Vielleicht lag es einfach am Alkohol. Er konnte in dem Alter nicht damit umgehen.

Der Alkohol hat vieles schlimmer gemacht, was nicht so schlimm hätte sein müssen. Martin trug jedenfalls keine bleibenden Schäden davon – und der Tag wurde insgeheim aus dem Familientagebuch gelöscht. Für mich ist er aber ein Grund dafür, dass ich bis heute vorsichtig mit Alkohol umgehe und nur selten trinke. Wenn ich früher mal trank, dann meist zu viel, und ich bekam die Wirkung oft mit allen Konsequenzen zu spüren. Ähnlich wie mein Bruder. Nur dass er sich in sich zurückzog, während ich alle Hemmungen ablegte.

Schließlich sind meine Brüder auch erwachsen geworden und haben etwas aus ihrem Leben gemacht. Es waren halt die 1970er-Jahre, da rebellierten alle Jugendlichen gegen ihre Eltern.

Damals ging die Abneigung im Dorf gegen meine Familie, insbesondere gegen meine Brüder, aber so weit, dass Eltern ihren Kindern verboten, mit mir zu spielen. Zu Geburtstagen wurden alle eingeladen, nur ich nicht. Meine Brüder bauten Mist, und ich war derjenige, der darunter zu leiden hatte. Das war das Härteste für mich. Denn ich war eigentlich ganz anders als meine Brüder. Irgendwie konnte ich das allerdings auch verstehen. Die Polizei erschien bei uns zu Hause schließlich häufiger als der Postbote.

Ich habe auch Mist gebaut, aber das blieb alles im Rahmen. Ich hatte meine Freiheiten und wusste sie zu nutzen. Ich musste mich zum Beispiel nie zu Hause abmelden, und ich hätte auch um drei Uhr nachts heimkommen können, ohne dass es jemanden gestört hätte. Meine Eltern waren viel mit sich selbst beschäftigt, wollten aber auch mir früh die Chance geben, mich so zu entwickeln, wie ich es für richtig hielt.

Die Schule hielt ich nicht für besonders entwicklungsfördernd. Aber ich ging gern hin, habe nur sehr selten geschwänzt, weil ich dort die anderen Kinder traf. Hausaufgaben machte ich fast nie. Das kontrollierte zu Hause auch niemand. Als ich schon ein bisschen älter und auf der Hauptschule war, habe ich immer meinen Tischnachbarn Walter Heckmann beauftragt, meine Hausaufgaben mitzumachen oder mich wenigstens abschreiben zu lassen. Hin und wieder gab ich ihm zwei Mark dafür. Das fiel natürlich irgendwann auf, aber ich hatte am Ende des Jahres einen besseren Notenschnitt als er. Ich war eigentlich total unterfordert auf der Hauptschule, aber ich hatte einfach keinen Kopf dafür. Schule war mir egal. Mein Zeugnis bestand aus Zweiern und Dreiern – ohne dass ich irgendetwas dafür getan hätte – und einer Eins in Sport. Nur ein einziges Mal bekam ich in dem Fach eine Zwei. Aus disziplinarischen Gründen. Weil ich an einem heißen Tag, es waren sicher um die 35 Grad, in einem kleinen Teich an der Turnhalle schwimmen gegangen war. Das war strengstens verboten, und der idiotische Lehrer nahm es mir so krumm, dass er mir eine schlechtere Note gab.

Das ärgerte mich fast genauso wie die verletzenden Sprüche über meine Geschwister. Denn der Sport war schon früh wichtig für mein Selbstverständnis. Ich definierte mich über den Sport, über den Fußball. Ich merkte: Beim Fußball zählst du was. Das hat sich bis heute nicht geändert. Das Fußballspielen ausgenommen, hatte ich nie einen durchdachten Plan, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Aber den einen Plan habe ich umgesetzt. Dafür habe ich gekämpft und bin mit einer zwanzig Jahre dauernden Karriere belohnt worden.

Die Ehrfurcht vor den Helden meiner Kindheit habe ich trotzdem nie verloren. Denn sie waren es, die mir eine Vorstellung davon gegeben haben, wie mein Leben aussehen sollte. Die Weltmeister von 1974 könnte ich immer noch im Schlaf aufsagen. Selbst die Finalelf der Holländer würde ich wahrscheinlich zusammenbekommen.

Wenn ich heute darüber nachdenke, dass ich als kleiner Junge vor dem Fernseher saß und die Spieler bewundert habe, und heute grüßen sie mich, wissen, wer ich bin, und klopfen mir auf die Schulter, das ist schon unglaublich. Und hätte mir einer erzählt, dass Paul Breitner, der 1974 im Fernseher Weltmeister geworden ist, irgendwann mal über mich, den kleinen Jungen aus Bakum, sagt, »für Ansgar Brinkmann würde ich mir nachts den Wecker stellen«, da wäre ich doch umgekippt.

Genauso ist es bei den Weltmeistern von 1990. Wenn ich die heute treffe, Pierre Littbarski, Rudi Völler, Thomas Berthold, dann sage ich ihnen, dass sie früher meine Helden waren. Ich stand doch auch mit 20 Jahren noch da und habe deren Namen gerufen. Litti habe ich mal erzählt, dass ich immer Littbarski gespielt habe, wenn wir uns beim Kicken Spieler ausgesucht haben. Oder Rudi Völler. Von dem habe ich mir mein erstes Autogramm geholt. Heute habe ich einen guten Draht zu ihm. Beim Abschiedsspiel von Bernd Schneider kam er durch die Kabine auf mich zu, gab mir die Hand und hat mich umarmt. Mein Fußballgott Rudi Völler. Der Fußball hat mir einige Träume erfüllt. Nicht nur auf dem Platz, sondern auch daneben.

Thunfisch aus der Dose

Bayer 04 Uerdingen, A-Jugend (1985–1987) –
VfL Osnabrück (1987–Dezember 1990)

Den Kontakt zu Bayer Uerdingen stellte meine Schwester Annegret her. Sie arbeitete in einem Restaurant in der Nähe von Uerdingen, und als sie einmal Vereinsverantwortliche bewirtete, erzählte sie von mir. Einfach so. Sie solle mich doch mal herschicken, bekam sie zu hören und war verwundert, wie einfach das ging.

Später erfuhr ich, dass die Scouts von Bayer schon von mir gehört hatten, da ich auf Auswahllehrgängen unterwegs gewesen war. »Komm doch mal bei uns vorbei«, forderten sie mich am Telefon auf, als gehe es um eine Einladung zum Kaffeetrinken in der Nachbarschaft. »Mach ich«, erwiderte ich so trocken wie möglich und versuchte meine Freude zu unterdrücken, obwohl mir natürlich sofort klar war, dass ich hinfahren würde.

Für mich war die Entscheidung leicht, nur meine Eltern waren zunächst skeptisch und besorgt, schließlich war ich gerade 16 Jahre alt geworden. Aber sie sahen, dass ich den Schritt in Richtung Profifußball unbedingt gehen wollte. Und sie wussten, dass ich eine Chance bekommen hatte, meinen Traum zu verwirklichen.

Meine Eltern haben immer am Platz gestanden, wenn ich spielte. Meine Mutter fuhr mich jahrelang zu jedem Training, als ich nach der C-Jugend zu Blau-Weiß Lohne wechselte. Und mein Vater stand mit Rat und Tat zur Verfügung und versuchte mich zu fördern, wo er nur konnte. Er hat viel mehr Zeit für mich gehabt als für meine älteren Geschwister, denn er war schon in Rente gegangen, als ich noch klein war. Er erklärte mir immer wieder, wie wichtig es sei, diszipliniert zu sein, wenn man seinen Traum verwirklichen wolle. Irgendwie sahen meine Eltern die Einladung von Bayer auch als eine Belohnung für sich selbst an, glaube ich.

Ich fuhr also im Sommer 1985 mit meiner Mutter in unserem alten Skoda nach Uerdingen, trainierte drei-, viermal mit, und dann sagte mir Bernhard Steffen, der damals Jugendleiter war, dass sie mich gern behalten würden. Bayer holte damals auch Marcel Witeczek und Oliver Bierhoff, die hatten richtig was vor. Der Unterschied zwischen denen und mir war: Sie wurden bezahlt, ich nicht. Oder besser gesagt: Deren Eltern bekamen Geld. Oder einen Job bei Bayer.

Der Vater von Bierhoff war allerdings schon im Vorstand von RWE. Ich glaube nicht, dass Olli sich Gedanken darüber machen musste, wie er zum Training kommen sollte. Er trug eine Jacke, die teurer war als mein ganzer Kleiderschrank. Ich bekam lediglich ein Paar Schuhe von Adidas. Meine Wohnung musste ich selbst zahlen, das Essen, Kino, alles.

Es hat in den zwei Jahren, die ich in Uerdingen war, niemand gefragt, wo ich wohne, wie ich wohne, was ich mache, wenn ich nicht auf dem Trainingsplatz stehe, oder ob ich irgendetwas bräuchte. Das hat mich wütend gemacht, gerade weil ich wusste, dass die anderen versorgt waren. Da sind des Öfteren Tränen geflossen. Es ging gar nicht darum, dass ich neidisch war, aber ich fühlte mich ungerecht behandelt. Und auf einmal wieder ganz weit weg von meinem Traum, Profifußballer zu sein und davon leben zu können.

Nach dem Probetraining ging alles sehr schnell. Wir mussten eine Wohnung finden und mich in der Schule anmelden. Am Abend drückte meine Mutter mir den Wohnungsschlüssel in die Hand, wir hatten noch eine Matratze und eine Bettdecke besorgt, sonst gab es nicht viel. Zwei Zimmer, eins mit einer kleinen Küche, in der Herd und Kühlschrank standen, und ein ganz kleines Bad, sonst nichts. Kein Regal, kein Schrank, kein Bild. Es war noch nicht so lange her, dass ich endlich mein eigenes Zimmer in unserem Haus bekommen hatte, und nun sehnte ich mich wieder nach dem Platz am Fußende im Bett meiner Eltern zurück. Acht Monate hat es gedauert, bis ich mir einen Fernseher kaufen konnte. Unfassbar im Vergleich zur heutigen Zeit.

Die Leistungszentren, die Internate, die Betreuung der Spieler – das ist alles traumhaft. Obwohl ich denke, dass oft zu viel Aufwand betrieben wird. Die jungen Spieler werden ja geradezu zur Unselbstständigkeit erzogen. Aber letztlich ist das alles immer noch besser als die Zustände damals, als ich anfing. Die waren fast schon gefährlich. Ich kam aus einem kleinen Ort, war völlig überfordert mit dem Leben in der Stadt, meine Familie war weit weg, und niemand scherte sich darum. Ich wollte aber auch nicht im Verein um irgendetwas betteln, dazu war ich viel zu stolz.

Als meine Mutter am gleichen Abend wieder zurückfuhr, machte ich gute Miene zum bösen Spiel. Ich versuchte ihr zu vermitteln, dass alles genauso war, wie ich wollte, und dass ich es schon schaffen würde. Man kann aber auch nicht behaupten, dass meine Mutter Rotz und Wasser geheult hätte. So war sie nicht, sie war eher pragmatisch und dachte, es wird schon klappen. Sie hat mir vertraut, weil sie merkte, dass ich mich eben nicht wie meine Brüder zu Partys und Alkohol verleiten lasse, sondern auf Fußball setze. Sie hat an mich geglaubt.

Trotzdem kam sie mich jedes zweite Wochenende zu den Heimspielen besuchen, selbst im ersten Jahr, als ich kaum spielte. Sie brachte immer etwas mit. Essen, Schuhe, Klamotten. Was halt so ging, viel war es nicht. Mein Vater kam auch öfter mit, aber er war zu der Zeit schon Mitte siebzig und nicht mehr besonders fit. Ich glaube, auch er war sicher, dass es mir gut ging. Er hat selbst viel durchgemacht in seinem Leben.

Drei Jahre später ist er verstorben. Zumindest hat er noch miterlebt, wie ich Profi wurde. Ich bin mir sicher, dass er mir von oben herab zugeschaut hat und stolz auf mich war, als ich später in der Bundesliga spielen durfte.

Hätte ich nicht Fußball spielen dürfen, ich wäre in dieser Zeit kaputt gegangen. Ich führte eine Art Doppelleben. Im Verein, wo ich schnell akzeptiert war, wo ich gut mit meinen Mitspielern auskam und Freunde gewann, und zu Hause, wo ich stumm an die Decke starrte. Das war sehr frustrierend. Nicht mal ein Telefon besaß ich, mit dem ich zu Hause hätte anrufen können. Das Einzige, was ich von dort bekam, waren Einmachgläser, die meine Mutter für mich mitbrachte. Gefüllt mit selbst gemachtem Kohlgemüse, mit Kartoffeln, Soßen oder Marmelade. Es waren immer fünfzehn bis zwanzig Gläser da, die ich in der Küche aufreihte und deren Inhalt ich mir bei Bedarf warm machen konnte.

Weil ich es nie lange in der Wohnung aushielt, ging ich zusätzlich zum Vereinstraining fast jeden Tag im Park zwischen den Häusersiedlungen kicken und lernte schnell ein paar gute Jungs aus der Umgebung kennen. Italiener, Türken, alle schwer in Ordnung. Es gab auch manchmal Stress, aber der blieb im Rahmen. Die Jungs wussten, dass ich bei Bayer spielte, weil sie selbst immer ins Stadion gingen und mich dort manchmal im Trainingsanzug rumlaufen sahen. Sie fragten mich aus, wie es denn so sei als Jugendspieler bei Bayer, und ich erzählte ihnen nur die tollsten Geschichten. Dass ich nicht einmal einen Fernseher besaß und kaum genug Geld zum Essen hatte, wenn ich mal mit ihnen ins Kino gegangen war, erzählte ich nicht.