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Verlagstext

In biologistischer Sichtweise werden Geschlecht und Sexualität miteinander verknüpft. Es gibt männliche und weibliche Sexualität, egal ob homo oder hetero. Ilka Quindeau stellt diese Festlegungen in einem originellen Rückgriff auf Freud in Frage. Sie entwickelt ein Konzept von Bisexualität, die nicht nur in der Richtung des Begehrens offen ist, sondern auch im eigenen Empfinden nicht auf “männlich” oder “weiblich” festgelegt ist. Lustempfinden und Begehren sind demnach nicht einseitig im Körper verwurzelt, sondern bilden sich als Antwort, als Reaktion auf das heraus, was ihm von außen Befriedi gung bereitet.

Queer Lecture

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Queer Lectures – so tituliert die Initiative Queer Nations e.V. ihre regelmäßig veranstalteten Vorträge zu aktuellen gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Fragen. In der gleichnamigen Schriftenreihe werden die Vorträge in loser Folge publiziert. Jedes Heft enthält einen Vortrag, die Bündelung zu Sammelheften ist möglich. Bestellhinweise am Ende des Hefts.

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Kuratorium der Initiative Queer Nations e.V.:

Judith Arndt, Seyran Ateş, Prof. Dr. Henning Bech, Dr. Sophinette Becker, Dr. Alfred Biolek, Dr. Michael Bochow, Dr. Alexander Boroffka, Prof. Dr. Martin Dannecker, Dr. Lutz van Dijk, Ralf Dose, Ortrun Gauper, Prof. Dr. Dagmar Herzog, Gerhard Hoffmann, Manuela Kay, Necla Kelek, Kurt Krickler, Maren Kroymann, Prof. Dr. Rüdiger Lautmann, Prof. Dr. Claudia Liebrand, Prof. Dr. Andreas Meyer-Hanno (†), Mirjam Müntefering, Dr. Susanne zur Nieden, Dr. Andreas Salat, Gunter Schmidt, Dr. Claudia Schoppmann, Jaecki Schwarz, Dr. Hermann Simon, Dr.-Ing.-habil Wolfgang Voigt, Leo Volleth, Margrit Wendt, Gustav Peter Wöhler

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ILKA QUINDEAU

Wie wird man heterosexuell?

Neues vom Sexuellen aus
psychoanalytischer Sicht

Herausgegeben von
Jan Feddersen

Männerschwarm Verlag
Hamburg 2011

Impressum

Initiative Queer Nations e.V.

Postfach 44 03 24 – 12003 Berlin

Tel. 030-6242688 – Fax: 030-61305852

vorstand@queer-nations.de

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet die Publikation
in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte
bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.ddb.de abrufbar.

Queer Lectures

Zeitschrift der Initiative Queer Nations e.V., 4. Jg. 2011, Heft 10

Ilka Quindeau: Wie wird man heterosexuell?

Neues vom Sexuellen aus psychoanalytischer Sicht

Herausgegeben von Jan Feddersen

Die Vortragsreihe Queer Lectures wird organisiert von Bodo Niendel.

© Männerschwarm Verlag, Hamburg 2011

Umschlaggestaltung: Hermann Schmidt, Neueform, Göttingen,
mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Akademie Waldschlösschen

Druck: idee-satz-druck, Hamburg

1. Auflage 2011

ISBN 978-3-939542-85-8

ISBN des Ebooks: 978-3-86300-199-5

Männerschwarm Verlag GmbH

Lange Reihe 102 – 20099 Hamburg

http://www.maennerschwarm.de/

Umrisse eines geschlechterübergreifenden Modells
von Sexualität

Ich möchte mich der Frage nach der sexuellen Orientierung – wie wird man hetero-/homo-/bisexuell – zunächst aus der Perspektive Sigmund Freuds nähern. Er hat mit den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (Freud 1905b) zu Beginn des letzten Jahrhunderts eine bahnbrechende Sexualtheorie vorgelegt, die nach wie vor eine intellektuelle Herausforderung darstellt und hinter welche die weitere psychoanalytische Theoriebildung nicht selten zurück gefallen ist. Gewiss ist die Rückkehr zu einem konventionellen Sexualitätsbegriff bereits im Freudschen Werk selbst angelegt – etwa im letzten Teil der Abhandlungen, doch lohnt es sich, den anderen Spuren zu folgen und – mit Martin Dannecker (2006) – in Freud einen der ersten Vertreter der «queer studies» zu entdecken. Auf diese Spurensuche habe ich mich begeben und weitere Ansätze aus dem psychoanalytischen Theoriebestand der letzten hundert Jahre zusammengetragen mit dem Ziel, eine psychoanalytische Theorie einer genuin menschlichen Sexualität zu entwickeln (Quindeau 2008).

Was heißt genuin menschlich? Damit meine ich eine Sexualität, die weder auf ein angeborenes biologisches Programm noch eine biologische Funktion zu reduzieren ist, sondern die sich in einem interpersonalen Raum entwickelt und für die Phantasien und Erinnerungen konstitutiv sind. Kein Instinkt, sondern ein Begehren, das in der Beziehung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen entsteht, liegt dieser Sexualität zugrunde.

Wenn man die Sexualität nun in dieser Weise als unabhängig von ihrer biologischen Funktion, der Fortpflanzung, betrachtet, hat das eine Reihe von Konsequenzen:

Die wichtigste besteht in der Infragestellung des Primats der Heterosexualität bzw. der Heteronormativität. Mein Anliegen ist, ein nicht-hierarchisches, nicht-normatives Modell von Sexualität zu entwickeln, in dem Heterosexualität und Homosexualität als psychisch gleichwertige Formen nebeneinander stehen. Dies mag inzwischen – auf den ersten Blick zumindest – eigentlich selbstverständlich erscheinen. Selbst in der Psychoanalyse, die sich ja bekanntlich sehr lange sehr schwer getan hat, Homosexualität nicht als Krankheit zu begreifen. Auch wenn das inzwischen überwunden ist, findet sich Heteronormativität nach wie vor implizit in der Theoriebildung.

Nicht nur in der Psychoanalyse, sondern weit über diesen Diskurs hinaus scheint mir ein weiterer problematischer Aspekt dieses Primats der Heterosexualität verbreitet: die Verlötung von Sexualität und Geschlecht. So mutet es uns als völlig selbstverständlich an – und wird in den differenztheoretisch orientierten «gender studies» auch weiter befördert – von einer weiblichen und einer männlichen Sexualität zu sprechen, von einer Sexualität von Männern und einer von Frauen. Versucht man jedoch, diese jenseits der Fortpflanzungsfunktion genauer zu beschreiben oder gar zu definieren, wird es schon deutlich diffuser. Die intuitive Eindeutigkeit zumindest verschwindet. Ich nehme das zum Anlass, die behauptete Verbindung von Sexualität und Geschlecht infrage zu stellen und ein theoretisches Modell einer geschlechtsübergreifenden menschlichen Sexualität zu entwickeln, das die Polarität von Männlichkeit und Weiblichkeit überwindet und die Geschlechterspannung nicht zwischen Männern und Frauen, sondern in jeder einzelnen Person ansiedelt.

In einem solchen Modell erscheint das sexuelle Erleben und Verhalten als ein wichtiger Bereich, in dem – neben den bewussten, körpergestaltentsprechenden Befriedigungsmodalitäten – die unbewussten, verdrängten andersgeschlechtlichen Identifizierungen eine lustvolle Ausdrucksgestalt erhalten. Die Wiederkehr des Verdrängten trägt dabei in besonderer Weise zum Lustgewinn bei, ein Mechanismus, der uns bspw. bereits vom Witz vertraut ist.1

Die Heteronormativität zeigt sich nicht nur in der Verlötung von Sexualität und Geschlecht, sondern wirkt sich auch auf das Verständnis von Homosexualität aus. Mir scheint, dass vielfach auch dieses implizit der Heterosexualität nachgebildet ist und sich am Vorbild der Beziehung von Mann und Frau orientiert. Dies findet sich nicht nur auf der Ebene der Theorie, sondern auch ganz unmittelbar im Alltagsleben. So werden nicht nur in heterosexuellen, sondern oft auch in schwulen oder lesbischen Paarbeziehungen die männlichen und weiblichen Geschlechterrollen untereinander aufgeteilt. Eine Kritik der Heteronormativität zielt daher auch auf die Frage, inwieweit die Unterscheidung einer Hetero- und einer Homosexualität überhaupt sinnvoll ist.

In verschiedensten Diskursen wird zunehmend von sexueller Identität statt sexueller Orientierung oder Präferenz gesprochen. Das mag einer Übernahme aus dem angelsächsischen Diskurs und damit zusammenhängenden übersetzungstechnischen Schwierigkeiten geschuldet sein, weil (körper-)geschlechtliche und sexuelle Identität im Englischen sprachlich nicht zu unterscheiden sind. Problematisch erscheint dies jedoch, da damit ein starker – und im Übrigen auch nicht eigens begründeter – Zusammenhang von Sexualität und Identität hergestellt und der sexuellen Orientierung ganz besondere Bedeutsamkeit für das Identitätsgefühl zugeschrieben wird. Die postulierte identitätsbildende Funktion ergibt sich m. E. allerdings weniger aus der Sexualität selbst, als vielmehr aus der Setzung normativer Heterosexualität und der Ausgrenzung des davon Abweichenden.

Ich möchte diese Thesen nun ein wenig erläutern und einige Grundlinien meines Modells vorstellen. Dazu beginne ich mit der Frage nach der Entstehung der Sexualität und gehe den Fragen nach, wie die Lust in den Körper kommt, welche Rolle dabei das Unbewusste der Erwachsenen spielt und inwieweit sexuelle Erregung durch sinnliche Wahrnehmung, Erinnerungen und/oder Phantasien zustande kommt. In einem weiteren Kapitel werden die verschiedenen Lust- und Befriedigungsmodalitäten im Verlauf der psychosexuellen Entwicklung beschrieben, die als Umschriften der frühen Befriedigungserfahrungen verstanden werden können. Und abschließend diskutiere ich noch einmal die Frage nach der sexuellen Orientierung – wie wird man hetero-/homo-/bisexuell, die ich ebenfalls als eine Form der Umschrift lebensgeschichtlicher Erfahrungen betrachte.

1 Diesen psychischen Vorgang erläuterte Freud in seiner Psychopathologie des Alltagslebens (Freud 1901).