Seit Einstein wissen wir, dass es in der physikalischen Welt einen engen Zusammenhang zwischen Raum und Zeit gibt. Aber auch in der sozialen Welt, so die These von Gunter Weidenhaus, sind Raum und Zeit auf eine Weise verbunden, die für unsere Weltbezüge fundamental ist. Mit Soziale Raumzeit legt er die erste systematische Studie zu diesem Thema vor und zeigt, wie soziale Räume, zum Beispiel Heimaten oder Nationalstaaten, mit ganz bestimmten Zeitauffassungen einhergehen und vor dem Hintergrund beschleunigten sozialen Wandels die Zeit episodisch und fragmentiert erscheint, während sich der Raum von territorialen Großeinheiten in Netzwerke verwandelt. Erstmals wird hier der Zusammenhang von Raum und Zeit aus sozialwissenschaftlicher Perspektive systematisch erforscht und belegt.

Gunter Weidenhaus ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der TU Berlin.

Gunter Weidenhaus

Soziale Raumzeit

Suhrkamp

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-74137-5

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Inhalt

1. Einleitung

2. Der theoretische Ort einer sozialen Raumzeit

2.1. Wissenschaftstheoretisches Selbstverständnis

2.2. Die Zeit

2.2.1. Geschichtlichkeit und Chronologie

2.2.2. Geschichtlichkeit und Chronologie in der Soziologie

2.2.3. Die Relevanz von Geschichtlichkeit und Chronologie

2.2.4. Schlussfolgerungen

2.3. Der Raum

2.3.1. Physischer und sozialer Raum

2.3.2. Physischer und sozialer Raum in den Sozialwissenschaften

2.3.3. Die Relevanz der beiden Raumkonzepte

2.3.4. Schlussfolgerungen

2.4. Die Raumzeit

2.4.1. Welche Konzepte von Raum und Zeit werden genutzt?

2.4.2. Das Problem des Gegenstandsbereichs

2.5. Fazit

3. Design der Untersuchung

3.1. Hermeneutische Wissenssoziologie

3.2. Biographieforschung und narrativ-biographisches Interview

3.3. Die Auswahl der Fälle (Theoretical Sampling)

3.4. Vom Einzelfall zum Typus

4. Empirische Zeit

4.1. Kategorien zur Erfassung von Lebensgeschichtlichkeit

4.2. Drei Typen von Lebensgeschichtlichkeit

4.2.1. Der lineare Typ

4.2.2. Der zyklische Typ

4.2.3. Der episodische Typ

4.3. Biographie und Lebensgeschichtlichkeit

4.3.1. Geschichtlichkeitskonstitution in Biographien

4.3.2. Die Typen von Lebensgeschichtlichkeit im Vergleich

4.4. Exkurs: Historische Wandlungen gesellschaftlich relevanter Formen von Lebensgeschichtlichkeit

4.5. Fazit

5. Empirischer Raum

5.1. Kategorien zur Erfassung von Lebensräumen

5.2. Drei Typen von Lebensräumen

5.2.1. Der Netzwerk-Typ

5.2.2. Der konzentrische Typ

5.2.3. Der Insel-Typ

5.2.4. Weitere Fälle und ihre Implikationen für die Typologie

5.3. Biographie und Raum

5.3.1. Lebensraumkonstitution in Biographien

5.3.2. Die Lebensraumtypen im Vergleich

5.4. Fazit

6. Die soziale Raumzeit in Biographien

6.1. Der empirische Zusammenhang von Lebensgeschichtlichkeit und Lebensraumkonstitutionen – drei biographische Raumzeittypen

6.1.1. Der konzentrisch-lineare Typ

6.1.2. Der netzwerkartig-episodische Typ

6.1.3. Der inselhaft-zyklische Typ

6.2. Erste empirisch induzierte Hypothesen zu weiteren Charakteristika der Typen

6.3. Schlussfolgerungen

7. Die Entstehung der Raumzeit

7.1. Anthropologische Überlegungen zur Notwendigkeit der gemeinsamen kulturellen Produktion von Raum und Zeit

7.2. Zur Differenzierung der Raumzeittypen in der Gegenwartsgesellschaft

7.2.1. Biographische Raumzeit als Teil der Identität

7.2.2. Der Anbruch der Moderne und die konzentrisch-lineare Raumzeit

7.2.3. Die flexible Akkumulation und die netzwerkartig-episodische Raumzeit

7.2.4. Exklusion und die inselhaft-zyklische Raumzeit

7.2.5. Kulturelle Hintergründe für die Entstehung der Raumzeittypen

7.2.6. Zwischenfazit

7.3. Typische Problemlagen und Potenziale der Raumzeittypen in der postfordistischen Arbeitsgesellschaft

7.4. Zusammenfassung der Untersuchung

7.5. Ausblick: Ein allgemeines Konzept sozialer Raumzeit?

Danksagung

Literatur

1. Einleitung

Cornelius hat kein Zuhause – aber obdachlos ist er nicht. Mein Interviewpartner hat zwar eine Wohnung und hat schon in vielen Städten Deutschlands in Wohngemeinschaften gelebt, was ihn aber interessiert, sind die Atmosphären der Städte, ihre Subkulturen und deren ›Locations‹. Die Menschen ›auf der Straße‹ sind für ihn wichtig. Wo sein Bett steht, ist zweitrangig. Die Idee eines Zuhauses oder auch einer Heimat im traditionellen Sinne ist ihm eher ein Gräuel, denn »was anderes kannste machen, wenn du Familie und Kinder hast und dann sowieso vom Job nicht mehr nach Hause willst, weil dann der Heimatstress kommt«. Cornelius plant nicht in die Zukunft. Seine befristete Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter verspricht zunächst einmal nur eines: Ein Jahr Anspruch auf Arbeitslosengeld. Spontan bei sich bietender Gelegenheit umsteuern, sich immer wieder neue Projekte suchen, nicht wissen, was morgen kommt, und auch nicht so tun als ob, das ist kein Problem für ihn. Als eine seiner Stellen mal wieder ausgelaufen war, reagierte er gelassen: »Jetzt bin ich arbeitslos – jetzt geh’ ich nach Berlin.«

Offensichtlich lassen sich die relevanten Lebensräume[1] meines Interviewpartners mit herkömmlichen Begriffen schlecht erfassen. »Trautes Heim – Glück allein« geht meilenweit an seinen Vorstellungen gelingenden Lebens und an seiner Realität vorbei. Die Struktur von Cornelius’ biographisch wichtigen Räumen lässt sich viel eher als Netzwerk aus bestimmten Städten und Stadtvierteln beschreiben. Auch die Zeit seines Lebens folgt keinem herkömmlichen, linearen Modell, in dem die Gegenwart aus der Vergangenheit hervorgegangen ist und nun eine folgerichtige Zukunft geplant wird. Seine Geschichte klingt eher wie eine Reihe lose verbundener Gegenwarten, die sich zufällig aneinanderreihen.

Die Zeitstruktur seiner Lebensgeschichte scheint ebenso ungewöhnlich wie die Struktur seines Lebensraums. Es stellt sich die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen der Zeit und dem Raum in Cornelius Leben gibt. Vielleicht sind sogar ganz allgemein die Strukturen der Räume und Zeiten unseres Lebens miteinander verbunden? Mit anderen Worten: Könnte es nicht sein, dass sinnvoll von einer sozialen Raumzeit gesprochen werden kann?

Auch im Rahmen der wissenschaftlichen Diskussion sind Zeit und Raum in Bewegung geraten. Die gegenwärtigen zeitdiagnostischen Makroanalysen im Bereich der Sozialwissenschaften konstatieren unisono eine Veränderung der dominanten räumlichen und zeitlichen Konstruktionslogiken. Prominente Beispiele sind die an der Schwelle zur Post-, Nach- oder zweiten Moderne auf die 1980er Jahre datierten Übergänge vom ›Space of Places‹ zum ›Space of Flows‹ (Castells 2001, orig. 1996) oder von der linearen ›Clocktime‹ zur ›instantaneous Time‹ (von der Uhrenzeit zur unmittelbaren Zeit), in der erlebte Zeitabschnitte unabhängig voneinander und fragmentiert erscheinen (vgl. Urry 2000).

Was mit einer Veränderung der Zeit gemeint ist, soll hier zunächst nur mit wenigen Worten skizziert werden: Während sich einerseits die Rhythmen der Produktion und Konsumption immer weiter beschleunigen, scheint andererseits der Gesellschaft und den Subjekten die Zukunft abhandenzukommen. Die großen Metaerzählungen und Utopien der Moderne wie die Verwirklichung des Kommunismus oder ein durch Fortschritt zu realisierender »Wohlstand für alle« (Erhardt 1957) sind verstummt und die Diskussionen um eine einheitliche Richtung gesamtgesellschaftlicher Entwicklung erlahmt (vgl. zum Beispiel Schilcher/Weidenhaus 2010). Die schnellen gesellschaftlichen Veränderungen einerseits und das Fehlen einer Richtung dieser Entwicklungen andererseits kulminieren in der Metapher des »rasenden Stillstands« (Virilio 1998), in dem die Zeitstrukturen zu kollabieren drohen. Auch den Subjekten scheint es immer schwerer zu fallen, ihren Lebensweg oder beruflichen Werdegang vorherzusagen. Entsprechend schreibt Zygmunt Bauman: »Die Zeit entspricht nicht mehr einem Fluss, sondern einer Ansammlung von Teichen und Tümpeln.« (1997: 148)

Ähnlich dramatisch lesen sich die Metaphern, mit denen versucht wird, die Veränderungen des Raums auf den Begriff zu bringen: Der Raum lässt sich weder theoretisch noch empirisch als der stabile (nationalstaatliche) Container konzeptualisieren (vgl. Beck 2008 und Löw 2001), der einst als unhinterfragte Kulisse der Forschung fungierte. Soziale Prozesse können nicht mehr nur im Raum untersucht werden, ohne dass der Raum selbst thematisiert wird, denn globale Ströme von Waren, Dienstleistungen, Bildern und Menschen lassen ununterbrochen neue räumliche Bezüge entstehen. Die Beschreibung dieser Ströme im Rahmen eines rein territorialen Konzeptes von Raum fällt schwer. Permanent werden Grenzen im Zusammenhang mit der Nutzung neuer Technologien wie dem Internet verschoben oder im Rahmen mancher Handlungslogiken, wie der des internationalen Finanzkapitalismus, gänzlich aufgelöst. Soziale Prozesse scheinen sich nicht einfach im Raum abzuspielen, sondern den Raum selbst strukturell zu verändern. Auch diese Veränderungsprozesse scheinen vor der Strukturierung des Lebensraums von Subjekten nicht haltzumachen. Ansprüche an (räumliche) Flexibilität können beispielsweise den Wunsch nach der Konstruktion eines stabilen Lebensmittelpunktes, der die Bezeichnung ›Zuhause‹ verdient, untergraben.

Die Diagnose dieser Verschiebungen lässt die sozialen Konstitutionsprozesse von Raum und Zeit deutlich ins Relief treten. Während sich beim Thema Zeit an eine lange philosophische Tradition anschließen lässt, die zeitliche Bestimmungen im Grunde als soziale Konstitutionen ausweist (zum Beispiel Bergson 1989 [1889]), ist die These der sozialen Konstitution des Raums jüngeren Datums (vgl. Lefebvre 1991 [1964] und Löw 2001) und mündet in eine als ›Spatial Turn‹ bezeichnete Perspektivumstellung.

Die gleichzeitigen Veränderungen von räumlichen und zeitlichen Strukturen legt die Vermutung nahe, dass diese Wandlungen miteinander im Zusammenhang stehen. Ein Gedanke, der viele sozialwissenschaftliche Autor_innen, häufig inspiriert von einem Seitenblick auf die Einstein’sche Relativitätstheorie, die in der Physik eine unmittelbare Abhängigkeit räumlicher von zeitlichen Bestimmungen postuliert, zu faszinieren scheint (vgl. zum Beispiel Adam 2004). Gerade in der angelsächsischen Forschungslandschaft finden sich neben den Behauptungen, dass eine Trennung von räumlicher und zeitlicher Analyse höchstens noch um der Darstellung willen zulässig sei (vgl. Castells 2001 [1996] und Adam 2004), auch erste theoretische Überlegungen dazu, wie denn dieser Zusammenhang zu denken sei (vgl. zum Beispiel Massey 2005 oder Crang 2005). Ich werde zu zeigen versuchen, dass diese bisherigen Überlegungen aufgrund begrifflicher Ungenauigkeiten nicht von einem Zusammenhang von Raum und Zeit überzeugen können, und argumentieren, dass empirische Evidenzen für einen Zusammenhang von Raum und Zeit aufgezeigt werden müssen, damit sinnvoll von sozialer Raumzeit gesprochen werden kann.

Macht man die Frage nach der sozialen Raumzeit zu seinem Forschungsgegenstand, ist die Festlegung eines begrifflichen Rahmens für diesen Gegenstand unvermeidlich. An dieser Stelle sei nur eine erste notwendige Bedingung genannt, die das Sprechen von einer sozialen Raumzeit aus meiner Sicht rechtfertigt. Ich möchte nur dann die ›Raumzeit‹ als analytisch gewinnbringendes Konzept für den sozialwissenschaftlichen Diskurs vorschlagen, wenn die Konstitution des Raums mit der Konstitution der Zeit logisch zusammenhängt. Es reicht nicht aus, darauf zu verweisen, dass ein soziales Phänomen irgendwo und irgendwann stattfindet, um die Existenz einer sozialen Raumzeit zu postulieren. Ebenso wenig halte ich den Verweis darauf, dass die Konstitution von Räumen irgendwann vorgenommen wird oder dass die Konstitution der Zeit irgendwo vor sich geht, für ausreichend, um einen Begriff sozialer Raumzeit zu rechtfertigen. Nur wenn das, was mit Zeit in einem bestimmten sozialen Kontext gemeint ist, damit zusammenhängt, was mit Raum in demselben Kontext gemeint ist, dann ist das Sprechen von sozialer Raumzeit gerechtfertigt. Was an dieser Stelle noch sehr abstrakt klingt, gilt es im folgenden Kapitel dieses Buches Schritt für Schritt zu entwickeln. Der Gedanke muss jedoch hier bereits erwähnt werden, um die folgende These zu plausibilisieren: Ob die Konstitutionen von Raum und Zeit zusammenhängen, lässt sich nicht ausschließlich theoretisch klären, sondern muss zunächst empirisch gezeigt werden.

Diese Überlegungen verstehen sich daher als Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung und damit als exploratives empirisches Projekt, das einem Zusammenhang räumlicher und zeitlicher Bestimmungen nachforscht, gegebenenfalls diesen Zusammenhang zu verstehen sucht und eine Erklärung anbieten möchte.

Das empirische Vorgehen erfordert die Wahl eines Gegenstandsbereichs, in dem mit jeweils unterschiedlichen Raum- und Zeitkonstitutionen zu rechnen ist und der einen angemessenen Datenzugang gewährleistet. Die Erforschung von Biographien lässt sowohl die Variabilität als auch den Zugang zu den Daten in ausreichendem Maße erwarten. Die zentrale Fragestellung lässt sich also ausformulieren als die Suche nach einem Zusammenhang zeitlicher und räumlicher Konstitutionen im Rahmen von Biographien. Noch ein drittes pragmatisches Moment spricht für die Auswahl von Biographien als Gegenstandsbereich im Sinne des hier intendierten Forschungsinteresses: Selbst wenn sich kein Zusammenhang zwischen Raum und Zeit im Rahmen der Biographie aufzeigen lässt, verspricht allein die Analyse biographischer Zeit- und Raumkonstitutionen Ergebnisse von einigem Erkenntniswert. Wie das Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des eigenen Lebens gesehen wird und welche Einflussfaktoren sich dafür benennen lassen, dürfte ebenso interessant sein wie die Frage, nach welchen Mustern relevante Lebensräume gebildet werden, zumal sowohl die Konstitutionen von Lebensgeschichtlichkeit wie die von Lebensräumen handlungsrelevante Wirkungen erwarten lassen.

Die Untersuchung ist wie folgt aufgebaut: Das zweite Kapitel präsentiert die theoretischen Vorüberlegungen des Forschungsvorhabens. Thematisiert werden an dieser Stelle die variierenden Verwendungen der Begriffe Zeit und Raum in den Sozialwissenschaften. Daher muss in einem ersten Schritt deutlich gemacht werden, wie die Begriffe im Rahmen dieser Arbeit benutzt werden. Dabei gilt es vorrangig, das Problem zu lösen, dass die Sozialwissenschaften sowohl einen an der Physik orientierten Zeit- und Raumbegriff verwenden als auch einen, der jeweils deutlich stärker an der Alltagswirklichkeit orientiert ist und die soziale Konstitution von Raum und Zeit betont. Ich möchte argumentieren, dass beide Begriffsverwendungen im Rahmen der Sozialwissenschaften hilfreich sind, dass sich aber die Zeit- und Raumbestimmungen, die auf den unterschiedlichen Begriffen basieren, nicht ineinander übersetzen lassen. Selbst aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive, die auch naturwissenschaftliche Darstellungen als sozial konstituiert ansieht, bleiben diese Differenzen auf begrifflicher Ebene bestehen. Im Unterschied zu Atomen oder Lichtstrahlen verhalten sich Menschen auf Basis ihrer Sinnzuschreibungen, ihrer Interpretationen der Wirklichkeit. Die Datengewinnung im Falle der an der Alltagswirklichkeit orientierten Begriffe setzt also bereits einen Interpretationsprozess voraus, während im Feld der naturwissenschaftlichen Betrachtungen eine einfache Hermeneutik zum Verständnis der Konzepte ausreicht. Anthony Giddens bezeichnet die Basis des sozialwissenschaftlichen Weltzugangs daher als »doppelte Hermeneutik« (1988 [1984]: 338), und Jürgen Habermas plädiert aus ähnlichen Gründen für einen methodischen Dualismus (vgl. 1983: 51), der für die konzeptionelle Verortung einer sozialen Raumzeit unabdingbar ist, schon allein um sie von einer physikalischen Raumzeit unterscheiden zu können. Es wird sich zeigen, dass einzig die an der Alltagswirklichkeit orientierten Begriffe von Raum und Zeit hinreichend sozial variabel sind, um einer möglichen gegenseitigen Abhängigkeit räumlicher und zeitlicher Bestimmungen in der sozialen Welt nachgehen zu können. Diese Konzepte von Raum und Zeit werden ausführlich expliziert, da sie den heuristischen Rahmen der empirischen Analyse abgeben. Am Ende des zweiten Kapitels wird also der theoretische Ort beschrieben sein, an dem es die soziale Raumzeit zu suchen gilt.

Im dritten Kapitel wird die Methodik entwickelt, mit der empirische Zusammenhänge von Raum- und Zeitkonstitutionen in Biographien ermittelt werden sollen. Hier gilt es, deutlich zu machen, warum individuelle Biographien trotz ihrer Subjektgebundenheit einen geeigneten Gegenstandsbereich zur Erforschung sozialer Raumzeit darstellen. Anschließend wird argumentiert, dass zur systematischen Verhältnisbestimmung von Raum und Zeit Typologien für beide Bereiche gebildet werden müssen. Da jede Konstitution von Lebensgeschichtlichkeit und von Lebensräumen zunächst einmal einzigartig ist, kann der Zusammenhang räumlicher und zeitlicher Konstitutionen nur auf der Ebene von Typen ermittelt werden. Dadurch lassen sich hinter all den individuellen Raum- und Zeitkonstitutionen eine begrenzte Anzahl von Mustern erkennen. Soziale Raumzeit bedeutet dann, dass im Falle der Konstitution von Lebensräumen nach einem bestimmten Muster (Typus) auch immer die Lebensgeschichtlichkeit nach einem bestimmten Muster konstituiert wird und umgekehrt. Da zu Beginn der Untersuchung unklar ist, mithilfe welcher Kategorien die Typen gebildet werden müssen, wird ein an der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996 [1990] und Kelle/Kluge 1999) orientiertes Verfahren zur Typisierung vorgeschlagen. Die Samplingstrategie sowie die Datenerhebung mithilfe narrativ-biographischer Interviews wird ebenfalls in diesem Kapitel vorgestellt.

Im vierten Kapitel werden am Material die relevanten Typen biographischer Zeitkonstitutionen entwickelt. Drei Idealtypen lassen sich nach Auswertung der Interviews beschreiben: Neben einem linearen Typus, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seines Lebens eng miteinander verknüpft und eine Entwicklungsgeschichte des eigenen Ich konstituiert, die er in die Zukunft fortschreibt, lassen sich noch ein zyklischer und ein episodischer Typus konstruieren. Der zyklische Typus lebt in einer ewigen Gegenwart sich wiederholender Routinen und orientiert sich bei der Erzählung seines Lebens in keiner Weise an der Chronologie. Der episodische Typus hat zwar einen ähnlich starken Gegenwartsbezug, weiß aber, dass diese Gegenwart enden wird (und früher schon des Öfteren endete) und relativ plötzlich eine neue, andere Gegenwart anbricht, von der er aber gegenwärtig nicht sagen kann, was sie für ihn bereithält. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit allgemeinen Überlegungen zur Konstitution von Lebensgeschichtlichkeit in Biographien und einer Konturierung der einzelnen Typen. An dieser Stelle wird ein Exkurs eingeschoben, der versucht, anhand von empirischen Studien einen historischen Überblick über die Entwicklung der vorgestellten Typen in den letzten vier Jahrzehnten zu geben.

Das fünfte Kapitel wiederholt im Wesentlichen die Arbeitsschritte des vorangegangenen Kapitels für die Konstitution relevanter Lebensräume mit einem anderen Sample von Fällen. Auch hier lassen sich idealtypisch drei Arten der Konstitution relevanter Lebensräume unterscheiden. Während der konzentrische Typus Räume von unterschiedlicher Maßstäblichkeit ineinander schachtelt (zum Beispiel Zuhause, Stadt, Nationalstaat), konstituiert der Netzwerk-Typus verschiedene relevante Lebensräume auf der gleichen Ebene (zum Beispiel Städte), vergleicht ihre Atmosphären und orientiert sich an den Handlungsoptionen, die solche Räume für ihn bereithalten. Für den Insel-Typus sind einzig private Räume relevant, über die er ein großes Maß an Verfügungsgewalt besitzt. Die Zahl dieser Räume ist tendenziell gering, sie sind relativ klein und durch starke Grenzkonstruktionen, ein wesentliches Merkmal dieses Typus, von einer eher feindlich konnotierten Umwelt geschieden. Auch in diesem Kapitel werden allgemeine Überlegungen zur Bedeutung von Raumkonstitutionen in Biographien angestellt und abschließend die Konturen der Typen durch eine vergleichende Analyse geschärft.

Im sechsten Kapitel wird mithilfe einer erneuten Analyse der Fälle (für die Fälle des Raum-Samples werden nun die Zeittypen ermittelt und umgekehrt) gezeigt, dass spezifische Typen der Konstitution von Lebensgeschichtlichkeit mit spezifischen Typen der Konstitution von Lebensräumen einhergehen. So korreliert der lineare Zeittypus mit dem konzentrischen Raumtypus, der zyklische mit dem Insel-Typus und der episodische mit dem Netzwerk-Typus. Eine bestimmte Art und Weise, den Lebensraum zu konstituieren und zu strukturieren, geht für die Subjekte mit einer bestimmten Art und Weise der Konstitution biographischer Geschichtlichkeit einher. Es lässt sich also sinnvoll von einer sozialen Raumzeit sprechen.

Der Versuch, diesen Zusammenhang biographischer Raum- und Zeitkonstitutionen zu erklären, ist das zentrale Anliegen des abschließenden siebten Kapitels. Zunächst wird argumentiert, dass eine anthropologische Notwendigkeit zur gemeinsamen Konstitution von Zeit und Raum besteht. Nach Helmuth Plessner (1981-1985 [1928]) verfügt der Mensch weder über eine artspezifische Umwelt noch über eine natürliche zeitliche Einbettung in die Welt. Diesen Mangel muss er durch kulturelle Produktionen ausgleichen, indem er sich mithilfe sozialer Konstitutionen von Raum und Zeit in die Welt zurückbettet. Anschließend wird unter Rückgriff auf makrosoziologische Gegenwartsanalysen die empirisch beobachtbare Ausdifferenzierung in die unterschiedlichen Raumzeittypen erklärt. Die konzentrisch-lineare Raumzeitkonstitution wird dabei als Grundform der Moderne gedeutet, während netzwerkartig-episodische Konstitutionsformen vor dem Hintergrund der Flexibilisierung des kapitalistischen (Re-)Produktionsmodus entstehen und die Entstehung inselhaft-zyklischer biographischer Raumzeit im Zusammenhang mit Exklusionsprozessen betrachtet werden muss. Schließlich werden die spezifischen Chancen und Risiken der einzelnen Raumzeittypen erörtert, um zum Abschluss das kritische und diagnostische Potenzial der gesamten Analyse zu verdeutlichen.

2. Der theoretische Ort einer sozialen Raumzeit

Dieses Kapitel dient dazu, den heuristischen Rahmen zur Erforschung einer sozialen Raumzeit[1] darzulegen. Mit einer Heuristik sind Konzepte von großer Reichweite, aber geringem empirischen Gehalt (vgl. Kelle/Kluge 1999) gemeint, die das Forschungsfeld sehr grob abstecken. Konkret geht es darum, die Konzepte von Raum und Zeit zu benennen, mit denen die empirische Suche nach einer sozialen Raumzeit angegangen werden kann, und dabei im Blick zu behalten, dass diese Konzepte die unterschiedlichsten räumlichen und zeitlichen Konstitutionsformen erfassen können müssen.

Fragt man nach den logischen Zusammenhängen von Raum und Zeit, steht man eingangs vor einem fundamentalen Problem. Es erweist sich als äußerst schwierig, den Gegenstandsbereich genau zu fassen, selbst wenn man ›nur‹ beschreiben möchte, wie zeitliche oder räumliche Bestimmungen funktionieren. Diese Perspektive geht davon aus, dass es die Praxis räumlicher und zeitlicher Bestimmungen ist, die am ehesten darüber Aufschluss gibt, was mit Raum und Zeit jeweils gemeint ist. Die Schwierigkeiten hängen damit zusammen, dass verschiedene Möglichkeiten zu existieren scheinen, sowohl zeitliche als auch räumliche Bestimmungen vorzunehmen, die jeweils nicht ineinander überführbar sind. Das heißt, es existiert keine Übersetzungsregel dafür, wie man beispielsweise von einer chronologischen (zum Beispiel: die Mondlandung fand am 21. Juli 1969 statt) zu einer geschichtlichen (die Mondlandung fand in der Vergangenheit statt) Zeitbestimmung kommt. Ich werde diesen Gedanken später detailliert ausführen. Zunächst nur so viel: Sollten tatsächlich grundsätzlich verschiedene Optionen der Bestimmung räumlicher beziehungsweise zeitlicher Verhältnisse bestehen, resultieren daraus unterschiedliche Zeit- beziehungsweise Raumbegriffe. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, bei der Thematisierung des Zusammenhangs von Raum und Zeit zu fragen, welche Art von Raum zu welcher Art von Zeit ins Verhältnis gesetzt wird. Ich werde im Folgenden einen Vorschlag zu einer Systematisierung des Feldes anbieten, also die Frage danach beantworten, wo denn nach dem Zusammenhang von Raum und Zeit aus soziologischer Perspektive gesucht werden sollte.

Da die verschiedenen Begriffe von Raum und Zeit verschiedene Weltbezüge aufweisen, nämlich den zu einer ›bedeutungsvollen‹ physischen Welt und den zu einer ›sinnhaften‹ sozialen Welt, wird zunächst die wissenschaftstheoretische Position dargelegt, die den anschließenden Ausführungen zuerst zur Zeit und dann zum Raum zugrunde liegt. Abschließend werden die unterschiedlichen Zeitbegriffe mit den unterschiedlichen Raumbegriffen ins Verhältnis gesetzt, um den theoretischen Ort einer sozialen Raumzeit zu benennen. Die wichtigsten Thesen des Kapitels finden sich am Schluss noch einmal in einem Fazit zusammengefasst.

2.1. Wissenschaftstheoretisches Selbstverständnis

Im Folgenden geht es nicht darum, die erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Debatte nachzuzeichnen oder gar zu erweitern, sondern lediglich um den Versuch zu explizieren, auf welcher Basis zu angemessenen Begriffen von Raum und Zeit im Rahmen dieser Untersuchung gelangt werden kann. Dazu ist es ausreichend, auf eine eher klassische erkenntnistheoretische Position zu rekurrieren.

Grundsätzlich gehe ich aufgrund der jenseits unserer Wahrnehmung unverfügbaren materiell-physischen Welt von einer (sozial-)konstruktivistischen Position aus. Alle Begriffe zur Beschreibung der Welt sind menschliche Begriffe, und letztlich ist nicht feststellbar, inwieweit und auf welche Art sie mit der materiellen Welt korrespondieren.

Auch im Rahmen einer konstruktivistischen Position lassen sich jedoch unterschiedliche Weltbezüge unseres Handelns, Sprechens und Denkens unterscheiden. Analog zu Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns können wir uns auf eine materielle Welt, auf eine soziale Welt oder auf eine innerpsychische Welt beziehen (vgl. 1981).[2] Entscheidend ist, dass Aussagen mit unterschiedlichen Weltbezügen auch über einen unterschiedlichen ontologischen Status verfügen.

Aussagen über die physisch-materielle Welt beziehen sich auf eine als subjektunabhängig gedachte Welt, von der wir annehmen, dass sie auch jenseits unserer Vorstellung von ihr existiert. Solche Aussagen müssen durch den Bezug auf ebendiese Welt falsifiziert werden. Die Aussage »Die Wohnung ist 95 qm groß« kann nicht mit dem Verweis gekontert werden, dass sie kleiner erscheint als eine andere Wohnung mit 80 qm. Auch wenn es gute, intersubjektiv anschlussfähige Gründe dafür gibt, dass die Wohnung kleiner erscheint, so folgt daraus nicht, dass sie weniger als 80 qm Grundfläche besitzt. Dass die Wohnung kleiner erscheint, stellt eine Realität der psychischen Wirklichkeit dar und hat daher keinen unmittelbaren Einfluss auf die physisch-materielle Wirklichkeit. Eine Aussage mit Bezug zur sozialen Wirklichkeit ist beispielsweise folgende Behauptung: »Diese Wohnung ist mein Zuhause.« Eine solche Aussage ist an die Existenz der sozialen Institution ›Zuhause‹ gebunden. In Gesellschaften, die diese Institution nicht kennen, macht eine solche Aussage keinen Sinn. John Searle unterscheidet daher zwischen »institutional facts« für Aussagen mit Bezug zur sozialen Welt und »brute facts« für Aussagen mit Bezug zur physisch-materiellen Welt (1995: 27 ff.). Zwar ist zur Formulierung von brute facts die Sprache als soziale Institution unerlässlich, aber die Größe einer Wohnung ändert sich nicht dadurch, dass sie nicht von Menschen vermessen wird oder ihre Größe nicht benannt wird. Brute facts im strengen Sinne werden fast ausschließlich im naturwissenschaftlichen Diskurs formuliert. Institutional facts rekurrieren hingegen auf gesellschaftliche Institutionen, um überhaupt zu existieren (vgl. ebd.: 27). Ohne die soziale Institution eines Zuhauses existiert das Zuhause nicht.[3]

Aussagen über die soziale Welt rekurrieren also auf sinnhafte, von Menschen hervorgebrachte Institutionen. Was ist mit dem Begriff ›Institution‹ gemeint? Soziale Institutionen entstehen, indem habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden (vgl. Berger/Luckmann 2001 [1966]: 58). Handlungen, die zur Lösung permanent auftauchender Probleme taugen, werden habitualisiert. Das entlastet von Entscheidungen und spart Energie. Betrifft das Problem auch andere Menschen (ist es allgemein relevant), ist die Chance groß, dass der aus der Habitualisierung hervorgegangene Handlungstypus kommuniziert wird. Das heißt, er wird aus der Welt des einzelnen Individuums in die Gesellschaft mithilfe von Symbolen externalisiert. Das Ergebnis dieser Externalisierung ist eine Objektivation. Diese Objektivation liefert die Basis für eine geteilte Strategie zur Lösung des Problems (im Sinne von »So macht man das!«). Das Rezeptwissen zur Lösung allgemeiner Probleme kann selbst externalisiert und objektiviert werden. So steht es der Allgemeinheit zur Verfügung und kann als Wissen vom Individuum internalisiert werden. Der Dreisprung ›Externalisierung, Objektivation, Internalisierung‹ schafft also gesellschaftliche Institutionen. Dieser Institutionenbegriff ist weiter gefasst als in der Umgangssprache. Beispielsweise ist die Sprache selbst eine wichtige Institution. Anthropologisch lässt sich mit Helmuth Plessner (1981-1985 [1928]) und Arnold Gehlen (1956) argumentieren, dass die Schaffung einer solchen sozialen Wirklichkeit notwendig ist, weil die Menschen aufgrund ihrer Instinktunsicherheit gezwungen sind, die biologische Weltoffenheit in eine gesellschaftliche Weltgeschlossenheit zu transformieren, denn menschliche Instinkte allein reichen nicht aus, um das Überleben zu sichern. Diese Notwendigkeit verrät allerdings nichts darüber, wie die Transformation konkret gestaltet wird. Welche Institutionen entstehen, bleibt hochgradig kontingent. Wichtig ist, dass alle sozialen Institutionen als sinnhaft aufgefasst werden müssen, weil ihre Entstehung an die Lösung konkreter Probleme gekoppelt ist.

Die Erforschung sozialer Institutionen setzt aufgrund der Sinnhaftigkeit, anders als die Erforschung der physisch-materiellen Welt, einen doppelt hermeneutischen Zugriff voraus (vgl. Habermas 1983 und Giddens 1988 [1984]). Die soziologische Perspektive zeichnet sich dadurch aus, sinnhafte Handlungen in einer bereits vom Individuum als sinnhaft gedeuteten Welt zu verstehen (vgl. Schütz 1932), und beide Prozesse der Sinnsetzung müssen (nach-)vollzogen werden. Der ontologische Status von Institutionen ist ein anderer als derjenige von physisch-materiellen Dingen. Das Sein von Institutionen bleibt immer an die sinnhafte Produktion und Reproduktion von Menschen gekoppelt (vgl. Berger/Luckmann 2001, orig. 1966: 55). Wird beispielsweise ein Stock (brute fact) durch Institutionalisierungsprozesse zu einem Machtsymbol, einem Zepter (institutional fact), so wird nach dem Untergang der Kultur, die diese Institution hervorgebracht hat, das Zepter verschwunden sein (sofern niemand diese Institutionalisierung aufrechterhält), nicht aber der Stock, der als Teil der physisch-materiellen Welt gedacht ist. Weil die soziale Welt durch Internalisierungsprozesse im Rahmen der Sozialisation gleichsam in das Individuum gelangt, besteht eine gewisse Nähe der sozialen Welt der Institutionen zur innerpsychischen Welt der Individuen. Es ist jedoch charakteristisch für die soziale Welt, dass sie den Individuen zunächst als äußerliches Wissen über die Alltagswirklichkeit gegenübertritt und von daher als Wirklichkeit sui generis behandelt werden muss und nicht einfach als Summe oder Durchschnitt innerpsychischer Welten betrachtet werden kann.

Die innerpsychische Welt enthält mehr als nur Internalisierungen gesellschaftlicher Institutionen. Individuelle Erfahrung, ein Kosmos von Begierden und Bedürfnissen und spontane Handlungsimpulse (vgl. Mead 1968, orig. 1934), die nicht alle auf Sozialisationsprozesse zurückgeführt werden können, spielen in dieser Welt eine entscheidende Rolle. Offensichtlich kann die innerpsychische Welt auch durch chemische Substanzen, neuronale Erkrankungen, Hirntumore und genetische Dispositionen moduliert werden. Wichtig für die Sozialwissenschaften ist diese Welt, weil in ihr notwendig der an das Subjekt gebundene Sinn sozialer Institutionen verortet ist (vgl. Schütz 1932).

Alle drei Welten möchte ich als real ansehen. Der unterschiedliche ontologische Status der Welten macht es jedoch notwendig, sie im Rahmen einer wissenschaftlichen Analyse zu trennen. Wie die Angemessenheit einer Aussage bewertet wird, unterscheidet sich je nach der Welt, auf die sich diese Aussage bezieht. Das bedeutet, dass bei einer Vermischung der Welten keinerlei Aussagen mehr zu Gültigkeit, Plausibilität oder Angemessenheit wissenschaftlicher Forschungsergebnisse möglich sind. Das Problem der Wörter ›Zeit‹ und ›Raum‹ besteht nun darin, dass sie in allen drei Welten gebraucht werden. Die Verwendung der beiden Wörter lässt sich gleichsam durch alle drei Welten deklinieren. Aufgrund des unterschiedlichen ontologischen Status von Entitäten in diesen drei Welten lautet die hier vertretene These, dass es sich um drei unterschiedliche Begriffe von Raum und Zeit handelt, die dort jeweils zum Vorschein kommen.

Mit dem Zeitkonzept der physisch-materiellen Welt lassen sich chronologische Abstände zwischen Ereignissen bestimmen. Die Feststellung, dass es drei Tage geregnet hat, nutzt beispielsweise dieses Konzept von Zeit. Das Zeitkonzept in der sozialen Welt bezieht sich auf die Konstitution von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und auf das Verhältnis dieser drei Formen. Die Konzeption einer linearen Geschichte mit offener Zukunft (vgl. Rammstedt 1975), wie sie in unserer Gesellschaft vorherrschend ist, kann als Beispiel für diese Idee von Zeit dienen. Auf der Ebene der innerpsychischen Welt bezeichnet Zeit die subjektive Dauer von Ereignissen und Handlungsvollzügen. Sätze, die auf dieses Zeitkonzept rekurrieren, sind beispielsweise: »Wenn ich Computer spiele, vergeht die Zeit wie im Fluge« oder »Während des Sturzes geschah alles in Zeitlupe«.[4]

Ähnlich verhält es sich mit dem Raum. Räumliche Abstandsbestimmungen auf Basis objektivierter Skalen (zum Beispiel Meter) rekurrieren auf ein Raumkonzept, das Raum als Eigenschaft des Universums denkt und der physisch-materiellen Welt angehört. Werden sozial sinnhafte Raumkonstitutionen wie Nationalstaaten oder Wohnzimmer adressiert, funktioniert der Begriff von Raum als Konzept, mit dem bestimmte Entitäten der sozialen Welt beschrieben werden können. Im psychischen Bereich haben wir es darüber hinaus mit Phänomenen zu tun, die unmittelbar an die Raumwahrnehmung gekoppelt sind. Beispielsweise überschätzen wir systematisch – gemessen an physisch-materiellen Abstandsbestimmungen – vertikale im Vergleich zu horizontalen Distanzen. Ein senkrecht gehaltener Stab von drei Metern Länge kommt uns normalerweise wesentlich länger vor als der gleiche Stab in horizontaler Ausrichtung. Diese Wahrnehmungsdisposition verstärkt sich meist noch, wenn wir von oben nach unten blicken.

Im Rahmen der folgenden Überlegungen können die Raum- und Zeitkonzepte für die innerpsychische Welt aus zwei Gründen weitgehend ausgeklammert werden, soweit sie nicht der Rekonstruktion sozialer Räume und Zeiten dienen. Zum einen herrscht im sozialwissenschaftlichen Diskurs weitgehend Klarheit darüber, wann von solchen subjektiven Wahrnehmungen von Zeit und Raum gesprochen wird, während die Trennung der Konzepte für die soziale und physisch-materielle Welt häufig unklar bleibt. Zum anderen kann vermutet werden, dass die Wahrnehmungsdispositionen, wo sie über eine Internalisierung sozialer Zeiten und Räume hinausgehen, anthropologisch begründbar sind. Es kann als evolutionärer Vorteil gedeutet werden, einen drei Meter tiefen Spalt als bedrohlich tief zu empfinden, denn ein Absturz kann einen das Leben kosten. Ebenso ist eine Erhöhung der Wahrnehmungsfrequenz während eines Sturzes, die zum Gefühl verlangsamter Zeit führt, vorteilhaft, weil sie schnellere Reaktionen ermöglicht.

Im Folgenden werden nun die Konzepte für die Zeit und anschließend für den Raum mit Bezug auf die physisch-materielle Welt und auf die soziale Welt differenziert und expliziert.

2.2. Die Zeit

Die Zeit auf den Begriff zu bringen gilt allgemein als schwieriges Unterfangen, und das schon seit über 1500 Jahren:

Was also ist die Zeit? Wenn niemand mich danach fragt, weiß ich’s, will ich’s aber einem Fragenden erklären, weiß ich’s nicht. (Augustinus 1980 [circa 400]: Liber XI: 14)

Was die Auseinandersetzung mit der Zeit so kompliziert macht, ist, dass die Zeit einerseits als unabhängig von Subjekten konzeptualisiert wird (brute fact), wenn regelmäßig wiederkehrende Ereignisse wie der Sonnenaufgang genutzt werden, um die Dauer anderer Ereignisse zu bestimmen. So kann beispielsweise festgestellt werden, dass eine Wanderung drei Tage gedauert hat. Hierbei handelt es sich um eine chronologische Zeitbestimmung. Anderseits nehmen wir auch eine zeitliche Bestimmung vor, wenn wir sagen, dass die Wanderung in der Vergangenheit liegt. Die Zeit ist in diesem Fall aber nicht unabhängig von uns gedacht. Letztes Jahr wäre die Wanderung wohl noch der Zukunft zugeordnet worden. Diese Art der Zeitbestimmung lässt sich als geschichtlich bezeichnen. Im interkulturellen Vergleich wird später gezeigt, dass es sich bei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft um hochgradig sozial variable Konstitutionen handelt (institutional facts). Die Schwierigkeiten mit der ›Zeit‹ hängen meines Erachtens damit zusammen, dass es den einen Begriff der Zeit nicht gibt. Das Wort referiert auf mehrere Konzepte.

Die analytische Zeitphilosophie kennt die Unterscheidung zwischen Bestimmungsformen der Zeit seit langem. Ihr zufolge wird der Begriff Zeit auf mindestens zwei fundamental unterschiedliche Formen zeitlicher Bestimmungen angewendet, die nicht ineinander überführbar und von daher auch nicht aufeinander reduzierbar sind. Es handelt sich um die so genannte A-Reihe oder Geschichtlichkeit (vergangen, gegenwärtig, zukünftig) und die B-Reihe oder Chronologie (vorher, gleichzeitig, nachher). Diese Bezeichnungen wurden von John Ellis McTaggert (1991 [1908]) eingeführt und gelten bis heute als Standardterminologie der analytischen Zeitphilosophie (vgl. zum Beispiel Bieri 1972).

Was mit diesen Unterscheidungen genau gemeint ist und welche Zeitkonzepte sich aus diesen unterschiedlichen Bestimmungsformen ergeben, gilt es im ersten Schritt dieses Abschnitts zu klären. Anschließend wird die Differenz zwischen Chronologie und Geschichtlichkeit aus soziologischer Perspektive vertiefend analysiert. Im dritten Schritt möchte ich zeigen, dass beide Zeitkonzepte unverzichtbar für die Sozialwissenschaften sind, und schließlich die Schlussfolgerungen aus diesen Überlegungen für die Frage nach einer sozialen Raumzeit ziehen.

2.2.1. Geschichtlichkeit und Chronologie

Geschichtlichkeit (A-Reihe) unterscheidet sich von Chronologie (B-Reihe) zuallererst durch ihren unmittelbaren Subjektbezug. Ein Ereignis liegt für jemanden oder eine Gruppe in der Zukunft. Eine solche Bestimmung bezieht sich also zunächst auf das, was ein Subjekt als Gegenwart auffasst. Dagegen wird bei einer chronologischen Bestimmung auf eine Relation zweier Ereignisse Bezug genommen, die beide vom Subjekt unabhängig gedacht werden (zum Beispiel wird die Geburt Christi ins Verhältnis zur Mondlandung gesetzt). Dass die Mondlandung nach Christus stattfand, gilt zunächst unabhängig von der Frage, wer wann diese Feststellung macht. Ob die Mondlandung zukünftig, vergangen oder gegenwärtig stattfindet, hängt dagegen unmittelbar davon ab, wer zu welchem Zeitpunkt auf dieses Ereignis Bezug nimmt.

Mehr noch, wie die Mondlandung geschichtlich einsortiert wird, ist auch abhängig vom gerade fokussierten Sinn- beziehungsweise Handlungszusammenhang. Bezieht sich eine Sprecherin oder ein Sprecher beispielsweise darauf, dass wir gegenwärtig im Zeitalter der Raumfahrt leben, kann die Mondlandung, obwohl sie über 40 Jahre zurückliegt (chronologische Bestimmung), zur gesellschaftsgeschichtlichen Gegenwart gerechnet werden. Dass die chronologische Ausdehnung der Gegenwart offensichtlich mit den fokussierten Sinn- und Handlungszusammenhängen variiert, ist einer der entscheidenden Gründe dafür, warum chronologische Bestimmungen nicht eindeutig in geschichtliche Bestimmungen übersetzbar sind. Nur weil ein Ereignis viele Jahre her ist, muss es nicht zwangsläufig der Vergangenheit zugerechnet werden!

Wie sehr geschichtliche Strukturen, also spezifische Konstellationen und Verhältnisse von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, als soziale Produkte aufgefasst werden müssen, lässt sich an den unterschiedlichen Geschichtsauffassungen im interkulturellen und im historischen Vergleich aufzeigen. Dabei zeigt sich, dass es sich bei der Idee einer linearen geschichtlichen Struktur mit offener Zukunft (vgl. Rammstedt 1975), wie sie im gegenwärtig dominanten Konzept des Kollektivsingulars »der Geschichte« (Koselleck 1979) verankert ist, um eine relativ junge (18. Jahrhundert), zunächst westliche Geschichtsauffassung handelt. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass Vergangenheit und Gegenwart die Zukunft in hohem Maße zu beeinflussen im Stande sind, was dazu führt, dass Geschichte über Geschichte bestimmt. Dadurch erst wird die Zukunft systematisch unvorhersehbar, weil sie kausal von der Gegenwart abhängt, in der verschiedene Handlungsoptionen zur Verfügung stehen. Die Geschichte wird zu einer Wirklichkeit sui generis.

Nomadische Kulturen ohne Schrift verfügen dagegen über keine solche Vorstellung einer linearen, fortschreitenden Geschichte. In ihren Sprachen existiert noch nicht einmal eine grammatikalische Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft, und das Wort für »gestern« ist normalerweise identisch mit dem Wort für »morgen« (vgl. Dux 1992). In alltagsweltlichen Zusammenhängen ergibt sich die Bedeutung aus dem Kontext. Darüber hinaus sind Vergangenheit und Zukunft in unserem Sinne tatsächlich unbekannt, denn die Alltagswirklichkeit ist eingebettet in eine mythologische Geschichtsstruktur, die aus einer einzigen Zeit besteht, in der alle Ereignisse parallel existieren. So ist beispielsweise die mythologische Traumzeit der Aborigines in Australien gleichzeitig die Zeit der Entstehung der Welt wie die Zeit aller verstorbenen Ahnen, aber auch die Zeit aller noch ungeborenen Kinder. Nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen, die es auch bei den Aborigines gegeben hat (wie zum Beispiel die Einführung des Bumerangs vor etwa 10 000 Jahren, als die Kultur schon 30 000 Jahre alt war), werden in den mündlichen Überlieferungen zu mythischen Geschichten. Die Veränderung der Jagdtechnik existiert aber ab dem Moment ihrer mythologischen Darstellung von Anbeginn aller Zeit, und jede Anwendung der Technik aktualisiert den Mythos und zeigt seine Gegenwärtigkeit auf (vgl. Dux 1992). Von daher verfügen alle diese Kulturen logischerweise über die Möglichkeit, Ereignisse, die zu einem späteren Zeitpunkt stattfinden werden, vorauszusehen, denn diese Ereignisse sind in demselben Sinne real wie Ereignisse, die bereits geschehen sind. Ein Aborigine muss dafür nur in Kontakt mit der ewigen Gegenwart der Traumzeit treten. Hinter dem oberflächlichen Nacheinander des Alltagslebens sind alle Ereignisse schon immer in einer gemeinsamen Gegenwart versammelt. Eine solche Geschichtlichkeitsauffassung ist für sich langsam verändernde, wenig komplexe Gesellschaften vollkommen ausreichend, denn alle Handlungsmuster zur gesellschaftlichen Reproduktion werden wiederholt, das heißt, sie können mithilfe des Rückgriffs auf das mythologische System organisiert werden. In einer solchen sozialen Situation ist eine weitere Ausdifferenzierung geschichtlicher Struktur schlichtweg sinnlos. Solche Kulturen produzieren Geschichten – keine Geschichte.

Natürlich wissen und wussten auch die Aborigines, dass Ereignisse im Alltagsleben nacheinander geschehen, das heißt, sie denken chronologisch und es besteht für sie kein Zweifel darüber, welche Handlungen in bestimmten Mustern vor und welche nach anderen Handlungen oder Ereignissen zu geschehen haben oder erwartbar sind. Wenn aber dieses Nacheinander nichts nachhaltig verändert und die relevanten Handlungsmuster dadurch immer wieder von vorne beginnen können, entsteht daraus kein geschichtliches Bewusstsein, das auf die uns bekannten Konstruktionen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angewiesen ist. Die geschichtliche Struktur der Aborigines lässt sich eher durch die Metapher eines Bildes beschreiben, auf dem alle Ereignisse schon eingezeichnet sind. Weil aber immer nur kleine Ausschnitte des Bildes zu sehen sind, erscheinen die Ereignisse oberflächlich nacheinander.

Erst mit zunehmender Komplexität des Modus gesellschaftlicher Reproduktion ändern sich die Strukturen geschichtlicher Vorstellungen. Wo sich nach der Sesshaftwerdung beispielsweise Herrschaftsformen in sozialen Prozessen oder als Ergebnis von Kriegen wandeln, reicht die Vorstellung einer ewigen Gegenwart hinter dem Nacheinander des Alltagserlebens nicht mehr aus (zu einer Darstellung des Zusammenhangs von Reproduktionsmodus und Geschichtlichkeitskonstitutionen vgl. Dux 1992 und zu einer chronologischen Darstellung zu unterschiedlichen Zeiten dominanter Geschichtlichkeitsvorstellungen vgl. Rammstedt 1975). Bleibt festzuhalten, dass sich Zeit im Sinne chronologischer Bestimmungen – also als das In-Beziehung-Setzen von Ereignissen mithilfe eines Aspektes des Nacheinanders – offensichtlich in allen Gesellschaften finden lässt. In jeder Sprache finden sich Begriffe für das Jahr, den Monat und den Tag. Daraus kann aber mitnichten die Existenz einer linearen geschichtlichen Struktur abgeleitet werden, welche die Menge an Ereignissen in vergangene, gegenwärtige und zukünftige unterteilt. Vielmehr scheinen geschichtliche Strukturen in höchstem Maße sozial variabel zu sein.

2.2.2. Geschichtlichkeit und Chronologie in der Soziologie

Die unterschiedlichen Arten zeitlicher Bestimmungen und damit die unterschiedlichen Definitionen von Zeit finden sich, meist implizit, auch in der soziologischen Theoriebildung wieder. Exemplarisch möchte ich im Folgenden die Überlegungen von Nobert Elias und Sighard Neckel gegenüberstellen.

Wenn sozialwissenschaftliche Autor_innen von Zeit sprechen, lässt sich aus der Begriffsverwendung und dem Kontext in den allermeisten Fällen eindeutig bestimmen, ob Chronologie oder Geschichtlichkeit gemeint ist. So stellt beispielsweise die Konzeption von Zeit bei Elias, die auch über die Art und Weise der Zeitbestimmung hergeleitet wird, eher die Beschreibung der Technik zur chronologischen Zeitbestimmung dar:

Zeitbestimmen ist […] eine Tätigkeit, bei der Menschen Nacheinander-Aspekte von mindestens zwei Geschehensabläufen in Beziehung zueinander setzen, von denen einer als Maßstab für Intervalle oder Positionen im Nacheinander des Geschehensablaufs von anderen gesellschaftlich standardisiert ist. (Elias 1982: 1016, vgl. auch ebd.: 850)