Titel

KOSMOS

Umschlaggestaltung Henry’s Lodge, Zürich, unter Verwendung eines Fotos von © Shutterstock/Elovich

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© 2015, Franckh-Kosmos Verlags-GmbH & Co. KG, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-440-14917-1

eBook-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Siehst du? Das kommt dabei raus.

Hast du doch vorher gewusst. Lauf weiter. Schnell!

Ja, genau, da lang. Pass auf, dass du nirgendwo drauftrittst. Weiter, beeil dich! Sie dürfen dich nicht kriegen!

Nicht so langsam, los, mach schon! Oder muss ich dich zwingen?

So ist es gut. Weiter, ums Haus rum, nach hinten, zum Carport.

Mach den Wagen auf. Du hast doch den Schlüssel, oder?

Warum? Das ist jetzt egal. Mach einfach den Wagen auf. Los jetzt!

Setz dich rein. Ja genau, auf den Fahrersitz. Halt die Klappe und setz dich einfach hin. Mach den Motor an.

Es ist mir scheißegal, wem der Wagen gehört. Und dir sollte es auch scheißegal sein. Mach ihn an und fahr rückwärts raus. Das kannst du. Ich weiß, dass du das kannst.

Nein, es ist scheißegal, dass sie näher kommen! Fahr los!

Okay, gut.

Da ist … Halt die Tür zu! Halt sie zu! Hör nicht auf ihn, schubs ihn weg! Los, mach dich FREI!

Gut so. Gib Gas! Ja, gib Gas, das ist egal! Er wird schon … er wird schon weggehen! Nein, fahr weiter, kümmer dich nicht um ihn und auch nicht um die anderen!

Los, und jetzt drehen! Dreh die Karre! Jawohl, so ist es gut!

Und jetzt gib wieder Gas!

Nein, nicht bremsen! Fahr weiter! FAHR!

Siehst du, weg ist er. SIEH NICHT IN DEN RÜCKSPIEGEL. Sieh nach vorn!

Du solltest sowieso nach vorn sehen. Jetzt geht es vorwärts. Endlich geht es vorwärts. Du kannst mir dankbar sein. Dein ganzes beschissenes Leben ging nichts und jetzt geht es endlich vorwärts. Gib Gas!

Schneller. Los, schneller, ja geradeaus, bis ich was anderes sage. Gib Gas, hab ich gesagt!

Um die Kurve, genau. Und jetzt gib noch mal Gas, aber so richtig.

Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin doch bei dir. Ich pass schon auf dich auf. Ich sag dir, was richtig ist.

Schneller, los, an dem da vorbei! Überhol ihn. LOS, DRÜCK AUF DIE TUBE!

Gut gemacht, war knapp. Jetzt nicht langsamer werden. Gib noch mehr Gas! Geht nicht? Natürlich geht das. Los, verdammt, schneller!

Das ist egal. Scheiß auf das Blinklicht. Das interessiert uns nicht. Das hat nichts mit uns zu tun. Fahr einfach weiter. Schneller. MUSS ICH DICH JETZT ZWINGEN ODER WAS?

Du hast Angst? Scheiß auf die Angst. Die brauchst du nicht mehr. Los, lass sie hinter dir. Fahr einfach schneller, fahr ihr einfach davon. Geradeaus. GERADEAUS! MACH, WAS ICH DIR SAGE! Der Baum? Egal. GERADEAUS! SCHNELLER! Mach einmal in deinem verschissenen Leben was richtig. SCHNELLER! LOS, SCHNELLER! SCHNELLER! Und jetzt … DREH DAS LENKRAD NACH RECHTS! LOS, TU ES! TU E…

1

»Und los geht’s!«, ruft eine Stimme.

Marla beugt sich nach vorn, stützt sich auf das Geländer. Das Umlaufseil klickt, und unter ihr springt der Fahrer ab, setzt lässig aufs Wasser, macht eine Drehung. Hinter ihm kommt schon der nächste, flitzt hart auf Kante vorbei, setzt an zum air railey, fliegt durch die Luft, dreht sich und landet ganz lässig. Ein Raunen geht durch die Reihen der wartenden Fahrer, ein paar Zuschauer auf der Galerie neben Marla klatschen begeistert.

»Ist der Kerl gut!«, ruft jemand bewundernd. Ein anderer lacht nur.

»Haben wir doch alles schon mal gesehen!«

»Fahr du erst mal goofy

»Küss du doch den Kicker!«

Marla muss grinsen. Alles beim Alten. Sie ist wieder zurück und nichts hat sich verändert. Jedenfalls sieht’s fast so aus.

Der See glitzert in der Sonne, kaum eine Welle zu sehen, keine Schaumkrone, nichts, das auf heftige Winde hindeutet; perfektes Wetter zum Fahren. Die fünf Masten, die das Umlaufseil um die Bahn herumführen, sehen aus wie blank gescheuert, die Obstacles scheinen auf der Seeoberfläche zu schweben: die beiden großen Kicker gleich vorn an der Rampe, die Funbox dahinter, der Slider und der kleine Kicker drüben auf der anderen Seite.

Ungefähr zwanzig, vielleicht auch dreißig Fahrer stehen unten an der Startrampe an, in zwei Reihen: eine für die Sprung- und Sitzstarter, die andere für diejenigen, die in der Hocke oder im Stehen losfahren. Marla legt die Hand zum Schutz vor der Sonne über die Augen, um den Hebler da unten in seiner Kabine erkennen zu können. Dima ist es diesmal, der den wartenden Fahrern die Keule anreicht, neben ihm steht Herbert, der Trainer, mit finsterem Blick, die Arme vor der breiten Brust verschränkt.

Herbert sieht immer grimmig aus, aber das ist nur Show. Eigentlich ist er total freundlich. Jedenfalls zu allen, die er nicht trainiert. Und außerdem gehört ihm die Anlage.

Marla atmet tief ein. Es riecht gut, nach Seewasser und Sonnencreme, vermischt mit dem Geruch von Pommes und Bratwürstchen, nach Sommer und Ferien eben.

Schräg unter ihr hängt die Wasserskirampe schon halb unter Wasser, so viele Wartende drängeln sich davor in zwei langen Reihen. Vorn, auf dem Brett, machen sich die Cracks mit ihren Trickski und Wakeboards bereit zum Starten, in der hinteren Reihe warten geduldig und mit bangem Gesichtsausdruck die Wasserskifahrer nebeneinander aufgereiht, die Spitzen ihrer Ski zeigen zum See. Die meisten von ihnen sind Anfänger, in ihren Gesichtern kann Marla teils Ungeduld, teils bange Erwartung ablesen, und ein Prickeln läuft ihr den Rücken hinunter.

Genau so hat sie sich auch gefühlt, als sie damals zum ersten Mal gefahren ist: ängstlich und aufgeregt. Und auch jetzt fühlt sie sich ein wenig so, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gibt. Sie ist schließlich nicht zum ersten Mal hier; nein, sie ist schon so oft hier gewesen, dass sie es kaum noch zählen kann.

Ihre Eltern haben das Ferienhaus in der Anlage gekauft, als Marla acht oder neun war, und seitdem haben sie den Großteil jeder Sommerferien hier verbracht, von dem Jahr mal abgesehen, als Oma Hamburg gestorben war und sie zur Beerdigung und zum Hausauflösen dorthin gefahren waren. Aber sonst sind sie jeden Sommer hier gewesen und ein paarmal zu Ostern und Pfingsten dazu.

Der nächste Fahrer wartet bereits, das Gewicht leicht nach hinten verlagert, die Knie gebeugt, die Holzkeule, an der das Seil hängt, mit dem man aufs Wasser gezogen wird, in beiden Händen. Sein Blick geht nach oben, das Umlaufseil blinkt in der Sonne, der nächste Mitnehmer gleitet heran, greift nach der Leine. Einen Moment schwingt sie in der Luft, dann spannt sie sich an. Mit einem satten Klatschen setzt der Fahrer auf dem Wasser auf, stößt einen Jubelschrei aus, als das Seil ihn davonzieht.

Marla holt Luft, ein Schauer läuft ihr über den Rücken. Es ist, als ob sie sein Glück spürt.

Die Galerie im oberen Stockwerk hinter dem Kiosk ist – genau wie das Café nebenan mit seinen riesigen Panoramascheiben – voll besetzt mit neugierigen Feriengästen, die mit großen Augen die Kunststücke und Flugeinlagen der Wakeboarder und Wasserskifahrer betrachten und über die Missgeschicke der Anfänger lachen.

Marla mustert die Wartenden unten. Ihre bunten Helme und Boardshorts leuchten in der Julisonne, tiefschwarz und graublau glänzen die Neos. Nur ein paar Mädchen kann Marla ausmachen, darunter Anna-Lena aus dem nächsten Dorf, die erst dreizehn oder vierzehn ist und letztes Jahr mit dem Wakeboarden begonnen hat, aber schon gleich bei einem Contest dabei war und ziemlich gut abgeschnitten hat.

Hannes hat seinen alten Anzug und neue, giftgrüne Boardshorts an, die beiden Kaute-Brüder tragen mal wieder nagelneue Neoprenanzüge und Westen. Hinter ihnen wartet ungeduldig wippend ein Fahrer, dessen lange blonde Haare ihm unter dem knallgelben Helm bis auf die Schultern hängen. Den Helm kennt Marla, den Fahrer auch: Jap, den dicken Holländer, der so supergut fahren kann.

Allerdings ist er jetzt gar nicht mehr so dick. Über den Winter sind nicht nur seine Haare gewachsen, er hat auch an Gewicht verloren. Ende letzter Saison war er noch rund wie eine Kugel, jetzt ist er fast schlank.

Von Mattis ist nichts zu sehen.

»Marla! Worauf wartest du noch? Los, rauf aufs Wasser mit dir!« Teddy, der Co-Trainer und Kioskbesitzer, steht auf einmal hinter ihr, ein Küchenhandtuch in der Hand, die langen, grau melierten Haare zu einem Zopf zusammengebunden, ein warmes Leuchten in den Augen. Lächelnd streckt er die Hand aus.

»Hallo, Teddy.« Marla lächelt zurück und schlägt ein.

Teddys Hand ist erstaunlich weich, das ist ihr schon letztes Jahr aufgefallen. Man sollte meinen, dass so ein älterer Typ, der seit Jahren Getränkekisten und Pappkartons mit gefrorenen Würstchen hin und her wuchtet, raue Hände hätte. Aber Teddys sind richtig schön weich, fast so wie Marlas eigene. Er drückt ihre Hand noch einen Moment, dann lässt er sie los.

»Läuft gut, oder?« Sie nickt zum Kiosk hinüber, an dem sich eine lange Schlange eishungriger Kinder drängelt, und Teddy nickt.

»Bestens. Das Wetter ist ja auch prima. Und warum kommst du erst so spät dieses Jahr?«, fragt er. »Der Sommer ist doch schon fast vorbei!«

Ein paar kleine Jungs drängeln sich neben Marla ans Geländer und sie schiebt sich ein wenig zur Seite. »Mein Vater hatte noch beruflich zu tun und meine Mutter und ich wollten nicht allein her.«

Stimmt zwar nicht ganz, aber egal. In Wirklichkeit hatte ihre Mutter Marla förmlich bekniet, mit ihr vorauszufahren, aber Marla hatte sich schlichtweg geweigert. Klar, die Ferienanlage ist ja ganz schön, mit der Wasserskiseilbahn und Holland ganz in der Nähe, aber irgendwie hätte Marla auch mal Lust auf was anderes gehabt. Sie weiß selbst nicht, warum, aber zum zigsten Mal hintereinander hätte sie das Ferienhaus und die Wasserrutsche und den überdachten Streichelzoo hier dann auch nicht unbedingt haben müssen.

»Aber jetzt bist du ja da!« Teddy lächelt breit. Seine hellblauen Augen leuchten, genau wie seine strahlend weißen Zähne. Er wirft sich das Küchenhandtuch über die Schulter und dreht sich zu dem jungen Mädchen hinterm Tresen um, das gerade bei zwei kleinen Jungs abkassiert. Sie muss neu sein, Marla hat sie jedenfalls noch nie gesehen. »Steffi, mach der Lady hier ’ne Cola, ja? Begrüßungsdrink«, flüstert er Marla zu und zwinkert verschwörerisch. »Und wie lange bleibst du?«

»Na, bis Ende Juli.«

Teddy nickt. »Cool«, sagt er. »Also noch zwei Wochen Sommer, Sonne, Superwetter.«

»Sex haste vergessen!« Ein blond gelockter Kopf schiebt sich neben Marla. Sommersprossen, breiter Mund, freches Gesicht. Hannes. »Hi du, haste schön geübt bei euch da in Hannover?«

»Ich brauche nicht zu üben«, sagt Marla und lacht. »Du weißt doch, ich bin ein Naturtalent!«

»Ja, klar, im Lügen!« Hannes grinst und schüttelt seine nasse Mähne, dass ein paar Tropfen herausfliegen. Steffi, die eben die Cola vor Marla hinstellt, kreischt auf und weicht zurück.

»Mensch, Hannes! Lass das doch, Mann!«, schimpft sie und zupft sich pikiert am Top. Marla kann an ihrer aufgeregten Stimme hören, dass sie Hannes gut findet. Wie die meisten Mädchen hier in der Anlage. Sunnyboy Hannes.

»Och, Mausi, das tuuut mir aber leid! Hab ich dich nass gemacht?« Hannes klimpert mit seinen langen Wimpern und streicht sich wie beiläufig über sein Sixpack unter der Weste. Dann lächelt er wieder Marla an. »Soll ich dich auch mal nass machen? Du siehst so erhitzt aus!«

»Idiot!« Marla wundert sich selbst, wie sehr sie sich freut, ihn zu sehen. Dabei hat er sie letzten Sommer ohne Ende genervt, mit seinen coolen Sprüchen, der ständigen Angeberei und dem Dauergrinsen.

»Lass sie in Ruhe und dreh lieber noch ein paar Runden«, befiehlt Teddy. »Dein three-sixty sah nicht gerade perfekt aus, da geht noch was, Junge. Denk an den Contest.«

»Jaja«, brummelt Hannes und hebt zwei Finger zum Siegeszeichen. »Klar, Chef. Keine Sorge, war ja nur zum Aufwärmen.« Er nimmt sein Board unter den Arm und lächelt Marla noch einmal breit an. »Fährst du gleich auch noch?«

»Vielleicht später«, sagt Marla. »Muss erst mal ankommen.«

»Tu das! Bis später!« Hannes hüpft hoch, stößt die Faust in die Luft und trabt davon, nicht, ohne Steffi noch einen Kussmund zugeworfen zu haben. Seine grünen Boardshorts hängen so tief, dass ein schmaler Streifen heller Haut über seinem knackigen Hintern zu sehen ist. Im Laufen zieht er sie ein Stückchen höher, dreht sich noch einmal um und wirft jetzt Marla einen Kussmund zu.

»Knallkopf«, sagt Teddy kopfschüttelnd und stößt sich vom Tresen ab. »Sonst alles klar bei dir, Marla? Schule gut? Und deine Eltern, alles wieder im grünen Bereich?« Seine Augen blicken für einen Moment besorgt, aber dann hellt sich seine Miene auf, als Marla nickt.

»Ja, alles wieder gut. Jedenfalls sind sie noch nicht geschieden.« Dass Teddy noch weiß, dass ihre Eltern letztes Jahr solchen Stress hatten! Aber genau deshalb mag sie ihn ja auch so gern: Teddy ist zwar ein alter Knacker, jedenfalls mindestens Ende dreißig oder so, vielleicht sogar älter, aber fast wie ein Kumpel. Nicht nur für sie, sondern für die meisten andern Kids auch, die hier im Sommer an der Anlage rumhängen.

»Wär auch schade drum«, sagt Teddy und streckt sich. Sein Blick geht über die Schar Badegäste, die mittlerweile am Tresen Schlange stehen, dann verengen sich seine Augen für einen Moment. »So, ich muss mal wieder. Bis später, Marla!« Er lächelt ihr zu. »Und nächstes Mal erzählst du mir mal richtig, was bei dir so los ist, ja? Ich muss ja auf dem Laufenden bleiben!« Er legt seine Hand für einen Moment auf Marlas Schulter, eine warme, kräftige Hand. Nicht unangenehm, die Berührung, aber trotzdem muss Marla sich anstrengen, Teddys Hand nicht abzuschütteln.

Doch so weit kommt es gar nicht, denn in diesem Moment hört sie ihren Namen und Teddy lächelt und nimmt seine Hand weg.

»Marla! He, Marla! Huhu!«, schreit Ivana und kommt hektisch winkend auf sie zu.

»Da bist du ja endlich!« Marla grinst und breitet die Arme aus.

»Musst du gerade sagen! Lässt mich hier den halben Sommer allein rumhängen! Und dann gehst du nicht mal ans Handy!« Ivana umarmt Marla und haucht ein paar spitze Küsse in die Luft neben ihren Wangen. Dann hält sie Marla wieder ein wenig auf Abstand. »He, süß siehst du aus! Stehen dir gut, die kürzeren Haare.«

»Und dir die längeren!«, sagt Marla und grinst.

Teddy räuspert sich. »Na, ich werde mich mal wieder um die Geschäfte kümmern. Bei diesen Damengesprächen bin ich ja sowieso überflüssig.«

»Genau!« Ivana lächelt ihn frech an und winkt lässig mit den Fingern. »Lass uns Mädels mal ruhig ein bisschen lästern!«

Teddy nickt. »Kannst du morgen mal wieder aushelfen?«

Ivana mustert ihn, dann nickt sie knapp. »Klar, kann ich machen. Aber erst ab zwei. Davor will ich fahren, ja?«

»Fein«, sagt Teddy. »Das ist gut. Also, morgen um zwei dann?«

»Klar um zwei«, sagt Ivana und dreht sich wieder zu Marla, während Teddy noch mal winkt und dann zum Kiosk hinübergeht. Lässig pustet sie sich eine Strähne aus der Stirn. »Und wie findest du das hier?« Sie zeigt auf ihr neues Nasenpiercing, einen blauen Brillanten, und Marla zuckt mit den Schultern.

»Gut. Seit wann?«

»Bevor wir hierher sind, vor zwei Wochen oder so. Meine Mutter ist im Dreieck gesprungen!« Sie lacht und zieht eine zerdrückte Packung Zigaretten aus ihrem Rucksack. »Willst du eine?«

»Wie, du rauchst jetzt?« Marla ist verblüfft, aber Ivana winkt ab. Sie beugt sich zu dem jungen Familienvater neben ihnen und bittet ihn mit einem gekonnten Augenaufschlag um Feuer. Marla muss grinsen, als sie die Verlegenheit des Mannes bemerkt und den kritischen Blick seiner Frau, der nicht nur Ivana trifft, sondern vor allem ihren Mann.

»Danke schön!«, haucht Ivana mit einem letzten tiefen Blick in seine Augen und wendet sich wieder Marla zu, ein verschwörerisches Grinsen auf ihren Lippen. »Gut, dass du endlich hier bist. Voll öde hier, wenn niemand zum Quatschen da ist! Und dann sind die Typen auch noch so bescheuert, grässlich, echt! Einer bescheuerter als der andere.«

Ivana sagt immer, sie finde die Jungs alle blöd, aber in Wirklichkeit ist sie fast immer heimlich in einen von ihnen verknallt. Jedenfalls war es letztes Jahr so und im Jahr davor auch. Und was davor war – daran kann Marla sich gar nicht mehr erinnern.

»Ey, aber zu Hause sind sie auch nicht besser«, sagt Ivana und stützt beide Unterarme auf das Geländer der Galerie. »Kannste mir glauben, in Bochum wohnen nur Bekloppte.« Tief zieht sie den Rauch ein und stößt ihn mit gespitzten Lippen wieder aus. »Schmeckt übel!«, sagt sie und lacht. Unten fährt gerade ein Anfänger los; unsicher rutscht er auf seinen Skiern vorwärts, hebt den Hintern zu früh und klatscht nahezu übergangslos ins Wasser. Ein paar Zuschauer lachen grölend auf und Ivana stöhnt. »Sind die alle dämlich hier!«

Marla lehnt sich neben Ivana und mustert sie von der Seite. Ivana sieht irgendwie anders aus als letztes Jahr, aber Marla kann nicht genau sagen, woran das liegt. Klar, geschminkt ist sie, mit Lidschatten, und sogar ein wenig Rouge hat sie aufgetragen, aber das allein ist es nicht.

»Und, hast du irgendwas Spannendes zu erzählen?«, fragt Ivana und nimmt noch einen Zug, bevor sie die Zigarette mit einem leicht angewiderten Gesichtsausdruck auf der Geländerstange zerdrückt und zwischen ihre Flipflops fallen lässt. »Irgendeinen süßen Typen kennengelernt in letzter Zeit?«

»Hunderte«, sagt Marla trocken.

»Und Enis? Hast du den jetzt endlich in die Wüste geschickt?«

Ivana weiß, dass mit Enis Schluss ist; ab und zu simsen sie sich ja. Aber so richtig Bescheid weiß sie trotzdem nicht. Weiß keiner. Marla eigentlich auch nicht.

»Yes. Aber der nervt.«

»Wie denn?«

Marla zuckt mit den Schultern. »Schickt tausend Nachrichten hintereinander. Nervig, echt.«

»Hast du deswegen dein Handy so oft aus, oder was?« Ivana lacht, aber ihr Blick gleitet schon wieder suchend übers Wasser.

Unten hat jetzt Herbert von Dima übernommen und in der Reihe der wartenden Fahrer ist erneut Jap aufgetaucht. Er wendet den Kopf und winkt Marla zu, als er sie erkennt, und sie winkt kurz zurück. Ihre Augen fliegen noch einmal über die Fahrer; die Kaute-Brüder haben sich jetzt auch wieder angestellt und albern herum. Hinter ihnen stehen drei ältere Männer, einer mit Kinnbart.

Die Luft ist von Lachen und Rufen erfüllt, vom Rattern des Zugseils und vom satten Klatschen des Wassers, wenn der nächste Fahrer abspringt und aufsetzt.

»Na, wen haben wir denn da?«, fragt Ivana und stößt Marla an. Unter ihnen ist jetzt Hannes in der vorderen Reihe aufgetaucht, mit einer lässigen Geste taucht er sein Board kurz ins Wasser und schlüpft in die Bindungen, ohne hinzusehen. Seinen Helm lässt er offen, na klar, Angeber, denkt Marla, aber dennoch muss sie lächeln. Irgendwie ist es wirklich schön, ihn zu sehen, und nicht nur ihn; auch die beiden anderen Fahrer, die jetzt hinter ihm aufgetaucht sind: Julian, natürlich mit dem neuesten Trickski unterm Arm und in grellgelben, hypermodernen Boardshorts – Marla hat beides im aktuellen Wakeboardkatalog gesehen –, und dahinter Dima in seinem zerschlissenen Kurzarmneo mit den uralten roten Shorts darüber, die er schon in den beiden letzten Sommern getragen hat. Seine Bindungen sind ausgeleiert, einer der Senkel ist abgerissen, das sieht Marla, als er hineinschlüpft und dann in die Knie geht und sie fester zieht.

Dima wirkt größer und breiter als letztes Jahr und Julian irgendwie auch; sie sehen beide nicht mehr aus wie Jungs, sondern eher wie junge Männer, findet Marla, und ein leichtes Ziehen geht durch ihren Bauch, als sie ihr leeres Colaglas vorsichtig auf der Balustrade absetzt. Klar, sie sind ja auch echt keine Kinder mehr, Julian nicht und Dima und Chris nicht, der ältere der beiden Kaute-Brüder, und Marla und Ivana auch nicht. Und auch Hannes nicht, der jetzt den Blick gehoben und sie und Ivana oben auf der Galerie entdeckt hat.

»He, ihr heißen Schnitten!«, ruft er fröhlich und winkt ihnen ausladend zu, und Marla kann nicht anders, sie muss grinsen, als er ein paar unanständige Bewegungen mit der Hüfte vollführt und dann auf die Knie geht. »Kommt, erlöst mich!«, ruft er.

»Erlös dich doch selber!«, ruft Ivana zurück und kichert, und jetzt sehen auch Julian und Dima zu ihnen auf.

»Hi, Marla, auch mal wieder im Lande?«, ruft Julian und winkt. Dann wirft er Ivana einen Kussmund zu, die sich zur Antwort an die Stirn tippt.

»Knallkopf«, sagt sie und zupft die Träger ihres Tops zurecht.

»Aber gut sieht er aus«, sagt Marla. »Irgendwie besser als letztes Jahr. Findest du nicht? Ist doch voll dein Typ, oder?«

Ivana prustet, scheinbar empört. »Spinnst du jetzt!«, sagt sie, aber an ihrer Stimme kann Marla hören, dass sie voll ins Schwarze getroffen hat.

Sie lächelt Dima an, der verstohlen zu ihr hinaufsieht, und er nickt knapp und senkt schnell wieder den Blick auf seine Bindungen.

Dima mag zwar erwachsener aussehen, aber extrem schüchtern ist er immer noch. Das hat sich also nicht geändert.

Marla sieht zu, wie die drei Jungs sich bereit zum Start machen. Über ihnen glänzt das metallene Umlaufseil der Wasserskianlage in der heißen Sonne, an fast jeder Schleppleine hängt ein Fahrer. Auch von Weitem kann man die Ungeübten von den Könnern unterscheiden, an den Klamotten sowieso – die Anfänger tragen nie Helme und Boardshorts, dafür immer diese neonfarbenen Schwimmwesten –, aber auch schon an der Körperhaltung. Amüsiert sieht Marla zu, wie einer der Jüngeren wackelig auf die erste Kurve zufährt, die Ski zu weit auseinander, den Oberkörper zu weit nach vorn gebeugt, Modell Klappmesser original. Einen Moment hängt die Schleppleine durch, dann fällt er klatschend ins Wasser.

Hinter ihm kommt Jap angerauscht, dann das große Mädchen aus Papenburg, das letztes Jahr bei den Open Girls gewonnen hat, und dahinter ein weiterer Fahrer. Für einen Moment zieht Marla die Luft ein, aber es ist doch nicht Mattis, der da in einem weiten Bogen heransaust; Marla kennt ihn nicht, er dürfte in ihrem Alter sein, vielleicht auch ein oder zwei Jahre älter, dunkle, halblange Locken unter dem roten Helm, breite Schultern, tief hängende Boardshorts über dem Neopren-Shorty. Fast unbeweglich steht er auf seinem Wakeboard, hält die Keule lässig mit rechts, seine blau-weiß gestreiften Shorts leuchten, als er den Kurvenschwung mitnimmt und einen astreinen air railey hinlegt. Ein Raunen geht durch die Zuschauermenge oben auf der Tribüne, und unter ihnen spuckt Julian auf den Boden.

»Haben wir alles schon mal gesehen, ey!«, ruft er laut, und die anderen Jungs lachen höhnisch.

Ivana wirft Marla einen nachdenklichen Blick zu. »Süßer Typ, oder? Kennst du den?«

Marla schüttelt den Kopf und weicht einem kleinen Jungen aus, der sein tropfendes Eis gefährlich dicht neben ihr balanciert. »Noch nie gesehen, den Typen.« Noch nie gesehen, nein. Und jetzt auch nur von Weitem. Aber komisch, dass es dann in ihrem Bauch gezuckt hat, als er beim Weiterfahren leicht in die Knie ging.

»Ich schon«, sagt Ivana bedeutungsschwanger. »Der ist seit ein paar Tagen hier, aber ich hab noch nichts über ihn rausgekriegt.«

»Über wen?« Eine bekannte Stimme lässt sie herumfahren. Teddy steht dicht hinter ihnen, in der Hand zwei frozen yogurt. »Für euch«, sagt er. »Kleines Begrüßungsgeschenk.«

»Danke! Aber ich hatte doch schon eine Cola!« Marla nimmt ihm ein Eis ab und Ivana das andere.

»Hab heute meine Spendierhosen an«, sagt Teddy und richtet seine hellblauen Augen auf Ivana. »Na, und über wen hast du noch nichts rausgekriegt?« Er lächelt und Ivana lächelt zurück.

»Ach, ist doch egal!«, wehrt sie ab.

»Aber du weißt doch, ich bin das wandelnde Lexikon! Teddy weiß doch immer alles!« Er starrt Ivana so lange an, bis sie mit den Schultern zuckt.

»Wir haben uns nur gefragt, wer der eine neue Fahrer ist.«

»Welcher?« Teddy lässt nicht locker. Sein Blick sucht den See ab, dann nickt er. »Der mit den Streifenshorts dahinten?«

Marla und Ivana drehen sich beide um und folgen seinem Blick.

»Ja, genau der«, sagt Marla.

Gemeinsam sehen sie zu, wie der Fahrer in den Streifenshorts sich leicht in die Seite legt und dann mit Schwung auf den Slider zufährt. Oben angekommen, dreht er mit Leichtigkeit eine Art Pirouette, wobei er die Hantel hoch über den Kopf hält, dann setzt er mit einem eleganten Hüpfer wieder auf dem Wasser auf und stemmt lässig eine Hand in die Hüfte.

»Kennst du den?«, fragt Ivana und der leicht hoffnungsvolle Unterton in ihrer Stimme ist nicht zu überhören.

»Den?« Teddys Gesicht verschließt sich, aber nur für einen Moment. Dann lächelt er wieder, sein strahlendes, offenes Teddylächeln. »Der ist das erste Mal hier. Und wird wohl auch das einzige Mal bleiben. Ist nämlich nicht so ganz das Niveau seiner Schnösel-Familie.«

Marla fragt sich gar nicht erst, woher Teddy das weiß. Es ist eben so, Teddy weiß meistens Sachen, die kein anderer weiß.

»Und wo kommt der her?«, fragt Ivana und bläst sich eine Strähne aus der Stirn.

Teddy mustert sie mit ausdruckslosem Gesicht, dann zuckt er mit den Schultern. »Das, junge Dame, weiß ich nun wieder nicht. Aber ich weiß, dass ich mich nun wieder an die Arbeit machen muss.« Er nickt zum Kiosk hinüber, an dem die Durstigen und Eishungrigen schon wieder Schlange stehen, dann zwinkert er ihnen beiden zu und geht hinüber.

»Du tropfst«, sagt Ivana und grinst, als Marla erschrocken ihr frozen yogurt von sich weghält. Dann sieht sie Teddy nachdenklich hinterher, während sie an ihrem Eis leckt.

Marla blickt wieder zum See, aber den Typen in den Streifenshorts kann sie nicht mehr entdecken. Dafür sieht sie Dima, der gerade eben um die Kurve kommt und auf den großen Kicker zusteuert. Marla kann den konzentrierten Ausdruck in seinem Gesicht deutlich erkennen, als er leicht in die Knie geht, Schwung holt und dann einen lupenreinen three-sixty präsentiert, gefolgt von einem lässigen slide.

Die Menge johlt und ein paar anerkennende Pfiffe ertönen. Aber da ist Dima längst schon vorbei.

»Der wird immer besser!«, sagt Marla bewundernd und blickt zu Ivana. »Oder?«

Aber Ivana antwortet nicht. Sie leckt mit gerunzelter Stirn an ihrem frozen yogurt und sieht immer noch zu Teddy hinüber, der jetzt wieder hinter dem Tresen steht und gemeinsam mit Steffi seine Kundschaft bedient. Marla kann Ivanas Blick nicht deuten, aber eines weiß sie auf einmal: Es liegt nicht an der Schminke und auch nicht am Rauchen, dass Ivana so verändert aussieht. Sie sieht verändert aus, weil sie sich verändert hat. Nur weiß Marla noch nicht, in welcher Hinsicht.

»Musst du los?« Japs Augen glitzern in der Abendsonne.

»Ja. Meine Eltern wollen grillen.« Marla winkt den anderen zu und dreht sich um, doch Jap fasst sie am Arm. Ganz sanft nur, aber seine Finger scheinen auf ihrer Haut zu brennen.

»Soll ich dich bringen?«

Marla sieht ihn an, seine dichten, blonden Wimpern, das strubbelige Blondhaar, die hellen Augen, die zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen sind, dann lächelt sie. »Nein, danke, du bist ja noch nicht mal umgezogen.«

Jap trägt noch Neo und Boardshorts, aber er winkt ab. »Ich zieh mich sowieso zu Hause um.«

»Wie, du fährst im Neo rüber nach Holland?« Hannes lacht und haut Jap auf die Schulter. »Echt cooler Typ, wow!«

Jap schüttelt seine Hand ab, seine Augen liegen immer noch auf Marlas Gesicht, tasten es ab. Sie hat fast das Gefühl, als würde er sie damit streicheln. Und sie weiß nicht genau, ob ihr das gefällt.

»Nee, lass mal, nächstes Mal vielleicht«, sagt sie und schenkt ihm wenigstens ein breites Lächeln.

Seine Augen verdunkeln sich, dann zuckt er mit den Schultern und wendet sich ab.

»Tschüs, bis morgen!« Marla winkt Ivana und Julian zu, die weiter hinten an der mittlerweile geschlossenen Anlage herumstehen. Die Kaute-Brüder und noch ein paar andere sind dazugekommen, einheimische Jugendliche und einige Dauergäste wie Ivana und Marla; zusammen bilden sie eine fast eingeschworene Gemeinschaft. Jeder kennt jeden, wenn auch nicht besonders gut; Sommerfreundschaften sind es, die alle Jahre wieder erneuert werden.

Der Typ mit den gestreiften Shorts allerdings ist nicht dabei.

Den Weg durch die Anlage kann Marla fast mit geschlossenen Augen gehen, so vertraut ist er ihr: erst durch den kleinen Kiefernwald, der die Wasserskianlage und den Strand von der Straße trennt, dann die Allee ein Stück hinunter, links in den gepflasterten Weg einbiegen, einmal rechts und dann kommt schon das Ende des Weges in Sicht. Hier, in diesem Teil der Anlage, sind die Ferienhäuser paarweise einander gegenüber angeordnet, alle sehen gleich aus: rote Klinker, rotes Dach, Parkplatz daneben, Garten dahinter. Ihr Haus steht im halbkreisförmigen Ensemble am Ende der Straße, dicht umringt von ein paar Eichen und vielen hohen Silberpappeln, die beim leisesten Windhauch laut rascheln. Dahinter kommt freies Feld, dann ein Waldstück und danach die Landstraße, die zur Autobahn führt, weg von hier, in die Ferne, ans Meer, das nur eine gute Stunde Fahrt entfernt ist.

Das Meer. Marla wäre liebend gern jetzt dort und nicht hier. Es ist nur eine Stunde weg, aber irgendwie hat sie es noch nie geschafft, ihre Eltern zu einem Ausflug dorthin zu überreden. 16 Jahre alt und noch nie das Meer gesehen. Peinlich.

Sie zieht ihr Handy heraus und schaltet den Klingelton wieder ein. Acht SMS, eine von Ivana, sieben von Enis.

Hört der denn nie damit auf?

Ein Knacken.

Marla bleibt stehen und sieht sich um. Die Straße liegt ruhig im Abendlicht da. Von irgendwoher kommt ein Kinderlachen, gedämpfte Fernseherstimmen wehen durch die Luft. Die Pappeln rauschen, wie Meeresrauschen klingt es, wenn man die Augen schließt. Das hat Marla schon als Kind gemocht.

Jetzt aber ist noch etwas zu hören außer dem Rauschen: ein weiteres Knacken, lautes Rascheln und dann ein unterdrücktes Fluchen.

Marla kneift die Augen zusammen und mustert die Bäume, die am Straßenrand aufragen.

Plötzlich erscheinen sie ihr sehr hoch. Und irgendwie düster, obwohl es noch gar nicht dunkel ist.

Wieder ein Knacken, dann ein unterdrückter Fluch. Sehr leise, eher ein Raunen.

Dahinten, rechts neben ihrem Ferienhaus, bewegt sich etwas in den Bäumen.

Marla sichert mit Blicken die Straße. Ihr Herz hat angefangen, heftig zu schlagen, und vorsichtig ballt sie die Hände zu Fäusten.

Der dritte Baum ist es, von der Straße aus gezählt. Eine knorrige Eiche. Noch während sie hinsieht, taucht etwas Helles aus dem Blattwerk auf.

Ein Fuß. Ein Fuß, der in einem weißen Turnschuh steckt.

Es raschelt erneut. Der Fuß rudert in der Luft herum, dann teilt sich das Blattwerk, und Marla erkennt eine Gestalt, die auf zwei Meter Höhe im Baum hängt, aber jetzt, gerade, als Marla hinsieht, nach unten zu rutschen beginnt.

Marla sieht zwei strampelnde Beine in Jeans, Turnschuhe, die verzweifelt nach einem Ast hangeln, dann hört sie das Knirschen reißenden Stoffs und noch einen Fluch und dann einen dumpfen Aufprall.

»Scheiße!«, murmelt die Gestalt unterdrückt.

Marla holt Luft. »Hallo?« Vorsichtig tritt sie näher heran.

Auf dem Boden, zwischen den Baumwurzeln, sitzt ein Junge und hält sich leise fluchend den Arm. Er ist ungefähr in ihrem Alter, vielleicht ein bisschen jünger, mit zerrauften, dunklen Haaren, die ihm fast bis auf die Schultern hängen, und erstaunlich hellen Augen, die im Abendlicht blitzen, als er zu ihr hochsieht.

»Hast du dir wehgetan?«, fragt sie.

»Na klar«, knurrt er und wiegt sich vor und zurück. »Klar hab ich mir wehgetan. Stürz du mal aus zwei Metern zu Boden!«

Er sieht grimmig aus, aber trotzdem muss Marla lächeln. »Nee, mach ich lieber nicht«, sagt sie und geht neben ihm in die Hocke. »Du hast mich total erschreckt. Was ist denn, hast du dich verletzt?«

Er sieht sie an, blitzende Abwehr. »Gibt es da einen Unterschied, sich verletzen und sich wehtun?«

»Ja«, sagt sie nach einem Moment. »Oder nein, weiß nicht. Was denn nun? Ist was gebrochen?«

»Das war mal die richtige Frage!«, sagt er, lässt seinen Arm los und bewegt ihn vorsichtig hin und her. »Nein, ich hab mir nichts gebrochen. Aber weh tut es trotzdem!« Er rappelt sich auf.

Marla steht ebenfalls auf. »Also alles okay?«

Er betrachtet sie und kneift die Augen zusammen. Seine Wange ist schmutzig, ein dicker, dunkler Streifen zieht sich quer darüber, bis hinunter auf sein T-Shirt, und in seinen Haaren haben sich ein paar Blätter verfangen. »Ja«, sagt er langsam, »alles okay.«

Sehr helle Augen. Viele Jungs haben helle Augen. Aber nur in der Sonne.

»Bist du nicht zu alt dafür, auf Bäume zu klettern?«

»Nee. Oder doch, klar. Aber ich bin nicht alt. Ich bin uralt. Und gerade erst geboren.« Er grinst schief.

»Spinner!« Sie muss den Kopf schütteln und lächeln. Komischer Typ. Aber irgendwie witzig.

Er kneift seine hellen Augen zusammen. »Und wer bist du?«

»Marla.«

»Nee, das mein ich nicht. Ich meine, wer du bist.«

Sie überlegt einen Moment, dann zuckt sie mit den Schultern. Auf Fragen, die man nicht beantworten kann, stellt man am besten eine Gegenfrage. »Und wer bist du?«

»Wenn ich das man wüsste«, sagt er und lacht. Dann tippt er sich zum Abschied an die Stirn, streckt den Finger gerade in die Luft und setzt sich in Bewegung. »Tschüs!«

Marla sieht ihm nach, wie er die stille Straße hinunterhüpft, abwechselnd auf einem Bein. An der Ecke breitet er die Arme aus und rennt los, und Marla kann die Brummgeräusche, die er macht, noch einen Moment lang hören, bevor sie verstummen.

Und erst jetzt fällt ihr ein, dass sie ihn hätte fragen sollen, was er eigentlich auf dem Baum direkt neben ihrem Ferienhaus zu suchen hatte. Aber es ist ihr im Grunde egal. Es gibt unzählige Bäume in der Anlage. Er hat sich eben diesen Baum ausgesucht. Na und?

Auf der Terrasse glühen die Kohlen schon auf dem Grill, der Handwagen mit dem Grillgut steht bereits daneben. Über den Würstchen, die Marlas Vater in einer selbst gemachten Marinade gewälzt hat, summt eine dicke Schmeißfliege.

Die Terrassentür steht offen, Marla kann ihre Eltern in der Küche leise miteinander reden hören. Sie bleibt stehen und lauscht einen Moment; ihre Stimmen klingen ruhig, aber Marla kann den angespannten Unterton darin dennoch ausmachen.

Früher haben ihre Eltern viel miteinander gelacht, dann viel gestritten, aber in letzter Zeit, seit dem großen Krach zu Pfingsten, gehen sie sehr vorsichtig miteinander um. Manchmal weiß Marla nicht, wie sie das finden soll.

Manchmal wäre ihr lieber, sie würden sich lauthals streiten.

Oder sich trennen.

»Marla! Da bist du ja endlich!« Marlas Vater tritt auf die Terrasse hinaus, eine Schale mit Brot in den Händen, die in Grillhandschuhen stecken. Er trägt eine Schürze mit großem Aufdruck, »Grillmaster« steht darauf; Marla ist jedes Mal froh, wenn sie beim Grillen keine Gäste haben. »Na, wie war das Wiedersehen mit deinen Kollegen?«

»Gut«, sagt Marla und beäugt misstrauisch die Würstchen. »Sind da auch vegetarische dabei?«

»Selbstverständlich. Dein Wunsch ist mir ein Befehl.« Er deutet auf vier helle Bratrollen, neben denen zwei dünne Scheiben liegen, die nach Käse aussehen. »Halloumi habe ich auch besorgt.«

»Ist das dieser komische Käse?«

»Genau der. Und der wird dir schmecken«, erklärt ihr Vater. Er pustet kurz in den Grill, dann legt er ein paar Würstchen auf den Bratrost. Es zischt, und Funken stieben auf, als die Marinade in die Flammen tropft.

»Hm, das wird uns schmecken!«, wiederholt Marlas Vater, öffnet eine Bierflasche und schenkt sich ein. Dann setzt er sich an den Tisch, der bereits für drei Personen gedeckt ist. Auf der sauberen Plastiktischdecke stehen drei Teller mit sorgsam gefalteten Servietten darauf, blitzendes Besteck daneben, eine Schale mit Salat, die Schale mit Brot. Alles sieht ordentlich und akkurat aus.

»Habt ihr euch gestritten?«, fragt Marla und steckt die Hände in die Hosentaschen.

Ihr Vater sieht überrascht auf. Das Bier hat einen schmalen Schaumschnurrbart hinterlassen. »Warum?«

Marla zuckt mit den Schultern. »Ich guck mal nach Mama«, sagt sie und geht ins Haus.