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Michael Albus

Taizé: Die Einfachheit des Herzens

topos taschenbücher, Band 1002

Eine Produktion des Verlages Butzon & Bercker

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Verlagsgemeinschaft topos plus

Butzon & Bercker, Kevelaer

Don Bosco, München

Echter, Würzburg

Lahn-Verlag, Kevelaer

Matthias Grünewald Verlag, Ostfildern

Paulusverlag, Freiburg (Schweiz)

Verlag Friedrich Pustet, Regensburg

Tyrolia, Innsbruck

Eine Initiative der

Verlagsgruppe engagement

www.topos-taschenbuecher.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8367-1002-2

2015 Verlagsgemeinschaft topos plus, Kevelaer

Inhalt

Einleitende Worte

Vorwort

Grundworte

Die Angst vor dem Restrisiko

Warum Mystik wichtiger ist als Wellness

Jesus in seiner Zeit

Mensch für die Menschen

Zeit und Herkunft Jesu

Was ist Mystik?

Kein Auge hat gesehen, kein Ohr hat gehört

Grundstriche einer konkreten Mystik

Mystik ist mehr als die Mystik des Mittelalters

Die Geschichte von Taizé

Taizé

Mystischer Ort des Christentums

Die helle Spur

Das Leben der Brüder hat Wurzeln

Die Brüder von Taizé

Moderne Nachfahren der alten Mönche

Cluny

Macht hat Grenzen

Cîteaux

Schweigen heißt sein Wort halten

Taizé als Versuch von Religion

Zeit haben

Religion haben

Stille suchen

Stille finden

Gott lieben heißt sein Leben beten

In der Einfachheit zu sich selber finden

Auf den Grund der Dinge schauen

Bilder und Zeichen

Die Kunst der Wahrnehmung

Die großen Urbilder

Das Wasser

Das Brot

Der Weg

Die Wüste

Der Baum

Das Licht

Die großen Feste

Weihnachten – Geburt und Menschwerdung

Ostern – Tod und Auferweckung

Pfingsten – Feuer und Liebe

Taizé heute

Aus kleinen Steinen ein Bild

Taizé – innen und außen

Der Wunsch, eine andere Welt zu sehen

Wagst du einen kühnen Vorstoß?

Der ökumenische Ansatz

Das Land

Die Kirchen in Burgund

Das Dorf auf dem Hügel – Die Stadt auf dem Berge

Baracken und Zelte

Die Dynamik des Vorläufigen

Wie Brüder – und Schwestern – leben

Ein Leben lang

Musik – Gottes andere Sprache

Die Lieder von Taizé

Warum Taizé?

Gott sucht uns

Risiko und Vertrauen

Mut zum Sprung

Ein Strahlen Gottes

Frère Roger – Prior und Gründer der Gemeinschaft von Taizé

Quellen

Einleitende Worte

Vorwort

Während die christlichen Kirchen in Europa aus ihrer offensichtlichen Schwäche vorläufig nicht mehr herauskommen, boomt Religion. Was immer man darunter versteht und wie immer sie sich zeigt.

In einer Welt, die massiv versucht, das Leben, vor allem an seinem Anfang und an seinem Ende, in den Griff zu bekommen, in der wieder einmal Allmachtsfantasien Auferstehung feiern, in der das Meiste aufgeklärt zu sein scheint, verschafft sich heimlich und unheimlich die große Sehnsucht Bahn, die wir Religion nennen.

Es entstehen neue Wallfahrtsorte, Orte, die wie Magnete wirken, weil sie Leben im Ursprung versprechen. Moderne Wallfahrtsorte können sein: Fußballstadien, Rockfestivals, Motorradfahrertreffen und manch andere Orte mehr.

Ein solcher Ort ist auch Taizé, das Dorf auf einem Hügel in Burgund.

Seit über siebzig Jahren geht von dort eine religiöse Energie aus, die jährlich Zehntausende, vor allem junge Menschen, aus Europa und auch aus Übersee in ihr Kraftfeld zieht.

Worin liegt die Faszination von Taizé? Das habe ich mich immer wieder gefragt. Ich habe mir und anderen die Frage lange Jahre hindurch gestellt. Es hat Zeit gebraucht, bis ich in Umrissen ahnen konnte, wo die Quellen von Taizé ihren Ursprung haben.

Eine der Hauptquellen ist das, was Frère Roger, der Gründer der Brüdergemeinschaft von Taizé, die „Einfachheit des Herzens“ nennt.

Taizé ist ein authentischer Ort, ohne Masken, Verkleidungen und Verstellungen, ohne Umschweife. Dort wird Ernst gemacht mit der Religion. Dort wird Religion freigelassen. Nicht in einen Raum der Willkür hinein, sondern in eine Gestalt, die lebbar ist. Sie verlangt etwas und sie gibt etwas. Taizé ist nicht einfach und nicht billig zu haben.

Bei der Arbeit an einer Fernsehreportage ist mir Taizé so nahe gekommen, dass ich einiges festhalten und mitteilen wollte, was das flüchtige Medium nicht festhalten kann. Davon ist in diesem Buch die Rede.

Ich verbinde damit auch einen Dank an die Brüder von Taizé, die mir auf eine ganz unaufdringliche Weise ans Herz gewachsen sind. Stellvertretend nenne ich den inzwischen verstorbenen Frère Roger, dessen Bescheidenheit, Herzlichkeit, Wärme und Menschlichkeit mich nachhaltig beeindruckt haben. Als der unvergessene Papst Johannes XXIII. einst nach Taizé gefragt wurde, hat er mit der Bemerkung geantwortet: „Ah, Taizé, der kleine Frühling!“ Inzwischen ist Taizé in die Jahre gekommen. Und noch immer ist dort Frühling: kleines Senfkorn Hoffnung.

Und das wird es und muss es auch bleiben. Auch nach dem schrecklichen Abend des 16. August 2005, an dem eine psychisch kranke Frau mit Messerstichen dem neunzig Jahre alten Frère Roger das irdische Leben ausgelöscht hat. Das Entsetzen, das mich und viele Menschen an jenem Abend und in jener Nacht ergriff, kann man nicht mit Worten beschreiben. Man steht ratlos und stumm davor, stellt auch wieder jene alte, nicht zur Ruhe kommen wollende Frage: Wo war Gott an diesem Abend? Die Frage muss man leider stehen lassen – und hoffen und vertrauen gegen alle Hoffnungslosigkeit und über alles Misstrauen hinaus. Man muss wachen, kämpfen und beten – auch mit Tränen in den Augen.

Was mich getröstet hat, das war das Verhalten der Brüder auf dem Weltjugendtag in Köln, der zu diesem Zeitpunkt gerade stattfand. Als die Brüder, die gerade mit vielen anderen in einer Kölner Kirche zum Gebet versammelt waren, gegen Mitternacht die schreckliche Nachricht erhielten, gaben sie das bekannt – und setzten das Gebet fort! Das hat nicht nur etwas mit beherrschtem Verhalten zu tun. Es ist vielmehr der Ausdruck des Glaubens in der Stunde des Schmerzes und der Not selber. Und es ist Vertrauen pur in den unbegreiflichen Gott.

Gerade hatte ich das Manuskript dieses Buches fertiggestellt, als das Unbegreifliche geschah. Was tun?, fragte ich mich. Im Grunde hätte ich das kleine Kapitel am Schluss, in dem ich versucht habe, Frère Roger so zu beschreiben, wie er auf mich und sicher auch auf viele andere ganz persönlich wirkte, welchen Eindruck er hinterließ, aus der Gegenwart in die Vergangenheit umschreiben müssen. Ich habe es nicht getan. Ich habe es in der Gegenwartsform stehen lassen, weil Frère Roger gegenwärtig ist und bleibt. Der wachsende zeitliche Abstand wird diese Gegenwart nur noch unterstreichen.

Die Frage, wie es in Taizé weitergeht, ist keine überflüssige Frage, aber sie ist auch nicht die wichtigste aller Fragen. Der Weg, den die Brüder gehen, ist vorgezeichnet. Sie werden einzeln und gemeinsam Leuchtfeuer in der Nacht der „modernen“ Zeit bleiben. Davon bin ich überzeugt.

Michael Albus

Grundworte

Nüchternheit und Leidenschaft

Wie jeder Christ musst du die Spannung auf dich nehmen

zwischen der totalen vom Heiligen Geist geschenkten Freiheit

und den Unmöglichkeiten,

vor die dich die gefallene Natur stellt,

die Natur deines Nächsten

und deine eigene.

Leib und Seele

Bleib niemals auf der Stelle,

zieh vorwärts mit deinen Brüdern,

lauf dem Ziele zu auf den Spuren Christi!

Und seine Spur ist ein Weg des Lichts:

Ich bin, aber auch ihr seid das Licht der Welt.

Damit die Klarheit Christi dich durchdringe,

genügt es nicht,

sie so zu betrachten, als seiest du nur Geist;

du sollst dich entschlossen

mit Leib und Seele

auf diesen Weg machen.

Festigkeit und Geschmeidigkeit

Steh zu deiner Zeit,

pass dich den Bedingungen des Augenblicks an.

Liebe deinen Nächsten,

wo auch sein religiöser oder ideologischer Standort sein mag.

Mut und Kampf

Liebe die Enterbten –

alle, die unter der Ungerechtigkeit der Menschen leiden

und nach der Gerechtigkeit dürsten.

Ihnen galt die besondere Aufmerksamkeit Jesu;

fürchte nicht, durch sie belästigt zu werden.

Finde dich niemals ab mit dem Skandal der Spaltung unter den Christen,

die alle so leicht die Nächstenliebe bekennen

und doch getrennt bleiben.

Liebe und Freude

Sei unter den Menschen ein Zeichen der brüderlichen Liebe und der Freude.

Sätze wie auf steinernen Tafeln. Aufgeschrieben vor einem halben Jahrhundert. Nach Jahrhunderten Feindschaft zwischen den Christen. Nach den Erfahrungen zweier vernichtender Kriege.

Sätze der Nüchternheit. Sätze der Einsicht. Sätze der Erfahrung.

Sie stehen in der Präambel der Regel von Taizé. Damit jeder weiß, woran er ist. Wenn er sich darauf einlässt.

Sätze der Entschiedenheit. Die Gefahr der Überforderung eingeschlossen. Auch die des Scheiterns. Aber formuliert, in Form gebracht auf Gelingen hin.

Keine Anleitung, sich wohl zu fühlen. Kein Wolkenkuckucksheim. Kein Luftschloss.

Sätze wie Zelte. Aus der Kraft des Vorläufigen. Man baut auf. Man bricht ab. Man geht weiter. Wenig Gepäck. Leichte Last. Lust zu gehen.

Sätze der Kraft. Sätze einer geheimnisvollen Leidenschaft. Sätze der Verwandlung.

Wenig Platz für Theorie. Viel Platz für Praxis. Angewiesen auf Kampf und Kontemplation.

Wer sitzen bleibt, für den sind es tote Sätze. Wer geht, für den werden sie unabsehbar lebendig.

Manche gehen. Sie haben Sehnsucht danach. Hören das glühende Schweigen, das aus ihnen spricht.

Die Angst vor dem Restrisiko

Warum Mystik wichtiger ist als Wellness

Jede Zeit hat ihre Zauberworte. Zwei von ihnen, die in diesen Jahren hoch im Kurs stehen: Mystik und Wellness. Für viele ein und dasselbe. Und doch: Der Unterschied zwischen beiden kann größer nicht sein.

Das Ziel der Mystik bleibt wie ihr Anfang: ein Geheimnis. Folglich nicht zu lüften.

Das Ziel von Wellness ist sich wohl fühlen, rundum kuschelig: Das ist machbar.

Mystik richtet sich auf etwas Anderes, auf einen Anderen, als wir selbst sind. Wellness meint nur: mich selbst.

Mystik ist nicht zu haben. Wellness ist zu haben. Man kann sie kaufen.

Mystik ist Außer-Sich-Sein. Wellness: Bei-Sich-Sein. Das ist auch schon viel. Aber nicht alles.

Mystik birgt in sich ein Restrisiko. Es ist wie bei der Kernkraft: Trotz aller Sicherheitsmaßnahmen, trotz aller ausgefeilten Techniken – ein Rest von Risiko bleibt. Es ist nicht alles beherrschbar. Wellness birgt in sich kein Restrisiko. Funktioniert die eine Technik nicht, kann man es mit einer anderen versuchen. Eine wird schon „klappen“. Koste es, was es wolle. Es ist alles beherrschbar.

Mystik sucht nach Gott. „Solo dios basta!“ Wellness sucht nach dem Menschen. Ich allein genüge mir.

Weil Mystik nicht zu „machen“ ist und Wellness zu machen ist, ist Mystik wichtiger als Wellness.

Heute steht Mystik in der Gefahr, zur Wellness zu verkommen. Die Fangarme des Kommerz haben längst nach der Mystik gegriffen. Es gibt Angebote zuhauf.

Mystik hat eine lange Geschichte. Ihre Heimat sind die Religionen. Dort wohnte sie von Anfang an. Man kann sie nicht von dieser Urheimat trennen. Es hat jedoch den Anschein, als ob sie sich in der alten Heimat nicht mehr wohl fühle, nicht mehr geschätzt werde. Deshalb ist sie zum Flüchtling geworden. Auf der Suche nach einer anderen Wohnung. Viele Wohnungen stehen leer. Die alten Wohnungen auch.

Christliche Mystik kommt von Jesus Christus. Er brachte keine Lehre. Er lebte ein Leben. Nicht für sich. Für andere. Dafür starb er auch.

Der Anfang ist also ein Leben und Sterben. Keine Lehre. Der Anfang trägt ein Gesicht.

Sind wir uns im angebrochenen dritten Jahrtausend ausreichend darüber im Klaren, dass Christus vor zweitausend Jahren nicht auf die Erde gekommen ist, um eine weitere Religion zu stiften, sondern um jedem Menschen Gemeinschaft mit Gott anzubieten?

Sind die Herzen der Christen weit genug, ihre Fantasie offen und ihre Liebe brennend genug, um den Weg des Evangeliums zu entdecken: ohne Aufschub als Versöhnte zu leben?

Wenn die Christen sich die schlichte Einfachheit und unbegrenzte Herzensgüte bewahren, wenn ihnen daran liegt, die tiefe Schönheit der menschlichen Seele zu entdecken, tun sich ihnen Wege auf, in Christus miteinander in Gemeinschaft zu sein.

Diese Gemeinschaft, die die Kirche ist, kann für Jugendliche wieder glaubwürdig werden, wenn sie zur Klarheit findet, indem sie aus ganzer Seele zu lieben und zu verzeihen sucht, und wenn sie auch mit geringen Mitteln gastlich offen steht, dem Leiden der Menschen nahe.

Niemals auf Abstand, nie in Abwehrhaltung und befreit von harter Strenge kann sie das schlichte Vertrauen des Glaubens bis in unsere Herzen leuchten lassen.

„Das Christentum steht erst am Anfang“, schreibt der orthodoxe Theologe Olivier Clément. „Wir erleben, wie sich ein armes und freies Christentum abzeichnet, das fähig ist, ein ungeschminkteres Zeugnis vom Evangelium abzulegen.“

Frère Roger

Jesus in seiner Zeit

Mensch für die Menschen

Zeit und Herkunft Jesu

Ende der Sechzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts taucht an vielen Orten der Welt ein Plakat mit folgendem Text auf:

Gesucht wird: Jesus Christus alias der Messias, Sohn Gottes, König der Könige, Herr der Herren, Fürst des Friedens usw.

Berüchtigter Führer einer Untergrundbefreiungsbewegung. Er hat sich folgender Vergehen schuldig gemacht:

Er praktiziert ohne Lizenz als Arzt, Weinhersteller und Essensverteiler; legt sich mit Geschäftsleuten im Tempel an. Er verkehrt mit bekannten Kriminellen, Radikalen, Subversiven, Prostituierten und Leuten von der Straße. Er behauptet, die Autorität zu haben, Menschen in Gottes Kinder zu verwandeln. Äußere Erscheinung: typischer Hippie – langes Haar, Bart, Robe, Sandalen. Er treibt sich gerne in Slums herum, hat einige reiche Freunde, verkriecht sich oft in der Wüste.

Achtung: Dieser Mann ist extrem gefährlich. Für seine zündende Botschaft sind besonders jene jungen Leute anfällig, denen man nicht beigebracht hat, ihn zu ignorieren. Er verändert Menschen und behauptet, sie frei zu machen.

Warnung: Er läuft immer noch frei herum.

Dieser Text, der aus der Hippie-Bewegung in den USA stammt, zeichnet ein Jesus-Porträt, angesichts dessen den Theologen und auch einigen Historikern die Haare zu Berge stehen dürften. Aber aus ihm leuchtet auch der ferne Widerschein einer großen Faszination auf.

Die Zeit um die Geburt Jesu war unruhig. Das Land, in dem er zur Welt kam, Palästina, war durchsetzt von Aufruhr, geprägt von kleinen und größeren Aufständen gegen die römische Besatzungsmacht. Hunger, Not und Elend waren bei den kleinen Leuten an der Tagesordnung. Die Römer suchten, nachdem sie im Jahr 63 vor Christi Geburt Jerusalem erobert hatten, ihre Macht zu festigen. Die Methoden, die sie dabei anwendeten, waren nicht zimperlich.

Zudem gab es eine Menge von kleineren oder größeren politischen Bewegungen, denen nicht nur die Römer ein Dom im Auge waren, sondern auch die verkrustete Priesterkaste am Tempel von Jerusalem, die sich verselbstständigt hatte und ein religiöses Establishment darstellte, das mit dem tatsächlichen Leben der Menschen relativ wenig Verbindung hatte. Das jüdische Volk hatte keinen Einfluss darauf, wer seine religiösen Führer wurden. Der Hohe Rat in Jerusalem war ein Selbstbedienungsladen. Wer Sitz und Stimme in ihm hatte, das bestimmten die Mitglieder des Hohen Rates und die Tempelpriester unter sich.

Zahlreiche Wanderprediger waren unterwegs und verkündeten in den Städten und Dörfern ihre Botschaften. Ihnen allen eigen war die Erwartung einer Befreiung aus den Wirren und Ängsten der Zeit. Gerüchte wurden in Umlauf gebracht, Leidenschaften angefacht und mancher Aberglaube stand in hoher Blüte.

Das Leben der Menschen damals muss dumpf gewesen sein. Ihre Lebenskreise waren eng gezogen und vollzogen sich vor einem düsteren religiösen und politischen Horizont.

Jedenfalls erwarteten – dafür gibt es viele Zeugnisse aus der damaligen Zeit – die Menschen eine Erlösung aus ihren persönlichen Sorgen und Nöten und eine Befreiung von der politischen Herrschaft der Römer.

In diese Zeit hinein wurde Jesus geboren. Seine Geburt war so normal wie alle Geburten zu jeder Zeit. Das Kind und seine Familie teilten von Anfang an das Schicksal der anderen Menschen.

Die Umstände der Geburt Jesu deuten also darauf hin, dass Jesus nicht mit dem erkennbaren Anspruch auf die Welt kam, etwas Besonderes zu sein. Ihm war nichts Menschliches fremd. Er tauchte nicht auf als große Lichtgestalt, die eine geheimnisumwitterte Lehre verkündete und die Menschen an vage Versprechungen fesselte. Er war von Anfang in allem uns gleich.

Ein Text aus der Frühzeit des Christentums bringt dies zum Ausdruck:

Er, der in Gottesgestalt war, erachtete das Gottgleichsein nicht als Beutestück; sondern er entäußerte sich selbst, nahm Knechtsgestalt an und wurde den Menschen gleich. In seiner äußeren Erscheinung als ein Mensch erfunden, erniedrigte er sich selbst und wurde gehorsam bis zum Tode, bis zum Tod am Kreuz.

Brief an die Philipper 2,6–8

Jesus war auch kein Mensch ohne Gefühle. Freude, Trauer, Zorn und Zärtlichkeit waren ihm nicht fremd. Jesus hat Tränen vergossen. Er hatte Hunger. Er hatte Verlangen nach Schlaf.

Eines Tages verließ er den engeren Kreis der Familie, in der er aufgewachsen war, und ging an die Öffentlichkeit. „Er ging“ ist wörtlich zu verstehen. Er wanderte durchs Land, zog durch die Städte und Dörfer, erfüllt von der Sehnsucht, den Menschen, die in Angst und Schrecken lebten, Umrisse eines ganz anderen Lebens zu zeigen, eines richtigen Lebens im falschen, eines Lebens, nach dem sie sich insgeheim sehnten.

Der Umstieg Jesu vom Privaten ins Öffentliche war nicht begleitet von irgendwelchen Machtansprüchen oder von einem politischen Programm. Sich der Öffentlichkeit zuzuwenden hieß für ihn auch nicht, sich auf ein Rednerpodest zu stellen und Parolen zu verkünden. Er stieg nicht hinauf, um von oben herab zu wirken, sondern er stieg hinab und hinein in die Mitte der Menschen. Wie er mit Menschen umging, für welche Menschen er besondere Sympathien hatte und was er ihnen vermitteln wollte, das zeigte sich im persönlichen und direkten Umgang mit ihnen. Er sprach nicht über sie, sondern mit ihnen.

Er litt nicht an Wirklichkeitsverlust, sondern stand mitten im Leben. Er blieb nicht stehen, er ging weiter, er wanderte. Er produzierte keine gestanzten Formeln, sondern erzählte Geschichten. Er hielt sich nicht in vornehmer Distanz zu den Leuten, er berührte sie. Er war ihnen nahe. Gespreizte Würde war ihm fremd.

Die Wendung, die er in seinem Leben vollzogen hat, hat er immer wieder damit begründet, dass er einen inneren Auftrag verspürte, sich selbst zu den Menschen zu bringen. Von außen gesehen hatte er keinen spürbaren Anlass. Die Bewegung kam von innen heraus. Darin liegt eine Frage, ein Geheimnis.

Jesus war, ist und bleibt ein Mensch für andere. Anders ist er schwerlich zu begreifen.

Er lebt weiter. Er ist nicht zu fassen.

Was da steht, ist die schlichte Vernunft

Habe ich mich, noch ein Kind, getäuscht, wenn mich die Wahrnehmung der Bergpredigt erschütterte, mich aus der Selbstzufriedenheit und dem Ehrgeiz verjagte?

Lese ich sie heute, als Wissenschaftler, in historischer Bildung erzogen, so ist meine Reaktion:

Was da steht, ist die schlichte Vernunft. Einige Wendungen in ihr sind zeitbedingt. Aber jeder sieht: Würden wir ihre Forderungen erfüllen, so wäre unser aller Leben besser, niemand würde verlieren.

Und die Seligpreisungen können wir am heutigen Tag in uns selbst erfahren, wenn wir uns ihrem Inhalt öffnen.

Carl Friedrich von Weizsäcker

Was ist Mystik?

Kein Auge hat gesehen, kein Ohr hat gehört

Grundstriche einer konkreten Mystik

Seit der Mensch in der Welt ist, versucht er sich selbst zu verstehen, eine Erklärung für sein Dasein zu finden. Die Versuche hören nicht auf. Die Wege der Suche wechseln. Die Suche bleibt beständig. Sie gehört zum Menschsein. Sie macht uns aus.

Sobald der Mensch in der Welt ist, fragt er nach sich selbst. Er fragt nach sich selbst aus Angst vor dem Tode. Damit fängt alles Fragen an.

Wo komme ich her? Wo bin ich? Wo gehe ich hin?

Das sind die entscheidenden Fragen. Es sind die Grundfragen jeder Religion. Es sind religiöse Fragen. Und weil sie religiöse Fragen sind, gehen sie im Grund und im Ziel über die reinen Fakten unseres Lebens hinaus. Sie können aber auch nicht von ihnen absehen. Eine Gemengelage ist das – ineinander verschichtet und verwoben.

Mystik zu definieren macht keinen Sinn. Wie auch soll das Grenzenlose in die Schranken unseres begrenzten Denkens verwiesen werden?

Die Geschichte der Mystik ist nichts anderes als das Leben selbst und bedeutet immer neue Anläufe gegen die Festung der Fragen. Aber die Festung fällt nicht. Und dennoch hört die Belagerung nicht auf. Seltsam. Merkwürdig.