image

image

Stefan Großmann

Ich war begeistert

Herausgegeben von Alexander Kluy

Mit einem Vorwort von Hermann Schlösser

image

Die Reihe WIENER LITERATUREN setzt sich zum Ziel, Literatur aus Wien, über Wien, von Wiener Autorinnen und Autoren, aber auch Blicke von außen auf die Stadt zu präsentieren.

In dieser Reihe erscheint Andersartiges und Zeitenüberdauerndes: schön gestaltete und hochwertig ausgestattete Bände, die souverän eigensinnig und klug erhellend die Grenzen zwischen erzählender, feuilletonistischer und analytischer Prosa leichthändig ignorieren. Die dem gelebten Augenblick durch genaue Beobachtung Gehalt und Sinn, Witz und Leben verleihen. Und urbane Eleganz.

Kaum ein Band wäre somit als Auftakt besser geeignet als Stefan Großmanns urbane Memoiren Ich war begeistert.

Diese übersprudelnd lebendige Autobiographie gehört neben den Büchern eines Stefan Zweig zu den großen Erinnerungsbüchern der Wiener Literatur des 20. Jahrhunderts.

Großmann (1875–1935), einer der bekanntesten Journalisten seiner Zeit, schildert geistreich, pointiert und atmosphärisch, mit intensiver Sehnsucht und sehnsüchtiger Intensität das kulturelle und geistige Leben in Wien und Berlin vor und nach 1914. Er war Theaterimpresario, investigativer Reporter, Feuilletonist und Kulturkorrespondent. Und er gab eine der wichtigsten Zeitschriften des 20. Jahrhunderts heraus: Das Tage-Buch. Für den Wiener und Wahl-Berliner schrieben Alfred Polgar und Thomas Mann, Robert Walser und Alexander Roda Roda, Robert Musil, Egon Friedell und Egon Erwin Kisch. 1925 veröffentlichte Stefan Großmann eine erschreckend prophetische Rezension von Hitlers Mein Kampf und Anfang 1934 eine erschütternd klarsichtige Analyse des Endes eines Landes namens Österreich.

Alexander Kluy

Inhalt

Begeisterung als Lebensenergie (von Hermann Schlösser)

Vorwort

Tänze im Branntweinladen

Düsteres Paris

Annie

Gastspiel in Berlin

Eintritt in die Literatur

Bei Viktor Adler

Mit Peter Altenberg

Wiener Figuren

Gefängnisse und ein Minister

Wahlfamilie

Theaterfreuden und Bitternisse

Das Wien Franz Ferdinands

Schwedischer Sommer

Herbst 1913 Berlin

Krieg in der Redaktion

Frauenwege im Kriege

Friedrich und Viktor Adler

Die Revolutionstage

Wiener in Berlin

Die eigene Tribüne

Privatissimum

Stefan Großmann in Zahlen

Über Stefan Großmann

Hermann Schlösser

Begeisterung als Lebensenergie

Im Mai 1925 feierte Stefan Großmann seinen 50. Geburtstag mit einem großen Empfang im noblen Berliner Hotel Adlon. Ein Foto hat das Ereignis festgehalten: Illustre Gäste in großer Zahl umrahmen den Geehrten, der in der ersten Reihe im Mittelpunkt sitzt: »Ganz Salonlöwe mit Zigarre, etwas seitlich zurückgelehnt, die Beine übereinandergeschlagen. Gute Theaterarbeit; der Photograph hat das Seine beigetragen.« So beschrieb Großmanns Enkelin, Christina Wesemann-Wittgenstein, die Erscheinung des Fünfzigjährigen auf diesem Bild.

Der 1875 in Wien geborene Großmann gehörte in den Zwanzigerjahren zu den führenden Berliner Publizisten. Das Tage-Buch, die Zeitschrift, die er von 1920 bis 1928 zusammen mit Leopold Schwarzschild im Rowohlt Verlag herausgab, war neben der Weltbühne das wichtigste linksliberale Intellektuellenmagazin Deutschlands. Aber Großmann redigierte nicht nur, sondern nahm auch selbst in eigenen Leitartikeln, Glossen und Kommentaren Stellung zum politischen Geschehen. 1923 enthüllte er zum Beispiel in einer seiner Glossen, dass Hitler und die Nationalsozialisten von ausländischen Geldgebern finanziert wurden. Das provozierte beim Völkischen Beobachter Morddrohungen gegen »die jüdische Kanaille Großmann«; Hitler verklagte den Journalisten vor einem Münchner Gericht. Der Prozess wurde zwar erst vertagt, dann niedergeschlagen, doch die Nationalsozialisten zählten Stefan Großmann von da an zu ihren besonders verhassten Gegnern.

Großmann scheute derartige Kämpfe zwar nicht, aber in seinem fünfzigsten Lebensjahr machte sich doch eine gewisse Unlust an der aufreibenden Journalistenexistenz bemerkbar. In demselben Monat Mai, in dem er im Adlon würdevoll Geburtstag feierte, veröffentlichte Großmann im Tage-Buch einen ironischen Nachruf auf sich selbst. Dort heißt es unter anderem: »Er hat sich immer wieder der Gegenwart preisgegeben, und so verdarb er sich das bisschen Ewigkeit. Mit fünfzig Jahren erst begann er sich ein wenig zu sammeln, dieser immer Zerstreute.«

In den folgenden Jahren reduzierte Großmann seine journalistische Aktivität. 1928 trennte er sich von Schwarzschild und vom Tage-Buch und war wieder vor allem literarisch tätig – ganz wie in seinen jungen Jahren im Wien des Fin de Siècle. Unpolitisch war seine Literatur freilich nicht. 1928 veröffentlichte er den Roman Chefredakteur Roth führt Krieg, der seine Erfahrungen mit der Zeitungswelt ins Gewand der Fiktion kleidet. 1931 wurde in der Berliner Volksbühne das Drama Die beiden Adler uraufgeführt, in dem Großmann ein traumatisches Ereignis der jüngeren österreichischen Geschichte auf die Bühne brachte: Gezeigt wird hier der Strafprozess gegen Victor Adlers Sohn Friedrich Adler, der 1916 den Grafen Stürgkh, Österreichs Premierminister, aus Protest gegen den Krieg ermordet hatte.

Wie viele nicht mehr junge Autoren, die sich angesichts des dahinschwindenden Lebens ein »bisschen Ewigkeit« erschreiben wollen, wandte sich Großmann aber auch dem Genre der Autobiographie zu. 1930 erschienen im Berliner S. Fischer Verlag erstmals seine Lebenserinnerungen unter jenem Titel, den sie auch in dieser Neuausgabe noch tragen: Ich war begeistert. Und was bei älteren Menschen oft zu beobachten ist, gilt auch für Großmann: Er erinnert sich in diesen Memoiren vor allem an Menschen, Ereignisse und Dinge aus früheren Zeiten, während die Gegenwart verblasst. Von seiner publizistischen Tätigkeit in der Weimarer Republik berichtet Großmann gar nichts. Was nach 1920 geschah, findet unter dem Titel Ich war begeistert keinen Platz mehr.

Stattdessen nehmen die Wiener Kindheits- und Jugenderinnerungen einen breiten Raum ein. Aus den vielen anschaulich beschriebenen Episoden, die Großmann aus seiner frühen Zeit berichtet, sei hier nur jene herausgegriffen, in der die Gründungslegende einer Schriftstellerexistenz überliefert wird: In der Realschule, die ihn im Wesentlichen langweilte und quälte, schrieb der junge Großmann einmal einen Aufsatz über Franz Grillparzers berühmte Erzählung Der arme Spielmann.Diese Arbeit wurde vom Deutschprofessor Franz Willomitzer sehr gelobt, durch dieses Lob beflügelt, fühlte sich der Jüngling als Literat. Im Rückblick der späten Jahre erkennt Großmann einen tiefen Sinn darin, dass seine erste literarische Arbeit dem »armen Spielmann« galt, denn: »Ich sehe ganz Österreich von vielen armen Spielmännern bevölkert, die aus ihrer Brigittenau nicht hinausfinden und nicht hinausfinden wollen.«

Großmann selbst gehörte allerdings nicht zu jenen melancholisch-bescheidenen Kleinmeistern, die sich in ihrer Misere halbwegs gemütlich einrichten und die in der österreichischen (und vor allem der wienerischen) Kultur bis heute anzutreffen sind. Wie er in Ich war begeistert berichtet, trieb es ihn bald über die engen Grenzen seiner Heimatstadt hinaus. Als junger Mann besuchte er Paris, Brüssel und vor allem Berlin, wo er dem Anarchisten Gustav Landauer begegnete, der Großmanns politische Überzeugungen ebenso prägte wie der österreichische Sozialist Victor Adler.

Naturgemäß kann eine Lebenserzählung, die im Zeichen der »Begeisterung« steht, nicht nur von Politik handeln. Großmann war zeitlebens nicht nur politisch engagiert, sondern auch ästhetisch fasziniert und erotisch animiert. Seine Leidenschaft für das Theater kommt in seinen Lebenserinnerungen also ebenso zur Sprache wie das Entzücken, das eine schöne Schauspielerin in ihm hervorrief. (Die indiskrete Nachwelt weiß, dass sie den Namen Anna Reisner trug, in Großmanns Text tritt sie nur unter dem Kürzel »Annie R.« auf.) Wie es sich für einen schwärmerischen Jüngling der Jahrhundertwende gehörte, »betete« Großmann die junge Frau »an«, und er kultivierte eine Zeit lang eine Art schüchterner Fernbeziehung, die sich nur in anonymen Liebesbriefen artikulierte. Als die Künstlerin ein Engagement in Berlin bekam, reiste er ihr allerdings kurz entschlossen nach. Nicht das Interesse an Landauers Anarchismus trieb ihn also in die deutsche Hauptstadt, sondern die Leidenschaft für eine attraktive Wiener Bühnenkünstlerin. Diese erotische Energie, die sogar die Kraft zum ungesicherten Ortswechsel freisetzt, ist ein wesentliches Ferment dessen, was Großmann »Begeisterung« nannte und als Triebkraft seines kreativen Lebens verstand.

Allerdings macht sich ein programmatisch Begeisterter bei seiner weniger enthusiastischen Umwelt nicht unbedingt beliebt. Auch Großmanns emphatisches Bekenntnisbuch rief seinerzeit den Unwillen eines Kritikers hervor, der sich selbst die (genau besehen sehr wienerische) Rolle des »Nörglers« zugeschrieben hatte: Karl Kraus, der für viele Intellektuelle seiner Zeit die moralischen Maßstäbe setzte, hat Stefan Großmann mehrmals angegriffen, weil er ihn für ein besonders widerliches Exemplar des seichten, plauderhaften Feuilletonisten hielt. Auch Ich war begeistert fand in den Augen dieses Kunstrichters keine Gnade. Unter dem Titel »Ich war angewidert« vernichtete er das Buch in der Fackel. Zum Glück müssen sich heutige Leser und Leserinnen von den apodiktischen Urteilen des Karl Kraus nicht mehr einschüchtern lassen, sondern können sich in unbefangener Lektüre ein eigenes Bild von Stefan Großmanns Text machen. Vor allem dazu lädt diese Neuausgabe von Ich war begeistert ein.

Für Ester Maya Birgit Strömberg

Vorwort

Eines Tages kam im Wiener Café Central ein Philosoph auf mich zu – im Café Central wimmelte es um die Jahrhundertwende von Philosophen – und brachte mir eine Arbeit, von der ich mir nur einen Satz gemerkt habe: »Das Leben ist eine Gelegenheit, sich die Welt anzuschauen.« Ich weiß nicht, ob der Wiener Central-Philosoph noch lebt, er hatte eine vornehme Verachtung für Öffentlichkeit und Druckerschwärze und war zu sehr Philosoph, als daß ihm an irgendeiner Art Ruhm etwas gelegen wäre, aber seinen tiefsinnigen Satz habe ich als Leitmotiv annektiert, in allen möglichen Situationen ist er mir Stütze und Beruhigungsmittel, Zuflucht und Ausrede gewesen.

Im großen ganzen ist mein Leben ein reizender Serpentinenweg nach oben gewesen, etwas strapaziös im Anstieg, aber immer wieder erfrischend und entzückend durch eine plötzliche unerwartete schöne Aussicht. Ich bin das Wiener Kind Wiener Eltern, und das bedeutet ein Schicksal. Ist man Wiener, so hört man nie ganz auf, es zu sein; wenigstens das Wien, das war, bedeutete ein Schicksal.

Ich bin in meinem Leben nie zielbewußt gewesen, kaum wegbewußt. Wie hätte ich Wiener und gleichzeitig zielbewußt sein sollen? Im Grunde bin ich wie im Traum vorwärts getorkelt, vorwärts, zuweilen auch seitwärts, zuweilen auch rückwärts. Immer wieder kam es zu einer Art Lebenskrise. Immer wieder mußte das Dasein ganz von vorn angefangen werden. Aber ich kann nicht sagen, daß ich gerade in diesen Erschütterungskrisen den Grund ganz verloren habe. Ich saß auf dem Grunde, aber ich hatte Besinnung genug, das Wiener Leitmotiv vor mich hinzusummen: Das Leben ist eine Gelegenheit, sich die Welt anzuschauen. Ich habe sicher an den Fehlern dieser Philosophie zu tragen gehabt; zuweilen, wenn ich zugreifen oder handeln sollte, habe ich nur geschaut; vieles habe ich nicht festhalten können, weil ich ein Zuseher war; aber im großen ganzen bin ich »zum Schauen bestellt« auf meiner Serpentine sehr glücklich gewesen. Und wenn ich den Weg von der Wiener Wollzeile 23 – ich bin ganz in der Nähe der Stephanskirche geboren und danke ihr meinen Namen – nach St.-Maxime-sur-Mer, wo ich dies Vorwort schreibe, noch einmal zu gehen hätte, ich glaube, ich stiefelte unwillkürlich dieselbe Serpentine mit all ihren törichten Umwegen wieder empor.

Komisch, das Leitmotiv hat mich davor geschützt, das Geld jemals zu überschätzen. Ich wurde ziemlich alt, ehe mir die Wichtigkeit des Geldes einging, und selbst als ich theoretisch begriffen hatte, daß Geld, wie Dostojewski sagt, geprägte Willensfreiheit ist, war ich noch immer weit entfernt vom Willen zum Gelde oder gar von dem Entschluß, Geld zu machen. »Das Leben ist eine Gelegenheit, sich die Welt anzuschauen.«

Komisch, wenn ich die Augen schließe, fühle ich mich heute, 1930, genau so als junger Mensch, wie ich mich 1900 gefühlt habe; oder nein: 1895 als zwanzigjähriger Mensch habe ich mich viel älter gefühlt als dreißig Jahre später. Ich glaube, die Jahre der Seele setzen nicht hintereinander ein. Ich war mit zweiundzwanzig Jahren innerlich sechzig, dann wurde ich langsam jünger. Mit ungefahr fünfunddreißig Jahren, nach dem Geburtsschein gerechnet, war ich innerlich zweiundzwanzig Jahre alt, und jetzt, nachdem ich durch allerlei Tode, Krankheiten und Leiden durchgegangen bin, würde ich mich auf ungefähr dreiunddreißig abschätzen – versteht sich, nur an sonnigen Tagen. An grauen Tagen bin ich etwa hundertneunzehn Jahre alt. Aber wenn es einen Unterschied in der Lebenskunst von Jung und Alt gibt, so ist es der, daß einem in der Jugend die Sonne nachläuft und daß man, älter geworden, selber der Sonne ein bißchen nachlaufen muß.

Unwillkürlich muß in die Schilderung meines Lebens etwas Hochmut einfließen. Ich bin der Sohn verarmter Wiener Bürger. Ich habe mit siebzehn Jahren angefangen, mein Brot zu verdienen, und ich habe nie in meinem Leben einen Pfennig geerbt. Und dennoch habe ich niemals, niemals – die Stimme darf sich hier schon ein bißchen zum Tremolo erheben – irgendeine Zwangsarbeit getan. Jede Arbeit, die ich auf mich genommen, habe ich mit Freude getan, ja, ich darf sagen, daß ich eigentlich meine Arbeit – und es gab Tage, wenn auch nicht allzu viele, mit sechzehn- und siebzehnstündiger Arbeitszeit – immer nur als Spiel empfunden habe. Ich möchte da sogar zwei verschollene Jugendjahre mitrechnen, in denen ich versuchte, Versicherungsmathematiker zu werden. Auch das hat mir eine Zeitlang Spaß gemacht, und wenn nicht die Schrecken des Bürozwanges mich zum Ausreißen gezwungen hätten, und wenn die Arbeit nicht allmählich monoton geworden wäre, und wenn nicht ein unbezwingliches Bedürfnis nach einem dramatisch lebendigeren Dasein mich aus der Beamtenbahn gerissen hätte … zu viele wenn, solche Sätze soll man nicht beenden. Ich war nie Zwangsarbeiter, ich habe in meinem halbwegs bewußten Leben geschwankt zwischen Schriftstellerei und Theaterarbeit, auf sechs, sieben Jahre publizistische Tätigkeit folgten gewöhnlich drei, vier Jahre Theaterspielerei. Man muß die Kissen umdrehen, wenn man gut schlafen will. Der Journalismus erträgt sich leichter und freier, wenn man in die Theateratmosphäre entfliehen kann, und die Theaterluft wäre ja überhaupt ohne den Gedanken nicht auszuhalten, daß man sich jeden Augenblick in die weniger wahnsinnige Atmosphäre der stillen Schriftstellerstube hinüberretten kann. Ich kann nur jedermann raten, sich mindestens zwei Berufe anzuschaffen, ein Beruf ist zu wenig. Man ist nur dann Herr über seine Arbeit, wenn man eine zweite Berufung hat. Die Monogamie eines einzigen Berufes macht abhängig und unfroh.

Das Wichtigste freilich ist unerlernbar, man muß es von Natur aus mitbringen: ich meine das souveräne Gefühl, daß man selber der Erbauer seines Lebens ist. Die meisten Menschen werden gelebt. Es ist nicht wahr, daß jedermann seinen Marschallstab im Tornister trägt, im Gegenteil, manche haben nur einen Korporalstock im Tornister, und die meisten tragen nur ihren schweren Tornister – ohne Stab und ohne Stock. Ich habe, Gott weiß woher, ein unverschämtes, mir lange selber unbewußtes Souveränitätsgefühl mitbekommen. Ich habe nie danach getrachtet, irgendeinen Menschen zu beherrschen, aber die dienende Hilfe des homme mediocre ist mir immer als eine Selbstverständlichkeit vorgekommen.

Soll ich noch etwas von meiner geheimen Philosophie verraten, so ist es beinahe ein mystischer Glaube, daß wenige, ganz tief gelagerte Wünsche des Menschen nach einer Zeit des Ausreifens im Dunkel und Unbewußten plötzlich in Erfüllung aufsprießen. Ich spreche jetzt nicht von den vulgären praktischen Wünschen – wieviele Menschen haben denn überhaupt die seltene Kraft eines inbrünstigen, aus der Tiefe wachsenden Wunsches? –, aber der Keim eines tiefgewollten, lange im Erdreich des Unbewußten geschützt herumgetragenen Wunsches, dieser Keim blüht eines Tages fast plötzlich auf und – du stehst vor deiner Erfüllung.

Ich hatte das Glück in meinem Leben, herrlichen Partnern zu begegnen. Ich denke da um Gottes willen nicht etwa an sehr viele berühmte Menschen, die ich zwischen Kairo und Drontheim traf. Nein, ich hatte das Glück, immer wieder Mitglied eines wunderbar reich besetzten Ensembles zu werden. Dabei bin ich, wie wahrscheinlich alle produktiven Menschen, den schnöden Vergnügungen konventioneller Geselligkeit fast immer ausgewichen. Ich hatte das Glück, immer wieder, wenn ich diesen nicht nur musikalisch gemeinten Vergleich wagen darf, süßeste Kammermusik zu genießen. Außer den Stunden des Alleinseins, in denen ich doch immer wieder durch tausend Kontakte sozial verbunden war, sind die Stunden zu zweien die vollsten meines Lebens gewesen. Zu zweien im Fenster liegend, kann man dem Gekribbel der Welt sehr fröhlich zuschauen. Jede Gesellschaft von mehr als zwei Personen ist gewöhnlich mindestens um einen zuviel. Wenn das Leben eine Gelegenheit sein soll, sich die Welt anzuschauen, so darf man sich diese Gelegenheit nicht durch allzuviel Nachbarschaft und Gesellschaft stören lassen.

Noch ein Geständnis: bin ich wie im Traum durchs Leben gegangen, unromantisch gesagt: das »Maultier sucht im Nebel seinen Weg« –, so wäre ich von diesem Grat einige dutzendmal abgestürzt, wenn ich nicht rechtzeitig im Nebel Frauenstimmen gehört hätte. Ich verdanke Frauen nicht nur ein steigendes, immer wieder trunken machendes Lebensgefühl, ich verdanke ihnen überhaupt und immer wieder, daß ich bin.

Das Buch heißt: Ich war begeistert, wobei die Betonung nicht auf dem Hilfszeitwort liegt. Die Begeisterung kommt aus dem Geiste, mein Leben war begeistert, wie eine grün blühende Wiese bewässert sein muß. Und da ich begeistert war, so bin ich es noch und werde es, ein klein bißchen komisch, immer wieder sein. Die Begeisterung von gestern mag geisterhaft sein, der Rausch von heut und morgen ist doch nicht aus den Augen zu reiben … Vertrauliches Geständnis, ich bin auch von meiner Begeisterung ein wenig begeistert.

Tänze im Branntweinladen

Ich habe nicht die Absicht, die Geschichte meiner Kindheit zu schreiben, wozu auch? Derlei Konfessionen machen nur den Psychoanalytikern Spaß, und wer möchte diesen Talmudisten des Unterleibes Spaß machen? Ich überspringe also die erste Kindheit.

Mein Vater war nach dem großen Krach der siebziger Jahre verarmt, und schlimmer noch, er hatte jede Lust verloren, sich wieder hinaufzuarbeiten. Er hatte die Fähigkeit des Orientalen, stundenlang in göttlichem Nichtstun auf einer Caféterrasse in der Praterstraße zu sitzen bei einem Schwarzen und sehr vielen Gläsern Wasser, und je älter er wurde, umso schwächer wurde seine Aktivität, und umso länger saß er auf der Caféhausterrasse und sinnierte vor sich hin. Mit dem letzten Reste unseres Vermögens hatte meine Mutter ein kleines Teegeschäft in der Praterstraße gekauft, in einem jener schönen zweistöckigen Altwiener Häuser mit großem Hofe und sehr vielen Straßen- und Hofbalkons. Das Haus hieß, weil es an der Ecke der Weintraubengasse stand, das Weintraubenhaus. Das Teegeschäft, das wir besaßen, hatte einen wunderschönen kleinen Chinesen, der mit übergeschlagenen Knien im Auslagefenster saß, und hinter ihm waren große bunte Teekisten und Teepäckchen aufgestapelt. Fast nur zum Schmuck standen daneben etliche Flaschen Jamaika-Rum. Unglücklicherweise schien die Bevölkerung der Praterstraße eine Abneigung gegen das Teetrinken zu haben; es konnten viele Stunden vergehen, ohne daß die Klingel von der Ladentür klirrte. Meine Mutter, energisch wie sie war, erkannte bald, daß wir dem zweiten Konkurs entgegengingen, und mein Vater, der fast ebenso gleichgültig wie der philosophische Chinese im Auslagefenster die drohende Katastrophe übersah, wurde aufgepulvert. Meine Mutter beschloß, das Übergewicht der Teekisten und Teepäckchen zu beseitigen und die Jamaikaflaschen in den Vordergrund des Auslagefensters zu stellen. Was aber war eine geschlossene verkapselte Rumflasche? Vor allem bekam die Rumflasche Nachbarschaft. Es wurden die herrlichsten glänzendsten Bouteillen polnischer Schnäpse neben sie gestellt, noch heute schwirren mir ihre Namen durch den Kopf: Kontu- schowka, Malakoff, Rostopschin – meistens wurden die stärksten polnisch-russischen Schnäpse nach russischen Generälen genannt. Die grünen, hellgelben, wasserklaren Schnäpse glitzerten in den wohlgeformten Flaschen. Aber es war wichtig, nicht nur Flaschen, die verkorkt und verkapselt waren, auszustellen, sondern – meine energische Mutter wußte das sehr gut – es kam darauf an, die Schnäpse in kleinen Mengen, womöglich in offenen Gläsern an die Bevölkerung loszuwerden. Dazu war eine besondere Erlaubnis des Magistrats nötig. Es gelang meiner Mutter, den Vater aus seiner Caféterrassenbeschaulichkeit herauszureißen, und da er unter den Gemeinde- und Bezirksräten viele Freunde hatte, so erhielt er eines Tages die gewünschte Schankkonzession.

Der Tag war sicher entscheidend für mich, das sollte ich später spüren. Meine Mutter erkannte, daß die beste »laufende Kundschaft« zwischen vier und sieben Uhr früh, wenn Wirtshäuser und Cafés geschlossen waren, sich hierher verirren müsse. Wir wohnten damals an der Donau, nicht am Kanal, der grau durch die Stadt fließt, sondern an der richtigen grünengroßen Donau, die etwa eine halbe Stunde weit draußen an den Praterauen vorbeifließt. Eines Tages wurde beschlossen, daß ich jeden Morgen um vier Uhr diesen Laden aufsperren solle. Ich besuchte damals die Realschule, ein dreizehnjähriger Junge. Unvergeßlich, auch heute noch, diese Wege nachts oder im Morgengrauen, zu Fuß – die Straßenbahn fuhr noch nicht – von der großen Donau in die Praterstraße. Schließe ich die Augen, so sehe ich diesen Weg vor mir, meistens den Winterweg im Schnee, schlecht beleuchtet, ungepflastert, menschenleer. Kam ich vor dem Weintraubenhaus an, so war der Laden noch kalt, dumpf, ungeheizt und roch nach Rum und Schnäpsen. Das erste, was ich zu tun hatte, nachdem ich die Gasflamme angezündet, war, ein kleines Feuer in dem eisernen Öfchen zu machen. Aber ich fror noch immer schmählich; ich glaube, man friert als Kind fast so sehr wie als alter Mann, und man friert doppelt und dreifach, wenn die Augen noch voll Schlaf sind. Flackerte erst das Feuer im Öfchen, so hatte ich ein sehr einfaches Mittel, mich warm zu machen: ich lief und tanzte im Kreise durch den verhältnismäßig großen Laden und sang dazu ein Couplet, das ich noch heute vorzutragen imstande bin, es hatte den Refrain: »Sehn’s, so heiter ist das Leben in Wien«. Wie kam ich zu diesem aus vielen anderen Wiener Liedern?

Das Weintraubenhaus lag direkt neben dem alten Karl-Theater. Dank dieser Nachbarschaft war meine Jugend von Theaterluft durchströmt. Ich kannte sehr früh schon Zuschauerraum und Bühne, Schauspieler und Habitués, Kulissenschieber und Garderobefrauen. Dort hatte ich eine Wiener Posse gehört, in der ein heute längst verschollener Komiker dieses Tanzcouplet, während er im Kreise über die Bühne hüpfte, allabendlich zu singen pflegte. Jeden Morgen übte ich mit hohen Sprüngen dieses Tanzlied – die einzige gymnastische Übung meines Tages –, langsam wich der Schlaf aus den Augen, und das Blut strömte warm in Füße und Hände. Ich freute mich selber an meinem musikalischen Monolog, und trotzdem diese Morgenstunden zwischen vier und sieben Uhr das beste meines Schlafes weggenommen hatten, war ich, wenn ich meinen Rundgesang absolviert hatte, froh und guter Dinge. Zuweilen gab ich eine zweite Nummer zu, es war ein ganz dummes Lied, das aber den Vorteil hatte, daß ich dabei meine wachsende Tenorstimme mächtig fühlen konnte. Ich schmetterte es zu den Flaschen, den Fässern im Hintergrunde und wurde nur dann und wann gestört durch den Eintritt eines Gastes, der sein Gläschen begehrte.

Die Kundschaft bestand aus Arbeitern, die auf dem Wege in die Fabrik einen kräftigen Schnaps zu sich nehmen wollten, aus Fiaker- und Einspännerkutschern, die ihren nächtlichen Standplatz am Karl-Theater für eine Viertelstunde verließen, um sich an meinem Öfchen und an unserem Schnaps zu wärmen, und aus armen halb erfrorenen Frauenzimmern, die ihre traurigen Nachtmärsche mit einem Vanillelikör oder einem kräftigeren Allasch unterbrachen.

Ich bin noch heute nicht imstande, diese eigentlich melancholischen Situationen des um den Schlaf betrogenen Jungen anders als heiter und mit innerster Dankbarkeit anzusehen. Niemals hätte ich jene natürliche Beziehung zu den einfachen Leuten, die mir mein ganzes Leben lang treu geblieben ist, ohne diese Morgenstunden im Schnapsladen erreichen können. Niemals hätte ich die Verbundenheit mit den Arbeitern aus Büchern lernen, und nie hätte ich den Irrsinn der Mechanisierung des erotischen Lebens so deutlich erfassen können als damals, als diese vom Nachttrabe erschöpften Freudenmädchen bescheiden sich auf das Bänkchen hockten, wohin ich ihnen ihren Vanillelikör brachte.

Die Kutscher wurden meine besten Freunde, die Arbeiter brachten dem dreizehnjährigen Jungen die ersten sozialistischen Zeitungen. Jawohl, ich war zu früh aus dem Schlaf gerissen, aber ich danke diesen Morgenstunden mein geistiges und politisches Erwachen. Und zu allem immer wieder die Nähe des alten Karl-Theaters. Der kleine, schlecht erleuchtete Laden, voll von Schnapsluft und Pfeifenrauch, war immer wieder durchsummt von den Liedern aus dem Karl-Theater. Eine merkwürdige Mischung von politischem Verschwörertum, sozialer Erbitterung und musikseliger Tanzfreudigkeit herrschte hier zwischen vier und sieben Uhr morgens.

Um halb acht Uhr löste mich meine Mutter ab. Dann bekam ich schnell einen dünnen Kaffee mit einer Semmel, packte meine Bücher in den Ranzen und wanderte in die Realschule. Saß ich erst in meiner Bank, so meldete sich das fürchterliche Schlafdefizit dieser Monate und Jahre. Besonders in der Chemiestunde, wenn Formel auf Formel mir entgegenwankte, begann ich immer wieder einzunicken. Eines Tages schüttelte mich der Chemieprofessor wach, der gleichzeitig mein Ordinarius war – der Gute, ich werde seinen Namen Cyrill Reichel nicht vergessen –, und fragte: »Zum Teufel, Großmann, warum sind Sie denn immer so schläfrig?« Ich antwortete ehrlich: »Weil ich um drei Uhr aufstehen muß.« Der gute Cyrill – ich sehe seine buschigen Brauen und seinen dicken breiten Schnurrbart noch vor mir – fragte: »Was, um drei Uhr müssen Sie aufstehen?« Und nun erzählte ich ihm, übrigens keineswegs in anklägerischer Art, sondern um mich zu entschuldigen und zu verteidigen, von meiner Morgenarbeit. Er hörte mir zu, ich weiß nicht, ob er an meinen Worten zweifelte. Aber etwa eine Woche später stand ich eines Tages hinter der Budel und traute meinen Augen nicht, als sich die Glastür öffnete und mein Chemieprofessor Cyrill Reichel mitten unter Kutscher, Proletarier und Huren eintrat. Es war der einzige Augenblick in jenen Morgenstunden, in denen ich zu zittern begann; nie hatte ich, wenn ich so allein in dem leeren Laden stand, den Gedanken gehabt, ich könnte überfallen und die spärliche Kasse könnte geraubt werden; immer waren meine Nerven in ungestörter Zuversicht. Aber – als jetzt der Chemieprofessor eintrat, da hatte ich nur ein Gefühl: wie kommst du eigentlich dazu, mich in meiner privaten Sphäre aufzustöbern? Ich hatte nur die Empfindung der Unzulässigkeit seiner Visite. Ihn ging nur an, was ich in der Schule trieb, über mein Leben außerhalb der Schule hatte er kein Aufsichtsrecht. Erst viel später habe ich begriffen, daß es die freundschaftlichste Handlung war, die der gute Cyrill mir erwiesen hat. In dem Augenblick seines Erscheinens empfand ich nichts als störrische Wut.

Wenige Tage darauf wurde mein Vater zum Direktor der Realschule gerufen, und es wurde ihm in entschiedenen Worten vorgehalten, daß ich unmöglich der Schule folgen könne, wenn ich schlaftrunken und schon ermüdet in den Unterricht komme. Cyrill Reichel siegte. Der nächtliche Zulauf im Branntweinladen war von Tag zu Tag, oder eigentlich von Nacht zu Nacht gestiegen. Meine Mutter stellte eine Kassiererin an, und ich konnte bis sieben Uhr morgens schlafen.

Aber der Realschule war ich nun doch entfremdet. Mein geistiges Zentrum lag nicht mehr in der Schule, und deshalb fehlte die Aufgeschlossenheit und Aufmerksamkeit des Schülers. Ich saß wohl in der Schulbank, aber ich hatte mich innerlich abgesperrt und dem Einfluß der Lehrer vollkommen entzogen. Zwei Lehrer spürten das, der Turnlehrer Albin Horn, ein grobschlächtiger, antipsychologischer Geselle, der die geistige Verachtung verdiente, die damals den Turnlehrern entgegengebracht wurde. Ich war ein schmächtiger und blasser Junge, ein fanatischer Leser – ich erinnere mich, daß ich sehr oft auf der Straße im Gehen las, zuweilen sogar in der Dämmerung, so daß ich nur, von Laterne zu Laterne hüpfend, schnell einen Blick in das Reclambüchel werfen konnte. Diesen geschwächten, übergeistigen Jungen hätte ein verständnisvoller Turnlehrer erst recht heranziehen und zu körperlicher Aktivität verlocken müssen. Mein Albin Horn wurde über meine gymnastische Unzulänglichkeit so böse, daß er das faustdicke Seil, das für Springübungen an der Wand hing, herunterholte und mich damit verhaute. Ich kann nicht sagen, daß ich darüber unglücklich war, denn schon in dem Moment, in dem ich mißhandelt wurde, hatte ich den Plan gefaßt, mittels dieser Mißhandlung mich von dem Turnunterricht gänzlich zu drücken. Ich ließ mir die Züchtigung nicht gefallen, sondern rannte zum Entsetzen Albin Horns auf der Stelle zum Direktor, und zehn Minuten später war ich vom Turnen für immer dispensiert.

Der andere Lehrer versuchte das Interesse für die Schule auf mildere Art zu entfachen. Es war der Professor für Deutsch und Geographie, Dr. Franz Willomitzer, der Herausgeber einer ausgezeichneten deutschen Grammatik, in der ich noch heute mit Vergnügen blättere. Er sah sehr soigniert aus, wir bewunderten seinen modischen Anzug, seinen sorgfältig gepflegten Henri IV-Bart, und, was noch wichtiger war, er verstand es, durch seinen freien Vortrag unsere, auch meine Aufmerksamkeit zu fesseln. Er war ein deutschgesinnter Liberaler, und seine nationale Oppositionsstellung gegen den Völkermischmasch Österreichs kam auch in seinen Vorträgen zum Ausdruck. Er wagte es, aus den offiziellen Geschichtsbüchern die lakaienhaftesten Dithyramben auf die Habsburger wegzustreichen. Er murmelte so nebenbei, wenn wir auf diese Geschichtsklitterungen stießen: »Diesen Passus können Sie übergehen.« Eines Tages kam er in die Stunde, den Pack blauer Schulhefte unter dem Arm. Wir hatten einen Aufsatz über den Charakter des armen Spielmannes in der Novelle von Franz Grillparzer zu schreiben. Professor Willomitzer stieg langsam das Podium empor, legte mit einer gewissen Feierlichkeit die Schulhefte auf den Kathedertisch, machte eine Spannung erzeugende Pause und sagte dann in jenem halblauten Ton, auf den wir viel mehr lauschten als auf die Überdeutlichkeit der anderen Lehrer: »Den besten Aufsatz hat Großmann geschrieben; man könnte ihn, so wie er ist, drucken.« Dieses beinahe hingenuschelte Lobeswort ist für mein Leben entscheidend geworden, von diesem Augenblick an war ich Schriftsteller! Übrigens bin ich dem Thema des Grillparzerschen armen Spielmannes treu geblieben. Die Figur des Musikers, der ein Hubermann ohne Geltungsbedürfnis war, zu stolz, um nach dem Ruhm der Presse und des Publikums zu gieren, dieser Musiker von Natur, der lieber vor Kindern in der Brigittenau aufspielte als vor abgestumpften Zeitungsschreibern und Damen in Abendtoilette, dieser bedürfnislose Verschwender steht meinem Herzen heute noch so nahe wie damals in der Schulbank. Ich sehe ganz Österreich von vielen armen Spielmännern bevölkert, die aus ihrer Brigittenau nicht hinausfinden und nicht hinausfinden wollen! … Meinem gütigen Lehrer Franz Willomitzer habe ich als Schriftsteller noch viele Jahre jede Arbeit, die mir gelungen schien, zugeschickt, und er schrieb mir immer wieder ein paar verständnisvolle, selten auch ein paar lobende Worte dazu. Ich habe in meinem Leben Lob selten vertragen. Im Grunde bedeutet Lob eine noch größere Anmaßung als Kritik. Nicht vielen Menschen habe ich das Recht eingeräumt, mich zu loben, aber mein alter Deutsch-Professor Franz Willomitzer steht noch heute zuweilen hinter meiner Schulter und murmelt mir zu: »Klare Disposition, Großmann, das ist das Wichtigste.«

In der siebenten Realschulklasse, ein halbes Jahr vor der Matura, lief ich aus der Schule. Ich hatte kurz vorher eine Prüfung in Mineralogie abzulegen. In zwei Nächten hatte ich mir das Lehrbuch eingepaukt, ohne auch nur einen Stein vor Augen gehabt zu haben. So schnell wie ich den Lehrstoff aufgenommen, so hurtig hab’ ich ihn auch wieder vergessen. Als ich mir auf dieselbe Art »darstellende Geometrie« einbläuen sollte, vielleicht für vier Tage, da lief ich davon. Sich dieses Diarrhöe-Wissen anzueignen, war zu sinnlos. Mein Vater lag in schwerem Siechtum zu Bett, ein halbes Jahr lang, während ich im Prater herumbummelte oder in der Universitätsbibliothek hockte oder die Bücher des Arbeiterbildungsvereins Gumpendorf durchackerte, ein halbes Jahr lang habe ich meinen Vater belogen und ihm Schulbesuch vorgetäuscht. Es gehört heute noch zu meinen Schreckensträumen, daß ich am Bett meines schweratmenden Vaters stehe und er dahinterkommt, daß ich all die Zeit die Realschule geschwänzt habe.

Nicht nur meiner Familie war ich entfremdet, all die Leute, die mir sagten: »Du mußt an einen Broterwerb denken; der Mensch lebt nicht nur von Luft. Geld, Geld, Geld, darauf kommt es an«, all diese Leute redeten eine andere Sprache als ich. Ich war von den Arbeitern, denen ich in jenen frühen Morgenstunden ein Gläschen Schnaps vorgesetzt hatte, sozialistisch infiziert worden. Ich hörte täglich von Verhaftungen, Konfiskationen, harten Richtersprüchen, und alles, was jung, knabenhaft und unverbildet in mir war, trieb mich zu den Verfolgten, deren Rechtschaffenheit und Selbstlosigkeit ich in den Morgenstunden vor der Schule – gründlichere Schule! – besser als Polizisten, Richter und Fabrikanten kennengelernt hatte.

Nie wäre der Sozialismus mit solchen Affektwerten geladen worden, wenn nicht die Romantik der Staatsverbote und die noch lockendere Romantik des Einsatzes der eigenen Person, der lodernde Zauber der Gefahr den einzelnen jungen Menschen an die Sache innerlich gebunden hätte. Während ich so, nicht durch volkswirtschaftliche Theorien, sondern vor allem durch das Abenteuer der Geheimbündelei in die sozialistische Bewegung verstrickt wurde, wuchs meine Isolierung in der Familie. Meine von Sorgen bedrückte und durch das Siechtum des Vaters doppelt besorgte Mutter erschien meinem halb knabenhaften Geist merkwürdigerweise als die Inkarnation des kapitalistischen Denkens. Geld, Geld, Geld, das sie nie hatte und nie in größeren Mengen zu erwerben imstande war, Geld war das wichtigste Wort in ihrem Wörterbuch. Der merkantile Geist der Verwandten, dieses ewige Zweckdenken, und noch dazu das Denken an sehr kleine Zwecke, erzeugte in mir, ich kann es nicht leugnen, antisemitische Regungen. Ich erinnere mich sehr deutlich an einen Versöhnungstag der Juden in der Leopoldsstadt, an dem sie in Feiertagskleidung nach dem Tempel durch die Straßen promenierten. Ein kleiner Junge stand vor dem geschlossenen Laden eines Geschäftes mit einem Farbentopf in der einen und einem Pinsel in der anderen Hand. Mit diesem Pinsel malte er auf die geschlossene Geschäftstür die Worte: »Hoch Schönerer.« Schönerer – das war der Name eines deutschvölkischen, judenfeindlichen Führers, der eine Zeitlang in Wien volkstümlich war. Der kleine Judenjunge verdeckte mit seiner Figur die gemalte Schrift, die Spaziergänger ahnten nicht, welche Überraschung er tückisch für sie vorbereitete. Plötzlich bemerkte ein Vorübergehender, mit schwarzem Gehrock und Zylinder angetan, die provozierende Inschrift. Im Nu wurde dem Jungen Pinsel und Farbentopf aus der Hand gerissen, und die Hiebe hagelten auf den Buben von allen Seiten herunter. Nicht nur weil die Großen in einer so starken Übermacht waren, schlug mein Herz für den kleinen bösartigen Jungen, sondern ich begriff schon damals den antisemitischen Protest des jüdischen Knaben, und ich schloß mich ihm an. Die sozialistische Bewegung in ihren Anfängen war übrigens reich an antijüdischen Protesten. Engels hat den toten Lassalle einen Baron Itzig geheißen, Marx hat sich in seinem viel zu wenig beachteten Aufsatz über die jüdische Frage vernichtend antijüdisch geäußert. Es kam gerade den jüngsten Führern des Sozialismus darauf an, sich von dem jüdischen Kleinbürgertum, dem sie entsprossen, zu distanzieren. Auch ich habe diesem instinktiven Antisemitismus meiner Jünglingsjahre einen entscheidenden Ruck zu danken, nämlich die Loslösung von der Familie.

Eines Abends ging ich mit jungen Gesinnungsgenossen in eine Versammlung, in der ein verschollener Apostel, Dr. Theodor Hertzka, über die Gründung eines sozialistischen Experimentsstaates in Uganda redete. Das war nun die verlockendste von allen Theorien: Sozialismus plus Afrika, eine funkelnagelneue, nur auf Erkenntnis aufgebaute Mustergesellschaft. Hertzka nannte seinen Staat, nach dem er strebte, »Freiland«. Die dogmatischen Marxisten verhöhnten den Utopisten, aber unsere Wangen wurden heiß, wenn wir an »Freiland« dachten, und wir diskutierten das Freilandprojekt viele Abende lang. Einmal hatte ich das Glück, von Dr. Hertzka zu einer Diskussion in seine Wohnung geladen zu werden. Nur Auserwählte, die an dem Bau mitwirken sollten, waren gekommen. Die Besprechung dauerte bis ein Uhr nachts. Aber wer sah an diesem Abend auf die Uhr? Ich kam zum erstenmal sehr spät nach Hause, ich mußte dem Hausmeister Sperrgeld bezahlen – unerhörte Verschwendung in den Augen meiner Mutter –, dann mußte ich an der Wohnungstür läuten und meine Mutter aus dem Schlaf wekken. Aber Uganda war ja ganz nahe, die ersten Beträge für den Freiland-Staat waren gezeichnet, und die eigentliche Befreiung der Menschheit stand ja vor der Tür. Meine Wangen glühten noch vor Begeisterung, als ich meine Mutter aus dem Schlaf läutete. Nach wenigen Sekunden schlürfte sie heran, schlaftrunken und schlecht gelaunt. Sie hatte mir kaum die Tür geöffnet, da brannte mir schon eine Ohrfeige im Gesicht. Ich taumelte in mein Zimmer und beschloß, das Elternhaus morgen zu verlassen. Nach dem Mittagessen hatte ich meine Habseligkeiten in einen Koffer gepackt und war aus dem Reiche meiner Mutter verschwunden.

Ein Freund, Freiländer wie ich, der damals sein Einjährigen-Freiwilligen-Jahr absolvierte, nahm mich bereitwilligst in seinem Mietzimmer auf. Ich wußte noch nicht, wo ich morgen zu Mittag essen würde, aber ich war glücklich. Ich besaß dreißig Kreuzer. Mit diesem Vermögen in der Tasche lief ich abends in die Nähe des Karl-Theaters. Auf irgendeine Weise mußte ich den ersten freien Abend im Karl-Theater verbringen. Natürlich würde ich, wenn es sein mußte, zwanzig Kreuzer für die höchste Galerie geopfert haben, aber ich hatte Glück. Ich schlich gegen halb sieben Uhr am Bühneneingang herum, um sieben Uhr tauchte der Chef der Statisterie auf, dem ich dann und wann im Weintraubenhaus einen kräftigen Slibowitz gereicht hatte. Ich grüßte, er kam auf mich zu: »Kannst mittun heute abend, fünfundzwanzig Kreuzer.« Man spielte ein englisches Stück: A dark secret. Ich hatte mit einigen anderen Jungen und Mädchen an den Ufern eines Flusses herumzuwandeln, in den später der Komiker Karl Blasel hineinzuspringen hatte. Mit welcher Inbrunst wandelte ich zum erstenmal an den Ufern des Theaterstromes, wie neugierig blinzelte ich über die Rampenlichter hinüber in einen dunklen, manchmal von Murmeln und Gelächter belebten Zuschauerraum; zum erstenmal sah ich einen ununterbrochen zischelnden Souffleur in seinem Kasten, zum erstenmal erlebte ich die sorglos-frivol-unschuldigen Gespräche der kleinen Schauspieler. Ich stand hinter der dritten Kulisse mit brennenden Wangen und sah auf die Bühne, sah in die leere Hofloge. Plötzlich stand ein großes Mädchen in weißem Trikot neben mir. Sie hatte im Zirkusbild des nächsten Aktes zu tun. Ich muß ein vollkommen verwirrtes Gesicht gemacht haben, als sich das halb entkleidete Mädchen sanft an mich lehnte, und ich werde den schelmischen Ton ihrer Stimme nie vergessen, mit dem mir, zum erstenmal in meinem Leben, eine kleine lustige Laszivität ins Ohr geflüstert wurde.

Der Einjährige, der mir so hilfreich Nachtquartier angeboten, war eine besonders spannende Figur für mich, denn er hatte ein Liebesverhältnis. Der Kreis, in dem er lebte, war mir an den Freilandabenden bekannt geworden. Ich sah den Einjährigen – daß er in voller Uniform an der Gründung des Zukunftsstaates mitzuarbeiten wagte, erhöhte seinen Nimbus – immer in Begleitung von zwei Schwestern, großen Erscheinungen von römischer Schönheit. Ich kannte die Brüder dieser Schwestern, wir hatten in ihrem Hause zuweilen Musik gehört, Bücher eingetauscht und Bücher besprochen. Alle diese jungen Menschen waren drei, vier Jahre älter als ich, und zwischen einem siebzehnjährigen und einem einundzwanzigjährigen liegen zuweilen nicht vier Jahre, sondern liegt die Kluft einer Lebensperiode. Im Hause der römischen Schwestern wurde kein lautes Wort geredet. Die meisten dieser leise und bedeutsam geführten Gespräche verstand ich nicht. Ich weiß nur, daß das am meisten gesprochene Wort das Wort »Leiden« war. Jeder war stolz darauf, ein Leid auf sich genommen zu haben. Vielleicht war dies die Folge des Einbruchs der russischen Romane, die damals zum erstenmal mit Heißhunger verschlungen wurden. Dostojewski, Tolstoi, Turgenjew – wie konnten wir es wagen, nachdem wir das alles mit Begeisterung geschluckt hatten, zu leben ohne zu leiden? Im tiefsten Schatten Dostojewskis schienen die beiden römischen Schwestern selbst zu stehen, ihre schwarzen Scheitel waren ganz schlicht frisiert, und der tiefe Blick aus ihren wunderschönen großen Augen schien jeden zu fragen: leidest du auch? Am meisten fragten diese Blicke meinen Freund, den Einjährigen, der in seiner bunten Dragoneruniform eigentlich mehr unternehmend als leidend aussah. Das Schlimmste an der Geschichte war, daß die beiden Schwestern abwechselnd, einmal die ältere, einmal die jüngere, sämtliche Lebensfragen mit meinem Einjährigen nachts in seinem Zimmer zu besprechen pflegten. Das wäre nicht weiter bitter gewesen, wenn mich mein Freund nicht gebeten hätte, abends, wenn eine der Schwestern bei ihm zu Besuch war, nicht hinein zu kommen, sondern ihren Abschied im Vorzimmer abzuwarten. Dieses Vorzimmer war nun ein verdammt ungemütlicher, finsterer Raum, in dem man nicht einmal lesen konnte, und der Abschied der Schwestern zog sich, je länger die Beziehung dauerte, in umso spätere Nachtstunden hinaus; manchmal wurde es zwei, drei Uhr, bevor ich aus meiner andachtsvoll erduldeten Vorzimmerexistenz erlöst wurde. Warum harrte ich so sanftmütig aus? Es war der ungeheure Respekt vor dem »Erlebnis«, dem ersten in meiner Nähe, der mich stumm und geduldig machte. Die Liebe ging in meiner Nachbarschaft vorüber, und ich habe von jeher vor dem Blitzschlag der Leidenschaft eine andachtsvolle Regung gespürt. Es war schon ein gütiger Wink des Schicksals, daß die Liebe so dicht in meiner Nähe eingeschlagen hatte und daß ich sie also sehen konnte, ohne doch von ihr betroffen zu sein. Nur einen kleinen Nachteil brachte mir die Sache: ich war wieder in der schmählichsten Weise um meinen Schlaf betrogen, und mein Schlafdefizit stieg allmählich ins Uneinbringliche. Um die Abende, an denen das Zimmer des Einjährigen von einer der beiden Schwestern okkupiert war, auszufüllen, ging ich nun Abend für Abend in den Arbeiterbildungsverein Gumpendorf. Dort traf man Arbeiter und Handlungsgehilfen, Studenten und einige Doktoren, dann und wann auch einige junge Genossinnen, und auch hier wurde nach russischem Muster diskutiert, daß sich die Balken bogen. Nur an sehr heißen Sommerabenden blieb der bescheidene Klubraum leer. An einem schwülen Juliabend hatte in Gumpendorf eine Diskussion über Monogamie und Erbrecht stattfinden sollen. Es erschien bloß ein Schweizer Genosse, der Referent, und eine Genossin, aus Böhmen, die im Anfang der dreißiger Jahre stand. Der Schweizer, der auf die feurige Tschechin schon lange ein Auge geworfen, aber nicht den Mut hatte, ihr das zu gestehen, brachte kein Wort hervor. Er war wissenschaftlicher Theoretiker durch und durch. Nach langem geladenen Schweigen platzte der sachliche Mensch heraus: »Genossin, wollen Sie zu mir in geschlechtliche Beziehungen treten?« Erst nach Jahren haben wir über die Geschichte so lange gelacht, wie sie es verdiente. Die Sozialisten waren damals in zwei Lager geteilt, in die Radikalen und in die Gemäßigten. Ich wäre nicht siebzehn, achtzehn Jahre gewesen, wenn ich nicht mit Leib und Seele zu den Radikalen gehört hätte. Freilich waren die Themen, die wir uns stellten, etwas verzwickt, und man schlängelte sich nicht leicht mit seinen Schlagworten durch. So wurde viele Wochen über die Frage beraten und geredet: »Soll der Arbeiter durch Bildung zur Freiheit, oder soll er durch Freiheit zur Bildung gelangen?« Wir Jünglinge bürgerlicher Herkunft neigten dazu, daß der Arbeiter erst Freiheit und dann Bildung (die im vorigen Jahrhundert so überschätzte Bildung) erwerben solle. Aber die Arbeiter im Bildungsverein waren meistens entgegengesetzter Ansicht. Nein, nein, man müsse zuerst gebildet sein, und erst der gebildete Arbeiter gäbe einen verwendbaren Kämpfer ab. Wenn ich heute daran denke, wieviele Ideen und Ideale damals auf die Köpfe der von Tagesarbeit erschöpften Arbeiter losdonnerten, so bin ich erstaunt, daß sie diesen Anprall von vielzuviel Geisteskräften ohne innere Beschädigung überstanden haben. In unserer radikalen Gruppe, die den Übergang zu den anarchistisch Geführten bildete, hat noch eine besondere Diskussion jahrelang gewütet. Die Frage war: Individualismus oder Kommunismus. Ein schottischer Dichter, der nach Deutschland verschlagen war, John Henry Mackay, hatte Stirner entdeckt und in den Gärungstopf der Zeit den »Einzigen und sein Eigentum« geworfen. Aus diesem Hexenkessel von Bestrebungen und Tendenzen holte sich jeder heraus, was zu seiner Veranlagung am besten paßte. Die Anarchisten, die in ganz kleinen Gruppen arbeiten wollten, hielten sich für Individualisten, obwohl gerade sie die hingebungsvollsten Schwärmer gewesen sind. Wohingegen die nüchternen Köpfe, die einen großen, den ersten Konsumverein ins Leben zu setzen trachteten, sich als Kommunisten erklärten. Zuweilen wurde dieser Kampf der Theorien mit besonderer Erbitterung ausgefochten, und ich erinnere mich genau einer verhältnismäßig großen Versammlung in einem Vorort, in Fünfhaus, bei der die Individualisten die Kommunisten am Ende mit Bierkrügeln von ihren falschen Ideen abzubringen trachteten, die Kommunisten bearbeiteten die Individualisten mit Stuhlbeinen und Sesselkanten. Selten ist ein Kampf der Theorien mit so viel blutigen Löchern bezahlt worden wie an diesem Abend.

Ich genoß das Glück, frei über meinen Tag zu verfügen, ich las in der Universitätsbibliothek, was ich wollte. Meine Versuche, Marx zu lesen, sind freilich nur halb gelungen. Ich las die polemischen Schriften, besonders den Achtzehnten Brumaire, der ja einer der hinreißendsten politischen Pamphlete ist, mit Genuß, aber schon der erste Band des Kapitals – und ich bin über den ersten nie hinausgekommen – machte mir Schwierigkeiten. Mag sein, daß ich von Jugend an mich an unvergleichlichen Sprachkünstlern verwöhnt hatte. Wer das Schopenhauersche Deutsch, die klarste, biegsamste und dann wieder wie aus Eichenholz geschnittene Sprache, Seite für Seite genossen hat, der hatte an dem Marxschen Deutsch schwer zu kauen. Überhaupt lasen alle meine Freunde rings um mich Marx und seinen »Übersetzer« Kautsky, so daß ich eines Tages, als mir Vorwürfe über meine mangelnde Marx-Disziplin gemacht wurden, mit einigem Recht erwidern konnte: »Müssen wir denn alle den gleichen Weg gehen? Wenn ihr alle Marxisten seid, dann brauche doch ich es nicht auch noch zu werden.«