Buchcover

Mette Winge

Unter der Marmor­kuppel

Roman

Aus dem Dänischen von
Ursula Schmal­bruch

 

Saga

I

1

Nasse Perlen. Blaß glänzende nasse Perlen auf einer Zickzack-Schnur. Vom Fenster aus sah er Laternenanzünder die Straße überqueren. Dreizehn Laternen brannten schon. Die vierzehnte hing vor ihrem Haus. Jetzt flammte sie auf, und eine weitere Perle reihte sich auf die Schnur.

Es hatte den ganzen Tag von einem zinngrauen Himmel geregnet. Trübselig und monoton. Erst vor einer knappen Stunde hatte es aufgehört, und jetzt lag der Regendunst tief über der Stadt. Es konnte aber auch Seenebel vom Sund sein. Von der Bredgade war es nicht weit zum Hafen. Weiter oben auf der anderen Straßenseite lag das vornehme Prinzenpalais. Seine Mutter nannte es immer nur Ferdinands und Carolines. Jetzt stand es wohl leer.

Durch den Dunstschleier konnte man auf der anderen Straßenseite die Figuren an der katholischen Kirche erkennen. Sie schwebten still in ihren Nischen. Ein schwacher rötlicher Lichtschein fiel nach draußen, als die Tür aufging und ein Mann heraustrat. Er warf einen verdrießlichen Blick auf den Himmel, schlug den Mantelkragen hoch und verschwand in Richtung Kongens Nytorv. Ein Krankenwagen bog läutend ins Tor zum Frederiks-Spital ein, und zwei Droschken rollten in einer Geschwindigkeit am Fenster vorbei, die für Kopenhagener Verhältnisse lebhaft war. Im Vergleich zu den Pariser Droschken jedoch war es fast ein Leichenbegängnis. Aber Kopenhagen hatte auch seine Vorteile. Er konnte sich nicht vorstellen, für immer in Paris zu leben, wenngleich es gerade jetzt angenehm wäre, trockenen Fußes die großen Boulevards entlangzuschlendern, sich in ein Straßencafé zu setzen und in den Metallstuhl zurückgelehnt das Leben zu betrachten.

Er hörte sich seufzen und spürte Petersens Ungeduld und die Nervosität des Dieners wie Nadelstiche im Rücken.

Er drehte sich zu dem Diener um. Der Mann sah blaß aus, trug eine Livree und war glattrasiert, wie es sich für einen herrschaftlichen Diener gehörte. Allerdings nahm er es nicht ganz so genau, denn er hatte sich einen stattlichen Backenbart zugelegt. Er mußte an die vierzig sein.

»Nun, wo waren wir stehengeblieben? Richtig, Sie servierten dem jungen Herrn einen Grog, als er gegen zehn Uhr nach Hause kam. Wußten Sie, wo er gewesen war?«

»Nein, nur, daß er eine Gesellschaft besucht hatte. Er trug jedenfalls einen schwarzen Anzug mit schwarzer Weste. Der junge Herr wirkte...« Der Diener verstummte.

»Wie wirkte er?«

»Der junge Herr wirkte...« Er senkte seine Stimme. Dann nahm er sich zusammen. »Er wirkte echauffiert

»Wie? So sprechen Sie doch, Mann.«

»Erregt, erschüttert, außer sich.«

»Was hat er getan, was hat er gesagt?

»Er reichte mir Mantel, Hut und Handschuhe und griff sich an den Kopf, als hätte er starke Kopfschmerzen. Er ging direkt ins Herrenzimmer, wo Licht war. Im Herrenzimmer brennt immer Licht – und es ist geheizt, auch wenn die Herrschaften außer Hause sind. Als er eintrat, bat er mich um einen guten, starken Grog. Ich ging sofort in die Küche, um ihn zuzubereiten. Aber das habe ich bereits berichtet.«

»Wie lange haben Sie für den Grog gebraucht?«

»Tja, das weiß ich nicht mehr so genau. Ungefähr eine Viertelstunde. Ich mußte erst das Feuer im Herd anfachen. Die Köchin hatte frei.«

»Wo stand oder saß Herr Bramsnæs, als Sie zurückkamen?«

»Der junge Herr saß mit zurückgelehntem Kopf in dem großen Sessel. Er hatte die Augen geschlossen.«

»Schlief er?«

»Nein, das glaube ich nicht. Ich meine mich zu erinnern, daß er mit den Fingern auf der Armlehne trommelte. Aber ich kann mich auch irren. Er öffnete die Augen, als ich eintrat.«

»Was machten Sie dann?«

»Ich servierte den Grog und fragte, ob der Herr noch etwas wünsche.«

»Und er antwortete...«

»Nein, das ist alles. Legen Sie sich nur schlafen, Lodwig! Ja, so nannte er mich. Ich bin ja seit vielen Jahren schon in diesem Hause. Als der junge Herr noch klein war, hat er mich Lodwig getauft,«

»Sie heißen Hans Peter Ludwigsen?«

»Jawohl.«

»Sie gingen dann zu Bett. Wo schlafen Sie?«

»Im fünften Stock, wo die Bediensteten untergebracht sind.«

»Sie hörten nichts?«

»Selbstverständlich nicht. Im fünften Stock kann man keine Geräusche aus der Wohnung hören. Ich legte mich zur Ruhe. Am nächsten Morgen begann ich mit meinen üblichen Pflichten. Lampen und dergleichen. Um Viertel nach acht klopfte ich bei dem jungen Herrn an, um ihm das warme Wasser zu bringen. Als ich sein Zimmer betrat, da entdeckte ich, daß er nicht im Bett gewesen war. Ich wunderte mich, denn ich hatte nicht den Eindruck gehabt, daß er noch einmal ausgehen wollte. Nachdem ich ins Wohnzimmer geschaut hatte, ging ich ins Herrenzimmer und fand dann... Ja, Sie wissen.«

»Der junge Herr Bramsnæs war tot?«

»Außerordentlich tot. Sie haben ihn selbst gesehen.«

Ja, er hatte ihn gesehen. Und er war ausgesprochen tot gewesen. Die rechte Gehirnhälfte fehlte. Sie klebte überall ringsum an Vorhängen und Quasten.

»Wissen Sie, wo der Herr des Hauses sich aufhält?«

»Er ist auf Lolland zur Jagd. Wir sind ja mitten in der Jagdsaison. Ich habe den Herrn telegraphisch in Kenntnis gesetzt, er ist auf dem Wege.«

»Und Herrn Bramsnæs’ Mutter? Wo befindet sie sich?«

»Die gnädige Frau hält sich auf dem Gut auf und ist noch nicht über das tragische Ereignis im Bilde. Ihr das mitzuteilen steht meiner Auffassung nach dem gnädigen Herrn zu.«

»Sagen Sie, wo liegt das Gut, wie Sie es nennen?«

»Lykkeseje liegt anderthalb Meilen südlich von Ringsted. Es gehörte zur Mitgift der gnädigen Frau. Wie Sie wissen, ist die gnädige Frau eine geborene Baronesse von Gyldensteen. Ein reiches und angesehenes Haus.«

»Und Frau Bramsnæs hält sich oft dort auf?«

»Ja, die gnädige Frau wohnt dort viel lieber als hier in der Hauptstadt. Die gnädige Frau kommt nur in die Stadt, wenn Gesellschaften eines gewissen Niveaus stattfinden, und natürlich, um für ihre Garderobe zu sorgen. Die Schneiderin der gnädigen Frau wohnt begreiflicherweise hier in der Stadt. Ja, auch die Hutmacherin. Früher kam die gnädige Frau auch zu wichtigen Theaterpremieren, aber das tut sie nicht mehr.«

»Hält sich der Fabrikant auch häufig auf dem Land auf?«

»Nein, der gnädige Herr zieht das Kopenhagener Leben vor. Er veranstaltet jedes Jahr ein paar größere Jagden auf dem Gut, und dann ist er dort, aber sonst bleibt er in der Stadt. Er ist sehr von seinen Geschäften in Anspruch genommen.«

»Gibt es noch weitere Kinder in der Familie Bramsnæs?«

»Ja, der junge Herr hat eine ältere Schwester, die mit dem Kammerherrn Oxholmer verheiratet ist. Sie leben auf ihrem Gut – einem kleineren Gut allerdings in der Gegend von Præstø. Sie haben zwei Kinder.«

»Kommt die Kammerherrin oft in die Stadt?«

»Hin und wieder. Die Herrschaft wohnt hier, wenn der Kammerherr seinen Pflichten bei Hofe nachkommen muß. Die Herrschaft war in der letzten Woche hier.«

»Wie lange, sagten Sie, sind Sie schon bei der Familie Bramsnæs?«

»Wie gesagt, seit der junge Herr ein kleiner Junge war. Er war drei Jahre alt, als ich in die Dienste der Familie trat, und da er 24 Jahre alt wurde, müssen es folglich 21 Jahre sein.«

Der Diener sah plötzlich aschgrau aus. Krogh spürte, daß seine hochmütige Fassade abbröckelte. Er beschloß, ihn in Ruhe zu lassen.

»Also: Sie sahen den jungen Herrn zuletzt, als Sie ihm gestern abend, das war Mittwoch, gegen zehn den Grog servierten. Danach haben Sie nichts gesehen oder gehört?«

Der Diener schüttelte den Kopf, und Krogh bemerkte, daß Schweißtropfen von seinem Backenbart perlten.

2

Krogh saß an dem Schreibtisch des pompös ausgestatteten Herrenzimmers. Hier hatte der junge Bramsnæs gesessen. Das Grogglas hatte einen Rand auf der polierten Fläche hinterlassen. Auf dem Tisch vor ihm lagen einige Papiere und Jetons. Die Spielmarken waren säuberlich sortiert gewesen, aber die Stapel waren eingestürzt. Die Papiere waren voller Berechnungen. Die Zahlen waren addiert und subtrahiert, ausgestrichen und neu geschrieben worden. Krogh sah sie sich sorgfältig an. War es eine Aufstellung von Spielschulden, oder waren es Spekulationsberechnungen? Es lag auch ein Brief dabei. Nach der Handschrift zu urteilen, mußte er von einer Dame geschrieben worden sein. Er war ganz kurz. Die Dame bat den jungen Bramsnæs, ihn am Freitag um acht im Restaurant Royal zu treffen. »Es ist nicht unwichtig, daß Sie kommen.« Die Unterschrift war ein großes, energisches E. Heute war Freitag.

Er sah sich im Herrenzimmer um. Es war modern und teuer eingerichtet. Der mächtige Schreibtisch hatte einen Aufsatz, auf dem zwei Büsten standen. Es waren auch einige Photographien aufgestellt. Eine zeigte eine hochgewachsene, schlanke Dame mit aufgestecktem Haar. Diese Frisur ließ sie noch größer erscheinen. Sie blickte direkt auf den Betrachter, und um ihren Mund lag ein fester Zug. Krogh schaute sich das Bild genau an. Dann stellte er es wieder hin. Eine andere Photographie zeigte den jungen Bramsnæs. Er hatte die gleichen Augen wie seine Mutter. Er posierte als moderner Flaneur, in allen Details à la mode und nicht von hundert anderen in Kopenhagen zu unterscheiden.

Auf einem dritten Photo war die ganze Familie zu sehen. Es mußte einige Jahre alt sein. Es zeigte dieselbe Dame, einen kleinen Jungen und ein etwas größeres, mürrisch blickendes Mädchen. Hinter ihnen stand ein Herr mit einem Allerweltsgesicht. Das mußte der Fabrikant T. S. Bramsnæs sein. Die Frau wirkte auf diesem Bild weicher und fröhlicher.

Der Stuhl, auf dem Krogh saß, war ebenso wie der große Schreibtisch aus Eiche, und der Bezug des Sitzpolsters hatte eine kräftige Farbe. Krogh strich mit der Hand darüber. Es war wohl das, was seine Mutter geschnittenen – oder war es ungeschnittener? – Mokett nannte. Links vom Schreibtisch war das Fenster. Die nach allen Regeln der Kunst drapierten Vorhänge, das Meisterwerk eines Tapezierers, waren reich mit Posamenten und Quasten verziert. Sie ließen nur wenig Licht herein. An der Wand zum Korridor stand ein Sofa, das vom Stil zu den Stühlen paßte. Es waren echte Möbel, sicher aus einer der feinen Tischlereien. Der Teppich war bunt und paßte für Kroghs Geschmack nicht zu den Stuhlbezügen. Aber davon verstand er sicher nichts. An den Wänden hingen zahlreiche Gemälde in den verschiedensten Rahmen. Die meisten waren aus Gold, andere schwarz mit Gold und wieder andere aus schwarzem Samt. Die Decke war in dunklen, goldenen Farben dekoriert. Den Stuhl, auf dem der junge Bramsnæs tot aufgefunden worden war, hatten sie weggeräumt. Die Flecken auf dem Teppich waren immer noch da, aber sie fielen wegen des Blumenmusters nicht auf.

Das spärliche Morgenlicht, das seinen Weg durch die Vorhänge fand, erhellte ein kostspielig und bequem eingerichtetes Herrenzimmer, in dem sich friedlicher Zigarrenrauch zur Decke zu schlängeln pflegte, während selbstzufriedene Herren nach dem Essen über ihre Börsensiege und Schäferstündchen mit kleinen Näherinnen plauderten. Es sah nicht aus wie ein Ort des Todes und der Tragödie.

Krogh lehnte sich zurück, und während er den Blick über die Gemälde, die schwarzgrauen Radierungen und die buntbemalte Decke entlangwandern ließ, dachte er über den Verlauf des gestrigen Tages nach.

Zusammen mit Petersen hatte er sich die große Wohnung vorgenommen. Erst das Herrenzimmer und dann die anderen Räumlichkeiten. Der Arzt hatte den Toten untersucht und wollte ihn sich im Krankenhaus genauer ansehen.

Sie hatten nichts Bemerkenswertes im Haus entdeckt. Alles war gut gepflegt und sauber. Den großen Wohnräumen war anzusehen, daß sie nicht oft benutzt wurden. Außer in den Schlafzimmern hielt man sich nur im Eßzimmer und im Herrenzimmer auf.

Es war schon spät, als Petersen und er im strömenden Regen nach Hause gingen. Zum Østerbro-Viertel war es nicht weit, aber er war trotzdem völlig durchnäßt angekommen.

Zu Hause hatte seine Mutter mit ihrem Nähzeug gesessen. Sie arbeitete an einer riesigen Stickerei, einer Tischdecke für 24 Personen. Er wußte, daß die Decke für ihn war. Er hatte ihr liebevoll bedeutet, daß er als Angestellter der Polizei weder Geld noch Platz haben würde, Gesellschaften für 24 Personen zu geben, doch sie hatte bloß sanft lächelnd den Kopf geschüttelt.

»Ich weiß mehr als du, mein Sohn. Ich habe das Gefühl, du wirst eines Tages sowohl eine Frau als auch Haus und Platz für Gesellschaften haben. Und Assessor wirst du auch noch.«

Die Mutter war sofort in die Küche gehuscht, um sein Essen aufzuwärmen. Das Mädchen ging um sechs nach Hause. Er hatte protestiert, aber erfolglos.

»Unsinn. Du brauchst dein warmes Essen, Johannes. Das fehlte noch, daß du nichts Ordentliches zu essen bekämest.« Er protestierte noch einmal, aber nur schwach, denn er wußte, sie würde nicht auf ihn hören. So war es seit seinem dreizehnten Lebensjahr gewesen, als sein Vater gestorben war. Von diesem Tag an hatte sich seine Mutter an ihn geklammert. Deshalb hatte sie Erleichterung gezeigt, als er von einem halbjährigen Parisaufenthalt zurückkehrte und seine Verlobung auflöste. Dabei gefiel ihr Therese, und zwar nicht nur, weil das Mädchen aus gutem Hause stammte. Aber er wußte, daß sie ihn in ihrem Innersten für sich allein haben wollte. Sie hatte mit ihrem Verstand akzeptiert, daß er eines Tages eine Familie gründen und sie allein bleiben würde, denn sie wollte ihm und seiner jungen Frau nicht zur Last fallen. Das hatte sie immer gesagt, und er wußte, daß sie es auch so meinte. Aber sie dachte nicht gern daran. Je mehr sich also seine Heiratspläne in die Länge zogen, desto glücklicher war sie.

Manchmal war ihre Fürsorglichkeit anstrengend. Unablässig ermahnte sie ihn, einen Wollschal umzulegen, wenn der Herbstregen einsetzte, und zu Hause die nassen Strümpfe auszuziehen, wenn er einen Verbrecher beschattet hatte. Sie nannte Verdächtige immer Verbrecher, obwohl er seine Mutter eigentlich für vorurteilsfrei hielt. Jedenfalls in Anbetracht ihres Alters. Sie war 57 Jahre alt.

Sie hatte weitergestickt, während er die aufgewärmte Kohlsuppe gegessen hatte – nicht gerade sein Leibgericht, und das gepökelte Schweinefleisch war reichlich fett gewesen. Aber er hatte einen solchen Hunger gehabt, daß alles heruntergerutscht war. Anschließend hatte sie die Ecke, an der sie gerade arbeitete, über dem Knie glattgestrichen, einen bewundernden Blick darauf geworfen und gefragt:

»Was ist es diesmal? Etwas Unheimliches?«

»Kann man schon sagen. Totschlag, wahrscheinlich sogar Mord.«

»Ein richtiger Mord?«›

»Ja, sieht so aus. Bestialisch.«

»Willst du erzählen, oder...«

»Aber ja.« Er berichtete ihr gerne von seinen Fällen. Nicht weil sie ihm helfen konnte, sondern weil ihm beim Erzählen Dinge einfielen, die er sonst vielleicht vergessen hatte.

»Wie ist der junge Mann ums Leben gekommen?«

»Mit einem Revolver erschossen – Kopfschuß.«

Er war sich nicht sicher, ob sie wußte, was das bedeutete. Er spürte die aufsteigende Übelkeit im Zwerchfell.

»Wie grausam. Wer war der Tote?«

»Nun, ein junger Mann, 24 Jahre alt, Student. Wohlhabende Familie. Der Vater ist der Fabrikant T. S. Bramsnæs. Du wirst die Metallwaren aus seiner Fabrik kennen, Mama. Sie haben einen Flügel als Warenzeichen. Er ist wohlhabend, soweit wir wissen. Die Mutter ist eine geborene Baronesse von einem seeländischen Gut. Reiches Haus, aber ich weiß noch nicht so viel.«

»Wie ist der Mörder hereingekommen?«

»Er oder sie – in diesen Zeiten kann es ja genauso gut eine Frau sein – ist hereingelassen worden oder hat einen Schlüssel gehabt. Und ist wieder hinausgegangen. Keine Zeichen von Einbruch.«

»Wann wurde er ermordet, der arme Kerl?«

»Tja. Der Arzt sagt, der Tod sei ungefähr zwischen elf Uhr gestern nacht und zwei Uhr heute morgen eingetreten. Aber er wird es näher untersuchen. Ich werde morgen mit dem Vater des jungen Mannes sprechen. Und mit den Bewohnern des Hauses. Vorläufig haben Petersen und ich nur mit dem Diener gesprochen. Ein recht aalglatter Herr, muß ich sagen.«

»Ja, ja, mein Lieber. Aber weil er Diener ist, muß er ja nicht unbedeutend oder falsch sein.«

»Mama, du hast nicht unser Exemplar gesehen. Er wirkt nicht besonders reinherzig. Er sieht so aus, als würde er beim Servieren die Flasche nicht ganz leeren, um einen guten Schluck für sich selbst zu behalten.«

»Ja, ja. Da magst du recht haben. Aber genieß du nur in Frieden deine Zigarre. Du hast einen langen Tag hinter dir.«

Und dann hatte sie sich wieder auf ihre Stickerei konzentriert und er sich auf seine Zigarre. Er dachte daran, wie seine Gedanken um diese Wohnung und ihre Bewohner gekreist waren, während der Zigarrenrauch zur Decke aufgestiegen war. Mit welchen Geheimnissen lebten die reichen Menschen in den großen Wohnungen? Sie mußten ja welche haben – wie alle Menschen.


Ludwigsen, der Diener, hatte aufgemacht, nachdem er an der quastenverzierten Klingelschnur gezogen hatte. Seine Maske war wieder unversehrt, steif und korrekt.

»Haben Sie Nachricht von dem Fabrikanten?«

»Ich gehe davon aus, daß der gnädige Herr in wenigen Minuten hier sein wird. Wünschen Sie zu warten?«

»Ich möchte mir das Herrenzimmer – und den Rest des Hauses – genauer ansehen. Mein Assistent kommt in ein paar Minuten. Und dann erbitte ich mir ein Gespräch mit Herrn Bramsnæs, und – wenn möglich – auch mit der Dame des Hauses.«

»Die gnädige Frau kommt erst später. Die gnädige Frau wird sicher äußerst erregt sein. Ich glaube nicht, daß die gnädige Frau...«

»Ich werde Frau Bramsnæs heute nicht behelligen. Aber mit Herrn Bramsnæs muß ich leider trotz des Trauerfalls dringend sprechen, wegen der Aufklärungsarbeit. Es muß nicht in der Sekunde sein, in der er das Haus betritt. Ich warte, bis es ihm recht ist – aber das Gespräch muß heute noch stattfinden. Ich bleibe vorläufig im Herrenzimmer. Würden Sie meinen Assistenten zu mir schicken, wenn er auftaucht?«

Und jetzt saß er hier und sah sich um. Wieder. Sah auf das geschnitzte Eichenholz, den Rand, den das Grogglas hinterlassen hatte, auf die blauen, weißen und grünen Jetons, auf die Zahlenkolonnen, auf den Brief mit der Verabredung, auf einen Bücherschrank mit schön eingebundenen und wenig benutzten Büchern, und auf einige ausgeklügelt drapierte Vorhänge, die das Morgenlicht fernhielten.

Die Zahlen störten ihn. Sie mußten etwas bedeuten. Er schrieb sie ab, addierte sie nach der Methode des jungen Bramsnæs, strich sie aus wie er und addierte sie wieder wie er. Es war kein Fehler in der Rechnung, aber er begriff nichts. Es waren anscheinend bloß Zahlen.

Es klopfte. Petersen stellte sich mit einer linkischen Habachtstellung in die Tür und meldete sich zum Dienst. Er war ein großer, stattlicher Mann mit einem üppigen Schnauzbart, den er nicht immer genügend stutzte. Manchmal war er so lang, daß er ihm beim Sprechen in den Mund geriet. Petersen war Witwer und wohnte mit seiner Schwester im Nørrebroviertel. Krogh mochte ihn ganz gern, allerdings mißfiel ihm sein militärisches Gehabe, aber er sagte nichts dazu. Er hatte versucht, seinen Leuten – es waren drei – die Feldwebelmanieren abzugewöhnen, aber das hatte sich herumgesprochen, und sein Vorgesetzter hatte ihn deswegen gerügt. Es ließe sich keine Disziplin aufrechterhalten, wenn man bei dergleichen durch die Finger sehe.

»Etwas Neues, Petersen?«

»Nein, Herr Inspektor. Man erwartet möglichst bald Ihren Bericht.«

»Ja, ja. Ich schreibe ihn, sobald wir mit den Hausbewohnern gesprochen haben, vor allem mit dem Vater des Ermordeten. Er soll bald hier sein, sagt der Diener.«

»Ich glaube, er ist gerade gekommen. Ich sah eine Droschke ins Tor fahren.«

Krogh horchte. Es drang ein Murmeln aus dem Korridor herein.

»Was meinen Sie eigentlich, Petersen?«

»Wie bitte?«

»Ja, was ist Ihre Einschätzung der Lage?«

»Ich möchte nicht zuviel sagen, wir haben ja gerade erst angefangen, aber wenn Sie darauf bestehen, so finde ich, ganz vorsichtig gesagt, Sie wissen ja... tja, also der Diener kommt mir nicht ganz koscher vor.«

»Nicht ganz koscher? Was meinen Sie damit?«

»Ja, was ich meine: Verdächtig. Aalglatt.«

»Nicht ganz koscher und aalglatt, eine seltsame Charakteristik, aber er hat so etwas... Ja, ja, ich glaube, ich weiß, was Sie meinen. Aber wir warten mit ihm, bis wir mit dem Fabrikanten gesprochen haben. Haben Sie eine Liste der Angestellten?«

»Hier.« Petersen zog ein zerknittertes Papier aus der großen aufgenähten Tasche seiner Jacke. »Außer unserem Freund, dem Diener, ist da noch die Köchin, die er erwähnt hat, ein Stubenmädchen und das Küchenmädchen, das jeden Abend nach Hause geht. Die anderen wohnen hier. Dann gibt es noch einen Knecht, der das Wasser heraufträgt. Da die Herrschaft keine Equipage mehr hält, hat sie auch keinen Kutscher mehr.«

»Haben Sie herausgefunden, wo die Leute in der Mordnacht waren?«

»Ja, in groben Zügen. Köchin und Stubenmädchen hatten frei, sagt der Diener. Sie waren beide nicht im Hause. Die Köchin hat ihre Schwester besucht, und die andere hat auch Besuche gemacht. Ich habe das Gefühl, die hat nicht nur ihre Familie besucht. Der Knecht sagt, er habe den ganzen Abend in seiner Kellerkammer gesessen und an einer Holzfigur geschnitzt. Er soll sehr gut schnitzen können. Und er habe nichts gesehen und gehört. Und es lagen auch überall Späne und Werkzeug herum. Es kann also stimmen, was er sagt. Das Küchenmädchen ist angeblich den ganzen Abend zu Hause bei seiner Mutter gewesen. Es ging um sechs Uhr abends von hier fort und kam gestern morgen um halb sieben zurück.«

»Hm, gehen wir lieber noch einmal das ganze Haus durch. Ich bin...«

Die Tür wurde geöffnet, und ein schwarzgekleideter Herr mittleren Alters trat ein. Sein Gesicht war wie auf der Photographie auffallend nichtssagend. Die Augen waren graublau, die Brauen hell, die Nase kurz und platt. Er hatte schütteres Haar und versuchte, die bloßen Stellen auf dem Hinterkopf durch geschicktes Frisieren zu verbergen. Er trug einen Kneifer. Krogh erhob sich, verbeugte sich und wollte sich gerade vorstellen, als er auch schon unterbrochen wurde.

»Ich weiß, wer Sie sind, Herr Kriminalinspektor. Sie sind hier, um die tief tragischen Umstände des Todes meines Sohnes zu untersuchen. Ich weiß, Sie wollen kondolieren. Unterlassen Sie es bitte und stellen Sie Ihre Fragen so kurz wie möglich. Ich hoffe, Sie verstehen...«

Die Stimme des Fabrikanten klang angespannt und gepreßt, und er machte eine schraubende Bewegung mit der Schulter, die Krogh als Ausdruck von Unbehagen deutete.

»Wer ist dieser Mann?« Bramsnæs zeigte auf Petersen.

»Polizeibeamter Petersen, mein Assistent. Er macht Notizen und ist in vollem Umfang informiert. Er ist einer unserer zuverlässigsten Leute. Erlauben Sie, daß ich anfange. Gut. Wann haben Sie die Stadt verlassen?«

»Vor fünf Tagen. Ich war auf Juellinge zur Jagd eingeladen, bei dem dortigen Lehnsbaron. Ich bin, wenn immer ich es ermöglichen kann, auf Juellinge dabei. Die Jagd ist hervorragend dort. Wir waren Mittwoch und Donnerstag draußen. Donnerstag fand das Jagdessen statt. Die übrige Gesellschaft reiste im Laufe des Freitags ab, aber der Kammerherr hatte mich lange vorher schon eingeladen, anschließend noch eine Woche zu bleiben und mich auszuruhen. Er ist ein sehr guter Freund und wußte, daß ich ein wenig Erholung brauchte. Wir verbrachten ein paar friedliche Tage, bis das unglückselige Telegramm kam.«

»Wann haben Sie Ihren Sohn zuletzt gesehen?«

»Montag, am Abend vor meiner Abreise. Er kam spät nach Hause. Ich saß hier in meinem Zimmer und arbeitete. Wir wechselten ein paar Worte, ehe er und ich gegen halb zwei zur Ruhe gingen. Ja, es war spät, und ich sah meinen Sohn nicht am nächsten Morgen, als ich das Haus verließ. Mein Sohn war kein early riser, wie die Engländer sagen.«

»Ihr Sohn studierte?«

»Ja, er studierte – meinem Wunsch gemäß – Staatswissenschaft, um Diplomat zu werden. Ich hatte gehofft, er würde die Fabrik übernehmen. Aber danach stand ihm nicht der Sinn.«

»Sie sagten ›Ihrem Wunsch gemäß‹.«

»Ja, ganz richtig. Mein Sohn äußerte nach der Matura den Wunsch, Ästhetik zu studieren, aber da dieses Studium äußerst brotlos und gänzlich unnütz ist, habe ich es ihm verboten. Darüber war er selbstverständlich enttäuscht, aber nach einer gewissen Zeit hat er, glaube ich, eingesehen, daß mein Urteil richtig war, und schien ganz zufrieden mit der Staatswissenschaft.«

»Nahm Ihr Herr Sohn am sogenannten Studentenleben teil, war er Mitglied einer studentischen Vereinigung?«

»Ich weiß, daß mein Sohn hin und wieder im Studentenverein verkehrte, aber er hat meines Wissens nie den neuen Verein betreten. Zum Glück. Er ging oft aus. Ich gab ihm, vielleicht als eine Art Belohnung für die Staatswissenschaft, ein ordentliches Taschengeld, darum genoß er, glaube ich, das, was Sie Studentenleben nennen. Aber was er sonst machte, weiß ich nicht. Doch, er fuhr mit meinem vollen Einverständnis hin und wieder nach Berlin, um einen sehr tüchtigen Repetitor der Wirtschaftswissenschaft zu frequentieren. Ich war nicht nur einverstanden, sondern unterstützte ihn aktiv. Es förderte seine Entwicklung. Aber darüber hinaus? Was weiß ein Vater letzten Endes von dem Tun und Lassen seines Sohnes?«

Krogh antwortete nicht, der Mann hatte ja recht. Eltern brauchten nicht viel von den Angewohnheiten ihrer Söhne zu wissen. In den sogenannten feinen Familien wußte man mehr über die Mädchen. Ihre Tugend war viel Geld wert, trotz der Mitgift, die ein Vater zu stellen hatte.

»War Ihr Sohn verlobt oder hegte er Gefühle für eine Frau?«

»Nein.«

Die prompte Antwort ließ Krogh vermuten, daß Bramsnæs diese Frage erwartet hatte.

»Hm, ungewöhnlich, daß ein junger Mann wie Ihr Herr Sohn nicht...« Er brachte seinen Satz nicht zu Ende.

»Mein Sohn war, wie ich Ihnen sagte, weder verlobt noch auf andere Art engagiert.«

»Wissen Sie, mit wem er verkehrte? Wer waren seine Freunde?«

»Viel kann ich Ihnen nicht sagen. Ich forderte ihn auf, seine Kommilitonen zum Sonntagmittagessen einzuladen, aber er tat es nicht.«

»Haben Sie darüber nachgedacht, warum nicht?«

»Ich glaube, mein Sohn ist–war–sehr verschlossen. Er hatte wohl keinen Sinn dafür, sich Freunde und einen Umgangskreis zu gewinnen – leider.«

Bramsnæs’ Miene war undurchsichtig. Er hielt sich kerzengerade, aber hin und wieder zog er die Schultern hoch. Plötzlich juckte er sich die Hand. Er hörte genau so unvermittelt damit auf, wie er angefangen hatte, und Krogh bemerkte, daß er sie blutig gekratzt hatte. Die Hände des Fabrikanten waren von Exzemen überzogen.

»Und die pekuniären Verhältnisse Ihres Herrn Sohns?«

»Er bekam, wie ich sagte, jeden Monat von mir eine angemessene Summe. Ich fand sie recht großzügig, ich weiß nicht, ob mein Sohn derselben Meinung war. Aber ich finde nicht, daß junge Männer, auch aus gutem Hause, zuviel Geld zwischen den Fingern haben sollten. Das verweichlicht nur und macht rastlos.«

»Spielte Ihr Herr Sohn?«

»Ob er spielte? Das glaube ich nicht.« Bramsnæs sah überrascht aus. »Nein, bestimmt nicht. Ja, ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht.«

»Wir haben hier auf dem Tisch diese Zahlenaufstellungen gefunden, und wie Sie sehen, liegen hier Jetons. Das könnte darauf hinweisen, daß Ihr Sohn spielte. Vielleicht können Sie uns sagen, was das bedeutet?«

Krogh reichte dem Fabrikanten das Papier und zeigte auf die Jetons. Bramsnæs schaute auf das Papier und betrachtete lange die Zahlen, dann schüttelte er den Kopf.

»Sagt mir nichts.«

»Und die Jetons?«

»Auch nicht. Es sind ganz gewöhnliche Jetons.«

»Kannten Sie die Pläne Ihres Sohnes für die nächsten Tage?«

»Nein. Ich ging davon aus, daß er in seine Vorlesungen und zu seinem Repetitor ging. Was man so von seinem studierenden Sohn erwartet. Aber jetzt habe ich Ihnen nichts mehr zu sagen. Meine Frau – die Mutter meines Sohnes – kommt bald, und ich muß verschiedenes vorbereiten. Wenn Sie also erlauben, Herr Inspektor.«

Er beugte leicht den Kopf, sah Krogh mit einem grauen Blick an und ging aus dem Zimmer.

»Hm.« Petersen räusperte sich.

»Ja, Petersen, was wollten Sie sagen?«

»Er weiß mehr über seinen Sohn, als er gesagt hat.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Einfach so ein Gefühl. Er war auch so sonderbar unberührt.«

»Das kann daran liegen, daß Metallwarenfabrikanten innerlich galvanisiert sind. Naja, das war natürlich nur ein Scherz. Auf mich wirkte er zuverlässig, obwohl Sie recht haben mögen, Petersen. Haben Sie ja manchmal.«

»Meinen Sie? Ich finde in der Tat, daß er mehr weiß, als er gesagt hat.«

»Schon möglich. Und merkwürdig ist, daß er so heftig bestritt, daß der Sohn eine kleine Freundin hat, wenn er gerade noch gesagt hat, ein Vater wisse nicht soviel über seinen Sohn. Naja, das werden wir schon herausfinden. Wir müssen mit den Dienstboten sprechen, uns das Haus genau ansehen und heute abend ins Restaurant. Um acht. Falls Sie sich auf einen gemütlichen Abend zu Hause eingerichtet hatten, schreiben Sie ihn lieber in den Schornstein. Habe ich Sie brummen gehört, Petersen? Ich verstehe Sie. Aber dieser Fall ist nun einmal etwas ungewöhnlich. Bitte rufen Sie die Köchin.«