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Christoph Poschenrieder

Mauersegler

Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 2015 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Gemälde von Erich Heckel,

›Fasanenschlösschen bei Moritzburg‹, 1910 (Ausschnitt)

Copyright © 2016, ProLitteris, Zürich

Reproduktion: Rheinisches Bildarchiv Köln

 

 

Für meine Freunde

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2017

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24390 1

ISBN E-Book 978 3 257 60697 3

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Eines Tages ist dann ein Schlummer der letzte, und seine Träume sind 

ich glaube, wir träumen sie eben jetzt.

Arthur Schopenhauer: Über den Tod und sein Verhältnis zur Unzerstörbarkeit unseres Wesens

[7] 1

Seltsam: Alle haben Angst vor dem Tod, aber keiner macht sich Gedanken, wo er vor seiner Geburt gewesen ist. Wohin die Lebensreise führt, scheint so viel wichtiger als die Frage, woher wir kommen. Die Unendlichkeit vorher – ohne mich – kann doch wohl genauso wenig schrecklich sein wie die Unendlichkeit nachher – ohne mich. Oder? Und das dazwischen ist sowieso nur ein flüchtiger Lebenstraum. Seitdem wir zusammenwohnen, wir alten Freunde, beschäftigt mich die Frage nach dem Woher mehr und mehr. Über das Wohin bin ich mir vollkommen im Klaren.

Wir hatten immer gedacht, wir würden mit dem Sterben und dem Tod vernünftig umgehen. Nicht nur vernünftig, sondern lässig-nonchalant, so wie wir unsere Leben geführt hatten. Wir gutaussehenden, braungebrannten Erfolgstypen. Alphawölfe. Überholspurfahrer. FDP-Wähler, als es die noch gab. Und jetzt ist Heulen und Zähneklappern – Drittezähneklappern.

Nein, so ernst ist die Sache auch wieder nicht. Unsere Komödie – mit ein paar tragischen Einsprengseln, zugegeben – befindet sich nunmehr im finalen, fünften Akt, bevor der Vorhang für den Letzten von uns fällt. Das werde, wenn mein bisheriges Glück anhält, wohl ich sein.

Wir sind fünf:

[8] Wilhelm. Jurist.

Zuletzt Chefjustitiar bei Deutschlands größtem Versicherungskonzern. Pflegte zu sagen: »Es ist zwar nicht recht, aber es ist Recht.« Dutzende, wenn nicht Hunderte Fälle, in denen er Ansprüche von Versicherten mit juristischen Spitzfindigkeiten abgewehrt hat. Und wenn er nicht gewann, dann gewann die Zeit, und seine Gegner starben auf dem endlosen Verwaltungs- und Prozessweg. Begeisterter Golfer, obwohl er das Spiel hasst. Schied aus der Arbeitswelt bei Erreichen der Altersgrenze friedlich aus, nachdem man ihm Chauffeur und Oberklassewagen für weitere fünf Jahre garantiert hatte. Nachdem ihm das linke Bein oberhalb des Knies abgenommen worden war, dachte er, glaube ich, öfter über Gerechtigkeit nach. Und all die kleinen Leute mit ihren kleinen Sorgen.

Heinrich. Lebensmitteltechnologe bei einem großen »Lebensmittel«-Konzern.

Man entschuldige die Gänsefüßchen, die natürlich auch nichts mit Gänsen zu tun haben – wie so vieles nicht das ist, was es zu sein scheint, bei Heinrich. Er gilt als Erfinder der Leberwurst ohne Leber und des »Fruchtaufstrichs« (woran nur der Wortbestandteil »Aufstrich« zutrifft). Er hat viele Menschen satt gemacht und ihnen einen Hauch vom Aroma der weiten Welt dabei verschafft; und das auf die billige Art. Es war die Zeit dafür. Immerhin war der alte Heinrich der Erste unter uns, der völlig auf Bio setzte, dann Vegetarier, dann Veganer wurde. Danach wurde er Hungerkünstler. Einmal brachte ihn die Polizei zurück in unsere WG. Er hatte in einem Supermarkt randaliert (so wie [9] 45-Kilo-Männchen randalieren) und immerzu »Gift! Gift! Alles Gift!« geschrien. Er muss es wissen.

Ernst. Programmierer, Software-Unternehmer.

Dass der es zu etwas bringen würde, hatten wir anderen vier am wenigsten erwartet. Bastlertyp, zündete sich die Zigaretten am Lötkolben an. Programmierte schon, als die Computer noch so groß wie Schränke waren. Kapierte sofort, als der erste Personal Computer auftauchte, welche Chancen darin steckten. Jetzt ist er der Reichste von uns fünfen und ein generöser Stifter.

»Leben ist Eins, und Tod ist Null«, sagt er oft. Ernst ist das fleischgewordene binäre Denken. Er spielt jetzt mit einer gigantischen Modelleisenbahnanlage, aus der er alles Spielerische herausprogrammiert hat. Früher haben wir sie manchmal gekapert, um grandiose Eisenbahnunglücke zu bauen. Ernst hat auch das »Todesengelprogramm« geschrieben, mit dem wir… Aber das kommt später noch.

Siegfried. Theaterregisseur, Intendant.

Einer unserer Großen. Wurde dennoch von der Garde der Jungen aus seinem letzten Intendantenposten in Berlin geputscht. Aber gleichzeitig mit Ehrengaben überschüttet, so dass er sich nach einigem Sträuben brav fügte und für eine Weile Präsident der Akademie der Schönen Künste wurde. Verachtet alles, was jünger als er ist; es sei denn, es wären um vieles jüngere hübsche Frauen. Jetzt inszeniert er vornehmlich beim Kochen. »Auftritt!«, flüstert er, dann wirft er die Hummer ins sprudelnde Wasser und sieht zu, wie sie erröten. Er sagt, sie empfänden keinen Schmerz. [10] Falls er an so etwas glaubt, er müsste drüben, im Jenseits, den Zorn und die Rache der Autoren fürchten, deren Werke er genüsslich vergewaltigt hat. Zu viele Protagonisten, denen er SS-Uniformen angezogen und Stahlhelme aufgesetzt hat. Das wollte zuletzt nicht einmal mehr das Feuilleton sehen. – Sonst ein lieber Kerl.

Ich, Carl.

Einstmals Journalist für Kraut und Rüben, Philosophiedozent, zwischendrin allerlei, später und bis zur Rente Chefredakteur eines schöngeistigen Magazins, das ständig über dem Abgrund hing. Mit den anderen kann ich – in finanzieller Hinsicht – gerade so mithalten, weil ich ein wenig geerbt habe. In der Gruppe bin ich immer schon für den heiteren Kommentar zuständig gewesen und für den vermittelnden Ausgleich. Ein bisschen der Typ, den man braucht, um weiterzukommen, und dann gerne zurücklässt. Aber ich lasse mich nicht abschütteln.

Ich glaube, dass ich im Jenseits das antreffen werde, was ich früher – also vorher – gewesen bin. Keine Ahnung, was genau. Zu fürchten? Eigentlich nichts. Ich war ein guter Mensch. Aber Moment – noch bin ich ja nicht tot. Und heiße Carl mit C, damit, wie mein Vater immer sagte, ich mich nicht mit Karl dem Großen verwechsle.

Karikaturen, gewiss, wie viele meiner Generation. Aber wie baut man ein vom Krieg zerstörtes Land auf (mit »eigenen Händen«), wenn man unter Vätern leidet, die nie richtig aus der Uniform herausgefunden haben, unter Müttern, die mit Waschmaschinen, Staubsaugern, elektrischen [11] Dosenöffnern, Mikrowelle und Eierkochern und später Cognac – wer kennt noch den Asbach Uralt? – an ihren Platz und ruhiggestellt wurden. Das einzig Wunderbare, das uns Jungen widerfuhr, war ein Wirtschaftswunder. Man hatte uns alles vorgezeichnet: Lernen, Studieren, Arbeiten, Familie, Leben. Die, die ein paar Jahre jünger waren, die machten Revolte. Nur als es aufs Sterben zuging, wollten wir einmal anders sein. Das hat geklappt.

Ach, Schopenhauer, wie recht du hattest: Wir wollten auch nur von lächerlichen zu lachenden Personen werden.

Zu einem großen Schreiber hat es für mich leider nicht gereicht. Aber mitschreiben, das konnte ich immer ganz gut. Die anderen tun und machen, und ich stehe mit meinem Notizblock daneben. Ich wurde der Chronist unserer WG. Wovon die anderen allerdings nichts wissen sollen, denn niemand von uns wird gerne an die Zeit und das Vergehen der Zeit erinnert. Wenn man alt ist, greift man manchmal etwas zu hastig nach den Erinnerungen; weil man nicht weiß, ob sie jemals wiederkommen.

Aber im Großen und Ganzen sollte es stimmen, so wie hier beschrieben. Wenn in dem Konvolut immer wieder mal einige Seiten Computercode auftauchen: das ist Ernsts Programm. Ich fand die Blätter im Altpapier. Immerhin ist es von einiger Bedeutung für uns, und ich finde, die Zeilen haben ihren eigenen, morbiden Charme, so wie sie ihre Geschichtlein erzählen. Wie das hier:

[12] Code01

def lebendeUndtote():

 

try:

dahingegangen = VerstorbenenListe.leseDatei()

for verstorben in dahingegangen:

pos = wg_besatzung.index(verstorben)

wg_besatzung.remove(verstorben)

wg_besatzung.insert(pos,’+’)

return wg_besatzung

 

except:

self.log.error(’Datei nicht gefunden oder leer’)

[13] 2

Wir waren sechs. Aber der Sechste ist nicht mehr bei uns. Wenn unser kleiner Martin nicht tot im Weiher vor der Stadtmauer gefunden worden wäre, wir hätten unsere Alten-WG nie gegründet. So gesehen ist er doch bei uns. Und in anderer Hinsicht – wovon noch zu berichten ist. Wir trinken jedes Jahr am 2. Dezember auf Martin. Zum ersten Mal taten wir es kurz nach dem Vorfall. Damals hatte Heinrich eine Zweiliterflasche süßen Lambrusco gestohlen. Das verschaffte uns den ersten Rausch. Geschmacklich sind wir inzwischen weiter; wir trinken Champagner, aber wir betrinken uns immer noch sehr ordentlich zu diesem Anlass.

In der Kleinstadt gerieten wir sofort unter Verdacht. Wir waren eigentlich immer unter Verdacht. Wenn im Auspuffrohr eines Lehrermopeds eine Kartoffel steckte, zitierte der Schulrektor einen von uns oder gleich alle in sein Büro. Wasserfarbe im Marktbrunnen, wenn im Lauf des bronzenen Gewehrs des Sterbenden Kriegers eine angebissene Frankfurter steckte: Man wusste sofort, wer die Übeltäter gewesen waren. Wir waren es ja auch meistens. Es gab nur einmal eine kurze Phase, da wollte uns eine Bande von der Realschule die Hoheit streitig machen. Aber wir klärten das mit ein paar ausgesuchten Gemeinheiten.

[14] Die Tragfähigkeit einer jungen Eisdecke einschätzen konnten wir nicht; Martin jedenfalls nicht. Die Überquerung des Weihers im Frühwinter muss ihm jemand eingeredet haben. Einer von uns. Denn Martin war ein ängstlicher Junge, der sich selbst nichts zutraute und nur auf seine Spielkameraden hörte. Wir nutzten das manchmal aus.

Natürlich gab es eine strenge Befragung. Jeder von uns saß im Polizeirevier der Kleinstadt, Mutter und Vater links und rechts neben sich. Bei Heinrich und Siegfried blieb ein Platz frei. Deren Väter waren im Krieg gefallen. Unsere Mütter weinten, weil man das von ihnen zu erwarten schien, und weil Martins Mutter im Vorraum auf und ab ging und ebenfalls weinte. Die Väter saßen mit versteinerter Miene und herrschten uns zwischendrin an: Antworte gefälligst, Rotzbube!

Wir sagten nichts. Es hatte uns die Sprache verschlagen, und geweint hatten wir auch um unseren kleinen Martin; jeder für sich natürlich. Bevor ihn ein Spaziergänger am folgenden Morgen entdeckte, hatten wir ihn schon gefunden, noch am selben Abend. Wir waren aus den Betten geschlichen, um ihn zu suchen. Irgendwie wussten wir auch, wo wir suchen mussten. Dann lagen wir bäuchlings auf dem Steg und leuchteten mit unseren funzeligen Taschenlampen aus Wehrmachtsbeständen in Martins Gesicht. Unter dem dünnen, klaren Eis schwebte er mit offenen Augen, Hände und Nase wie an das Schaufenster von Spielwaren Steiner gepresst. Er betrachtete uns von der anderen Seite staunend und gar nicht vorwurfsvoll, nur ein wenig traurig sah er aus. Vielleicht, weil er kein aufregendes und erfolgreiches Leben mehr haben würde?

[15] Das Gelände um den Weiher war unser liebstes Revier. Die Reste eines abgeschossenen amerikanischen Bombers lagen in einem wieder aufstrebenden Wäldchen, das der Flieger beim Aufprall umgelegt hatte. Nicht, dass es in der kleinen Stadt etwas zu bombardieren gegeben hätte. Im Abdrehen von der großen Stadt hatten die Flieger, die es nicht über ihr angewiesenes Ziel geschafft hatten, ihre Last abgeworfen. Jeder von uns bewegte sich blind auf dem Terrain, das mit großen und kleinen Bombenkratern übersät war. Im Sommer tauchten wir im Weiher nach Munition und Waffen.

Als Martin nicht zum Abendbrot erschienen war, lief seine Mutter von Haus zu Haus. Ich wurde an die Tür gerufen. Weißt du, wo Martin ist?, fragte seine Mutter, ich war schon bei Siegfried und Wilhelm und Heinrich, aber niemand hat ihn gesehen. Du musst doch etwas wissen. Ihr habt doch heute zusammen gespielt.

Kraterhüpfen hieß unser Spiel. Einer zählt bis zehn, die anderen müssen raus aus ihrem Loch und ins nächste. Wer bei zehn noch draußen ist oder zu einem anderen ins Loch hüpft, verliert die Runde und muss zählen. Am Ende gewann der, der in die meisten Krater gehüpft war. Allein natürlich. Unser kleiner Martin war nicht der Schnellste. Deshalb blieb er manchmal in seinem Krater sitzen und hoffte, dass niemand zu ihm sprang. Vielleicht haben wir ihn einfach vergessen an diesem Tag. Martin musste immer schon eine halbe Stunde früher als wir zu Hause sein, weil sein Vater hungrig von der Schicht kam und sofort Abendbrot essen wollte. Mit dem einzigen Sohn. Vielleicht ging er deshalb über das Eis, den direkten Weg.

[16] Wir hatten uns abgesprochen: Jeder von uns hatte allein in einem Krater gesessen. Siegfried. Ich. Heinrich. Wilhelm. Ernst. Jeder von uns hatte es den anderen versichert und so bei der Polizei erzählt. Und jeder von uns wusste oder ahnte, dass das nicht stimmen konnte. Siegfried. Heinrich. Ernst. Wilhelm. Und ich. Vielleicht hielten wir deshalb ein Leben lang zusammen.

[17] 3

Wie kamen wir darauf? Vermutlich bei einem der Dezemberabende, an denen wir auf Martin tranken. Das Jahr weiß ich nicht mehr genau. Ende der 1980er vielleicht. Es geschah mal hier, mal dort. Wir lebten übers Land zerstreut. Keiner von uns war in der kleinen Stadt geblieben, außer Martin.

Habe ich erwähnt, dass er ein Einzelkind war? Seine Eltern starben früh, bald nacheinander. An gebrochenem Herzen, sagte nicht nur meine Mutter. Dass wir etwas mit Martins Tod zu tun hatten – schuldhaft zu tun hatten –, gehörte zu den anerkannten Wahrheiten der Kleinstadt. So wie jeder ganz sicher wusste, dass der Bäcker sein Mehl streckte und der Wirt in Bierkrüge mit gefälschtem Eichstrich einschenkte.

Später übernahmen wir die Kosten für Martins Grab auf dem Kirchfriedhof. Ich habe es einige Male besucht, allein, und dabei Blumenschmuck bemerkt, der nicht die Handschrift des von uns beauftragten Gärtners trug, oder ein frisches Grablicht. Irgendjemand hatte einmal das Foto am Grabstein ausgetauscht, das einen lachenden Martin barfuß in kurzen Lederhosen zeigte. Das alte war längst verblasst und wellte sich unter der messinggefassten Glaslinse. Ich schob den neuen Abzug mit einer Taschenmesserklinge [18] heraus, um zu sehen, ob auf der Rückseite irgendein Hinweis zu finden wäre: nur ein Datum.

Unser Gedenken nahm mit der Zeit andere Formen an. Wir trafen uns für ein Wochenende und ließen es uns gutgehen. Die Hotels waren fein; meist feiner, als ich es mir eigentlich leisten konnte. Mit zwei Sternen fingen wir an, zuletzt waren es »Fünf-Sterne-Superior«-Etablissements von groteskem Luxus, den ich schon peinlich fand. Übers Jahr hielten wir nur lose Kontakt; denn früher gab es das Konzept des »Ferngesprächs«, das man vermied, sofern nicht unbedingt vonnöten. Und anfangs nahmen wir aneinander Maß: Wer hatte seit dem letzten Treffen was erreicht? Familienzuwachs? Neue Frau? Zum Abteilungsleiter befördert? Hochgerühmte Inszenierung? Mercedes? Firma expandiert? Neue Erfindung? Später spielte das keine Rolle mehr, und wir genossen es, wenigstens ein Wochenende ohne das elende Federspreizen auszukommen, das unseren Alltag bestimmte. Krawatten waren verboten.

»Mit euch Rasselbande möchte ich alt werden«, sagte, glaube ich, Ernst. So etwas in der Art jedenfalls. Und ein anderer sagte: »Kein Problem, trink nicht, iss gesund, bleib einfach am Leben.«

»Nein, mit euch zusammen, in einem Haus.«

Wir lebten, wie gesagt, alle in verschiedenen Städten, und bis auf Wilhelm und Heinrich arbeiteten wir noch in unseren Berufen. Wilhelm ging noch auf zwei Beinen, rauchte achtzig Zigaretten täglich und ließ sich nichts sagen, schon gar nicht von Ärzten. Heinrich war in der Transformation zum Vegetarier; was wohl zu der wachsenden Entfremdung zwischen ihm und seiner Frau beitrug. Sie hatte sich einen [19] gemütlichen »Lebensabend« bei gedämpftem Licht vorgestellt, anspruchsvolle Bildungsreisen, regelmäßige Opernbesuche, einfach geregeltes Alles – und nicht einen zunehmend besessenen, zum Missionarischen neigenden Gemahl. Erst recht nicht zu diesem Zeitpunkt: Die Firma hatte im frisch wiedervereinigten Osten Deutschlands Fabriken übernommen, die nach dem Krieg enteignet worden waren.

Der Gedanke war damals nicht so schick wie heute. Alte Menschen lud man selbstverständlich im Altersheim ab, wo sie »so lange gewendet wurden, bis sie gar waren« – Siegfrieds Worte, nicht meine. Ich glaube, heutzutage werden sie nicht einmal mehr gewendet, wegen Personalmangels und weil das jetzt alles private Konzerne sind, die auf Aktionäre und Dividenden achten müssen.

Wir phantasierten herum, und nach einiger Zeit schien uns die Idee ganz charmant: wir fünf unter einem Dach, und Platz für alle unsere Spleens. Siegfried fabulierte von jungen Krankenschwestern, die er beizeiten (sollte heißen: möglichst früh) engagieren wollte, und zählte schon einmal auf, was er uns alles kochen würde. Ernst plante, das ganze Haus zu programmieren und zu automatisieren; gerade so, dass es nicht unsere Gedanken lesen könnte, aber mit einem Augenzwinkern würde man die Jalousien bedienen können. Ich träumte von einer großen Bibliothek, Heinrich von Gemüsegärten und Treibhaus, und Wilhelm – er war nicht der Typ, der träumte. Dafür sagte er, wir würden uns ja doch nicht komplett fühlen, wenn Martin nicht dabei wäre, da müssten wir eine Lösung finden. Siegfried, wie er manchmal ist, sagte dann irgendetwas Grobes, ungefähr: »Reliquienschrein oder was meinst du?«

[20] Das beendete die Diskussion an diesem Abend. Wir einigten uns nicht auf einen Plan, wir fassten auch keinen Entschluss, wir schworen uns nichts. Aber die Idee der Altenwohngemeinschaft blieb hängen. Ich glaube, uns allen war schlagartig klargeworden, dass wir Angst hatten. Eine Heidenangst vor dem Alleinsein im Alter.

[21] 4

Beim nächsten Martinstreffen wollte keiner das Thema zuerst ansprechen, obwohl es in der Luft lag. In den vergangenen zwölf Monaten hatte es keine Rolle gespielt. Bei unseren gelegentlichen Telefonaten ging es um andere Dinge – Ernsts neue Software-Stiftung, meine unsichere Position, Siegfrieds jüngste Inszenierung, die einhellig verrissen worden war und als das Machwerk eines ausgebrannten, in seinen Konventionen und Attitüden festgefahrenen Mannes von gestern beschimpft wurde. Ich denke, nach dem ersten Überschwang hatte jeder von uns die WG-Sache als zu exotisch, zu ungewöhnlich abgelegt. Man tat so etwas nicht, wir doch nicht. Herrgott, noch (obwohl immer seltener) begegnete man uns mit Respekt. Lebensleistung zählte, sicher. Aber wo wir uns noch sicher vertäut glaubten, wären die Jungen sofort bereit gewesen, die Leinen zu kappen und uns stromabwärts zu schicken. Ich hatte öfter mal daran gedacht, wie es wohl wäre und was Kollegen, Familie, Freunde davon hielten. Ob wir uns zu Narren machten. Wohngemeinschaften, das war etwas für Studenten und Entwurzelte, oder?

Wir hatten exzellent gegessen, schwenkten ein jeder ein Glas Cognac, fast so alt – Verzeihung: reif – wie wir, und waren träge und zufrieden. Obwohl mein Jahr nicht das [22] beste gewesen war. Ein Lehrauftrag an einer süddeutschen Universität, auf den ich erpicht gewesen war, war an einen deutlich jüngeren Kollegen gegangen, ebenso die Herausgeberschaft des Magazins. Als zeremonieller Posten wäre dieser eigentlich für jemanden meiner Altersklasse prädestiniert gewesen. Ich hatte keine Lust mehr, das Zeug anderer Leute zu redigieren, Konferenzen zu leiten und mich mit Praktikanten auseinanderzusetzen. Na schön. Bald einmal würde wohl der Verleger an mich herantreten und »über meine Pläne« sprechen wollen. Und mir damit sagen, dass er keine hätte – für mich.

Ausgerechnet Wilhelm kippte seinen Cognac auf ex und packte dann einen Stapel Prospekte aus, von allerlei »Seniorenresidenzen« der oberen Preisklasse. Residenz – als ob das Alter eine Form von Adel mit sich brächte. (Besser als »Heim« klingt es sicher.) Er verteilte die Prospekte und sagte: Unsere Unterhaltung vom vergangenen Jahr sei im Grunde ja vernünftig gewesen. Aber dem Ernst der Lage nicht angemessen. Er habe sich einmal umgehört. Man müsse sich früh um solche Dinge kümmern. Es gebe nämlich Wartezeiten, vor allem in den besseren Einrichtungen. Für uns fünf sei es schwierig, gemeinsam unterzukommen… aber möglich.

»Die hier zum Beispiel machen einmal die Woche einen Dämmerschoppen«, las er. »Fitnessraum, Kabel-TV, Bastelzimmer, Wellness, Kneipp-Bad, Ausflüge mit dem Bus…«

»Ab einem gewissen Alter oder Zustand ist jeder Schoppen ein Dämmerschoppen«, sagte Siegfried und blätterte durch die bunt glänzenden Papiere. In einem sah man eine ältere Dame, die ein Double von Queen Elizabeth hätte [23] sein können. O ja, diese »Residenzen« waren die reinsten Vergnügungsparks. Und die Alten die Könige, umsorgt und umhegt von dienstfertigem Personal, in Livree und Kittelchen. Ich fragte mich, wo sie die Kühlräume unterbrachten, denn irgendwann hatte der Spaß ja auch sein Ende. »Du könntest sogar inszenieren«, sagte ich zu Siegfried und zitierte: Das kulturelle Angebot im Schubertsaal des Hügelinger Seniorenstifts spannt sich von klassischer Musik über Theateraufführungen bis hin zu Vorträgen und Lesungen. Und wer selbst gerne singt, ist herzlich eingeladen, den Schubertchor zu verstärken.

Wir machten Witze, und Wilhelm fühlte sich nicht ernst genommen. Das sei doch genau, was wir wollten und, seiner Ansicht nach, auch brauchten. Keine wilde Greisenkommune. Sondern ein angenehmes Ambiente, wie im Hotel, all-inclusive sozusagen, in hübscher Umgebung und in angemessener Gesellschaft.

»Ich will Damenbesuch, ohne dass in der Nebensuite eine Vorstandsvorsitzendenwitwe pikiert die Augenbrauen hochzieht«, sagte Siegfried.

»Ich sehe das wie Siegfried«, sagte Ernst, »also nicht was den Damenbesuch betrifft. Jungs, wenn wir in so einer Generaldirektorenaufbewahrungsanstalt einziehen, dann können wir gleich einpacken. So habe ich es nicht gemeint.« Er schob die Prospekte von sich weg.

»Zu viel Kontrolle, das mein ich auch«, sagte Heinrich, »was wird aus meinem Gemüsegarten? Was, wenn ich Cannabis anbauen will?«

Wir kicherten, auch Wilhelm. High Society. Keiner von uns hatte eine ausgeprägte Drogenkarriere gehabt, Nikotin [24] und Alkohol ausgenommen. Davon reichlich. Ich schnüffelte an meinem edlen Cognac und dachte an zu Hause. Nicht an die früheren Haushalte meiner beiden Familien oder meine gegenwärtige Singlewohnung. Ich dachte an daheim, bei Mutter und Vater. Das wiederhaben, ohne die Strenge, die Schläge, aber mit all den Freiheiten, die wir uns als Kinder gewünscht hatten. Und trotzdem das Gefühl des… Behütetseins. Und nach Möglichkeit den Duft eines frischgebackenen Kuchens. Ich sagte leise:

»Mit dreckigen Schuhen durch die Küche laufen.« Und Siegfried griff das auf: »Das Fahrrad draußen im Regen stehen lassen.«

»Die Haare wachsen lassen.«

»Mit Papas bestem Werkzeug die Seifenkiste reparieren.«

»Aufbleiben, so lange ich will.«

»Das Hemd aus der Hose hängen lassen.«

»Essen, wenn ich Hunger habe und was ich will.«

Hätten wir alles tun können. Schon längst. Wir taten es nur nicht. In einer Seniorenresidenz hätten wir es erst recht nicht getan. Das konnten wir nur unter uns.

»Gut«, sagte Ernst, »dann machen wir’s. Hör ich Widerspruch? Nein? Beschlossen.«

»Geht das wenigstens diesmal ohne rostige Taschenmesser und Hautritzen?«, sagte Wilhelm.

»Einmal Blutsbrüder, immer Blutsbrüder«, sagte ich, »das gilt.«

Ersatzweise vergossen wir eine elend teure Flasche Wein.

[25] 5

Warum wir glaubten, dass das funktionieren würde?

Vertrautheit. Vertrautheit ist ein eingetragener Schuh, ein gewohnter Geschmack, ein Wiegenlied. Die langweiligste Sache der Welt. Wenn man von einem anderen Menschen alle seine Witze kennt, wenn man weiß, was ihn ängstigt, was ihn freut. Und wenn der Mensch dennoch unbegrenzt Kredit genießt (im übertragenen Sinne natürlich, nicht monetär).

Fällt euch etwas auf, fragte Ernst bei irgendeinem der frühen Martinsbesäufnisse. Nein – wie sollte es, so eingeschliffen, wie es war? Nun: Wenn wir uns trafen, dann saß ich neben Siegfried, rechts neben Siegfried. Heinrich setzte sich links neben Ernst, nur Wilhelm flottierte, weil ihm der kleine Martin als Nachbar abhandengekommen war. So sah unsere Sitzordnung seit der Schulbank aus. So saßen wir später am Tisch der WG: zwei und zwei an den Längsseiten, Wilhelm am Kopfende. Auch, weil er mit dem Rollstuhl besser herankam. Wenn Siegfried sich in der Unterhaltung erhitzte, rückte ich unbewusst ab, weil er früher oder später anfangen würde herumzufuchteln. In der Schule hat er mir zwei- oder dreimal die Brille von der Nase gehauen. Ich bin dann einige Zeit mit der alten Gasmaskenbrille meines Vaters dahergekommen. Zwei runde Gläser, befestigt durch [26] ein Lederband. Nur lästig, dass die Linsen, weil so dicht am Auge, ständig beschlagen waren. An der Tafel konnte ich nichts mehr erkennen. Aber Heinrich ließ mich aus seinen Heften abschreiben, wo Wilhelm die seinen eifersüchtig abschirmte und Siegfrieds dürftige Aufzeichnungen das Abschreiben schlicht nicht lohnten. Der zierliche Heinrich suchte stets und immer noch den Windschatten des großen, kräftigen Ernst, der fallweise mit dem nüchtern kalkulierenden Wilhelm paktierte und seinen Gegensatz in Siegfried fand – Materie contra Geist –, wobei ich mich, als kollegialer Geistesarbeiter, oft auf die Seite Siegfrieds schlug. Was dieser gar nicht so gerne hatte: Der Starke ist am mächtigsten allein. Er hatte eine Menge solcher Sprüche drauf. Worüber Ernst sich aufregte. Aber wir stritten nie lange, nie wirklich böse. Immer gab es einen, der vermittelte. Meistens war ich das.

Selbst wenn zwei gerade nicht miteinander sprachen, setzten sie sich nebeneinander, wie gehabt. Es ging nicht anders. Wir suchten einander, Jahr um Jahr, solange wir unsere separaten Leben aufbauten; und als sie auseinanderfielen, Jahr um Jahr. Ernst hat, glaube ich, jedem von uns einmal Geld geliehen. Größere Summen. Ich musste den Dachboden ausbauen, als die Kinder kamen. Ernst fragte nur: Wie viel?, und nach drei Tagen war das Geld auf dem Konto. Ich habe es zurückgezahlt, zinslos, denn unter Freunden gibt es zwar Schuld, aber keinen Zins. Wahrscheinlich hat er nie nachgeprüft, ob und wann das Geld zurückkam. Vertrauen bedingt, dass man keine Fragen stellt. Frage sät Zweifel, und der Zweifel ist das Gegenteil von Vertrauen.

[27] Wilhelm besorgte uns günstige Lebensversicherungen, sogar in unseren vorgerückten Jahren, ohne irgendwelche demütigende ärztliche Untersuchungen; dabei waren wir schon ziemlich kaputt. Ich zum Beispiel hatte wenigstens fünfzehn Jahre als Alkoholiker, ab und an, mehr oder weniger ausgeprägt, hinter mir. Manchmal war ich schon bei der Morgenkonferenz blau. Alle soffen zu dieser Zeit. Martini zum Feierabend, Weinbrand in der Schublade, Cognac im Regal. Irgendwann konnte man das nicht mehr als typisch für die Medien-Bohème abtun, ich musste für einige Zeit verschwinden. Auch da halfen mir die Freunde. Wofür ich mich, wenn nötig und möglich, für eine vorteilhafte Berichterstattung über sie und ihre Unternehmungen einsetzte. Ich kannte ja jeden in der Branche.

In einer Sache kannte die Freundschaft dann doch Grenzen: wenn es darum ging, Heinrichs höllische Kreationen zu testen. Obwohl er sagte, dass er uns nur warnen wolle, damit wir das Zeug nicht versehentlich im Supermarkt kauften. (Dabei war er sehr stolz darauf. Das haben wir wohl erst zu spät gemerkt.)