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Wenn Herr Taschenbier erzählt …

Manche von euch kennen das Sams und seinen Papa Taschenbier vielleicht schon. Dann wissen sie, dass Herr Taschenbier seit mehr als dreißig Jahren verheiratet ist. Die Taschenbiers haben einen erwachsenen Sohn namens Martin, der mit seiner Frau Tina in Australien lebt. Und da Martin und Tina eine Tochter haben, Betty, ist Herr Taschenbier sogar schon Großvater.

Manchmal, zu Weihnachten oder bei Geburtstagen, kommen Martin, Tina und Betty aus Australien, und die ganze Familie Taschenbier feiert zusammen mit dem Sams. Bei dieser Gelegenheit erzählt Herr Taschenbier gerne von einer der aufregendsten Wochen, die er erlebt hat.

Damals war er noch jung und wohnte als Mieter bei Frau Rotkohl.

Frau Rotkohl ist inzwischen auch schon lange verheiratet, und zwar mit Herrn Mon. Sie wollte bisher nicht, dass Herr Taschenbier diese Geschichte auch anderen als seiner Familie erzählt. Es war ihr ganz einfach zu peinlich.

Doch kürzlich, während der Feier zu ihrem sechzigsten Geburtstag, sagte sie zu Herrn Taschenbier: »Ach, warum soll die Geschichte ewig geheim bleiben! Muss das sein? Nein, muss es nicht. Der Autor Maar darf sie gerne erzählen, wenn er das will!«

Und hier ist also die Geschichte, so wie sie sich damals, vor dreißig Jahren, zugetragen hat.

Herr Taschenbier und das Sams

Herr Taschenbier ist ein freundlicher, höflicher und bescheidener Mann.

Er wohnt bei Frau Rotkohl. Dort hat er ein Zimmer gemietet. Er hat es nicht leicht mit seiner Vermieterin. Denn Frau Rotkohl ist ziemlich streng und schimpft schon bei der geringsten Kleinigkeit.

Herr Taschenbier wohnt da aber nicht allein.

Seit einiger Zeit ist nämlich das Sams bei ihm.

Herr Taschenbier hat das Sams an einem Samstag auf der Straße getroffen. Dort saß es am Boden, und viele Menschen standen drum herum.

Sie wunderten sich über das seltsame Wesen.

Es war klein wie ein Kind, hatte rote Haare, eine Nase, die aussah wie eine Steckdose, und viele blaue Punkte im Gesicht.

Und da Herr Taschenbier als Einziger wusste, dass dieses unbekannte Wesen nur ein Sams sein konnte, blieb das Sams bei Herrn Taschenbier und sagte »Papa« zu ihm.

Herr Taschenbier kaufte dem Sams einen Taucheranzug und eine Hängematte, in der es jetzt schläft.

Das Geheimnis der blauen Punkte

Erst glaubte Herr Taschenbier, die blauen Punkte im Sams-Gesicht wären farbige Sommersprossen. Dann aber entdeckte er, dass es Wunschpunkte waren. Immer wenn er sich etwas wünschte, ging es in Erfüllung.

Leider merkte er das erst sehr spät, nachdem schon viele Wünsche verschwendet waren. Er hatte nämlich oft zum Sams gesagt: »Ich wünsche, dass du dich hinsetzt!«

Oder: »Ich wünsche, dass du leise bist!«

Manchmal auch: »Ich wünsche, dass du mich noch ein bisschen schlafen lässt!«

So verbrauchte er die meisten Wunschpunkte, ohne zu ahnen, dass er sich viel bessere Wünsche hätte erfüllen können.

Aber mit dem letzten blauen Wunschpunkt, den Herr Taschenbier hinter dem linken Ohr des Sams entdeckte, hat er dann gewünscht: »Ich wünsche, dass das Sams immer bei mir bleibt.«

Essgewohnheiten

Das Sams isst gerne Würstchen.

Am liebsten hätte es Würstchen zum Frühstück, Würstchen zum Mittagessen, zum Abendbrot, als Vorspeise, als Nachtisch und eine letzte kleine Wurst vor dem Schlafengehen.

Ganz im Gegensatz zu Herrn Taschenbier.

Der isst zum Frühstück Vollkornbrot mit Marmelade, zum Mittagessen Gemüse und Salat und zum Abendessen am liebsten Kartoffeln mit Kräuterquark.

Kein Wunder, dass das Sams manchmal Würstchen aus Frau Rotkohls Kühlschrank stiehlt.

Die isst nämlich genauso gerne Würstchen wie das Sams.

Herrn Taschenbiers Geburtstag

Es war Sonntagmorgen, fünf nach halb neun.

Das Sams war gerade aufgewacht, wickelte sich aus seiner Hängematte, schlich zu Taschenbiers Bett und beugte sich zu ihm hinunter.

Herr Taschenbier schlief noch tief und fest.

Das Sams murmelte: »Heute hat Papa Geburtstag. Außerdem hat er eine Woche Urlaub, wenn nicht sogar sieben Tage. Da darf er ein bisschen länger schlafen, pennen, meinetwegen auch schlummern. Ich bin so leise wie eine Meise! Sogar so leise wie eine leise Meise.«

Dann fiel ihm ein, dass Meisen nicht gerade still sind, auch wenn es sich gut reimt.

Deswegen verbesserte es sich, schon ein wenig lauter:

»Ich bin still wie ein Wurm

nach einem Sturm.«

Kurz darauf hatte es seinen Vorsatz ganz vergessen, beugte sich hinunter und sang ziemlich laut in Herrn Taschenbiers Ohr:

»Schlaf, Papa, träume fein!

Die Rotkohl ist ein Stachelschwein.

Du darfst heut lange pennen,

musst nicht zur Arbeit rennen.

Schlaf, Papa, schlaf!«

»Sams, du bist vielleicht witzig!«, sagte Herr Taschenbier gähnend und reckte sich in seinem Kissen. »Singst ein Schlaflied so laut, dass jeder aufwacht!«

»Doch nicht jeder. Nur du, Papa«, sagte das Sams. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«

»Vielen Dank«, sagte Herr Taschenbier. Er stand auf und zog seinen Morgenmantel an.

Das Sams sagte: »Ich hab auch ein Geschenk für dich, Papa!«

»Ein Geschenk?«, fragte Herr Taschenbier. »Da bin ich aber gespannt.«

Das Sams kam zu ihm und umarmte ihn.

»Papa, du weißt doch, dass ein Sams normalerweise nur eine Woche lang bei seinem Menschen bleiben darf?«

»Ja, das weiß ich«, antwortete Herr Taschenbier.

»Und weißt du auch noch, wieso ich bei dir bleiben kann?«, fragte das Sams weiter. »Und zwar für immer?«

Herr Taschenbier nickte. »Ja klar, das hab ich mir doch gewünscht. Mit dem allerletzten Wunschpunkt. Dem hinter deinem linken Ohr.«

Das Sams lachte. »Und jetzt guck mal hinter mein rechtes Ohr!« Es drehte den Kopf so, dass Herr Taschenbier hinter das rechte Ohr gucken konnte.

Herr Taschenbier rief überrascht: »Da ist ja tatsächlich noch ein Wunschpunkt!«

»Nicht so laut, Papa!«, warnte das Sams. »Die olle Rotkohl muss das gar nicht wissen.

Diesen blauen Punkt da oben

hab ich für dich aufgehoben.

Das ist mein allerhöchstbestes, ganz und gar persönliches Geburtstagsgeschenk.«

Herr Taschenbier war begeistert. »Ich weiß auch schon, was ich mir wünsche, nämlich …«

»Halt, Papa! Nicht wünschen!«, rief das Sams. »Überleg dir gut, was du dir wünschst. Diesmal ist es wirklich der allerletzte Wunschpunkt.«

»Na gut, ich werd’s mir erst mal überlegen«, sagte Herr Taschenbier. Er strich dem Sams über die roten Stachelhaare. »Danke für dieses schöne Geschenk!«

Ein Würstchen-Streit

»Ich geh mal ein bisschen vor die Tür«, sagte das Sams nach einer Weile.

»Meinetwegen«, sagte Herr Taschenbier. »Aber geh nicht wieder an Frau Rotkohls Kühlschrank! Ich will an meinem Geburtstag nicht schon wieder Ärger mit ihr bekommen.«

»Ich verspreche, dass ich nicht zum Kühlschrank gehe«, sagte das Sams. »Weil ich nämlich zum Kühlschrank schleiche!«

Bevor Herr Taschenbier protestieren konnte, war es schon aus dem Zimmer geschlüpft.

Gleich darauf stand das Sams in Frau Rotkohls Küche und öffnete den Kühlschrank. Mannomann, waren da viele Würstchen! Voller Begeisterung fing es an zu singen:

»Die Kühlschranktür ist aufgemacht,

wo mich ein Würstchen lieb anlacht.

Es kann die Kälte nicht vertragen

und will in meinen warmen Magen!«

Das war ein Fehler.

Denn Frau Rotkohl hatte den Gesang gehört. Sie stürzte in die Küche, riss dem Sams ein Würstchen aus der linken Hand und schrie: »Sofort legst du die Würstchen zurück!«

Das Sams dachte nicht daran und rannte mit einer Wurst in der rechten Hand vor ihr davon, immer um den Tisch herum.

Frau Rotkohl rief wütend: »Taschenbier!« Und noch einmal: »Taschenbier, holen Sie sofort dieses Sams da weg!«

Herr Taschenbier kam im Morgenmantel aus seinem Zimmer.

»Was ist denn jetzt schon wieder los?«

Das Sams rief lachend:

»Die Rotkohl schimpft so grässlich laut,

denn ich hab ihr die Wurst geklaut!«

Frau Rotkohl rief: »Da hören Sie es, Taschenbier! Dieses Sams gibt selber zu, dass es mich bestohlen hat! Sagen Sie ihm, dass es sofort die Wurst zurückgeben soll!«

»Sams, bitte, gib Frau Rotkohl die Wurst zurück!«, sagte Herr Taschenbier. »Ich kann Streit so früh am Morgen nicht vertragen.«

»Bitte schön! Wenn du meinst, Papa«, sagte das Sams, biss ganz schnell die halbe Wurst ab, kaute mit vollem Mund und nuschelte:

»Leider war in zwei Sekunden

das halbe Würstchen wegverschwunden.

Doch zu Rotkohls großem Glück

blieb diese Hälfte noch zurück.«

Damit hielt es Frau Rotkohl die andere Hälfte hin.

»Hören Sie, Taschenbier, ich kann Ihnen und Ihrem unverschämten Sams auf der Stelle kündigen«, rief Frau Rotkohl. »Und das werde ich auch, wenn das so weitergeht!«

»Entschuldigen Sie, Frau Rotkohl. Es soll nicht wieder vorkommen«, sagte Herr Taschenbier.

»Das will ich Ihnen auch geraten haben«, schimpfte sie. »Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihrem Freund!«

»Sie meinen Herrn Mon?«, fragte er.

»Genau den. Der hat seine Tiere im Griff«, sagte sie.

»Aber hören Sie mal, Frau Rotkohl! Das Sams ist doch kein Tier«, sagte er empört. »Es ist ein ganz liebenswürdiges Wesen. Jedenfalls meistens.«

»Ich meinte ja nur, dass Herr Mon seine Tiere bestens erzogen hat«, sagte sie. »Im Gegensatz zu Ihrem unerzogenen Sams.«

Das Sams lachte und sang:

»Ja, das Sams ist ungelogen

bei der Rotkohl ungezogen.

Wenn man ihr ein Würstchen klaut,

schimpft die Rotkohl richtig laut.

Zu Pa und mir sagt sie dann immer:

›Ich schmeiß euch raus aus eurem Zimmer!‹

Das ist noch niemals nicht passiert,

weil sie die Miete gern kassiert.«

»Du wirst gleich sehen, wie schnell ich euch kündige und aus dem Zimmer schmeiße! Du musst nur so weitermachen!«, rief Frau Rotkohl.

Herr Taschenbier sagte streng: »Sams, du hörst sofort auf mit diesen dummen Versen und gehst leise und ganz schnell in unser Zimmer!«