Ilona Einwohlt

Drillingsküsse

Wen lieb ich
und wenn ja.
wie viele?

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Eine Auswahl weiterer Titel von Ilona Einwohlt im Arena-Taschenbuch:
Mein Pickel und ich (Band 50443)
Die Schule und ich (Band 50444)
Mein Schutzengel und ich (Band 50448)
Wellenreiterin. Das Mädchen-Coachingbuch für den Start ins Leben
(Band 2383)
Schmetterlingsflügel für dich! Das Coachingbuch für starke
und selbstbewusste Mädchen (Band 2390)

Follow your heart – Zicken, Zoff und Herzgeflüster (Band 2837)
Follow your heart – Dicke Freundschaft, fette Party (Band 2839)
Follow your heart – Voll verliebt auf Klassenfahrt (Band 2840)
Follow your heart – Zickenzank (Band 2841)
Follow your heart – Glückspilz, Loser, Klassenstar (Band 2833)

Ilona Einwohlt,
geboren 1968, hat sich mit ihren Mädchenratgebern längst einen Namen
gemacht – nicht zuletzt deshalb, weil sie mit ihrem locker-einfühlsamen
Ton über Themen schreibt, die Mädchen wirklich interessieren. Die Autorin
lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Darmstadt.

Mehr über die Autorin unter
www.ilonaeinwohlt.de

 

 

 

 

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1. Auflage als Arena-Taschenbuch 2013
©2010 Arena Verlag GmbH, Würzburg
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Frauke Schneider, unter Verwendung
eines Fotos von Charlotte Troatman©gettyimages
Umschlagtypografie: knaus. büro für konzeptionelle und
visuelle identitäten, Würzburg
ISSN 0518-4002
ISBN 978-3-401-80426-2

www.arena-verlag.de
Mitreden unter forum.arena-verlag.de

 

 

In der Haut von diesem Möbelpacker möchte ich nicht stecken: Ist der doch, voll beladen mit zwei Kisten und Womis ollem Lampenschirm, gegen den heiß geliebten Louis-XIV-Spiegel gedonnert. Hundertsiebzig Quadratzentimeter Spiegelscherben liegen jetzt am Boden – und mindestens sieben Jahre Pech. Die lautstarken Verwünschungen meiner Oma verfolgen ihn bis in die Tiefen seines Umzuglasters, wo er mit hochrotem Kopf verzweifelt nach einem Kehrbesen sucht.

Aber die Arbeit kann der Typ sich sparen. Erstens wird er keinen seiner Füße jemals wieder in dieses Haus setzen und zweitens hocke längst ich über dem Scherbenberg, um zu retten, was noch zu retten ist.

Es war mein Spiegel.

* * *

Ich bin in diesem Spiegel aufgewachsen. Seit ich denken kann, hing er im Wohnzimmer meiner Oma. Schon als Baby habe ich mich gerne darin angesehen, bestaunt, wie sich die Arme und Beine auf der anderen Seite bewegen, wie perfekt die Zehen wackeln können und der Kopf sich zur Seite neigt. Habe ich gelacht, hat das Spiegelbild zurückgelacht, habe ich eine Grimasse gezogen, hat es ebenfalls skurrile Verrenkungen gemacht. Später dann, während meiner Prinzessinnen-Ballerina-Phase, habe ich in rosaroten Tutus vor diesem Spiegel meine Positionen geübt, bin auf Zehenspitzen balanciert, habe Pirouetten gedreht. Ich konnte mich gar nicht sattsehen an mir, die Haare kunstvoll hochgesteckt, die Arme anmutig zur Seite. »Kleine Spiegelprinzessin« hat mich Womi damals liebevoll genannt.

Ich war zu jener Zeit oft bei ihr, weil Mam wieder Vollzeit arbeiten ging und vielversprechende Aufstiegsmöglichkeiten hatte, die sie nicht ungenutzt lassen wollte. Und da mein Paps zu den Vätern gehört, die durch ihre Abwesenheit glänzen, war ich froh, dass sich wenigstens einer aus der Familie für mich und meine Ballettkünste interessierte.

Irgendwann hörte das mit den rosaroten Spitzengefühlen und den süßen Zöpfen auf. Mein Spiegel zeigte nicht mehr ein fröhlich kicherndes Mädchen, das die seltsamsten Zappeleien ausführte, sondern eine grimmig dreinblickende Pubertierende. Meine Arme und Beine waren lang und schlaksig, mein Mund schmal und verkniffen. Und meine Haare hingen wirr und lang und braun über meine kantigen Schultern, mir gefiel nicht mehr, was ich da im Spiegel sah. Mit dem Tanzen hatte ich aufgehört, mein Körper konnte einfach keine anmutigen Bewegungen mehr ausführen, in der Tanzschule wurde ich deshalb von den anderen Mädchen ausgelacht. Keine Lust mehr, die »Bohnenstange im Spitzenkleid« zu geben, meine »traumhafte« Karriere als Primaballerina samt Tanzschuhen habe ich damals tränenreich in einer richtigen Trauerzeremonie begraben. Stattdessen kramte ich aus Womis alter Truhe seidige Rüschenkleider hervor, probierte Perücken mit blonden Kringellocken oder pechschwarzen Zöpfen, spielte mit Uralt-Taschen und Perlenketten und verkleidete mich jeden Tag aufs Neue: mal als Maja, mal als Philine, mal als Dorothee, schließlich bin ich auf diese drei Vornamen getauft.

Bis heute weiß ich nicht, welcher von ihnen am besten zu mir passt. Stundenlang posierte ich vor dem Spiegel, spielte wahlweise auch White Lady, Hippie-Mädchen, Managerin oder Partygirl. Aber wohl fühlte ich mich in keiner Rolle, noch nicht einmal in der als Pippi Langstrumpf.

Überhaupt war alles plötzlich so kompliziert: Paps war oft tagelang fort, einfach weg, auf Tagungen, bei wichtigen Klienten, und wenn er dann mal zu Hause war, hatte er Streit mit meiner Mutter, die natürlich die Meinung vertrat, dass er sich ruhig mehr um mich kümmern könnte, sie hätte ja mit dem Haushalt und allem schon genug. Sie hatte es endlich geschafft und war zur Marketingleiterin Deutschland ihrer Tiefkühlkost-Firma ernannt worden, stand jedoch unter Dauerstress und hatte eigentlich immer entsprechend schlechte Laune.

Womi war inzwischen Mitglied in einem Best-Ager-Club geworden und ständig auf Achse: Studienreisen, Malkurse, Yoga, Golfen, was man halt so macht, wenn man über sechzig ist und außer einem kleinen Häuschen und einem senilen Papagei keine Verpflichtungen mehr hat. Irgendwann begann Konfuzius dann, sich vor Langeweile und Einsamkeit die Schwanzfedern auszuzupfen. Kein Grund für Womi, ihren Toskana-Trip abzusagen: Kurzerhand vererbte sie Konfuzius samt Goldkäfig und Erdnusskollektion uns. So kam es, dass meiner Mutter nun jedes Mal ein fröhliches »Guten Morgen, du Schöne« entgegenschnarrt, wenn sie völlig verschlafen an ihrer Coffee-Bar die Espresso-Taste drückt. Dummerweise schätzt meine Mutter die morgendlichen Komplimente von Konfuzius überhaupt nicht. Sie kann es nicht leiden, dass er sich in alles einmischt, und war schon mehr als einmal davor, ihn fliegen zu lassen. Längst hat er sich erholt, besitzt wieder ein glänzendes Gefieder und, wie gesagt, die allerbeste Laune. Was man von unserem Mischlingsrüden Tictactoe nicht gerade behaupten kann. Der nämlich leidet seit dem Einzug von Konfuzius unter den merkwürdigsten Symptomen: juckende Hautausschläge an den peinlichsten Stellen, apathische Dauerschlafanfälle und ein schleimig-rasselnder Husten, der sich nach Kettenraucher anhört. Das sind nur ein paar Beispiele, weshalb Tictactoe inzwischen in der Tierarztpraxis von Doktor Thierse Stammpatient ist. Ein Allergietest auf Papageienfedern fiel allerdings negativ aus, weshalb wir alle weiterrätseln, an welch seltsamer Krankheit unser wuscheliger Hund denn wohl leiden könnte.

In den letzten Monaten stand ich dann bei Womi wieder heimlich öfter vor dem Spiegel und habe mich eingehend darin betrachtet. Ich bin zwar zehn Zentimeter gewachsen, nur leider an der falschen Stelle: Alle meine Freundinnen sind längst richtige Frauen und haben Busen, nur bei mir tut sich da wenig. Wie ich mich auch drehe, meine Haut über der Brust quetsche, ziehe oder falte: nada. Niente. Nichts. Ich bin ein dürres Gewächs, ein dünner Spargel, ein schmales Hemd, wie Womi behauptet. Sie hat sich abgewöhnt, mit mir über Essen zu sprechen, weil sie weiß, dass sie mich damit sowieso nur nervt. Stattdessen bringt sie mir ab und zu einfach ein paar Kostproben vorbei, wenn sie gerade von einem ihrer Senioren-Kochkurse kommt. Mit Genuss esse ich dann probiotischen Gemüseauflauf, vietnamesisches Curry oder bayrische Leberknödel, was Womi wohlwollend registriert und meine Mutter kritisch beäugt.

Ich halte aber keine Diät oder leide unter Magersucht und schon gar nicht bin ich bulimisch. Ich bin einfach dünn. Ich kann essen, so viel und so oft ich will, ich nehme nicht zu. Das können die wenigsten verstehen, allen voran meine Mutter, die mit jeder Kalorie kämpft, bevor sie sie in den Mund steckt. Mam war mit mir bereits bei etlichen Spezialisten – Jugendärzten, Psychologen, Ernährungsberatern. Doch sie haben nur bestätigt: Ich bin kerngesund – und dünn. Kein Diabetes, keine Schilddrüsenüberfunktion, keine schicke Stoffwechselkrankheit, ich bin eben so.

Alle gucken immer neidisch, wenn ich mir zum Nachtisch das dritte Mal eine Schüssel mit Mousse au Chocolat auffülle. Mich nervt das an, weil ich mich beobachtet fühle. Alle denken nämlich, ich kotze das Zeug wieder heimlich aus. Manchmal gehe ich auf das Spiel ein und verabschiede mich laut und deutlich Richtung Toilette … Dass ich nach so einer Mahlzeit froh bin, zusätzlich achthundert Kalorien extra aufgenommen zu haben und meine Jeans deshalb nicht mehr an meinem Hintern schlabbert, glaubt mir kein Mensch. Wie auch, wo alle Welt dem Diätwahn verfallen und Size Zero das für die meisten unerreichbare Maß aller Dinge ist. Ich kann auch überhaupt nicht nachvollziehen, wenn sich meine Mutter oder meine beste Freundin Carla über ihre dicken Hüften aufregen. Für sie könnte das Leben so einfach sein: normal essen, weniger Fast Food und Süßkram und sofort hätten sie drei Kilo weniger auf der Waage. Wenn ich dagegen eine Extraportion Burger und Schoko drauflege, nehme ich kein einziges Gramm zu.

Vor meinem Spiegel, der jetzt in Splittern vor mir auf dem Boden liegt, habe ich ausprobiert, wie ich mit so einem Dickbauch aussehen würde. Auch nicht besser.

Mit Carla wollte ich deswegen also auch nicht tauschen. Gesucht und gefunden, hat Womi mal zu uns gesagt, wir sind uns wirklich sehr ähnlich. Ich liebe es, zu lesen und vor mich hin zu träumen, mich zu verkleiden und zu schminken – das muss man wohl, wenn man drei Vornamen trägt so wie ich. Carla ist auch eine richtige Leseratte, vor allem liebt sie Fantasy und Rollenspiele über alles. Seit ein paar Wochen ist sie in eine völlig neue Welt abgetaucht. »Manga«, sage ich nur, zum Leidwesen ihrer Eltern, die beide angesehene Psychotherapeuten sind und dieser Form der Jugendkultur nicht gerade aufgeschlossen gegenüberstehen. Im Gegensatz zu mir, die am liebsten heimlich und alleine in verschiedene Rollen schlüpft, verschiedene Körpersprachen annimmt, Gesten mimt und dabei aber niemanden an ihren Verwandlungskünsten teilhaben lässt, studiert Carla jedoch in aller Öffentlichkeit die verschiedenen Manga-Figuren. Sie verkleidet sich wie ihre Comichelden, trägt Karoröcke und Elfenflügel und läuft schon mal mit einer überdimensionalen Schleife im tiefschwarzen Haar herum, das in frechen Fransen in ihr Gesicht fällt.

* * *

Ich drehe traurig eine der tausend Spiegelscherben in meiner Hand, ein Lichtstrahl lässt bunte Kugeln an der Zimmerdecke tanzen. Bald werden Mam und ich in Womis Haus wohnen, bald wird es in der Küche nicht mehr lecker nach vegetarischen Gemüseburgern duften, sondern nach Tiefkühlfertiggericht No. 128, wenn die Mikrowelle gepiepst hat. Und ich werde jeden Tag die alte Holztreppe auf der Jagd nach dem Schulbus hinuntersprinten, jeden Tag an der Stelle vorbeistürmen, an der, seit ich denken kann, mein Spiegel stand und die jetzt leer ist.

Kann nicht jemand den Spiegel wieder unversehrt machen? Kann nicht jemand die Zeit zurückdrehen, am besten an die Stelle, an der alles begann? Und kann nicht jemand die Geschichte ganz anders ausgehen lassen? Bitte!

1

Die Tierarztpraxis stinkt nach Meerschweinchenpisse. Tictactoe knurrt gefährlich auf meinem Arm und fletscht die Zähne, nur unter größter Anstrengung habe ich es mit ihm durch die Eingangstür in das Wartezimmer geschafft. Dort sitze ich nun auf einem unbequemen Holzstuhl, halte ihm das Maul zu, weil er am liebsten auf den rasierten Pudel gegenüber losgehen würde, die blaugrau gefärbte Omi guckt schon ganz ängstlich.

Den Gestank hier drin finde ich unerträglich, dabei sitze ich noch keine drei Minuten in dem überfüllten Raum. Doktor Thierse ist bei Herrchen wie Frauchen sehr beliebt. Ich zähle die besetzten Stühle ab, mit viel Glück bin ich in einer Stunde wieder draußen, kann doch noch zur Theater-AG.

Das Mädchen neben mir mit dem Meerschweinchen mustert mich neugierig. »Es hat Blut im Pipi. Und was hat deiner?«, redet sie einfach drauflos, als sie meinen Blick in ihren Minikäfig bemerkt.

»Willst du das wirklich wissen?«, frage ich zurück. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Tictactoe hat nämlich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Mams neue Schönheitspräparate vernichtet und ist seitdem äußerst schräg drauf. Zumindest habe ich ihn heute Nachmittag im Badezimmer inmitten verstreuter Schachteln, Blistern und Dosen gefunden, er hatte sich in ein Handtuch verbissen. Keine Ahnung, wie er das angestellt und wie viel er von dem Zeug tatsächlich gefressen hat. Bisher ist er jedenfalls noch putzmunter, wenn auch aggressiv wie nie. Nur um sicherzugehen, dass er keine bleibenden Schäden davonträgt, bin ich jetzt hier, um ihm notfalls den Magen auspumpen zu lassen. Mam wird heute Abend einen riesigen Aufstand machen, sie ist nicht die beste Freundin von Tictactoe, den mir Womi damals zur Einschulung geschenkt hat.

Außerdem hatte sie diese Wunderdinger gerade neu aus dem Internet, irgendein Kombipräparat gegen Fett und Falten, sauteuer, jede Wette. Keine Ahnung, wie ich Doktor Thierse erklären soll, dass meine Mutter Beauty-Pillen schluckt. Vielleicht ist Tictactoe so extrem drauf, weil er sich um Jahre jünger fühlt und nicht wie ein in die Jahre gekommener Pudel-Westie-Mischling, der keine Lust mehr auf Bällejagen hat und am liebsten faul auf dem Sofa liegt.

Gar nicht auszudenken, wie es meiner Mutter (und vor allem mir!) wohl ergehen würde, wenn sie wie geplant ihre Verjüngungskur gestartet hätte.

Ich überlege gerade, ob ich mir die Peinlichkeit antun soll, dem versammelten Wartezimmer von dem Anti-Age-Dilemma meiner Mutter zu berichten, da geht die Tür auf. Bevor ich reagieren kann, schießt Tictactoe von meinem Schoß, hüpft an dem coolen Typ, der jetzt im Eingang steht, empor und schnappt bellend nach dem kleinen Kätzchen, das er auf dem Arm trägt.

Meine Güte, hoffentlich kommt mein Hund bald von seinem Trip wieder runter!

»Ab«, sagt der Typ nur ganz ruhig und mir bleibt vor Bewunderung die Spucke weg. Hätte mich so ein wild gewordener schwarz-weißer Feger angesprungen, ich hätte wohl die Flucht ergriffen oder wäre auf den nächstbesten Stuhl geklettert. Doch Tictactoe schüttelt sich nur kurz, dann schnappt er nach dem linken Hosenbein und zieht den Typ unter Aufbietung sämtlicher Kräfte Richtung Behandlungszimmer, was dieser halb belustigt, halb genervt registriert.

»Äh, sorry, der ist sonst nicht so«, stammele ich, garantiert knallrot im Gesicht, versuche, meinen Hund wegzuziehen. Keine Chance.

»Schon okay«, meint der Typ und ich denke, boah, lässiger geht’s wohl kaum. Wie kann man mit einem Hund am Bein nur solch eine gute Figur machen? Überhaupt sieht er unverschämt gut aus.

»Hast du ’ne Ahnung, wie lange das hier so dauert?«

Ich war so in seinen Anblick versunken, dass ich erst jetzt sein an der Armbeuge blutdurchtränktes Hemd bemerke, das Kätzchen sieht übel zugerichtet aus, es hat die Augen geschlossen.

»Ich lass dich vor«, meint das Meerschwein-Mädchen, »sieht man doch, dass das ein Notfall ist. Was ist denn passiert?«

»Angefahren, hab’s gefunden«, meint der Typ. »Das ist cool, danke, ich habe nämlich noch was vor.«

Mit diesen Worten zwinkert er mir zu, befördert mit einem lässigen Schnickkick Tictactoe unter die Zeitschriftenablage und marschiert dann schnurstracks, ohne anzuklopfen, in Doktor Thierses Sprechzimmer. Und ich, sprachlos auf meinem Stuhl.

»Wir auch, junger Mann«, ruft die Pudeldame ihm empört nach, doch das hört er nicht mehr.

»Das arme Kätzchen«, meint die Kleine jetzt neben mir, »das sah nicht gut aus.«

»Mach dir keine Sorgen«, versuche ich, sie zu beruhigen, dabei bin ich selbst noch geschockt von dem kleinen Bündel Blut, das ich gerade gesehen habe. »Doktor Thierse kriegt das schon wieder hin.«

»Meinst du?« Zwei tränengefüllte blaue Augen schauen mich an.

Ich lege sämtliche Kraft und Zuversicht in meine Stimme. »Ja.«

Da faltet das Mädchen tatsächlich seine Hände und ist für die nächsten fünf Minuten still. Fünf Minuten, in denen mit Tictactoe etwas Seltsames passiert. Langsam kriecht er unter dem Tischchen wieder hervor, nachdem er vorhin so aggressiv war, wirkt er plötzlich äußerst schlapp und rollt die Augen, hoffentlich kollabiert er mir nicht. Dann entfährt ihm ein lauter, stinkiger Furz, was die Pudeldame pikiert registriert und das Mädchen aus seinem Gebet aufschrecken lässt. Mit einem Seufzer der Erleichterung rollt sich Tictactoe zu meinen Füßen, schnauft noch mal leise und beginnt zu schnarchen.

Erleichtert darüber, dass mein Hund offensichtlich seinen Medikamentenrausch ausschläft, lehne ich mich zurück.

* * *

Der Tag heute hatte schon nicht gut angefangen. Mam hatte verschlafen, und das, obwohl sie unbedingt vor ihrer neuen Kollegin im Büro sein wollte. »Die will sich ja nur einschleimen«, war Mams wütender Kommentar gewesen, »damit der Wallrabenstein ihr Auto auf dem Parkplatz stehen sieht, wenn er kommt.«

Dazu muss man wissen, dass meine Mutter zwar eine zuverlässige wie engagierte Managerin in ihrer Firma ist, nur leider ein Problem mit dem morgendlichen Aufstehen hat. Und zwar schon immer. Es gibt eben Menschen, die morgens um sechs topfit sind, und andere, die eine Weile brauchen, um im Tag anzukommen. Bisher war das für Mam kein Problem, wir und all ihre Mitarbeiter haben sich darauf eingestellt, jeder weiß, dass sie oft bis spät in die Nacht am Schreibtisch sitzt und ihre Strategien schmiedet. Doch seit vier Wochen gibt es Frau Wunderlich, die sie als Assistentin unterstützen soll. Leider wurde diese angeheuert, ohne meiner Mutter vorher vorgestellt worden zu sein.

»Niemals hätte ich so ein Fräuleinwunder eingestellt«, hat Mam nach dem ersten Arbeitstag von Frau Wunderlich gefaucht. »Sie mag die allerbesten Zeugnisse haben, aber ich kann sie nicht leiden.«

Warum, das hat Mam nicht genauer ausgeführt. Aber anhand der Art und Weise, mit der sie seitdem die Krähenfüße um ihre Augen bearbeitet, ihre Schuhe und Kleider wählt, ahne ich: Frau Wunderlich muss wunderbar jung aussehen. Und nicht nur das, offensichtlich gehört sie zu den gut gelaunten Frühaufstehern. »Jetzt lass dich doch von der nicht ärgern«, habe ich versucht, sie zu beruhigen, »du bist immerhin die Chefin, und zwar eine gute!«

»Fragt sich, wie lange noch«, hat Mam gemeint. Dann hat sie verzweifelt sämtliche Röcke aus dem Schrank gezerrt, sich durch zu kurze Säume, enge Verschlüsse und verschlissene Stoffe probiert, um dann in ein schwarzes Seidenkostüm zu steigen, das sie definitiv seriös aussehen ließ.

»Jetzt guck nicht so, du wirst auch mal alt«, sagte sie, als sie merkte, dass ich verwundert im Türrahmen lehnte. »Und all die schlechten Fette lagern sich auch in deinen Zellen an«, hat sie noch fies mit Blick auf mein dick beschmiertes Nutellabrötchen hinzugefügt. Um sie zu ärgern, habe ich sie dann bis ins Badezimmer verfolgt, demonstrativ mein zweites Nutellabrötchen mümmelnd, während sie mit Concelar und Make-up mindestens fünf Jahre aus ihrem Gesicht herausgezaubert hat.

Wenn ich mal über vierzig bin, will ich stolz auf jede einzelne Lachfalte sein.

Der Tag wurde auch nicht besser, als ich nach der Schule wie jeden Mittwoch zu Womi ging. Weil meine Eltern tagsüber immer arbeiten sind, bin ich bei ihr aufgewachsen, sie hat mir Fahrrad fahren beigebracht und balancieren, mich gesund gepflegt, wenn ich krank war. Und jeden Tag für mich gekocht, den Nachtisch haben wir immer gemeinsam zubereitet: Vanilleeis mit heißer Himbeersauce, Kaiserschmarrn, Schokopudding … ich liebe Womis leckere Süßspeisen.

Seit sie in diesem Best-Ager-Club ist, hat sich das alles geändert, Womi hat nur noch einmal in der Woche Zeit für mich. Sie tut dann immer so, als wäre alles so wie immer, aber ich spüre, dass sie lieber beim Doppelkopfspielen wäre, als mit ihrer fast sechzehnjährigen Enkelin über Praktikumsunterlagen zu brüten oder sich mit ihr über das G8 zu unterhalten. Auch in die Desserts kniet sie sich nicht mehr so rein, immer öfter gibt es nur simple Fruchtcremes aus der Packung oder Joghurt aus dem Kühlregal, immerhin in Bioqualität. Und heute war sie besonders unkonzentriert, der Reis angebrannt, das Ratatouille versalzen.

Bei der roten Grütze rückte Womi dann endlich raus. »Maja«, hat sie zögernd das Gespräch eröffnet, »was hältst du davon, wenn ihr hier einziehen würdet?« Erwartungsvoll guckte sie mich an.

Vor Schreck fiel mir der Löffel in den Becher. »Wir hier bei dir einziehen? Wieso denn, bist du krank?« Sofort spulte sich ein fieser Film in meinem Kopf ab: meine Oma, bleich und dahinsiechend, ans Bett gefesselt, Mam, Paps und ich abwechselnd Wache schiebend, die Schnabeltasse auf dem Nachttisch …

»Nein, i wo, ich fühle mich so gesund wie nie!« Womi schüttelte belustigt den Kopf. »Es ist nur: Was soll ich alleinstehende, alte Frau mit diesem großen Haus?«

»Na super«, ist es mir rausgerutscht, »hättest du auf diese Idee nicht schon früher kommen können?« Da hätte ich mir jahrelanges Pendeln sparen, hätte um die Ecke zur Schule gehen können und meine Freundinnen in der Nachbarschaft gehabt. Und Womi gleich in der Nähe, für alle Fälle.

»Nein, so meine ich das nicht.« Womi hatte lachend abgewunken. »Meinst du, ich könnte mit deinem Vater unter einem Dach wohnen?«

Ich schüttelte den Kopf. Nein, das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, Paps und Womi, das ist wie Mais in der Pfanne: Ein bisschen Öl und Hitze dazu und schon ploppt es los. Keine Geburtstagsfeier ohne Diskussion, kein Telefonat ohne Streit, kein Treffen ohne provokante Bemerkungen. Den Grund für ihren Kleinkrieg habe ich bisher nicht herausfinden können, nur so viel, dass sich Womi einen anderen Mann für ihre Tochter gewünscht hat. Auch Mam hackt ständig auf ihm herum: weil er nur ein kleiner angestellter Steuerberater ist, der seine Aufstiegs- und Karrierechancen in der Kanzlei nicht nutzt. Weil er unser gesamtes Vermögen vor vier Jahren an der Börse verspekuliert und ordentlich Schulden angehäuft hat, weswegen meine Eltern heute knapp kalkulieren müssen, trotz Mams Supergehalt. Weil er so einen seltsamen Geschmack hat und spießige Cordhosen mit Pullunder trägt statt modische Männeroutfits.

»Aber wie meinst du es dann?«, habe ich nachgehakt, weil ich nicht kapiert habe, worauf Womi hinauswollte.

»Ich werde ausziehen«, antwortete sie lächelnd. »Heute Morgen habe ich den Vertrag für ein Wohnprojekt unterschrieben. In zwei Monaten lebe ich nicht mehr alleine in einem Haus, das viel zu viele Stufen und Zimmer für mich hat, sondern endlich in einer kleinen Wohnung, die zu mir passt.«

»Das ist nicht dein Ernst, oder? Wenn Mam das erfährt . . .« Kopfschüttelnd habe ich sie angesehen. Nie wieder gemeinsam mit Womi gemütlich in ihrer Küche sitzen? Unvorstellbar!

»Deine Mutter soll sich mal nicht so haben und froh sein, dass ich ihr dieses Haus vererbe. Ich könnte es genauso gut verkaufen, es gibt genügend Familien, die sich darüber freuen würden.« Womi sah mich durchdringend an. Schon klar, worauf sie wieder anspielte. Mam hatte sich nach meiner Geburt geweigert, ein weiteres Kind zu bekommen. Weil die Wochen und Monate danach die Hölle für sie gewesen sein müssen. Viel erzählt Mam nicht darüber, das wenige, was ich weiß, habe ich in Gesprächsfetzen aufgeschnappt, wenn sie mit Womi oder ihrer Busenfreundin Marlene darüber gesprochen hat. Sehr einsam und traurig muss sich Mam damals gefühlt und viel geweint haben. Es ging ihr erst besser, als ich zu Womi kam und sie wieder von morgens bis abends arbeiten war. Ich erinnere mich, dass ich eine Zeit lang vor dem Spiegel großer Bruder gespielt habe. Ich habe Wopis alte Weste aus der Truhe gefischt, mit der er immer im Garten geackert hat, und mir mit schwarzem Kajal Bartstoppeln gemalt. Damit gab ich zwar eher den Strichmännchen-Cowboy, aber in meinem Spiel war ich der starke Beschützer einer kleinen Schwester, die von bösen Jungs geärgert wurde.

»Willst du das hier alles wirklich nicht mehr?« Verwundert sah ich meine Oma an. Was war nur in sie gefahren, dass sie plötzlich aus ihrem kleinen Häuschen ausziehen wollte, in dem sie seit Urzeiten lebte? Zunächst gemeinsam mit Wopi, nach seinem Tod vor vielen Jahren dann alleine – mit mir.

»Ach, Maja, das verstehst du nicht«, hat sie nur geseufzt. »Wenn ich es jetzt nicht mache, tue ich es nie. Ich habe keine Lust, hier zu versteinern. Und du brauchst mich ja auch nicht mehr.«

Beinahe wäre mir rausgerutscht, dass sie ja wohl diejenige ist, die seit einiger Zeit ständig auf Achse tourt und offensichtlich mich nicht mehr braucht, aber dann habe ich doch lieber meine Klappe gehalten. Wenn Womi sich etwas in den Kopf gesetzt hat, war sie erfahrungsgemäß nicht mehr davon abzubringen.

»Jetzt sei nicht traurig, meine Kleine«, hat sie tröstend gesagt und mich liebevoll an sich gedrückt, »dann kommst du mich eben dort besuchen!«

* * *

Noch immer stehe ich unter Schock. Wenn Mam heute Abend erfährt, dass Womi in Zukunft bei ihren Clubkollegen wohnt, tickt sie aus. Und wie ich sie kenne, wird sie sich auch kaum über ein sanierungsbedürftiges Häuschen am Stadtrand freuen, selbst wenn es hundertmal vererbt ist.

Tictactoe zu meinen Füßen gibt gurgelnde Schmatzlaute von sich, die Pudeldame gegenüber ist ebenfalls eingeschlafen. Ein Blick auf die Uhr über dem Türrahmen verrät mir, dass Doktor Thierse bereits über dreißig Minuten an dem armen Kätzchen herumflickt. Es besteht also Hoffnung für das kleine Tier. Bis wir dann dran sind, kann ich die Theater-AG knicken. Anfangs war ich ja skeptisch, ob ich da richtig bin, aber Frau Granke hat mich davon überzeugt, dass ich mit meinem Talent sehr wohl vor allen Leuten in fremde Rollen schlüpfen kann. So proben wir aktuell jeden Montag und Mittwoch Büchners Woyzeck, ich habe die Hauptrolle ergattert. Weil ich so dünn bin, nicht, weil ich so eine tiefe Stimme habe. Carla will mir zuliebe auch mitmachen: Requisite und Kostüme. Obwohl zur gleichen Zeit der Cosplay-Chat ihrer WoW-Gruppe stattfindet.

Sie ist eben meine beste Freundin.

In diesem Moment geht die Tür vom Sprechzimmer auf, Doktor Thierse erscheint im Türrahmen und geleitet den Typ mit dem Kätzchen nach draußen.

»Sie wird es schaffen, keine Sorge«, erklärt er mit seiner tiefen, zuversichtlichen Stimme. »Heute Abend noch von dieser Tinktur und morgen fängt sie wieder Mäuse!« Er nickt ihm noch einmal freundlich zu, bittet dann die Pudeldame als Nächste hinein.

Der Typ sieht sichtlich gebügelt aus, käsebleich lehnt er an der Wand und sieht aus, als wolle er sich jeden Moment übergeben. Das Kätzchen in seinem Arm trägt einen Verband um die linke Vorderpfote, hat aber mittlerweile die Augen wieder auf und guckt unternehmungslustig umher. Würde mich nicht wundern, wenn es gleich auf Tictactoe losgehen würde, der schnarchend auf dem Boden liegt.

Déjà vu: Tictactoe hatte auch einmal einen schlimmen Unfall, damals, als er auf der Baustelle in eine Rolle Stacheldrahtzaun geraten war, ich musste Doktor Thierse stundenlang beim Nähen sämtlicher Wunden assistieren.

Ohne weiter nachzudenken, trete ich neben den coolen Blassen. »Geht’s wieder?«, frage ich mitfühlend. Der Typ ist höchstens zwei, drei Jahre älter als ich, schätze ich mal, aber im Moment sieht er aus wie dreißig.

»Schon okay, es ist nur …ich kann kein Blut sehen … dabei ist die Kleine hier so tapfer.« Er streichelt dem Kätzchen den Kopf. Ein Lächeln huscht dabei über sein Gesicht, das mittlerweile wieder seine normale Farbe erlangt hat, er schaut mich an. Und dann haut es mich, Maja Philine Dorothee, mitten an einem stinknormalen Nachmittag in einer stinkigen Tierarztpraxis um, erwischt es, entflammt es, ich bin wie elektrisiert, alles in mir vibriert. In seinem Blick liegen Fragezeichen und Versprechen zugleich, ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so gerne und ausführlich jemanden angeschaut zu haben, stundenlang, Ewigkeiten könnte ich hier und jetzt stehen und nichts anderes tun, als in meinen Gegenüber zu versinken, Geschichten zu träumen … Warum sind mir vorhin nicht schon seine umwerfend blauen Augen aufgefallen?

2

Tictactoe hat schlechte Laune. Seit wir nach dem Besuch bei Doktor Thierse zu Hause sind, hängt er leidend in der Küchenecke, dabei hat mir der Tierarzt versichert, dass es ihm gut geht und er keine Schmerzen hat. Sicherheitshalber hat er ihm eine Spritze verpasst und uns eine satte Rechnung, wieder mal, Mam regt sich inzwischen nicht mehr darüber auf.

»Der Narr tut, was er nicht lassen kann, der Weise lässt, was er nicht tun kann«, hat Konfuzius gekrächzt, als wir zur Eingangstür hereingekommen sind, was ihm nur ein müdes »Wuff« eingebracht hat, unsere Haustiere können sich eben einfach nicht leiden.

Manchmal kann ich Tictactoe verstehen.

Ich habe auch schlechte Laune. Nachdem wir endlich aus der Praxis draußen waren und ich den hundemüden Tictactoe unter Aufbringung sämtlicher Kräfte über den Bürgersteig hinter mir hergezogen habe, bin ich natürlich viel zu spät zur Probe gekommen. Und wer hatte inzwischen die Hauptrolle übernommen? Leander. Unsympathischster Krake des Universums. Und dick dazu. Er ist seit dem neuen Halbjahr in unserer Klasse und mischt sich überall ein, obwohl er absolut talentfrei ist: kandidiert für die Schulsprecherwahl, singt im Schulchor, spielt in der Basketballmannschaft und in der Theater-AG. Der sollte lieber Woyzecks Doktor spielen, da kann er das Gleiche tun wie sonst auch und alle mit seinen Erbsen nerven, wo er doch so gerne übers Essen spricht. Aber so einer wie der lässt natürlich keine Gelegenheit ungenutzt. Zu meinem Pech waren alle der Meinung, dass Leander die Rolle des Woyzeck »total klasse« spielen würde. Zur Entschädigung hat mir Frau Granke die zweite Hauptrolle, nämlich die der Marie angeboten. Na prima, da soll ich mich zum Dank dafür, dass er mir die Rolle klaut, von dem erst abküssen und dann abstechen lassen!

Die allerschlechteste Laune aber habe ich aus einem noch ganz anderen Grund: Mir geht der Kätzchen-Typ mit seinen blauen Augen nicht mehr aus dem Kopf, ich überlege ernsthaft, ob mich Tictactoe mit Halluzinationen angesteckt hat. Wo ich auch hingucke, überall blaue Augen: im Kühlschrank statt des Joghurts, im Fernsehen statt meiner Lieblingssoap. Ganz schlimm wird es, wenn ich meine Augen schließe. Dann spult sich nämlich die Endlosschleife ab, dieser endlose Blick zwischen uns, als ob er mir direkt ins Herz sehen würde. Wie Tictactoe dann bellend zwischen uns hochgehüpft ist, ich ihn lachend abgewehrt habe. Wie der Typ mir zum Abschied ein lässiges »Man sieht sich« zugenickt hat. Und ich wie eingemeißelt mitten in der Praxis, unfähig, auch nur Tschüss zu sagen. Oder ein geistreiches »Wann denn?«.

Blöder kann man sich nicht verhalten, garantiert hält mich der Typ für die dämlichste Tusse des Universums.

Ein Winseln von Tictactoe lässt mich aufschrecken. Doktor Thierse meinte, dass unser Hund nach dem Aufwachen immensen Durst haben dürfte, aber so, wie Tictactoe gerade aussieht, schafft er keinen Meter bis zu seiner Schüssel. Wäre er ein Mensch, würde ich sagen: Der hat Kopfweh und einen Kater.

Ein kastrierter Rüde kann keinen Kater haben.

Mitleidig schiebe ich ihm seine Schüssel hin, die er binnen kürzester Zeit ausschlabbert. Danach rollt er sich wieder zusammen und schnarcht einfach weiter, der undankbare Kerl.

Dafür kommt Mam mit strahlendem Gesicht nach Hause. »Die Kampagne habe ich durch«, ruft sie durch den Flur, während sie sich ihre Pumps von den Füßen streift. »Puh, jetzt eine heiße Dusche und dann … was ist denn mit dem los?«

Stirnrunzelnd begutachtet sie den vor sich hin röchelnden Tictactoe, der zuckend auf unserem Küchenboden liegt. Dass unser Lieblingshund just beim Klacken des Türschlosses einen Rückfall hatte, kann sie ja nicht wissen. Stattdessen erzähle ich wortreich von seinem Medikamentenmissbrauch, erfinde ein bisschen Hundekotze und wie Doktor Thierse ihm unter Aufbringung seiner gesamten Tierarztkunst den Magen ausgepumpt hat.

»Ach, du Armer!« Ungeachtet ihres Edelkostüms kniet Mama jetzt neben ihm und krault seinen Kopf, worauf Tictactoe schmerzlich das Gesicht verzieht.

Was will der denn noch.

Als ich sicher bin, dass Mam vor Mitleid vergeht und den restlichen Abend nicht mehr von Tictactoes Seite weichen wird, wage ich es und erzähle ihr dann, dass es ausgerechnet ihre Beauty-Präparate waren, die unseren Hund in diesen elenden Zustand versetzt haben. Doch anstatt an die Decke zu gehen, reagiert Mam äußerst entspannt. »Macht nichts«, sagt sie gütig lächelnd, »Hauptsache, das Kerlchen hier kommt wieder auf die Beine.«

Ich liebe Mams Erfolg mit ihrer Kampagne. Wenn sie gute Laune hat, kümmert sie sich sogar um unseren Hund. Am besten erzähle ich ihr gleich noch von Womis neuester Idee mit dem Wohnprojekt.

So weit kommt es aber nicht.

»Wahre Schönheit kommt von innen!«, kräht Konfuzius einfach mittenrein, und das war’s dann mit Mams Entspannung.

»Ich zupf dir eines Tages noch die Federn aus, und zwar jede einzeln«, ruft sie entnervt Richtung Goldkäfig. »Hoffentlich besinnt sich Womi bald wieder auf ihre Häuslichkeit, damit dieser gefiederte Mistkerl hier endlich rauskommt.« Kopfschüttelnd verlässt sie die Küche, um sich ihrem Feierabend-Beauty-Programm zu widmen. Die Badezimmertür schlägt, kurz darauf höre ich das Wasser rauschen.

Jetzt kann Tictactoe zusehen, wo er bleibt. Und ich auch. Ich schlucke meine Worte hinunter. Soll Womi ihr selbst von ihren grandiosen Plänen erzählen, ich habe andere Sorgen. Bis morgen muss ich nämlich noch ein Referat in Bio fertigkriegen und weiß nicht, wie.

Blaue Augen, ist alles, woran ich denken kann.

Carla ruft an und erzählt mir begeistert von einer neuen Bekanntschaft im Chat, ein Typ namens Final Fantasy, der es ihr angetan hat und weshalb sie vorhin nicht zur AG kommen konnte. Mit halbem Ohr höre ich ihr zu, während ich nebenbei im Computer den Begriff »Mendelsche Regeln« google. Wäre doch gelacht, wenn nicht jemand ein Referat darüber eingestellt hätte. Ist zwar nicht die feine Art, aber ich hatte einen wirklich anstrengenden Tag, kann niemand von mir erwarten, dass ich heute Abend noch komplizierte Vererbungsregeln zu einem Kurzreferat verbrate.

Braune Augen dominieren blaue Augen bei einem dominant-rezessiven Erbgang im Verhältnis 3:1.

»Nächste Woche sind wir wieder verabredet. Ach, ich bin sooo aufgeregt«, meint Carla. »Wie war denn die Theater-AG?«

Falsches Stichwort! »Da gehe ich nie wieder hin«, fauche ich, »dieser Leander hat mir die Hauptrolle weggeschnappt und jetzt soll ich das Mariechen spielen.« Dann erzähle ich Carla in aller Ausführlichkeit von meinem missglückten Nachmittag, angefangen von Womis Wohnprojekt-Idee bis hin zu Tictactoes Tabletten-Debakel und Leanders Angeber-Auftritt in der AG.

»Hey, das lassen wir nicht zu, dass der dich ausspielt«, sagt sie, »der ist vielleicht der Sohn von diesem berühmten Fernsehkoch. Aber das heißt noch lange nicht, dass er selbst Theater spielen kann.«

»Und wenn doch?«, will ich wissen.

Da, ein Referat mit drei Seiten, was will ich mehr? Markiert, neues Dokument, copy & paste, ein bisschen formatiert und fertig. Zufrieden scrolle ich durch den Text, baue ein paar Rechtschreibfehler ein.

»Abwarten …« Ich höre am anderen Ende der Leitung ein Pling!, offensichtlich hat Carla Post. Für einen Moment hört man nur das Klackern unserer Tasten. Dann sagt sie: »Und was ist noch passiert?«

Typisch Carla! Sie hat Sensoren wie eine Grille, ihr entgeht nichts.

»Willst du es wirklich wissen?«

»Klar, würde ich sonst fragen?«

Also erzähle ich ein zweites Mal von meinem Nachmittag in der stinkigen Tierarztpraxis, aber diesmal die Version mit dem Typ und dem angefahrenen Kätzchen.

»Wahnsinn, und es hat überlebt?« Ich sehe Carla vor mir, wie sie sich insgeheim bei dem Gedanken an das viele Blut schüttelt.

»Klar, aber ich weiß nicht, ob ich das überlebe!« Und dann rücke ich endlich damit raus, dass ich seit vorhin an nichts mehr anderes denken kann – und nur noch ständig blaue Augen vor mir sehe.

»Garantiert habe ich mich bei Tictactoe angesteckt«, ulke ich. »Immerhin hat er mir heute Mittag mit seiner schaumigen Zunge quer durchs Gesicht geleckt.«

Carla lacht. »Klar, und morgen siehst du jung und frisch aus wie ein Kindergartenkind.«

»Im Ernst jetzt, ich mache mir wirklich Sorgen«, sage ich, nachdem sie sich wieder eingekriegt hat.

»Maja, du hast dich verknallt, nix weiter«, diagnostiziert Carla feierlich. »Willkommen im Club!« Und dann nutzt sie die Gelegenheit und textet mich zu mit Prince Charming alias Final Fantasy und welch süße Komplimente er macht. »Schade, dass ich nicht weiß, wie er wirklich aussieht«, seufzt sie schließlich. »Da hast du es viel besser.«

Und ich mit den blauen Augen im Kopf weiß noch nicht einmal, welche Haarfarbe der Typ hatte. Waren sie braun? Schwarz? Irgendwie dunkel. Und kurz. Er trug ein blau-schwarz kariertes Hemd.

Nach dem Telefonat mit Carla geht es mir überhaupt nicht gut, mir ist ganz schummerig im Bauch. Ich und verliebt, dass ich nicht lache, das fühlt sich doch ganz anders an. Nils zum Beispiel, letztes Jahr in der Ferienfreizeit auf dem Bauernhof, das war verliebt, und zwar volle Kanne. Zehn Tage waren wir von morgens bis abends unzertrennlich, im Stall beim Kühefüttern, im Schwimmbad, beim Wandern, auf dem Traktor, die ganze Zeit Händchen halten und viele zärtliche Küsse. Und Rumgeknutsche im Heuschober. Dann waren die Ferien vorbei, Nils fuhr zurück nach Berlin und ich habe die Erinnerung tief in mein Herz eingeschlossen, so glücklich war ich noch nie. Und so traurig, denn noch lange habe ich auf einen Brief oder einen Anruf von ihm gewartet, der nie kam.

Oder Maurice, mit dem war ich richtig zusammen, er und ich, lange, sogar mit Freundschaftsring und erstem Mal, dann hat es irgendwann keinen Spaß mehr gemacht und die Liebe war vorbei.

Oder Andy aus meiner Klasse. Der ist total süß und alle Mädchen stehen auf ihn, Carla natürlich auch. Jedes Mal kribbelt mein Bauch, aber er ist mit Valentina zusammen und interessiert sich nicht für mich. Ist halt so.

Blaue Augen.

Beim Abendbrot mustert mich Mam ganz genau.

»Alles in Ordnung mit dir, Maja?«, fragt sie. Sie hat ihr Schinkenbrot doppelt belegt und hobelt ein Gurkenstück in hauchdünne Scheiben. Gurke als Ersatz für ihre aufgefressenen Schönheitspillen. Wahre Schönheit …

»Jaja«, antworte ich rasch und spüle die Brotkrümel in meinem Hals mit einem Schluck Früchtetee hinunter. »Ich hab nur nicht so großen Hunger, weil ich heute in der Probe etwas gegessen habe.« Was glatt gelogen ist, aber ich weiß ja, was sie hören will.

»Sag bloß, so eine Kreation von Tiziano?« Mam verdreht bewundernd die Augen. Seit Leander in unserer Klasse ist, hängen sämtliche Mütter mit Begeisterung vor der Glotze und verfolgen die extravaganten Rezepte des Vier-Sterne-Kochs Tiziano. Dass sein Sohn ein Oberarschloch ist, der nur mit seinem berühmten Vater angeben will, interessiert nicht.