Buchcover

Anne Karin Elstad

Julies fremde Heimat

 

 

Saga

Die Fenster der Küche gehen auf den Fjord und die Bergkette hinaus, die vor dem offenen Meer Posten steht. Das ist ein Anblick, an dem sie sich nie sattsehen kann, ganz gleich, ob es stürmt oder Stille herrscht. Ein Anblick, der in ihr eine ganz eigene Freude aufkommen läßt, aber auch Unruhe, Sehnsucht und eine sonderbare Wehmut. An diesem frühen Maimorgen liegt der Fjord unbewegt da, nur eine einzelne Eiderente schwimmt weiter draußen, zeichnet hinter sich ein vollkommen ausgeformtes V, ein Fisch schnellt empor, und dann ist wieder alles wie unberührt. Auf der glatten Wasserfläche an den Ufern entlang spiegelt sich die Landschaft. Eigentlich sollte sie von Glück erfüllt sein, so wie sie da steht, mit dem einen Kind auf dem Arm und dem anderen, dem ältesten Sohn, der friedlich am Küchentisch mit Papier und Farbstiften spielt. Sie starrt in den herrlichen Morgen hinaus, schaukelt das Kind, das nach dem nächtlichen Weinkrampf noch leise wimmert, ohne richtig bei der Sache zu sein, spürt nichts als diese bleierne Müdigkeit im Körper. Das ist einer dieser Tage, an denen sie das Gefühl hat, nicht richtig atmen zu können. Aus der Speisekammer dringen die Geräusche der Zentrifuge herüber, wo Synnøve wie jeden Morgen die Milch schleudert. Das erinnert sie daran, daß sie hier ist, immer.

Die Zentrifuge ist nicht mehr zu hören, Synnøve kommt zur Tür herein, trocknet sich die Hände an der Schürze ab, schaut auf den halbgedeckten Küchentisch.

»Werden die Männer nicht gleich kommen und ihr Frühstück haben wollen?«

»Ich bin sofort fertig«, sagt Julie ruhig.

Während sie das Kind auf ihrer Hüfte trägt, deckt sie den Tisch, und dann kommen sie nach und nach herein. Kristoffer und Jørgen, der Knecht Anders, der eine feste Anstellung auf dem Hof hat, seit Jørgen ganz klein war. Mehr Leute haben sie jetzt nicht zwischen den Erntezeiten. Zur Heuernte und im Herbst stellen sie für die Arbeiten, die draußen und drinnen anfallen, Hilfskräfte ein. Dies ist der erste Winter, seit sie hierhergekommen ist, daß sie kein Dienstmädchen gehabt haben. Mit drei Frauen im Haus müssen sie auch so über diese Jahreszeit kommen, während für das Holzfällen tageweise Hilfsarbeiter, je nach Bedarf, eingestellt wurden. Wie die Zeiten nun einmal sind, müssen sie an allen Ecken und Kanten sparen, meint Kristoffer.

Astrid steht in der Tür, und sofort quengelt der kleine Jostein und streckt die Arme nach ihr aus. Sie hebt ihn aus dem Schoß der Mutter hoch. Es versetzt Julie einen Stich, das Kind so zufrieden zu sehen. Anschauen zu müssen, wie er sich an sie klammert, die beiden rothaarigen, lockigen Köpfe aneinander geschmiegt. Der Goldjunge, denkt sie bitter und schämt sich ihrer Gedanken, aber so ist es nun einmal. Ein echter Storvik, sagt Synnøve, dasselbe rote Haar wie sie und Astrid, unverkennbar die Gesichtszüge der Storviks, dieselben hellblauen Augen, helle Haut, lange Gliedmaßen. Er ist nach Julies Vater benannt worden, den Namen Johannes wollte sie ihm aber nicht geben, so wurde er Jostein getauft. Doch was den ältesten Sohn betraf, den Erstgeborenen und Erben, das war keine Frage, er konnte nicht anders als Kristoffer heißen. Seit Generationen gibt es Kristoffer und Jørgen hier auf dem Hof. Man hielt es für Getue, wenn sie den Namen so aussprach, wie er ausgesprochen werden soll, Kristoffer. Krestafer, sagt man hier, aber in der Beziehung war sie unnachgiebig geblieben, sie wollte nicht, daß ihr Sohn, ein kleines Kind, Krestafer genannt wird. So war es schließlich ein kleiner Triumph für sie, als der Kleine, nachdem er größer geworden war und sprechen konnte, die Sache selber in die Hand nahm und sich Krister nannte.

»Krestafer heißt du«, versuchte es Synnøve immer wieder.

»Nein, Krister heiße ich, Krister«, sagte der Kleine und sah die Großmutter ernst an. »Krestafer, das ist doch der Großvater.«

So mußten sie sich damit abfinden, aber noch immer empört sich Synnøve darüber, daß der Name des Großvaters nicht gut genug sein soll. Und hat schon einmal jemand von einem Menschen gehört, der Krister heißt?

»Im Vergleich zu uns hier auf dem Hof ist er ein bißchen aus der Art geschlagen«, pflegt sie zu sagen. Ja, und damit hat sie nicht ganz unrecht. Mit dem schwarzen, vollen Haar, dem goldenen Schimmer der Haut und den braunen Augen kommt er ganz nach ihrer Familie. Seine Augen sind Synnas Augen so ähnlich, daß sie einen Schreck bekommt, wenn er sie anschaut. Im Herbst wird er vier, er ist still und artig, beschäftigt sich alleine, malt und will schon Buchstaben schreiben. Alles will er wissen, er fragt und gibt keine Ruhe, mehr als einmal hat dieses – ihr Kind – sie in Erstaunen versetzt. Jostein hatte in dem einen Jahr, das er auf der Welt ist, mehr Mühe gemacht als Krister seit seiner Geburt. Die ersten Monate schrie Jostein jede Nacht stundenlang, und sie konnte in diesem Jahr noch kein einziges Mal durchschlafen. Er hat auch ein ganz anderes Temperament als Krister, bald ist er wütend, bald lacht er, bald weint er. Oft kommt Astrid zu ihnen ins Schlafzimmer und fragt, ob sie ihn nehmen soll. Und bei ihr beruhigt er sich, sobald die Mutter aus seinem Blickfeld ist. Eines Nachts, nachdem Astrid ihn wieder einmal geholt hatte, schlich sie sich zu ihr hinüber, öffnete die Tür einen Spalt und beobachtete die beiden in der schummrigen Morgendämmerung. Astrid hatte ihr Nachthemd aufgeknöpft. Das Kind lag auf dem Bauch und war an ihrer entblößten Brust eingeschlafen. Julies erster Gedanke war, das Kind von dieser Brust wegzureißen, an der es nichts verloren hatte. Doch in Astrids Antlitz sah sie ein Glück, das sie rührte, ein Glück, vermischt mit Trauer. Sie schlich sich mit einem Gefühl davon, als habe sie etwas gesehen, das für ihre Augen nicht bestimmt war. Der Anblick verfolgte sie noch lange. Er kommt jedesmal in ihr hoch, wenn sie diesen Stich von Eifersucht verspürt, sobald Jostein seine Ärmchen lieber Astrid entgegenstreckt als ihr, seiner Mutter.

Wenn sie in sich geht, weiß sie, daß sie achtgeben muß, um keine Unterschiede zwischen ihren beiden Söhnen zu machen. Daß sie aufpassen muß, Krister nicht zuviel Platz in ihrem Herzen einzuräumen. Wie die Dinge jetzt liegen, ist es Jostein, der sie am meisten beansprucht. So sehr, daß sie manchmal das Gefühl hat, von ihm mit Haut und Haaren gefressen zu werden. Hartnäckig und widerspenstig heult er, bis er seinen Willen bekommt, und bekommt er ihn nicht von ihr, findet er jemand anderen, an den er sich wenden kann, Astrid oder Synnøve. Trotzdem hat sie das Gefühl, von diesem Kind aufgerieben zu werden. Ganz anders ist es mit Krister. Er fordert nichts, doch wenn er sie mit Synnas Hundeblick anschaut, weiß sie, daß sie ihm niemals etwas abschlagen könnte, daß sie ihn viel eher verwöhnen würde. Oft fragt sie sich, wie es möglich ist, daß das eine Kind mehr Macht über einen gewinnen kann als das andere. Ob ihre Mutter dasselbe für Synna empfand?

Am Frühstückstisch geht es friedlich zu. Achtgeben muß sie nur auf die Kinder. Die Männer sprechen über die anfallende Arbeit. Kristoffer sagt, sie müssen die Zeit bis zur Ernte nutzen und die Zäune der umliegenden Weiden reparieren. Synnøve meint, sie bräuchten ein paar Frauen zum Großreinemachen. Das sei unbedingt notwendig, da sich doch Veränderungen im Programm ergeben hätten. Allein mit Astrid könne sie es nicht schaffen, sagt sie mit einem verstohlenen Seitenblick zu Julie herüber. Julie wird es heiß, aber sie hält dem Blick stand. Auch Jørgens Augen spürt sie auf sich gerichtet, doch ihrem Blick weicht er aus.

Als sich Jørgen vom Tisch erhebt, bittet er sie, mit nach draußen zu kommen.

In der scharfen Frühlingsluft fröstelnd, steht sie vor ihm auf der Treppe. Seine ganze Gestalt, die hängenden Arme, das Gesicht, in dem sie wie in einem offenen Buch lesen kann, wenn er unglücklich ist. All das läßt Zärtlichkeit in ihr aufsteigen.

»Du darfst nicht so ärgerlich auf mich sein«, sagt er.

»Ärgerlich? Bin ich doch gar nicht.«

»Du weißt, ich versuche mein Bestes. Aber so, wie die Dinge liegen, komme ich hier nicht weg. Und du, du läufst herum und gibst mir das Gefühl, schuld an allem zu sein. Denkst du denn, ich würde mir nicht wünschen, mal für eine Weile von hier verschwinden zu können?«

»Nicht so laut. Es hat keinen Sinn, weiter darüber zu reden. Ich nehme Krister mit und fahre allein, obwohl du weißt, wie schwer es mir fällt, den Kleinen hier zu lassen.«

»Ich weiß mir einfach keinen Rat«, sagt er und streicht sich mit der Hand schnell über das Gesicht. Diese Geste, die sie rührt und zugleich ärgert. In der letzten Zeit ist sie zum Zeichen für seine Schwäche geworden, die sie nicht mehr mit ansehen kann, nicht mehr erträgt.

Synnøve hat Jostein auf dem Schoß und gibt ihm Saft aus einer Babyflasche.

»Na?« sagt sie und schaut Julie fragend an.

»Nichts weiter, es ging nur um die Reise.«

Im selben Moment, in dem sie die Worte ausgesprochen hat, steigt der Ärger in ihr hoch. Ist es schon so weit gekommen, daß auch sie das Gefühl hat, sich vor ihnen verantworten zu müssen für alles, was Jørgen und sie sich vornehmen, selbst wenn es um die persönlichsten Dinge geht?

»Wo ist Krister?«

»Er ist mit Astrid im Büro«, sagt sie und streicht Jostein über das Haar.

»Ich sähe es lieber, wenn er jetzt aus der Tasse trinken würde«, sagt Julie.

Erst vor kurzem hat sie ihm das Stillen abgewöhnt, und nach dem Kampf, den das kostete, will sie nicht, daß er sich an die Flasche gewöhnt.

»Aber das Kind hatte Durst, und so gefällt es ihm. Und du bringst es übers Herz, dieses kleine Kerlchen hier allein zurückzulassen?«

Julie steht über den Abwasch gebeugt. Jetzt dreht sie sich zu Synnøve um, ihre Augen funkeln, von den Händen tropft das Abwaschwasser, hinterläßt dunkle Flecke auf ihrer Schürze. Ihre Stimme, in mühsam erzwungener Ruhe, zittert.

»Nein, ich bringe es nicht übers Herz. Ihr zwingt mich dazu.«

»Wir zwingen dich? Du bist doch wohl erwachsen genug, um zu begreifen, daß du nicht mit zwei kleinen Kindern allein auf eine so lange Reise gehen kannst. Und schon gar nicht mit einem Säugling.«

»Es war keine Rede davon, daß ich allein fahren wollte.«

»Meinst du denn im Ernst, daß Jørgen dich begleiten kann, wo es soviel zu tun gibt und wir kaum Hilfskräfte auf dem Hof haben? Willst du denn nicht begreifen, daß das gar nicht in Frage kommt? Es reicht schon, daß du fährst. Das kostet genug, will ich meinen, wir müssen in der Zeit, die du weg bist, zusätzlich eine Hilfe ins Haus holen.«

»Mein Vater bezahlt uns doch die Reise.«

»Das mußt du mir nicht sagen.«

»Gönnt ihr mir etwa nicht, daß ich meine Familie zu Hause besuche?«

»Natürlich gönnen wir dir das. Aber zu Hause sagst du? Wir haben stark angenommen, daß Storvik jetzt dein Zuhause ist. Und als ich jung war, gab es hier auf dem Hof sowas überhaupt nicht, daß ich in den Urlaub fahren und tun konnte, wozu ich gerade Lust hatte. Das ist bei uns im Dorf nicht üblich. Als Bäuerin auf einem Hof hat man Verantwortung zu tragen.«

Der Zorn macht Julie ganz ruhig, die Stimme ist jetzt wie Eis.

»Ich bin keine Bäuerin, und Jørgen ist kein Bauer. Knechte sind wir.«

»Es ist für mich nicht gerade erfreulich, dich so reden zu hören. Ich weiß, daß ihr erpicht darauf seid, hier alles zu übernehmen, aber bevor Kristoffer den Hof überschreiben läßt, muß Jørgen zeigen, daß er mit Geld und Verantwortung umgehen kann«, sagt Synnøve trocken. »Nein, sowas, nun schläft unser kleiner Mann wohl. Du kannst jetzt noch nicht schlafen, wir müssen doch nun los und zu Tante Astrid reinschauen, wir beide.«

Synnøve geht, das Kind auf dem Arm, sie geht weg von den Worten, die gefallen sind, aber vor allem von den vielen unausgesprochenen Worten, neue Steine, die die Mauer zwischen ihr und Julie erhöhen. Nichts gehört ihr, denkt Julie. Nicht einmal die Kinder, so ist es. Und sie, die von Kindheit an Einsamkeit suchte, Einsamkeit, die wohltat, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergab, hier gibt es keinen Ort für solche Dinge. Der einzige Ort, den sie hier für sich selbst hat, ist die Welt, die sie in sich trägt. Die Welt der Gedanken, in die sie flüchtet, wenn das Leben zu schwer wird. Auf diese Weise ist es fast wie ein Geschenk, allein sein zu können. Die Gedanken drehen sich um das, was war, und um das, was ist. Um das, was aus ihrem Leben noch werden soll.

Denkt sie an sich als junges Mädchen, verspürt sie jetzt wohl eher Scham als Kummer, wenn sie daran denkt, wie naiv sie war. Diese himmelhohen Erwartungen, die sie an das Leben stellte, an die Liebe. Sie hatte geglaubt, die Liebe würde ihnen alle Wege öffnen, ihr Zusammenleben würde ganz anders werden, als sie es bei anderen erlebte. Bei ihnen sollte es niemals so werden wie bei all diesen grauen Ehegemeinschaften, deren Zeugin sie geworden war. So unglaublich kindisch und dumm war sie. Wenn sie damals an sich und Jørgen dachte, sah sie nur sie beide, vergaß, daß sie sich mit einer ganzen Familie verheiratete. Sich selbst hatte sie als Bäuerin gesehen, hatte Jørgen geglaubt, wenn er sagte, daß sie, wenn sie erst verheiratet wären und das Altenteil renoviert sei, gemeinsam den Hof übernehmen könnten. Alles blieb Gerede. Seit sechs Jahren teilt sie nun die Küche mit der Schwiegermutter. In diesen Jahren haben Jørgen und sie keine einzige Mahlzeit allein miteinander in der Küche auf Storvik eingenommen. Synnøve führt das Kommando über Haus und Vieh, Kristoffer über Wirtschaft und Geld. Astrid verwaltet das Postamt, aber Kristoffer verfügt über die Einkünfte, die dort erzielt werden. Ist es verwunderlich, daß sie sich manchmal wie ein Dienstmädchen auf dem Hof vorkommt und Jørgen sich wie ein Knecht fühlt? Ist es verwunderlich, daß sich Enttäuschung in ihr breitmacht und in Zorn umschlägt, den sie an ihm ausläßt? Daß sie findet, er ist schwach, weil er sich dreinschickt? Das ist nicht nur hier bei uns auf dem Hof so, sagt er, auf anderen Höfen im Dorf ist es doch genau dasselbe Elend. Die Alten fürchten sich davor, das Ruder den Jungen zu überlassen. Dabei geht Kristoffer auf die siebzig zu. Wie lange will er es noch hinauszögern? In letzter Zeit ist ihr an Jørgen auch eine gewisse Resignation aufgefallen. Daß er hier eines Tages der Bauer sein könnte, scheint ihm eher ein Wunschtraum als Wirklichkeit zu sein. Obwohl sie von ihm enttäuscht ist, leidet sie auch mit ihm. Jørgen muß zeigen, daß er mit Geld und Verantwortung umgehen kann, sagte Synnøve. So gemein kann sie manchmal sein. Wie demütigend diese Aussprache für sie, aber auch für Jørgen war. Wie soll er lernen, Verantwortung zu tragen, wenn er mit jeder Kleinigkeit zu seinem Vater gehen muß? Wenn ihm niemals zugetraut wird, daß er ganz auf sich allein gestellt mit einer Arbeit fertig werden kann? Wenn er zum Vater gehen muß und um jede Øre für sich, für sie und die Kinder bitten muß? Wenn sie sich schon gedemütigt fühlt, wie muß Jørgen das erst empfinden? Er wird bald dreißig, hat Frau und Kinder und wird behandelt wie ein kleiner Junge. Sie hat große Angst, daß sie daran zerbrechen, daß dadurch alles zwischen ihnen zerstört werden könnte.

Sie muß an die schlimme Zeit denken, als sie befürchtete, sie würde kein Kind bekommen. Damals hatte sie keine Ahnung und dachte, wenn man erst einmal verheiratet war und mit einem Mann geschlafen hatte, so müßte man ein Kind kriegen. Dann vergingen Monate, ohne daß etwas passierte. Sie erinnert sich an Synnøves Blicke und an all die Fragen der Frauen im Dorf. Ob es nicht bald einen Kinderwagen in Storvik gäbe. Sie denkt daran, wie sie im Schlafzimmer über der Küche saß und Gott weiß zum wievielten Male Jørgen mit den Eltern über die Übernahme des Hofes diskutieren hörte. Erinnert sich an Synnøves Antwort, die sich ihr ins Gedächtnis gebrannt hat:

»Es sieht nicht danach aus, daß ein Kind unterwegs ist. Und solange es keinen Kinderwagen auf Storvik gibt, hat es wohl auch keine Eile mit der Übernahme des Hofes, denke ich mir.«

Was hat sie an diesem Abend geweint. Nachdem Jørgen eingeschlafen war, schlich sie sich in die Küche hinunter, saß dann dort die halbe Nacht und schüttete der Mutter in einem langen Brief ihr Herz aus. Vergaß völlig, daß ihre Mutter auch nicht immer so fürsorglich gewesen war.

Sie schickte den Brief ab, ohne das Geschriebene noch einmal durchzulesen. Hinterher wurde sie von einer Unruhe ergriffen, ob sie nicht mehr verraten hatte, als sie hätte tun sollen, aber bei wem sollte sie Trost suchen, wenn nicht bei der eigenen Mutter?

Als die Antwort kam, wurde ihr klar, daß sie nicht ohne Grund von dieser Unruhe ergriffen worden war. Der Mutter war es gelungen, ihr die ersten Tröpfchen Gift einzuträufeln, was die Beziehung zu Jørgen betraf. Diese Tröpfchen wurden ständig mehr, sie verfehlen ihre Wirkung nicht, wenn es zwischen ihnen kriselt. Wenn alles in Ordnung ist, sind sie vergessen. Die Briefe der Mutter, aus denen so ganz allmählich Mitleid mit der Tochter zu sprechen begann, weil sie ihr Leben an einen solchen Mann weggeworfen hatte. Weil sie seinetwegen auf eine aussichtsreiche Ausbildung verzichtete. Und hatte sie Julie nicht gewarnt, als Jørgen zum erstenmal zu Besuch bei ihnen war? Daß er schwächlich sei, daß er offensichtlich gesundheitliche Probleme habe? Und sie dagegen, Julie, habe nie eine Krankheit gehabt, der es zuzuschreiben wäre, daß sie keine Kinder bekommen könnte. Außerdem sei ihr auch kein Fall von Kinderlosigkeit in ihrer Verwandtschaft bekannt. Demzufolge mußte es an Jørgen liegen, wenn sie kinderlos blieben, meinte Helga. Das waren keine schönen Briefe, keine Briefe, die Trost spendeten, das waren Worte, die Gedanken in ihr auslösten, die sie sich nicht einzugestehen wagte.

Mehr als zwei Jahre waren sie verheiratet, bevor Krister kam. Die Geburt dauerte lange und war schwierig, sogar der Arzt mußte zur Entbindung hinzugezogen werden, aber nie wird sie das Glück vergessen, das sie empfand, als sie dalag und ihn in ihren Armen hielt. Auch nicht, mit welchem Stolz sie im ersten Sommer danach ihre Familie zu Hause besuchten. Krister war acht, neun Monate alt, als sie ihn der Verwandtschaft und den Freunden präsentierten. Das waren Augenblicke, in denen sie sich für unbezwingbar hielt. Krister wurde im September 1923 geboren, im selben Monat, in dem auch sie Geburtstag hat, ein Herbstkind wie sie.

Seitdem ist sie nicht mehr zu Hause gewesen. Die Eltern waren mit den jüngeren Brüdern und der kleinen Ingrid zu Besuch hier, als Jostein getauft wurde. Zur Taufe getragen wurde er von ihrer Mutter. Johanne hat sie nicht mehr gesehen, seit sie das letzte Mal zu Hause war. Johanne absolviert das letzte Jahr auf der Schule in Volda. Es versetzte ihr innerlich einen Stich, als sie erfuhr, daß Johanne dorthin gehen sollte. Johanne, die ihr so schöne Briefe schreibt, die Christin geworden ist, dieses Mal im rechten Glauben, einen Freund hat sie auch, aber all das soll Julie erfahren, wenn sie sich treffen. Denn Julie fährt nun nach Hause.


Jørgen war es, der vorgeschlagen hatte, daß sie nach der Frühjahrsbestellung mit den Kindern zu ihren Eltern fahren könnten, und mit dem Gedanken daran war sie leichter über dieses Frühjahr gekommen.

Seitdem Astrid die Post verwaltet, weiß sie genau Bescheid über alle Post, die abgeht und ankommt. Dies gilt sowohl für das Haus als auch für das Dorf. Gestern abend, als sie am Abendbrottisch saßen, kam Astrid mit dem fatalen Brief.

»Es ist ein Einschreiben für dich gekommen«, sagte sie und reichte Julie den gelben Zettel und einen Stift. »Es ist von deinem Vater.«

Während Julie unterschrieb, lag der gelbe Geldbriefumschlag auf dem Tisch, für alle sichtbar. Synnøve schob ihn zu Julie herüber. »50 Kronen« stand auf der Vorderseite des Umschlages, auf der Rückseite der rote Lacksiegel des Vaters.

»Fünfzig Kronen, du lieber Himmel«, sagt Synnøve.

»Ist das so zu verstehen, daß wir hier auf unserem Hof nicht gut genug für dich sorgen, Julie?« fragt Kristoffer gleichmütig, aber seine Worte sind verletzend, und zwar mehr als es Synnøves gelegentlich sind. Meistens überläßt er Synnøve auszusprechen, was gesagt werden muß, aber sagt er einmal selbst zuerst etwas, dann mit einem unerschütterlichen Gewicht, das keine Widerrede duldet, das sie erröten läßt, als wäre sie ein kleines Mädchen.

»Nein, das ist bloß Geld für die Reise«, sagt sie.

»Ja, das versteht sich«, sagt Synnøve.

Mehr wird nicht gesagt. Die Stille brütet schwer über dem Tisch. Sie schaut zu ihnen hinüber. Synnøve und Kristoffer, Jørgen und Astrid, die verschlossenen Gesichter, alle konzentrieren sich auf das Essen, nur Anders, dem Knecht, ist Verlegenheit anzusehen, während er krampfhaft auf seine Schüssel starrt. Glücklicherweise kann man sich auf Anders verlassen. Er ist loyal und trägt nicht gleich alles unter die Leute, wie es anderes Dienstpersonal tun würde.

Sie murmelt eine Entschuldigung, erhebt sich vom Tisch und geht nach oben, schleicht sich in das Schlafzimmer, wo sie in der Stille allein ist mit den leichten Atemzügen der schlafenden Kinder. Aus der Küche unter ihr sind immer noch die Geräusche von klirrenden Tassen zu hören, von Menschen, die essen.

Außer den fünfzig Kronen sind Briefe von beiden Eltern in dem Umschlag. Das ist in der Regel immer so. Ein langer Brief von der Mutter, ein kürzerer vom Vater. Dieses Mal sind es nur knappe Grüße von beiden. Die Mutter schreibt, sie freue sich auf den Besuch, die Kinder wiederzusehen, besonders freue sie sich auf den Jüngsten, »auf deinen kleinen rothaarigen Troll«, schreibt sie, und »wir werden ihn hier schon bändigen«. Der Vater schreibt vor allem von dem Geld, dieses Mal habe er eine ausreichende Summe schicken wollen, damit sie auf der Reise nichts entbehren müßten. Außerdem wolle er für sie einen Termin beim Zahnarzt in Molde machen, und für ein neues Kleidungsstück oder zwei werde wohl auch noch etwas übrigbleiben, schreibt er. Denn er verstehe, daß es für sie auch nicht immer ganz leicht sei.

Den Geräuschen aus der Küche, dem Schurren der Stühle auf dem Fußboden, dem Schlagen der Türen entnimmt sie, daß sie vom Tisch aufstehen. Dann ist es wieder eine Weile still, bis sie ihre Stimmen hört, so deutlich, als wären sie hier bei ihr im Zimmer. Starr, mit klopfendem Herzen in der Brust lauscht sie.

»Nein, es kommt gar nicht in Frage, daß du wegfährst, wo wir hier so wenig Hilfe haben«, sagt Kristoffer.

»Du kannst doch für die Tage, die ich weg bin, jemanden einstellen!«

»Und du bezahlst ihn wohl?« fragt Synnøve schneidend.

»Nein, Jørgen, du bleibst hier. Sie kann allein fahren, wenn sie unbedingt von hier weg muß. Aber daß du mitten in der Arbeit alles stehen und liegen läßt, lasse ich nicht zu. Du solltest endlich beweisen, daß du erwachsen bist, Junge, und kein Wort mehr darüber«, sagt Kristoffer, und die Tür schlägt hinter ihm zu.

»Ich verstehe euch nicht«, sagt Jørgen aufgebracht. »Ich habe schon vor langem gesagt, daß wir verreisen wollen.«

»Dein Vater hat bestimmt nicht gedacht, daß du es ernst damit meintest, mitten in der geschäftigsten Zeit wegzufahren.«

»Und wann gibt es hier nichts zu tun?«

»Du hast gehört, was dein Vater gesagt hat. Wenn die Angelegenheit so dringend ist und sie unbedingt fort muß, dann kann sie Krister nehmen und allein fahren.«

»Krister? Und was ist mit dem Kleinen?«

»Nein, sie kann unmöglich mit zwei Kindern auf eine so lange Reise gehen. Und Jostein ist noch ein Wickelkind. So erwachsen sollte sie immerhin sein.«

»Glaubst du wirklich, Julie würde ihr Kind zurücklassen?«

»Ja, wenn es so ist und sie uns nicht zutraut, daß wir die paar Wochen, die sie weg ist, mit ihm zurechtkommen, dann muß sie eben hierbleiben.«

»Findest du, daß das alles hier leicht für mich ist, Mama?«

»Was dein Vater über das Erwachsenwerden gesagt hat?«

»Erwachsen. Werde ich wie ein Erwachsener behandelt?«

Mit einem Knall schlägt die Tür hinter ihm zu. Wütend und gedemütigt sitzt Julie da und lauscht auf seine Schritte auf der Treppe, aber sie hört nur das Krachen der Haustür. Er ist also weggelaufen, wieder einmal. Sie stürmt die Treppe hinunter, reißt die Haustür auf, ruft ihm hinterher, doch er antwortet nicht. Als sie vor Synnøve steht, glüht ihr Gesicht, sie unterdrückt die Tränen, ihre Stimme zittert.

»Niemals werde ich ohne mein Kind fahren.«

»Dann mußt du die Reise halt bleiben lassen, verstehst du.«


Die Streitigkeiten mit leiser Stimme im Bett, wo die Worte zu Eis werden, weil sie sich beide mäßigen müssen, so daß niemand im Haus hört, was sie sagen, setzen ihr zu. Sie schaudert, wenn sie ihr eigenes Fauchen hört.

»Feige bist du, Jørgen, und nichts weiter. Daß du nicht einfach einmal auf den Tisch haust, wenn du mit ihnen sprichst? Daß du dich damit einverstanden erklärst, daß ich zusehen soll, wie mein Kind hier bei ihnen bleibt.«

»Ich war nicht damit einverstanden, du mußt verstehen, daß das auch für mich schwer ist.«

»Aber du bist davongelaufen, ohne zu protestieren, oder?«

»Hab’ ich doch, so gut ich konnte. Wir dürfen uns deshalb nicht entzweien, Julie. Es gibt Dinge, die wir nicht ändern können, weder du noch ich. Du wirst sehen, eines Tages wird alles besser. Und für dich und Krister kann es eine angenehme Reise werden, und du könntest dich ausruhen!« sagt er und versucht, sie an sich zu ziehen, doch sie entwindet sich seinen Armen. Wieder kommt Wut in ihr hoch. Er soll nicht glauben, daß es so einfach ist, daß sie miteinander schlafen, und alles ist vergessen.

»Nein, ich glaube, es wird nie besser. Nicht, solange sie über uns bestimmen werden. Hast du schon einmal etwas von Scheidung gehört, Jørgen? Ist es das, wovor du Angst hast, fürchtest du, daß ich nach Hause fahre und nicht mehr zurückkomme? Ist das der Grund, weswegen ihr euch gezwungen seht, Jostein als Geisel hier auf dem Hof zu behalten, während ich fort bin?«

»Jetzt bist du aber gemein, Julie.«

Sie legt ihr Gesicht an seinen Rücken, umfaßt ihn, doch er schiebt ihre Arme weg. Danach liegt sie genauso steif da wie er, starrt in das Dunkel der Nacht, bis sie sein ruhiges Atmen hört, nachdem er eingeschlafen ist. Dann weint sie, aber leise, leise. Denn niemand soll sie hören.

Sie muß dann wohl geschlafen haben, schweißgebadet und unruhig, denn Josteins Weinen weckte sie. Noch bevor sie sich aus dem Bett erheben konnte, war Jørgen auf den Beinen, ging mit dem Kind auf dem Arm im Zimmer auf und ab und summte leise.

»Ich kann ihn doch nehmen, damit du schlafen kannst.«

»Nein, schlaf nur, Julie. Ich kann in dieser Nacht sowieso kaum ein Auge zumachen.«

Jostein wachte in dieser Nacht noch einmal auf. Machte sich an ihrem Nachthemd zu schaffen und verlangte die Brust. Schlug ihr die Tasse mit der Milch aus den Händen. Da weinten sie beide, sie und das Kind. Zum Schluß setzte sie sich mit ihm in einen Korbsessel an das Fenster, wickelte eine Decke um sie beide. Dort saß sie noch lange, nachdem er eingeschlafen war, und das fürchterliche Wort hallte als Echo in ihr wider. Scheidung. Es war für sie bloß ein Wort. Nun schien es, als ob dieses Wort immer zwischen ihnen stünde. Weil es ausgesprochen worden war und nicht mehr aus ihrer beider Erinnerung getilgt werden kann. Denn sie fühlte sich so sehr verletzt, daß sie ihn ebenfalls verletzen wollte. Alles würde sie dafür tun, wenn sie dieses Wort ungesagt machen könnte.

Es war wohl vor allem wegen Jørgen, daß sie vor Synnøve klein beigab, als sie am nächsten Morgen zusammen mit ihr die Kühe versorgte.

»Ich werde es wohl so machen und Krister mit auf die Reise nehmen.«

Für einen Moment standen sie sich gegenüber, die beiden Frauen, einander musternd, und Julie sah etwas in Synnøves Augen, das sie schon früher gesehen hatte, etwas, das wie Respekt aussah.

»Ja, wir müssen den Verstand walten lassen, wir Frauen, wenn die Männer es nicht können, nicht wahr?«

Wahrscheinlich gelingt es Synnøve bald, es so hinzudrehen, daß es Julies freier Wille war, das Kind hier zurückzulassen, während sie selber so etwas Unerhörtes wie eine Urlaubsreise unternahm.


Als es auf die Mittagszeit zugeht, sieht sie die Männer quer über das Feld kommen, Jørgen ein Stückchen vor den anderen. Mit Jostein auf dem Arm geht sie ihm entgegen. Jostein streckt die Arme nach dem Vater aus, und als Jørgen ihr das Kind abgenommen hat, tritt sie verstohlen auf ihn zu und streicht ihm schnell über die Wange.

»Ich möchte mich für das, was ich gestern abend gesagt habe, entschuldigen. Du weißt doch, daß ich das nicht so gemeint habe. Ich war nur so empört, so enttäuscht. Es ...«

»Nein, das ... das besprechen wir später.«

Doch er lächelt sie an, ein sonderbares schmerzliches Lächeln, das alles in ihr wachruft, was sie für ihn empfindet, das größer ist, als sie in Worte fassen kann.

»Ja, denn du weißt doch, Jørgen, wie gern ich dich habe.«

»Das weiß ich, Julie.«

»Ich möchte dich nicht verlieren, niemals, das weißt du«, sagt sie mit einer ihr ungewohnt erscheinenden Heftigkeit. Ungewohnt ist es auch, daß sie über solche Dinge miteinander reden, doch heute spüren sie, daß es um viel geht, das es zu retten gilt.

Wieder lächelt er, dasselbe schmerzliche Lächeln, er nimmt ihre Hand und drückt sie heftig und ganz kurz, bevor er sie wieder losläßt.

Die Stimmung am Mittagstisch ist gelöster als am Abend zuvor. Vielleicht deshalb, weil sie selber zuversichtlicher ist, oder vielleicht sind die anderen erleichtert, weil sie ein Problem gelöst haben. Da wird die Unterhaltung der Erwachsenen durch Kristers helle Kinderstimme unterbrochen.

»Was ist eigentlich Scheidung

Am Tisch herrscht ohrenbetäubende Stille. Für Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit vorkommen, schaut sie in die Gesichter, die sie umgeben. Jørgen ist so rot geworden wie sie selber vermutlich auch. Erschüttert blickt sie ihren Sohn an. Er muß gestern abend wach gewesen sein, ohne daß sie es gemerkt haben. Es ist auch schon vorher vorgekommen, daß er wach war und keinen Ton von sich gab.

»Ich will wissen, was das eigentlich ist«, fordert er hartnäckig.

»Was du so alles fragst, Junge«, sagt Synnøve. »Wie kommst du denn darauf?«

»Die Mama und der Papa haben gestern abend davon gesprochen, und ich weiß nicht, was das ist.«

Julie hat sich jetzt besonnen.

»Ach, wir haben bloß darüber gesprochen, weil der Papa und ich davon in der Zeitung gelesen haben.«

»Aber ich will wissen, was das bedeutet.«

»Das bedeutet, daß Eheleute nicht mehr miteinander verheiratet sein möchten«, sagt Astrid ruhig. »Daß sie nicht mehr zusammen wohnen möchten.«

»Wollen die Mama und der Papa nicht mehr zusammen wohnen?«

»Natürlich wollen Papa und ich zusammen wohnen. Iß jetzt und sei still!«

Wenn sich doch der Boden unter ihr öffnen würde, wenn sie doch nur von hier fliehen könnte. Doch Krister gibt sich damit noch nicht zufrieden.

»Und was ist denn eigentlich eine Geisel?«

Julie schnappt nach Luft. Hilflos schaut sie Jørgen an.

»Eine Geisel?«

»Ja, denn davon habt ihr auch gesprochen. Und ich will wissen, was das ist.«

Wieder ist es Astrid, die für eine Antwort sorgt.

»Na ja, Krister, eine Geisel, das ist fast dasselbe wie ein Gefangener. Ein Gefangener, das weißt du, der wird ins Gefängnis gesperrt. So ungefähr ist es mit einer Geisel auch.«

»Aber die Mama hat gesagt, hier auf dem Hof gibt es eine Geisel.«

»Niemals hat deine Mama so etwas gesagt, das kannst du mir glauben.«

»Nun sei aber still, Kind, und iß endlich! Hab’ ich dir nicht gesagt, daß du den Mund halten sollst, wenn sich Erwachsene unterhalten«, fügt Jørgen so laut hinzu, daß Krister auf seinem Stuhl vor Schreck zusammenzuckt. Er verzieht den Mund und fängt fast zu weinen an.

»Bestimmt hat schon einmal einer von euch hier im Haus das Sprichwort gehört, das da lautet ›Auch kleine Kinder haben Ohren.‹«, sagt Synnøve.

Fürchterlich ist das, fürchterlich, was das Kind da in Gang gesetzt hat, noch schlimmer ist es, daß es den erbitterten Streit zwischen den Eltern, die entsetzlichen Worte mitanhören mußte.


An diesem Abend geht Synnøve zu einer Zusammenkunft in der Seemannsmission. Kristoffer und Jørgen sind fort zu einer politischen Versammlung. Vermutlich dreht es sich um feste Höchstpreise für Milch und die damit im Zusammenhang stehenden Abgaben. Darum hat es in der letzten Zeit große Diskussionen gegeben. Bestimmt wird es auch Storvik hart treffen, denn sie verkaufen viel Milch in kleinen Mengen an Kunden in der Ortschaft Øra. Jedenfalls, so kommt es, daß Astrid und Julie an diesem Abend allein in der Küche zurückgeblieben sind. Für jemanden, der sie so dasitzen sehen könnte, wäre das ein Bild der Eintracht. Zwei junge Frauen, die in einer sauberen und aufgeräumten Küche friedlich beieinander sitzen und die beide mit einer Handarbeit beschäftigt sind. Doch wenn sie zu zweit sind, herrscht immer eine gespannte Atmosphäre.

Sie dachte, als sie hierherkam, daß sie in Astrid eine enge Freundin finden würde. Sie sind gleichaltrig, und sie könnten sehr viele Gemeinsamkeiten haben. Am Anfang war es wohl auch so. Astrid hatte zu dieser Zeit Liebeskummer, sie vertraute sich Julie damit an, und es verging eine lange Zeit, bis sie darüber hinwegkam. Später hatte sie einen anderen, der in der Holzmühle in Øra arbeitete, er war nicht von hier aus dem Dorf. Julie erinnert sich, wie sehr die beiden einander mochten, daß sie darin ihre eigenen Gefühle, die sie in der ersten Zeit für Jørgen hatte, wiedererkannte. Sie sah es den Gesichtern der beiden an, wenn sie ihnen zusammen begegnete, wenn sie miteinander tanzten, wenn die zwei einander in der Nähe wußten. Für einige Monate war es auch wie ein Wiederaufleben der Zeit mit Synna und Hans. Sie deckte Astrid, wenn sie sich zu heimlichen Treffen hinausschlich. Julie fragte sie, ob sie ihn nicht bald einmal mit nach Hause bringen wolle, so daß die Eltern ihn kennenlernen könnten. Das habe keine Eile, meinte Astrid, doch eines wisse sie, sie wolle ihn haben und sonst keinen. Ihr war wohl bewußt, welchen Streit es geben würde. So kam es, wie es kommen mußte. Kristoffer und Synnøve bekamen Wind davon, und es gab einen Aufruhr, den sie nur langsam vergessen werden.

Astrid, die ansonsten ruhig und besonnen ist, die es gelernt hat wie jedermann hier im Haus, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, raste und flehte die Eltern an, weinte und bat. Julie erinnert sich, wie erschrocken sie damals über Kristoffers gnadenlose Kälte war. Astrid wurde mitgeteilt, daß sie den jungen Mann auf den Hof einladen solle, damit die Sache auf anständige Weise erledigt werden könne.

»Lieber Papa, bitte«, weinte Astrid.

»Es kommt gar nicht in Frage«, sagte Kristoffer. »Ich werde es niemals zulassen, daß meine Tochter einen simplen Arbeiterflegel heiratet.«

»Er ist kein Flegel, er ist ein ordentlicher Junge. Könnt ihr ihn nicht wenigstens treffen und in Augenschein nehmen, bevor ihr ihn verurteilt?«

»Er ist doch vielleicht gar nicht so übel«, versuchte es Julie.

Kristoffer sah sie mit eisigem Blick an.

»Du solltest dich nicht in Dinge einmischen, die dich nichts angehen. Ich verlange von dir, Astrid, daß du dich anständig aufführst, und jetzt kein Wort mehr davon.«

Sogar Synnøve schwieg.

Man ließ den Burschen benachrichtigen, und er kam auf den Hof. Die beiden erhielten lediglich ein paar armselige Minuten im Wohnzimmer, bevor Kristoffer zum Zeichen, daß der Besuch beendet war, an die Tür klopfte. Nie wird Julie den Anblick vergessen, wie der Junge vom Hof radelte. Dieses weiße Gesicht, den gebeugten Rücken, niemals.

Astrid, eine erwachsene Frau, bekam Hausarrest, wie man das wohl nennen muß. Das wäre nicht notwendig gewesen. Der Junge verließ das Dorf, und Astrid wurde krank. Sie wollte niemanden außer Julie sehen, und es war Julie, die sie tröstete und die sie wieder auf die Beine brachte. Und sie bemerkte, daß, obwohl Synnøve die Sache mit keinem Wort erwähnte, sie nicht unbeeindruckt davon blieb.

»Es wird sich schon wieder geben, wir müssen nur geduldig sein, die Zeit heilt alle Wunden«, sagte sie, doch es war eine Trauer, eine Sorge in ihren Augen, die Julie ergriff, die sie mitten in all dem Bösen versöhnlich stimmte. Denn sie fürchtete damals, das Ganze würde auf Astrids Gemüt schlagen.

Im Postamt fragten die Leute nach ihr, ob sie krank sei.

»Oh, sie hat sich eine schlimme Grippe eingefangen, die langwierig ist«, antwortete Kristoffer.

»Geht denn wieder eine Erkältungswelle um?« wollten die Leute wissen und rechneten zwei und zwei zusammen und fanden die Antwort, die sie haben wollten, selber. Es ist hier nicht besser als woanders. Es war nicht unbemerkt geblieben, wie niedergeschlagen der Junge an jenem Tag von Storvik gekommen war.

Dann eines Abends, nachdem Julie zu Bett gegangen war, kam Astrid und fragte, ob Julie zu ihr herüberkomme, sie müsse mit ihr reden. Julie setzte sich zu ihr auf die Bettkante, sah ihr vom Weinen verschwollenes Gesicht, und da erzählte ihr Astrid, daß sie glaube, schwanger zu sein.

»Was soll ich machen, Julie? Ich habe solche Angst«, flüsterte sie.

Sie hielt Astrid in ihren Armen, spürte, wie ihr ganzer Körper steif war von dem Versuch, das Weinen zu unterdrücken, das Weinen, das niemand, niemand hören durfte.

»Es kommt so weit, daß sie mich vor die Tür setzen, Julie, sie schmeißen mich raus.«

»Nein, dazu haben sie doch gar kein Recht.«

Sie versprach Astrid, niemandem etwas davon zu sagen, sie würden es noch früh genug erfahren.

Am Morgen danach war sie wieder an ihrem Platz in der Küche. Bleich und still verrichtete sie die Arbeit, die ihr aufgetragen wurde, und Julie mußte mit ihr leiden. Das Postamt wurde jetzt von Kristoffer verwaltet, er hatte die Kontrolle über alle Post, die im Haus ankam und abgeschickt wurde. Eine unheilvolle Stimmung lag über dem Hof.

Dann eines Morgens, als sie und Astrid allein sind, sagt Astrid:

»Julie, das, worüber wir gesprochen haben, dazu kommt es nicht.«

»Du meinst ...?«

»Ja, das ... das hat sich von selbst erledigt.«

»Aber das ist doch gut.«

»Ja, gut«, sagt Astrid kalt. Sie hat rote Wangen, aber am schlimmsten ist der Ausdruck in ihren Augen, eine Kälte, ein Widerwille, der an Haß erinnert. »Und du, Julie, du mußt mir schwören, daß du niemals jemandem etwas davon sagen wirst, auch Jørgen nicht, denn wenn du das tust, dann ... Es soll vergessen sein.«

Julie versucht zu begreifen. Sie kann verstehen, daß Astrid Scham empfindet, weil Julie weiß, daß sie mit einem Mann zusammen gewesen ist, bevor alles zwischen ihnen geregelt war. Was sie aber nur schwer billigen kann, ist Astrids Abneigung gegen sie, gerade als wollte sie ihr das Geschehene zur Last legen. Und sie ist traurig über den Verlust der Freundschaft, an die sie so große Hoffnungen geknüpft hatte.

Mit den Jahren wurde es wieder, aber die Vertrautheit, die sie einmal hatten, ist nicht mehr vorhanden. Trotzdem empfindet sie Zuneigung für Astrid. Das Leben, das sie hier hat, muß für sie nicht leicht sein. So wie es hier um sie steht, dem Willen der Eltern total ausgeliefert, sollte sie eigentlich unbedingt versuchen wegzukommen. Und wenn sie unverheiratet bleibt, kann sie sich nicht mit Jørgen und Julie anlegen, weil sie eines Tages von ihnen abhängig sein wird. Wie die Dinge jetzt stehen, könnte das durchaus passieren. Immer seltener ist Astrid im Dorf mit anderen Jugendlichen zusammen.

Julie ist so in Gedanken versunken, daß sie zusammenfährt, als Astrid sie anspricht.

»Wir sitzen wohl heute beide da und hängen unseren Gedanken nach, Julie. Ich denke an dich und Jørgen. Der Junge hat mir heute einen schönen Schreck eingejagt, als er das Wort Scheidung sagte. Es kann doch wohl nicht wirklich so schlimm sein, daß ihr, du und Jørgen, davon gesprochen habt?«

»Nein, was redest du denn? Wir verstehen uns gut, Jørgen und ich. Scheidung? Nein, bist du noch bei Trost?«

»Ich begreife gut, daß es für euch nicht so einfach ist. Unser Vater, der ist starrköpfig, das weiß niemand besser als ich«, sagt Astrid, als habe sie die Gedanken, die Julie gerade durch den Kopf gingen, gelesen. »Unsere Mutter, mit ihr ist es auch nicht gerade einfach, aber du mußt schnellstens lernen, daß es bei ihr, unserer Mutter, in erster Linie nur das Mundwerk ist. Du mußt ein bißchen mehr dagegenhalten, laß sie nicht jedesmal den Sieg über dich davontragen.«

Es ist ungewohnt für Julie, daß Astrid so mit ihr spricht. Die Ereignisse der letzten Tage müssen auch sie erschüttert haben, sonst würde sie so nicht reden.

Sie versteht, sagt Astrid, daß dieser Umstand, daß sie den Hof nicht überschrieben bekommen, schwierig für sie sei. Aber Julie muß versuchen, die Eltern auch zu verstehen. Ihre Mutter hat selber nicht erlebt, wie es ist, die Küche mit der Schwiegermutter teilen zu müssen, denn sie war schon tot, als Synnøve auf den Hof kam. Deshalb ist es wohl besonders schwer für sie, das Steuer und die Macht aus der Hand zu geben. Und was den Vater betrifft, so hat er Angst vor den schwierigen Zeiten. Ja, denn Julie ist ja wohl nicht entgangen, wie viele Höfe in der letzten Zeit unter den Hammer gekommen sind. Und sie auf Storvik müssen sich mit großen Schulden abplagen.

»Steht es wirklich so schlecht?«

»Aber das weißt du doch, Julie?«

»Jørgen hat es mal beiläufig erwähnt, aber wieviel es wirklich ist, habe ich nie erfahren.«

»Ja, um welche Summen es geht, weiß ich auch nicht, aber es ist ein großes Darlehen für den Bau des neuen Kuhstalls aufgenommen worden. Weitere Schulden mußten gemacht werden, weil das Wohnhaus ein neues Dach brauchte und alle Gebäude zu eurer Hochzeit neu gestrichen wurden.«

»Das wußte ich nicht«, sagt Julie schockiert.

»Nein, aber so ist es nun mal.«

Sie wisse, wie enttäuscht Julie sei, weil sie alleine auf Besuch nach Hause fahren müsse. Deshalb, dachte sie, müsse sie mit ihr über diese Dinge sprechen, dann sei es vielleicht leichter, alles zu verstehen. Auch zu verstehen, warum der Vater Widerstand leiste, den Hof gerade jetzt aus den Händen zu geben.

»Glaubst du denn nicht, daß Jørgen das schaffen könnte?«

»Doch, das glaube ich schon, aber einen Hof zu übernehmen, das kostet Geld. Das würde noch mehr Schulden bedeuten, und gerade jetzt haben wir nicht die besten Zeiten für sowas. Und unser Vater hat bestimmt ein bißchen mehr Erfahrung mit solchen Dingen. Nun verstehst du vielleicht auch, daß es nicht nur daran liegt, daß er knauserig ist, wenn er von Sparen spricht. Ich dachte nur, ich sollte dir das sagen.«

»Muß ich ein schlechtes Gewissen haben, weil ich verreise?«

»Überhaupt nicht. Du darfst dir auch nichts daraus machen, daß sie knurren, weil dein Vater dir das Reisegeld geschickt hat. Ein bißchen Stolz besitzen wir doch alle, nicht wahr? Und eigentlich hast du doch Glück, Julie.«

»Habe ich das?«

»Ja, etwa nicht? Du hast einen Mann, der dich liebt, der stolz auf dich ist, das sieht jeder. Und du hast zwei wunderbare Kinder. Bei allen Schwierigkeiten solltest du das nie vergessen. Sieh mich an, was habe ich? Was meinst du, was für eine Zukunft vor mir liegt?«

»Aber du bist doch noch jung, du kannst etwas aus deinem Leben machen. Sieh zu, daß du hier wegkommst, Astrid.«

»Jung, nein, jung fühle ich mich nicht mehr. Man kann mich fast eine alte Jungfer nennen, und wie die Dinge jetzt stehen, denke ich, kann ich mich hier nützlich machen. Post-Astrid nennen sie mich im Dorf. Das ist das, was ich bleiben sollte. Wir sind jetzt zwei hier auf dem Hof, denen man einen Spitznamen verpaßt hat, ihm, dem Anders-Knecht, und mir, der Post-Astrid. Darauf kann man nicht gerade stolz sein.«

»Aber darum mußt du dich doch überhaupt nicht scheren. Die Leute hier haben bestimmt für jeden einen Spitznamen. Ich glaube, mich nennen sie Romsdals-Julie, wenn sie sich nicht einen anderen Namen ausgedacht haben.«

»Nein, weißt du, was sie über dich sagen? Daß du die schönste Frau bist, die je ins Dorf gekommen ist.«

»Dummes Gerede«, prustet Julie.

Und da sie schon einmal frage, man sage auch über sie, daß sie nur schwer zugänglich sei und hochnäsig.

Das sage man von ihr? Sie kommt sich doch gar nicht als etwas Besseres vor. Ein bißchen schüchtern und zurückhaltend, wenn sie auf Fremde trifft, das ist sie immer gewesen. Doch sie hatte stets das Gefühl, daß die Leute hier nur schwer zugänglich sind. Daß sie nach wie vor als Fremde angesehen wird, die nicht hierher gehört.

Astrid sagt, sie müsse versuchen, entgegenkommender zu werden, dann werde es für sie leichter, hier im Dorf zu leben. Denn Julie wisse wohl selber, daß sie mitunter ziemlich abweisend erscheinen könne.


Astrid hat ihr einiges zum Grübeln gegeben. Aber warum hat Jørgen ihr nichts von all den Schulden erzählt? Sie weiß noch, wie stolz sie war, als die Eltern zu ihrer Hochzeit gekommen waren. Als sie ihnen den Hof zeigte. Das weiße Wohnhaus, die roten Nebengebäude, den gepflegten Garten mit dem Lattenzaun darum, alles frisch gestrichen. Und das alles war mit geborgtem Geld neu gemacht worden? Seit sechs Jahren ist sie hier und wußte nichts davon? Einen besseren Beweis für die Offenheit zwischen den Menschen in diesem Hause hätte sie nicht bekommen können. Auf wen soll sie sich verlassen? Kann sie sich auf Jørgen noch verlassen? Wie es auch immer hier gewesen sein mag, sicher hat sie sich jedenfalls auf dem Hof gefühlt. Aber jetzt? Plötzlich merkt sie, wie sehr sie den alten Jørn vermißt. Er, der beste Freund in der ersten Zeit, als für sie hier noch alles so fremd war. Er starb, als sie mit Krister schwanger war. Sie war mit ihm allein in der Küche. Er saß auf dem Feuerholzkasten und unterhielt sich mit ihr. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt, als sie plötzlich einen merkwürdigen Kehllaut hörte. Sie drehte sich um und begriff sofort, was geschehen war. Sein Kopf lag gegen die Wand gelehnt, sie bekam ihn gerade noch zu fassen, bevor er auf den Fußboden fiel. So stand sie eine Weile da und hielt ihn fest, bevor sie um Hilfe rief. Immer noch kommt es ihr vor, als könne sie die Schwere seines Körpers in ihren Armen spüren, und dann war da noch das Kind, das in ihrem Bauch strampelte. Eine schwere, tiefgreifende Wahrnehmung, die durch ihren Körper ging, das gleichzeitige Erleben von Leben und Tod. Ein Gefühl, das sie nie vergessen wird.

Seite an Seite liegen sie still nebeneinander. Sie müßten miteinander reden, es gibt so vieles, was zu besprechen gewesen wäre. So vieles, daß sie beide nicht mehr die Kraft aufbringen.

»Halt mich fest, Jørgen«, flüstert sie. »Bitte halte mich.«

Sie versinken ineinander, versuchen mit der Glut ihrer Körper, mit Zärtlichkeiten, mit den Händen und der Haut einander all das zu sagen, was Worte nicht ausdrücken können.