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Auschwitz

Zeugnisse und Berichte

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Die von den Herausgebern erstmals Anfang der 1960er Jahre zusammengestellten »Zeugnisse und Berichte aus Auschwitz« – eine Sammlung von Berichten ehemaliger Häftlinge, einschließlich einiger Zeugnisse der SS-Bewacher und des Schreibtischtäters Eichmann – stellen nach wie vor eine der umfassendsten Dokumentationen der Wirklichkeit im größten nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager dar.

So werden die zermürbende Arbeit, der Kampf ums erbärmliche Überleben, die Grausamkeit der Capos, Folter und Tod sowie die Vernichtung der jüdischen Deportierten in Auschwitz-Birkenau dokumentiert. Es gibt aber auch Zeugnisse von Widerstand und Selbstbehauptung in dem von der SS grausam beherrschten Lager.

Katharina Stengel beschreibt in ihrer Einführung zur Neuausgabe die Hintergründe und die schwierige Entstehungsgeschichte der Publikation sowie die Bedeutung, die dieser Dokumentation zukommt.

H.G. Adler, 1910-1988, arbeitete vor dem Krieg als Lehrer und Radioredakteur in Prag, nach dem Krieg als Schriftsteller in London. Er wurde 1941 zunächst als Zwangsarbeiter interniert, dann nach Theresienstadt deportiert und später nach Auschwitz. 1945 Befreiung aus dem KZ Langenstein-Zwieberge. Er gehörte dem Internationalen Auschwitzkomitee an und organisierte dessen Arbeit in Großbritannien. Von 1973 bis 1985 war er Präsident des P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland.

Hermann Langbein, 1912-1995, Schriftsteller und Publizist, war in den Konzentrationslagern Dachau, Auschwitz und Neuengamme inhaftiert. 1954 Mitbegründer des Internationalen Auschwitzkomitees (IAK) und Sekretär der österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz. Er trat als Zeuge in den Frankfurter Auschwitz-Prozessen auf und schrieb mehrere Bücher über Auschwitz.

Ella Lingens-Reiner, 1908-2002, war Juristin und Ärztin. Versteckte jüdische Bürger vor der Gestapo, wurde denunziert und in das KZ Auschwitz deportiert. Veröffentlichte 1947 und 2003 einen Bericht über ihre Lagererfahrungen. Als Zeitzeugin erinnerte sie in Schulen und Seminaren an die Verbrechen der Nationalsozialisten.

Katharina Stengel ist Autorin einer 2012 erschienenen Biographie über Hermann Langbein.

Auschwitz
Zeugnisse und Berichte

Herausgegeben von H.G. Adler,
Hermann Langbein,
Ella Lingens-Reiner

Mit einer Einführung von Katharina Stengel

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© E-book-Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt GmbH, Hamburg 2020

eISBN 978-3-86393-529-0

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

Inhalt

Einleitung zur Neuausgabe von Katharina Stengel

Einleitung der Herausgeber zur Neuauflage 1979

Frühzeit des Lagers

Tadeusz Paczula, Die ersten Opfer sind die Polen

Wojciech Barcz, Die erste Vergasung

Józef Stemler, Stasio aus Krakau

Józef Kret, Ein Tag in der Strafkompanie

Gaskammern und Krematorien

Ein Sonderbefehl für Höß

Georges Wellers, Von Drancy nach Auschwitz

Albert Ménaché, Ankunft in Auschwitz

Höß beobachtet

Miklos Nyiszli, Sonderkommando

Im Abgrund des Verbrechens

Was wahr ist, muss wahr bleiben, Josef Erber

Josef Klehr

Kitty Hart, Kanada

Verwertung der Beute

Benedikt Kautsky, Morden und Stehlen

Auschwitz – das waren viele Lager

Höß über das Frauenlager

Grete Salus, Frauen in Auschwitz

Ella Lingens-Reiner, Selektion im Frauenlager

Orli Wald-Reichert, Das Taschentuch

Otto Wolken, Chronik des Quarantänelagers Birkenau

Jehuda Bacon, Mit der Neugier von Kindern

Zdeněk und Jiří Steiner, Zwillinge in Birkenau

Höß fiel es schwer ...

Elisabeth Guttenberger, Das Zigeunerlager

Primo Levi, Der Letzte

Leo Vos, Ich wünsche euch allen eine gute Heimkehr

Gewürfelte Schicksale

Raya Kagan, Das Standesamt Auschwitz

Hermann Langbein, Im Bunker

Jan Pilecki, Standgericht

Eduard de Wind, Der Experimentierblock

Simon Laks und René Coudy, Musik aus einer anderen Welt

Berichte

Eine Stätte des Grauens

Ein geflüchteter Häftling berichtet

Eichmann erinnert sich

Widerstand

Raya Kagan, Mala

Israel Gutman, Der Aufstand des Sonderkommandos

Raya Kagan, Die letzten Opfer des Widerstandes

Bericht über Sicherungsmaßnahmen

Hermann Langbein, Die Kampfgruppe Auschwitz

Bericht des Kommandeurs der Sicherheitspolizei Kattowitz

Das Ende

Primo Levi, Geschichte von zehn Tagen

Zeittafel

Anhang

Anmerkungen

Personenverzeichnis

Katharina Stengel

Einleitung zur Neuausgabe

Auschwitz in den 1950er Jahren

Als im Herbst 1962 der Sammelband Auschwitz. Zeugnisse und Berichte erschien, war dieses Buch eine Pionierleistung: Es war die erste Publikation, die bundesdeutschen Leserinnen und Lesern ein umfassendes Bild von Auschwitz vermittelte. Zwar waren in der frühen Nachkriegszeit auch in Westdeutschland schon Berichte und Erzählungen von Auschwitz-Überlebenden erhältlich,1 aber es waren nur wenige, die meist in geringer Auflage und in kleinen Verlagen erschienen waren; die meisten waren Anfang der 1960er Jahre längst vergriffen. 1961 erschien mit Primo Levis Ist das ein Mensch? erstmals ein autobiographischer Bericht eines Auschwitz-Überlebenden in einem renommierten bundesdeutschen Verlag.2 Die wenigen Arbeiten über das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz, die über Erinnerungsberichte einzelner Überlebender hinausgingen, stammten fast sämtlich aus Polen oder anderen Ostblockstaaten und wurden im Westen kaum rezipiert.3 Historische Forschung über das Lager gab es allein von Seiten der ehemaligen Häftlinge und einiger Forschungsinstitute in Israel und Polen. Das Buch zu Auschwitz – in einem weiteren Sinne –, das in der Bundesrepublik bis dahin mit Abstand die meisten Leser gefunden hatte, waren die so genannten Memoiren des langjährigen Lagerkommandanten Rudolf Höß, die er in polnischer Untersuchungshaft geschrieben hatte. Sie setzten sich zusammen aus autobiographischen Aufzeichnungen, die Höß unter dem anmaßenden Titel »Meine Psyche. Werden, Leben und Erleben« verfasst hatte, und Skizzen zu verschiedenen Sachverhalten und Personen, die für die polnischen Ermittlungsbehörden von Interesse waren. Herausgegeben und kommentiert von Martin Broszat vom Münchener Institut für Zeitgeschichte, wurde Kommandant in Auschwitz eines der meistverkauften und -aufgelegten Bücher zum Thema.4 Die Öffentlichkeit und die Zeithistoriker zeigten in jenen Jahren deutlich größeres Interesse an den Erinnerungen und Bekenntnissen des ehemaligen Lagerkommandanten als an den verstreuten Berichten der Auschwitz-Überlebenden.

Während es heute selbstverständlich erscheinen mag, dass es kein annähernd vollständiges Bild der Konzentrationslager oder anderer Aspekte der NS-Verfolgung geben kann ohne die Erfahrungen und Perspektiven der Verfolgten, wurde das Anfang der 1960er Jahre noch keineswegs so gesehen. Die »Zeugenschaft« der Überlebenden bekam erst in diesen Jahren allmählich eigenständiges Gewicht. Dazu trugen vor allem zwei große, spektakuläre Strafprozesse bei: der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem 1961 und der erste Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main 1963-1965. Hier traten erstmals in großer Zahl ehemalige KZ-Häftlinge und Überlebende der Shoah mit ihren Erinnerungen und Erzählungen ins Blickfeld einer internationalen Öffentlichkeit. Hermann Langbein, Mitherausgeber dieses Sammelbandes, war intensiv in die Vorarbeiten zum Frankfurter Auschwitz-Prozess involviert. Er sprach dabei im Namen eines großen Verbandes ehemaliger Auschwitz-Häftlinge, der ursprünglich auch die Herausgabe des vorliegenden Bandes übernehmen sollte.

Dieses Internationale Auschwitz-Komitee (IAK) war 1954 von ehemaligen Auschwitz-Häftlingen aus verschiedenen europäischen Ländern gegründet worden, um den Anliegen und Forderungen der Überlebenden in den europäischen Nachkriegsgesellschaften Nachdruck zu verleihen.5Hermann Langbein fungierte von Beginn an als Generalsekretär, H. G. Adler und Ella Lingens, die Mitherausgeber des Sammelbandes, traten dem Komitee später bei.

Die Überlebenden verfolgten mit der Gründung des Komitees weitgesteckte Ziele; die – damals durchaus wörtlich verstandene – Parole »Nie wieder Auschwitz« war dabei das Leitmotiv. Ein würdiges Gedenken an die Opfer, die angemessene Gestaltung des ehemaligen Lagergeländes, Dokumentation und Erforschung der Lagergeschichte, Aufklärung der Öffentlichkeit über die in Auschwitz begangenen Verbrechen, Entschädigung der Überlebenden und die Strafverfolgung der SS-Täter standen auf der Agenda des Komitees. Es waren, zehn Jahre nach der Befreiung und in der Hochphase des Kalten Krieges, fast ausschließlich die ehemaligen Häftlinge, die die Notwendigkeit empfanden, Auschwitz zum Gegenstand von Forschungen und Publikationen, von öffentlichen Debatten und strafrechtlichen Ermittlungen zu machen.

Die Veröffentlichung von Schriften, Dokumenten und Fotos, die über die Geschichte von Auschwitz aufklären sollten, war eines der wichtigsten Tätigkeitsfelder des Komitees. Unter den Überlebenden des Lagers gab es ein starkes Gefühl der Verantwortung dafür, Auschwitz – wie man heute sagen würde – im kollektiven Bewusstsein zu verankern. Zeugnis ablegen über die Schrecken der Lager, der Nachwelt berichten, wie es gewesen ist, an die Opfer erinnern: Das waren von Überlebenden häufig formulierte Motive; nicht selten wurden sie als Legitimation für das eigene Weiterleben begriffen. Während »Auschwitz« in einem kleinen Teil der bundesdeutschen Gesellschaft ab Ende der 1950er Jahre allmählich zu einer Chiffre für die Schrecken des Nationalsozialismus wurde, war das Lager als solches für die meisten ein blinder Fleck; detaillierte Kenntnisse waren kaum vorhanden, zeitgeschichtliche Forschungen aus dem Land der Täter ließen noch lange Zeit auf sich warten.6

Viele der Aktivitäten des Auschwitz-Komitees zielten vor allem auf die bundesrepublikanische Gesellschaft, auf deren Öffentlichkeit und Institutionen. Sie wurde als die eigentliche Nachfolgegesellschaft des »Dritten Reichs« angesehen, hier lebten die meisten ehemaligen Täter, hier saßen die Adressaten von Wiedergutmachungsforderungen. Die Wiederaufrüstung und die zahlreichen personellen Kontinuitäten in Politik, Verwaltung und Wirtschaft ließen eine Wiederkehr des Schreckens denkbar erscheinen. Mit den Interventionen des Auschwitz-Komitees sollte die westdeutsche Öffentlichkeit dazu gebracht werden, sich mit der furchtbaren Geschichte des Ortes zu befassen und Verantwortung zu übernehmen. Diesem Ziel kamen die Komitee-Mitglieder bis Mitte der 1960er Jahre durchaus einige Schritte näher.

Die Fokussierung des Komitees auf die Bundesrepublik hatte auch zu tun mit der Herkunft vieler seiner Mitglieder aus antifaschistischen und kommunistischen Organisationen (hier nahm man die DDR und Österreich generell nicht als NS-Nachfolgestaaten wahr). Wie alle anderen Lagerkomitees war auch das IAK dominiert von ehemaligen politischen Häftlingen, von Sozialisten, Kommunisten, Angehörigen des polnischen Widerstands, die nun für die Gesamtheit der Opfer und Überlebenden von Auschwitz sprachen. Darüber hinaus war es verbunden mit den großen, staatlich kontrollierten Verfolgtenverbänden der Ostblockstaaten, besonders natürlich Polens, die über großzügige finanzielle und infrastrukturelle Unterstützung versuchten, auf die Arbeit des Komitees Einfluss zu nehmen. Mit dieser Unterstützung hatte das IAK Möglichkeiten, die kein rein »westlicher« Verfolgtenverband besaß; gleichzeitig war damit ein Konflikt angelegt, der Anfang der 1960er Jahre eskalierte und einige Mitglieder wie H. G. Adler und Hermann Langbein aus dem Verband trieb.

Zunächst jedoch war das IAK durch seine vergleichsweise große inhaltliche und personelle Offenheit für die damalige Zeit eine sehr ungewöhnliche Organisation. Es sollte nach dem Willen der meisten Mitglieder kein Organ politischer Häftlinge sein, sondern ein parteiunabhängiger Verband, der alle »anständigen«7 Auschwitz-Überlebenden repräsentierte. Es war ein internationaler Verband, der mitten im Kalten Krieg auf beiden Seiten des »Eisernen Vorhangs« Mitglieder hatte und agieren wollte, und er fungierte in verschiedener Hinsicht als eine der Brücken zwischen Ost- und Westeuropa, von denen es damals nicht viele gab. Das Komitee bemühte sich um strikte parteipolitische Neutralität und beteiligte sich nicht an tagespolitischen Kampagnen. Für diesen Kurs gab es mindestens zwei Gründe: zum einen das Wissen darum, dass das Komitee als erklärtermaßen antifaschistische oder gar kommunistische Organisation in der Bundesrepublik keinerlei Einfluss würde ausüben können; zum anderen die Bemühung, die sehr heterogene Gruppe der Auschwitz-Überlebenden zu repräsentieren und vor allem jüdische Überlebende und ihre Organisationen in das Komitee einzubinden. Ein möglicher dritter Grund war die zunehmende persönliche Distanz des Generalsekretärs Hermann Langbein zum Parteikommunismus.

Auschwitz als Konzentrations- und Vernichtungslager stellte für eine Organisation, die in jenen Jahren die Gesamtheit der Opfer und Überlebenden vertreten wollte, eine große Herausforderung dar. Der Massenmord an den jüdischen Deportierten in Auschwitz-Birkenau wurde in den 1950er und 1960er Jahren noch keineswegs allgemein als das Zentralereignis der Lagergeschichte wahrgenommen. Dem stand – neben vielen anderen Hindernissen – auch eine unter Antifaschisten und in Osteuropa dominante Wahrnehmung von Auschwitz als Vernichtungsstätte des polnischen Volkes und des antifaschistischen Widerstands entgegen. In Polen galt es damals nicht als opportun, die mit Abstand größte Gruppe der Opfer von Auschwitz beim Namen zu nennen; in der Bundesrepublik wurde der Sache tunlichst ausgewichen. Das Komitee – gleichermaßen den damals dominanten antifaschistischen Perspektiven verpflichtet wie dem Versuch, der europäischen Öffentlichkeit die Gesamtheit der Lagergeschichte zu Bewusstsein zu bringen – stand hier immer wieder vor heiklen Abwägungen und internen Konflikten. Vor allem Hermann Langbein als Generalsekretär war es zu verdanken, dass das Komitee hier zumindest teilweise eine klare Sprache fand und dadurch auch Kontakte zu jüdischen Überlebenden und ihren Organisationen knüpfen konnte.

Mit bemerkenswertem Elan machten sich die Komitee-Mitglieder seit Mitte der 1950er Jahre daran, ihre Ziele zu verfolgen. Sie sammelten Dokumente, Fotos und Erinnerungsberichte über Auschwitz, gaben eigene Schriften und Periodika heraus, hielten zahlreiche große Versammlungen und Pressekonferenzen ab, beteiligten sich an komplizierten und langwierigen Entschädigungsverhandlungen, stellten Kontakte zu Forschungseinrichtungen in Europa und Israel her, organisierten Fahrten zur Gedenkstätte, wirkten an nationalen Initiativen zum Gedenken an Auschwitz mit. Ihre beachtlichsten Erfolge errangen sie vermutlich im Bereich der Strafverfolgung der Täter in der Bundesrepublik. Seit 1958 war das IAK, und vor allem Hermann Langbein, intensiv daran beteiligt, Prozesse gegen Täter von Auschwitz vorzubereiten – oder eher zu erzwingen. In einer Phase, als die bundesdeutsche Justiz die Strafverfolgung der NS-Täter quasi eingestellt hatte, begann das Komitee, eigene »Ermittlungen« durchzuführen, Listen und Karteien des Auschwitzer SS-Personals zusammenzutragen, zahlreiche Strafanzeigen zu erstatten, Zeugen zu benennen und Beweismaterial vorzulegen. Sie übernahmen damit Aufgaben, die die Ermittlungsbehörden seit Jahren verweigert hatten. Auf Initiative des Hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer wurde schließlich in Frankfurt ab 1959 ein großer Auschwitz-Prozess vorbereitet. Das Komitee, das Kontakte zu zahlreichen ehemaligen Häftlingen in vielen verschiedenen Ländern hatte, benannte einen großen Teil der Zeugen, die später in Frankfurt aussagten. Über 200 ehemalige Auschwitz-Häftlinge traten bei dem Prozess in den Zeugenstand; aus ihrem Mund erfuhr die Öffentlichkeit in zahllosen Details von der bis dahin kaum bekannten Geschichte dieses Lagers. Die Zeugen stammten – auch dafür hatte das Komitee gesorgt – aus ganz unterschiedlichen Häftlingskategorien und Herkunftsländern; Auschwitz als Konzentrationslager und Hinrichtungsstätte für Polen und später für viele andere Häftlingsgruppen, als Kriegsgefangenenlager für Rotarmisten, als Stätte der Vernichtung durch Arbeit, als Stätte von Folter, von medizinischen Experimenten, von Korruption und Bereicherung, als »Familienlager« und vor allem als Vernichtungslager für Juden und für »Zigeuner« – all diese Facetten des Grauens waren durch die Zeugen und ihre Aussagen im Prozess präsent.8

Das »Auschwitz-Buch« und seine Herausgeber

Dieses Bemühen, die Geschichte von Auschwitz in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit festzuhalten, nicht hinter einer damals dominanten Erzählung alle anderen verschwinden zu lassen, prägte schließlich auch die Entstehung des vorliegenden Sammelbandes. Das Komitee beschloss 1960 – zur Vorbereitung der bundesdeutschen Öffentlichkeit auf den kommenden Auschwitz-Prozess und um die öffentliche Aufmerksamkeit zu erhöhen –, eine größere Publikation herauszugeben mit Beiträgen von ehemaligen Häftlingen. Dieses Buch war bewusst auch als Gegengewicht geplant gegen die Memoiren des Lagerkommandanten Rudolf Höß, die in jenen Jahren enormen Absatz fanden.9 Nun sei es »notwendig, daß die Überlebenden zu Wort kommen«,10 so die Herausgeber 1962.

Das im Januar 1960 erschienene große Buch zum KZ Buchenwald, Buchenwald – Mahnung und Verpflichtung, war vermutlich ein weiterer Ansporn, Ähnliches auch für das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz zustande zu bringen. Auch hier war das Internationale Buchenwald-Komitee Mitherausgeber, die meisten Mitarbeiter und Autoren stammten aus seinen Reihen. Im Gegensatz zum IAK allerdings handelte es sich beim Buchenwald-Komitee um einen strikt parteikommunistischen Verband, und der Sammelband war dementsprechend – trotz großer Verdienste – stark geprägt von der Perspektive der (deutschen) kommunistischen Buchenwald-Häftlinge und wies recht viele blinde Flecken auf.11

Der Titel des künftigen Auschwitz-Buches – Zeugnisse und Berichte – stellt durchaus einen Bezug zu Mahnung und Verpflichtung her und wirkt doch gleichzeitig wie eine Abgrenzung: Als wollten die Herausgeber den dokumentarischen und nüchternen Charakter ihres Buches dem antifaschistischen Pathos des Buchenwald-Komitees gegenüberstellen.

Über die Gestalt und Zusammensetzung des Buches herrschten im IAK jedoch zunächst verschiedene Ansichten. IAK-Präsident Tadeusz Hołuj (1916-1985), ein in Krakau lebender Schriftsteller, der selbst mehrfach über Auschwitz geschrieben hatte,12 schlug vor, zwei Bücher herauszugeben, eines mit belletristischen Arbeiten von Überlebenden, eines mit so genannten Tatsachenberichten. Der zweite Band sollte unter dem Arbeitstitel »Auschwitz als Vernichtungsorgan der Nazis«13 vorbereitet werden, der Gliederungsvorschlag Hołujs konzentrierte sich jedoch auf Auschwitz als Vernichtungsstätte des polnischen Widerstands, der Massenmord an den jüdischen Deportierten hätte dabei allenfalls eine Nebenrolle gespielt. Das war nicht im Interesse Hermann Langbeins, dem es zu dieser Zeit bereits ein starkes Anliegen war, von solchen Fehlgewichtungen in den Auschwitz-Darstellungen loszukommen. Langbein suchte die Unterstützung von H. G. Adler, den er ein Jahr zuvor überredet hatte, dem Komitee beizutreten. Adler, der Mitte 1959 an Langbein schrieb: »Ich habe zeitlebens mit Organisationen nichts zu tun gehabt, das erste Abweichen davon habe ich Ihnen zuzuschreiben«,14 nahm 1959 und 1960 intensiv Anteil an den Auseinandersetzungen und Initiativen des IAK. In England baute er selbst eine Organisation von KZ-Überlebenden auf.15 Er wurde in die Leitung des IAK gewählt und war bald einer der wichtigsten Verbündeten Langbeins in den zunehmenden internen Konflikten. Langbeins Wunsch, Adler an der Vorbereitung des Buches zu beteiligen, hatte nicht allein mit dessen Publikationserfahrungen zu tun, sondern war auch mit der Hoffnung verbunden, in ihm einen Gleichgesinnten und Verbündeten zu finden.

Auf einer Bürositzung des IAK Anfang Mai 1960 einigte man sich darauf, nur ein Buch vorzubereiten, das Berichte von ehemaligen Auschwitz-Häftlingen sowie als »Rahmen« Dokumente, Fotos und Auszüge aus den Höß-Aufzeichnungen enthalten sollte.16 Eine bald auftretende Schwierigkeit schien die Mitarbeiter selbst zu überraschen: Es existierte nirgends eine auch nur halbwegs vollständige Bibliographie der internationalen Auschwitz-Literatur. Daher wurden zunächst alle nationalen Auschwitz-Komitees aufgefordert, die relevante Auschwitz-Literatur aus ihren Ländern zusammenzutragen. Langbein und H. G. Adler machten sich auf die Suche nach »jüdischen Auschwitz-Büchern von einigen Verdiensten«.17 Die schließlich ausgewählten Autoren sollten gebeten werden, die Abdruckrechte kostenlos dem IAK zu übertragen.18

Innerhalb des Komitees wurde eine »Buch-Kommission« gebildet, die die Vorbereitungen übernahm; neben den späteren Herausgebern gehörten ihr der Direktor des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau, Kazimierz Smoleń, und die französische Historikerin Olga Wormser-Migot an. Smoleń (1920-2012) war von 1940 bis 1945 Häftling im Stammlager Auschwitz und gehörte zu jenen polnischen Überlebenden, die ab 1945 unter schwierigsten Bedingungen Museum und Gedenkstätte aufgebaut hatten.19 Nach einem Jura-Studium war er von 1955 bis 1990 Direktor des Museums und in dieser Funktion auch Teil der Leitung des Auschwitz-Komitees. Er war Mitherausgeber der auch auf Deutsch erscheinenden Hefte von Auschwitz.20 Olga Wormser-Migot (1912-2002), selbst keine KZ-Überlebende, hatte seit der frühen Nachkriegszeit für verschiedene französische Kommissionen Berichte von Überlebenden zusammengetragen und publiziert.21 Sie war als historische Beraterin an der Entstehung des Films Nacht und Nebel von Alain Resnais aus dem Jahr 1955 beteiligt, der – auch aufgrund der »offiziellen« Reaktion der Bundesrepublik – sehr viel Aufsehen erregte.22 Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Komitees gehörte sie dem Umfeld der kommunistischen Parteien an. Das galt jedoch weder für H. G. Adler noch für Ella Lingens-Reiner.

Hans Günther Adler,23 am 2. Juli 1910 als Sohn einer deutschsprachigen jüdischen Familie in Prag geboren, studierte dort seit 1930 Literatur- und Musikwissenschaft, Philosophie und Soziologie. 1935 beendete er sein Studium mit einer Promotion und arbeitete anschließend als Lehrer und Sekretär. Mit dem Einmarsch der Deutschen im März 1939 endete jede Chance auf eine akademische Laufbahn; ab 1941 war Adler zur Zwangsarbeit abkommandiert. Im Februar 1942 wurde er gemeinsam mit seiner Frau Gertrud ins Ghetto Theresienstadt deportiert, wo er bald mit der Sammlung von Material begann. Er fasste hier bereits den Vorsatz, sich mit der Welt des Lagers wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Zusammen mit seiner Frau und deren Mutter wurde Adler am 12. Oktober 1944 nach Auschwitz abtransportiert. Die beiden Frauen wurden sofort vergast; H. G. Adler kam für zwei Wochen ins so genannte Zigeunerlager in Auschwitz-Birkenau, bevor er ins KZ Niederorschel und von dort ins KZ Langenstein-Zwieberge verschleppt wurde. Mitte April 1945 wurde er dort von der US-Armee befreit. Keiner seiner Angehörigen hatte die NS-Herrschaft überlebt. Für kurze Zeit ging er nach Prag zurück, betreute Kriegswaisen und arbeitete für das Prager Jüdische Museum; er verließ seine Heimatstadt aber bereits 1947 wieder und zog nach London, wo er sich endgültig niederließ. In kurzer Zeit schloss er dort ein umfangreiches Manuskript seines Theresienstadt-Buches ab sowie verschiedene literarische Werke, etwa die Erzählung Die Reise (Bonn 1962) und den Roman Panorama (Olten 1968). Es dauerte Jahre, bis Adler für seine Bücher Verlage fand. Die Monographie zu Theresienstadt24 erschien erst 1955, wurde dann aber ein großer internationaler Erfolg, der Adler auf einen Schlag bekannt machte. In den folgenden Jahren schrieb er über die »Endlösung der Judenfrage«,25 arbeitete für verschiedene Rundfunkanstalten und war seit 1958 mit einer ersten großen Studie über die Deportationen von Juden befasst, die er nach erheblichen Schwierigkeiten erst 1974 veröffentlichen konnte.26 Seine Pionierleistungen auf dem Gebiet der Holocaust-Forschung fanden in der bundesdeutschen Zeitgeschichtsforschung nur sehr verhaltene Resonanz. Auch in den folgenden Jahren blieb Adler ein vielseitiger und produktiver Autor; er verfasste sowohl wissenschaftliche als auch belletristische und lyrische Werke. Am 21. August 1988 verstarb er in London.27

Trotz seiner Vorbehalte gegen Organisationen jeder Art und den Parteikommunismus im Besonderen war Adler 1959 bereit, sich dem IAK nicht nur anzuschließen, sondern darin auch Leitungsfunktionen zu übernehmen. Ihm war selbstverständlich bekannt, dass dort etliche Parteikommunisten organisiert waren und dass osteuropäische Verbände und Parteien um Einflussnahme bemüht waren, aber zur Zeit seines Eintritts schien das Komitee tatsächlich ein parteiunabhängiger und offener Zusammenschluss von Überlebenden gewesen zu sein, die – über alle Differenzen hinweg – das Ziel einte, die Nachkriegsgesellschaften zur Wahrnehmung der Verbrechen von Auschwitz zu nötigen.

Auch Ella Lingens-Reiner war dem IAK verbunden, vor allem über ihre Funktion als Vorsitzende der österreichischen Lagergemeinschaft Auschwitz. Sie ist am 18. November 1908 in Wien geboren, studierte Jura und Medizin und unterstützte nach dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 gemeinsam mit ihrem Mann Kurt verfolgte jüdische Freunde und Bekannte, bald auch gänzlich Unbekannte. Bis 1942 versteckten sie immer wieder Jüdinnen und Juden in ihrer Wohnung und versuchten, ihnen zur Flucht ins Ausland zu verhelfen. Im Oktober 1942 wurden sie verraten und verhaftet. Kurt Lingens kam in eine Strafkompanie an der Ostfront, Ella wurde nach mehrmonatiger Polizeihaft im Februar 1942 wegen »Judenbegünstigung« nach Auschwitz deportiert, wo sie die meiste Zeit als Häftlingsärztin im Krankenbau des Frauenlagers in Birkenau eingesetzt war. Sie versuchte auch hier ihre vergleichsweise privilegierte Situation zu nutzen, um ihren Mithäftlingen beizustehen. Ende 1944 wurde sie ins KZ Dachau überstellt und im April 1945 von der US-Armee befreit. 1948 veröffentlichte sie einen ersten Bericht über ihre Haftzeit in einem englischen Verlag.28 Sie beendete ihr Medizinstudium, arbeitete als Ärztin und im öffentlichen Gesundheitswesen, später als Ministerialrätin im Bundesministerium für Gesundheit. 1980 wurden sie und Kurt Lingens von Yad Vashem als »Gerechte unter den Völkern« ausgezeichnet. Ella Lingens-Reiner verstarb am 30. Dezember 2002 in Wien.29

Hermann Langbein, der dritte Herausgeber, ist 1912 in Wien geboren; sein jüdischer Vater konvertierte vor seiner Geburt zum Protestantismus. Nach seiner Matura machte er eine Schauspielausbildung, trat 1933 der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) bei und floh nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 nach Spanien, um sich den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg anzuschließen. Nach der Niederlage der Republik gegen General Franco landete er 1939 mit vielen anderen »nichtrepatriierbaren« Interbrigadisten in Internierungslagern in Südfrankreich. Im Mai 1941 wurde Langbein nach Deutschland ausgeliefert. Bei seiner Ankunft im KZ Dachau wurde er als nichtjüdischer, politischer Häftling registriert, was ihm vermutlich das Leben rettete. Im KZ Dachau verbrachte er über ein Jahr, bis er im August 1942 ins Stammlager Auschwitz verlegt wurde. Hier stieg er bald zum Funktionshäftling in höchst privilegierter Position auf: Er wurde persönlicher Schreiber des SS-Standortarztes Dr. Eduard Wirths, eine Stellung, die ihm hervorragenden Einblick in die Verwaltungsstruktur des Lagers, in Ablauf und Konjunkturen der Vernichtung ermöglichte. Gleichzeitig gehörte Langbein – zusammen mit dem späteren IAK-Präsidenten Tadeusz Hołuj – der Leitung einer Widerstandsgruppe von Auschwitz-Häftlingen an, der »Internationalen Kampfgruppe Auschwitz«, bei der Informationen aus fast allen Teilen des Lagerkomplexes zusammenliefen. Es gab nicht viele Häftlinge, die einen vergleichbar umfassenden Überblick über die Geschehnisse in Auschwitz hatten wie Langbein. Im Sommer 1944 wurde er von Auschwitz in ein Nebenlager des KZ Neuengamme verlegt und konnte sich im Februar 1945 aus einem Transportzug befreien. Zurück in Wien, wurde er hauptamtlicher Funktionär der KPÖ, 1949 bis 1951 auch Mitglied des Zentralkomitees der zu dieser Zeit streng stalinistisch ausgerichteten Partei. 1947/48 verfasste er einen ersten Bericht über seine Haftzeit, noch ganz geprägt von der Perspektive der antifaschistischen Widerstandskämpfer.30 Wenig später zeigten sich zunehmende Konflikte mit seiner Partei. Als 1954 in Wien das IAK gegründet und Langbein zum hauptamtlichen Generalsekretär gewählt wurde, konzentrierte er sich ganz auf die Tätigkeiten eines Sprechers der ehemaligen KZ-Häftlinge. Nach dem Aufstand in Ungarn 1956 und seiner Niederschlagung durch die Rote Armee begann er sich öffentlich von der moskautreuen Politik der KPÖ zu distanzieren, 1958 wurde er als »Parteifeind« ausgeschlossen. Die Parteikommunisten und vor allem die Vertreter osteuropäischer Verfolgtenverbände innerhalb des IAK nahmen das bald zum Anlass scharfer Kritik an Langbein; einen »Renegaten« wollten sie nicht als Generalsekretär dieses inzwischen recht bekannten Verbandes dulden. Die heftigen Konflikte, die nun folgten, fielen in die Phase der Vorbereitung des vorliegenden Buches und werden daher später noch zur Sprache kommen. Nach dem Ende seiner Komitee-Mitgliedschaft wurde Langbein vor allem als Autor bekannt. Er schrieb über NS-Prozesse, verfasste eine zweibändige Dokumentation des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, legte mit Menschen in Auschwitz eines der bis heute wichtigsten Bücher über dieses Lager vor, publizierte über Widerstand in Konzentrationslagern und einiges mehr.31 Er war weiterhin beteiligt an Versuchen, NS-Täter vor Gericht zu bringen und Entschädigungszahlungen für KZ-Häftlinge durchzusetzen; mehrfach stand er selbst als Zeuge vor Gericht. Seit den 1960er Jahren sprach er als Zeitzeuge in Schulklassen und Universitäten. Langbein verstarb am 24. Oktober 1995 in Wien.32

Ein internationaler Sammelband zu Zeiten des Kalten Krieges

Der durch Langbeins Ausschluss aus der KPÖ offen ausgebrochene Streit im IAK, mit dem die Konflikte des Kalten Krieges nun auch die Arbeit dieses Verbandes bedrohten, tangierte und verzögerte immer wieder die Arbeit am Auschwitz-Sammelband. Eugen Kogon hatte 1960 Kontakt zwischen Langbein und der Europäischen Verlagsanstalt (EVA) hergestellt, die sich bald bereit erklärte, den Sammelband zu verlegen, sofern er vor Beginn des Auschwitz-Prozesses fertiggestellt sei.33 Das war ganz im Interesse der Herausgeber, die das Buch ja auch als publizistische Vorbereitung dieses Prozesses ansahen. Auf der Generalversammlung des IAK im Juni 1960 wurde der Sitz des Komitees, wie es von einigen östlichen Mitgliedsverbänden lange gefordert worden war, von Wien nach Warschau verlegt, Langbein wurde nach einer recht unschönen Diffamierungskampagne als Generalsekretär abgesetzt, blieb jedoch »Bevollmächtigter« für mehrere Arbeitsbereiche, unter anderem die Arbeit am Sammelband. Adler und Langbein diskutierten zu dieser Zeit beständig über mögliche Auswege aus der in ihren Augen desaströsen Entwicklung des IAK. In den folgenden Monaten einigten sich die beiden darauf, das Buch im Zweifelsfall – das heißt bei ihrer »Demission« oder ihrem Ausschluss aus dem Komitee – nicht dem IAK zu überlassen, sondern es in eigener Regie herauszugeben, auch zu dem schmerzlichen Preis, dann auf viele der Autoren aus Osteuropa verzichten zu müssen.34

Im Dezember begannen Langbein und Adler mit der redaktionellen Arbeit. Sie hatten sich schon zuvor auf Grundzüge des Sammelbandes geeinigt. Langbein legte Wert darauf, dass das Buch »wirklich international wird und so, wie wir es benötigen – fern von jeder tagespolitischen Tendenz«.35 Für H. G. Adler war klar: »Das Buch kann beim gegenwärtigen Stand der Dinge nur eine Anthologie werden, keine Gesamtdarstellung.« Es sollte »keine wissenschaftliche Leistung werden […], freilich auch keine Reportage, sondern ein seriöser Bericht, der in die Unwelt dieses Lagers einführt«.36 Beide legten besonderen Wert darauf, keinerlei Übertreibungen und sachliche Fehler durchgehen zu lassen, die Zweifel an den Berichten wecken könnten; weitere redaktionelle Maßgaben waren, dass die Texte »wirkungsvoll« zu sein hatten und keinesfalls langweilen duften.37

Einige der Schwierigkeiten, einen solchen Sammelband in der Bundesrepublik zu veröffentlichen, gehen aus der Korrespondenz Langbeins mit dem Verlag hervor, der bezüglich der Aufnahme des Buches durch die bundesdeutsche Leserschaft deutlich pessimistischer war als die Herausgeber. Der Verleger Riepl lobte zwar die literarischen Qualitäten etwa des Beitrags von Tadeusz Borowski, gab aber zu bedenken, dass sich viele Leser, »wie die Dinge hier nun einmal sind, daran stossen [werden], dass es bei ihm sich offensichtlich um einen Kommunisten handelt«.38 Der Verlag wolle aber als »Konzession an die cold-war-Situation«39 nicht so weit gehen, die große Anzahl von Kommunisten unter den KZ-Häftlingen zu verschweigen. Noch größere Sorgen machte sich Riepl über ein Problem, das beleuchtet, wie gänzlich anders in jenen Jahren der Stand der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit NS-Verfolgung und KZ-Erfahrungen bewertet wurde. Während von heute aus gesehen bis Anfang der 1960er Jahre sehr wenige Veröffentlichungen dazu erschienen waren, war Riepl besorgt wegen der »Flut von neuer Literatur über Konzentrationslager«, die sich über die Leser ergossen habe und nun »schon zu gewissen Ermüdungserscheinungen geführt hat«. Es sei zu erwarten, dass der Eichmann-Prozess diese Tendenz sogar noch verstärke und »Konkurrenz und Ermüdung«40 den Absatz des geplanten Bandes erheblich verringern würden.

Von solchen Bedenken offenbar wenig beeindruckt, arbeiteten vor allem Langbein und Adler im Frühjahr und Sommer 1961 mit großer Intensität an der Fertigstellung des Buches. Die anderen Redaktionsmitglieder (zu dieser Zeit waren sie noch zu fünft), die aufgrund ihrer Berufstätigkeit deutlich weniger Zeit investieren konnten, lieferten und redigierten lediglich einzelne Texte oder steuerten Teile des Anmerkungsapparats bei. Im Mai kam Langbein aus Israel, wo er den Eichmann-Prozess besucht hatte, mit neuen Materialien für das Buch zurück, unter anderem aus der Gedenkstätte Yad Vashem. Im Juni trafen sich Adler und Langbein zu einer mehrtägigen Redaktionssitzung in Süddeutschland. Langbein hatte inzwischen einige polnische Autoren selbst geworben, um nicht ganz von der Zustimmung des IAK abhängig zu sein.

Gleichzeitig arbeiteten Langbein und Adler – die in jener Zeit eine enge Freundschaft verband – an einer großen Rundfunksendung für den WDR, die am 18. Oktober 1961 in einer (für heute kaum denkbaren) Länge von knapp drei Stunden ausgestrahlt und im Anschluss auch von anderen Rundfunkanstalten übernommen wurde.41 Die Sendung setzte sich im Wesentlichen aus Erzählungen und Befragungen von Überlebenden zusammen. Adler und Langbein interviewten dafür zahlreiche ehemalige Auschwitz-Häftlinge aus Österreich, Polen, der BRD und Israel. Die Interviews in Israel hatte Langbein bei seinem Besuch anlässlich des Eichmann-Prozesses im Mai 1961 dort aufgezeichnet. Fast alle der Interviewten sagten wenig später im Frankfurter Auschwitz-Prozess als Zeugen der Anklage aus. Und in einigen Fällen wurden Ausschnitte aus ihren Berichten verschriftlicht und sind Teile des vorliegenden Bandes geworden.42

Bereits im Juni – eine endgültige Klärung der Machtverhältnisse im IAK stand noch aus – bereiteten Adler und Langbein mit der Europäischen Verlagsanstalt die »Übernahme« des Auschwitz-Buches vor.43 Im Juli fand dann in Warschau eine kurzfristig anberaumte Leitungssitzung des IAK statt, an der weder Langbein noch Adler teilnahmen. Langbein wurden in Abwesenheit alle Vollmachten entzogen, er und Adler traten daraufhin sofort aus dem Komitee aus; einige »westliche« Mitglieder folgten ihnen. Der Verband hatte damit seine Funktion als Zusammenschluss der heterogenen Gruppe der Auschwitz-Überlebenden, als eine Organisation, die zwischen den Fronten des Kalten Krieges stand und in der sich unterschiedliche Gruppen ehemaliger Häftlinge repräsentiert fühlen konnten, verloren und geriet in den folgenden Jahren weitgehend unter die Kontrolle der staatsnahen osteuropäischen Verbände.

Obwohl das Warschauer IAK-Sekretariat dem Verlag umgehend mitteilte, dass es an der Herausgabe des Buches festhalte, kündigte der Verleger den Vertrag, den er, wie er ausführte, mit dem Generalsekretariat in Wien abgeschlossen habe, nicht mit ihm unbekannten Personen in Warschau. Die Argumentation des Verlags war detailliert mit Langbein und Adler abgesprochen. Die IAK-Leitung versuchte, dagegen mit verschiedenen Mitteln vorzugehen; empfindlichster Punkt waren die Vollmachten der Autoren, die dem IAK, nicht den Redakteuren übertragen worden waren. Die IAK-Leitung bemühte sich nun, alle Autoren davon abzuhalten, die Rechte den neuen Herausgebern zu übergeben, unter anderem mit einer Unterstellung, die die Herausgeber besonders erboste: Die Erlöse würden nun, statt IAK-Mitgliedern zugutezukommen, der »ungerechtfertigten Bereicherung von irgendwelchen anderen Personen«44 dienen. Um in dieser Hinsicht völlige Klarheit zu schaffen, verzichteten die Herausgeber auf die immer wieder diskutierte Idee, die Erlöse für die Gründung eines neuen Komitees zu verwenden; stattdessen sollte der Gewinn ausschließlich bedürftigen ehemaligen Auschwitz-Häftlingen zukommen. Die Arbeiten an dem Buch mussten unterbrochen werden, bis geklärt war, welche Texte gedruckt werden konnten und ob ein Buch über Auschwitz trotz des vermuteten Verlustes vieler Texte aus Osteuropa überhaupt noch sinnvoll sein würde. Unter den gegebenen Bedingungen erschien eine halbwegs umfassende Darstellung von Auschwitz aus der Perspektive der ehemaligen Häftlinge fast unmöglich, jedenfalls in den Augen Langbeins und Adlers, die befürchteten, bei einer Federführung der polnischen Mitglieder des IAK bekäme das Buch einen zu stark »tagespolitischen« und auf die polnischen Opfer zentrierten Einschlag, während ohne deren Unterstützung die Stimmen aus Osteuropa fehlen würden.

Es stellte sich jedoch bald heraus, dass längst nicht alle osteuropäischen Autoren ihre Texte zurückzogen. Es fehlten schließlich die Beiträge von Ota Kraus und Erich Kulka (ČSSR), von Oszkár Betlen (Ungarn) und einigen anderen; besonders bedauert wurde der Verlust der polnischen Erzählungen von Seweryna Szmaglewska, Tadeusz Hołuj und Tadeusz Borowski, aber nicht wenige Polen, wie Tadeusz Paczuła, Wojciech Barcz und Józef Kret, ermöglichten den neuen Herausgebern doch den Abdruck ihrer Texte. Auch der einzige Text aus der Sowjetunion, der Bericht von Aleksandr Lebedev, konnte aufgenommen werden, weil hier eine Geltendmachung von Rechten nicht befürchtet wurde. Im September 1961 wurden die Satzarbeiten wieder aufgenommen. Olga Wormser und der Direktor des Museums Auschwitz-Birkenau, Kazimierz Smoleń, schieden nun quasi zwangsläufig als Mitherausgeber aus, was Adler, Langbein und Lingens-Reiner vor allem im Fall Smoleńs sehr bedauerten.

Anfang 1962, als kein Zweifel mehr darüber bestand, dass das IAK auf juristischem Weg das geplante Buch nicht verhindern konnte, kamen aus Polen Friedenssignale, die von Langbein und Adler jedoch sehr verhalten aufgenommen wurden. Als das Buch im Herbst 1962 erschien, verzichtete das IAK darauf, es in irgendeiner Weise zu bekämpfen; und zwar – wie Langbein vermutete – »weil sie die Stelle, die sie so gerne finden wollten, nicht gefunden haben – einen einseitigen politischen Angriff von uns«.45 In der ursprünglichen Einleitung des Buches spielt nur ein kurzer Halbsatz auf den vorangegangenen Konflikt um die Herausgabe an, in dem davon die Rede ist, dass ursprünglich »auf Bitten des Internationalen Auschwitz-Komitees«46 mit der Arbeit begonnen wurde.

Struktur und Beiträge des Bandes

Die Intention der Herausgeber, endlich ein möglichst umfassendes Bild von Auschwitz aus der Perspektive der Überlebenden zu ermöglichen, wurde in ihrer Einleitung deutlich zum Ausdruck gebracht. Gleichzeitig betonten sie, dass trotz der zahlreichen Beiträge und Perspektiven, »die mannigfache soziologische Hintergründe und Überzeugungen spiegeln«,47 und obwohl Häftlinge aus vielen verschiedenen Ländern zu Wort kommen, auch in diesem Buch Lücken bleiben und »viele Teilgebiete und Probleme […] nicht einmal erwähnt werden«.48

Bemerkenswert war – auch wenn das heute kaum mehr auffallen dürfte –, wie ausführlich Auschwitz als Vernichtungslager zur Sprache kam. Das war eines der großen Anliegen der Herausgeber, die auch in den Auseinandersetzungen im IAK am dezidiertesten die Position vertreten hatten, dass dem Massenmord an den Juden in den eigenen Darstellungen ein größerer Stellenwert zukommen müsse. Viele, vor allem jüdische Überlebende, erzählen von Deportationen, von Selektionen bei der Ankunft, von der Arbeit der Sonderkommandos bei den Gaskammern und Krematorien. Für die meisten Leser dürften das völlig neue und schockierende Einblicke in die Welt der Lager gewesen sein. Noch in der Einleitung zur zweiten Auflage von 1979 schrieben die Herausgeber: »Ein jahrzehntelang peinlich eingehaltenes Tabu scheint gebrochen: Dem von der nationalsozialistischen Herrschaft mit dem Deckwort ›Endlösung der Judenfrage‹ verhüllten Problem wird endlich nicht mehr ausgewichen.«49 Kurz zuvor hatte der vierteilige US-amerikanische Fernsehfilm Holocaust in der Bundesrepublik für Furore und heftige öffentliche Debatten gesorgt.50 Bis dahin jedoch blieb das Geschehen in den Vernichtungslagern – allen NS-Prozessen und Veröffentlichungen zum Trotz – ein Thema für wenige Spezialisten.

Aber die Ermordung der Juden, den endlosen Zug der Deportierten, die durchs Lager Birkenau in Richtung Krematorien getrieben wurden, beobachteten auch die Häftlinge – von den wenigen Überlebenden der Sonderkommandos abgesehen – von außen. In einem erschütternden Textdokument, Ausschnitten aus den in Birkenau vergrabenen und wiedergefundenen Aufzeichnungen eines ermordeten Angehörigen der Sonderkommandos,51 wird die Perspektive der überlebenden KZ-Häftlinge durchbrochen; ansonsten prägt sie zwangsläufig die Berichte. Der Darstellung der Judenvernichtung in Auschwitz folgte so auch in der Einleitung schnell die Frage, wie sich die »nahezu tägliche Vernichtung von ungezählten Menschen«52 auf die Häftlinge auswirkte.

Die meisten der Autorinnen und Autoren des Sammelbandes waren jüdischer Herkunft, allerdings waren sie, gemessen an der Zusammensetzung der Lagerhäftlinge, sicher noch unterrepräsentiert. Viele Texte datierten aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, manche sogar noch aus der NS-Zeit, andere wurden auf Bitten der Herausgeber für den Sammelband verfasst oder im Ausland publizierten Büchern entnommen; die allermeisten Texte waren bis dahin für deutsche Leser nicht zugänglich. Eine der wenigen Ausnahmen stellten die beiden Beiträge von Primo Levi dar, die dem 1961 auf Deutsch erschienenen Buch Ist das ein Mensch? entstammen. Die Herausgeber verzichteten darauf, die Nationalität der Häftlinge oder die Zugehörigkeit zu den verschiedenen Häftlingskategorien zu strukturierenden Elementen des Buches zu machen. Vor allem legten sie keinen Wert darauf, die Trennung in ein »jüdisches« und ein »polnisches Auschwitz« in Titeln oder Kapitelüberschriften zu pointieren. Das impliziert allerdings, dass eine deutliche Differenzierung zwischen Konzentrations- und Vernichtungslager auch hier nicht vorgenommen wurde.

Andere Gruppen als die der politischen und jüdischen Häftlinge kamen in der Publikation kaum zu Wort, abgesehen von zwei Kriegsgefangenen und einer »Zigeunerin«. Die Erfahrungen der »kriminellen« und »asozialen« Häftlinge, der Geistlichen, Homosexuellen, Bibelforscher etc. wurden nicht repräsentiert. Das letzte Kapitel – in dem das Fehlen nichtjüdischer polnischer Autoren besonders auffällt – ist, formal ganz den Erzähltraditionen der Arbeiterbewegung folgend, dem Widerstand der Häftlinge gegen die SS gewidmet, aber eine Aufhebung der Schrecken in der Erzählung vom Aufbegehren findet sich darin kaum.

Wie von Beginn an geplant, wurden neben einigen Dokumenten von NS-Behörden auch Ausschnitte der Aufzeichnungen von Rudolf Höß und Adolf Eichmann aufgenommen, »weil sie manches verraten und bestätigen, was kein Überlebender von Auschwitz wissen konnte«.53 Die Texte von Höß waren bekannt, die Texte von Eichmann hätten, aufmerksame Leser vorausgesetzt, für Aufsehen sorgen können. Zwar waren einige Auszüge aus den umfangreichen Niederschriften, die auf Eichmanns Gespräche mit dem Journalisten und früheren SS-Mann Willem Sassen in Argentinien zurückgingen, schon in Zeitschriften abgedruckt und als Beweismaterial in den Jerusalemer Prozess eingebracht worden. Aber Langbein war – auf nicht ganz legalem Wege – an die umfangreichste und leserlichste Kopie der berüchtigten »Argentinien-Papiere« gelangt, aus der er für den Sammelband kleine Auszüge auswählte.54 Auch die Bedeutung eines weiteren Textes dürfte 1962 vielen Leserinnen und Lesern entgangen sein. Unter der Überschrift »Ein geflüchteter Häftling berichtet« wurde hier erstmals ein Ausschnitt aus dem später viel beachteten »Auschwitz-Bericht« der jüdischen Häftlinge Rudolf Vrba und Alfred Wetzler wiedergegeben. Den beiden war am 7. April 1944 die Flucht aus Auschwitz-Birkenau geglückt; sie gelangten bis in die Slowakei, wo sie ihren Bericht niederschrieben und Angehörigen der slowakischen und ungarischen Judenräte übergaben, vor allem um die ungarischen Juden vor der tödlichen Gefahr zu warnen, die eine Deportation nach Auschwitz bedeutete. Die Warnung blieb vergeblich; der Bericht wurde wenig später auch den westlichen Alliierten bekannt, geriet aber in der Nachkriegszeit in Vergessenheit.55 Langbein war mit Rudolf Vrba im Rahmen der Vorbereitungen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses in Kontakt gekommen. Einige der Berichte und Dokumente des Bandes, wie der Auschwitz-Bericht von Vrba und Wetzler und die Chronik des Quarantänelagers Birkenau von Otto Wolken, ebenso die in späteren Auflagen nicht mehr enthaltenen Fotos aus dem so genannten »Auschwitz-Album«,56 wurden wenig später im Frankfurter Auschwitz-Prozess als Beweismittel vorgelegt. Zwölf der Autorinnen und Autoren des Sammelbandes sagten dort als Zeugen aus.

Wiedergegeben wurden auch einige Artikel aus britischen und amerikanischen Zeitungen aus den Jahren 1941 bis 1944, die zeigen sollten, wie früh bereits recht detaillierte Angaben zu den Verbrechen in Auschwitz bekannt waren, »wenn auch nur viel zu selten geglaubt und selbst dann nur ungenügend beachtet«.58