cover.jpg

img1.jpg

 

Zweiter Band der Illochim-Trilogie

 

Im Bann der Gatusain

 

von Achim Mehnert

 

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Kleines Who is Who

 

 

Atlan – Lordadmiral der USO

Tristan Li – der Ex-MEINLEID-Aktivist ist süchtig nach dem Gatusain

Greta Gale – die Ex-MEINLEID-Aktivistin ist das auch. Und sehr machtgierig

Svin Heyburn – Gretas Begleiter ist dagegen nur eine profane Schnapsdrossel

Perl Haven – Heyburns Privatpilot

Korfein Walsh – dieser Begleiter Gretas ist zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort

Karim Shoutain – Kommandant der ESHNAPUR

Jorim Kilshasin – Shoutains Stellvertreter wird zur horizontalen Beute Gretas

Gustav Bartos – Beibootpilot der ESHNAPUR

Hagen Laroush – dessen Copilot

Jerome Fiklus, Terbat Pollock – Besatzungsmitglieder auf der ESHNAPUR

Cleany Havedge – Kurator des Museums der Unerklärlichen Funde

Cada Legove – Kommandant der AVIGNON

Ira Connaire und Milon Taffy – USO-Spezialisten

Nachim Emcheba – Cheflogistiker der AVIGNON

Dr. med. Cyriane Drays – Bordmedikerin auf der AVIGNON

Luella Tarra – für Funk und Ortung an Bord der AVIGNON zuständig

Cres Eppenroq – USO-Spezialist

Sashmo Task – leitet einen Trupp gestrandeter Raumfahrer

Tonkem Röndga, Ülter Lemper, Walter Kovip, Chaime Thaille, Craft Lemörf – der Trupp

Xenna Reezal – die blonde Kosmobiologin ist die einzige Frau unter den Notgelandeten

Quetec – ein Illochim, der in grauer Vorzeit auf der Erde tätig war

Simic – eine Menschenfrau aus dieser Epoche

Waheijathiu – Navigator. Das Rudimentärbewusstsein ist Atlans Mentor

Gasuijamuo – Waheijathius Widersacher und Gretas Motor der Macht

Argoth – der Sippenälteste der Kanacht wittert Unheil

Uchta, Jidside nebst Ankömmling Scholk – typische Familie auf Orgoch

Soplou – ein Kanacht

Jäger und Gejagte

 

 

Ihre Konzentration auf die fremde Umgebung ließ so schlagartig nach, wie das sexuelle Verlangen sich in ihrem Körper ausbreitete. Greta Gale verlor die Übersicht über die in der Zentrale versammelten Besatzungsmitglieder, auch über ihre eigenen Begleiter. Der Drang, sich den Raumfahrer gleich neben dem Kommandanten, den sie für den Ersten Offizier hielt, gefügig zu machen, wurde übermächtig. Es gehörte nicht viel dazu, das spürte sie instinktiv. Er reagierte auf sie ebenso wie sie auf ihn. Sie sah nur noch ihn, seinen hoch gewachsenen, schlanken Körper, sehnig und durchtrainiert.

»Greta?«

Die Stimme klang wie in weiter Ferne in ihrem Ohr, vergleichbar einem Wispern des Windes, das einen zufälligen, unbeabsichtigten Laut formte. Der Inhalt wog nicht schwerer, die Bedeutung des Wortes blieb in der Schwebe.

»Greta!«, hörte sie drängender. Eine Mahnung schwang bei der Nennung ihres Namens mit, eine Warnung, sich wieder auf die Umgebung und die Flucht aus dem Solsystem zu konzentrieren.

Greta Gale räusperte sich, erschrocken über sich selbst. In dieser Phase des Fluges mit der ESHNAPUR war höchste Aufmerksamkeit geboten. Der »Tunnelblick«, mit dem sie eben noch den Ersten Offizier bedacht hatte, klärte sich. Das Verlangen der MEINLEID-Anführerin erstarb so plötzlich, wie es gekommen war.

»Was ist los?«, blaffte sie.

»Sperr Augen und Ohren auf, dann weißt du es«, gab Svin Heyburn patzig zurück. Er war einer ihrer beiden Begleiter, mit denen sie die Austernmuschel in die ESHNAPUR gerettet hatte. In seinen braunen Augen flackerte es heftig, ihre Desorientierung schien ihn inmitten der Raumfahrer nervös zu machen. »Achte auf unsere Gastgeber, wenn du nicht willst, dass sie umkehren.«

Rings um die Eindringlinge vermischten sich Maschinengeräusche mit dem Klang von Stimmen. Die Raumfahrer in der Zentrale verständigten sich mit Anweisungen und Bestätigungen, Abfragen und kurzen Meldungen. Es war eine Sprache für sich, die verwirrte, wenn man nie zuvor an Bord eines Raumschiffs gewesen war. Gale brachte trotzdem einen Sinn hinein.

»Mach dir keine Sorgen. Ich habe die Lage unter Kontrolle.«

»Das sah eben anders aus.« Heyburn kratzte sich an der Nasenwurzel. Es war eine linkische Bewegung, die die blonde Frau ärgerte. Sie stieß verächtlich die Luft aus. Der grauhaarige Kommandant der ESHNAPUR hatte ihrem Willen nichts entgegenzusetzen.

»Wie heißt du?«, fragte sie ihn.

»Karim Shoutain.«

»Was bedeutet diese Anzeige?« In einem Holo über der Hauptkonsole pulsierte hektisch eine rote Anzeige.

»Es wurde ›kleiner Systemalarm‹ ausgelöst.«

»Da haben wir den Mist«, fluchte Korfein Walsh, Gretas zweiter Begleiter. »Das gilt uns. Die lassen uns nicht durch ihr Netz schlüpfen.«

»Wir sind schon fast durch, und so schnell sind Rhodans Häscher auch wieder nicht. Also halt die Klappe, Korf. Haltet beide die Klappe«, fauchte Gale, um sich wieder an den Kommandanten zu wenden. Sie ahnte, wem sie den Alarm zu verdanken hatten. »Wer ist dafür verantwortlich?«

Shoutain zog eine Augenbraue in die Höhe, als läge die Antwort auf der Hand. »USO-Kennung. Lordadmiral Atlan persönlich hat den Alarm ausgelöst.«

»Schon gut, keine weiteren Erklärungen. Sieh zu, dass du uns aus dem Solsystem herausbringst.«

Nacheinander betrachtete Gale die Darstellungen in den zahlreichen Holos. In Ausschnittvergrößerungen flogen die Planeten vorbei. Mit den eingeblendeten Zahlenkolonnen konnte sie nichts anfangen. Ihren Begleitern ging es nicht besser. Immerhin erkannte sie, dass die ESHNAPUR stetig beschleunigte und auf den Rand des Sonnensystems zuraste.

»Wir passieren die Plutobahn«, meldete jemand dem Kommandanten. »Offenbar hat noch keiner richtig mitbekommen, dass der Alarm uns gilt.«

Gut für uns, triumphierte Greta. Bevor die zuständigen Stellen endlich aufwachten, war das gekaperte Schiff längst in Sicherheit.

»Ortung, Kommandant. Wir werden verfolgt.«

Zu früh gefreut. Gale glaubte Genugtuung aus der Meldung zu hören. Unmöglich! In ihrer direkten Gegenwart war niemand fähig Widerstand zu leisten. Sie stieß einen wütenden Fluch aus.

Heyburn, in einem Kontursessel sitzend, hämmerte mit der Faust auf das Pult. »Rhodans verdammte Imperialisten. Wenn die uns erwischen, landen wir auf einem Strafplaneten, von dem man nie wieder weg kommt.«

»Sie erwischen uns nicht.« Gale war längst nicht so überzeugt, wie sie sich gab. Sie wandte sich an den Kommandanten. »Du wirst dafür sorgen. Treib deine Mannschaft an!«

Karim Shoutain erteilte eine Reihe von Anweisungen. »Der Sperrkordon der Wachstationen liegt hinter uns. Ein einziges Schiff verfolgt uns, aber mit einigem Abstand.«

»Kannst du es abschütteln?«, drängte Heyburn. Er rutschte unruhig in seinem Kontursessel hin und her, eine kleine Flasche mit giftgrün schimmerndem Vurguzz in der Hand, die er aus einer Jackentasche gezogen hatte. Greta missbilligte sein Gebaren, das er von Simmi Orloff abgeschaut hatte. Zu Simmi hatte es gepasst, bei Svin wirkte es deplaziert. Sie ließ ihn dennoch gewähren.

»Wir wechseln gleich in den Linearraum.«

»Dort verlieren uns die Verfolger?«

»Vielleicht … ich weiß es nicht«, räumte Shoutain ein und fügte, wie als Entschuldigung, hinzu: »Wir stoßen durch die Oortsche Wolke.«

In einem Holo war das Raumschiff der Verfolger zu sehen. Gale presste die Lippen zusammen. Die überstürzte Flucht von der Erde war nicht geplant gewesen, doch es gab keine Alternative. Nach dem Aufstand in Kunshun wäre genau das eingetreten, was Simmi befürchtet hatte. Die Sicherheitsorgane hätten sämtliche Anführer von MEINLEID inhaftiert. Sie blickte auf, als der Interkom anschlug.

»Wer ruft uns?«

»Der Maschinenraum fragt an, was der Unsinn soll, die Aggregate so hochzufahren. Die Checks sind noch immer nicht abgeschlossen. Außerdem sind zwei Ingenieure auf Terra zurückgeblieben«, sagte Shoutain.

»Ich denke, deine Besatzung verraut dir blindlings?«, fuhr Gale ihn an. »In dem Fall würde niemand dumme Fragen stellen.«

»Wir werden gerufen«, meldete der Funkoffizier. »Es ist Lordadmiral Atlan an Bord der AVIGNON.«

Greta entging nicht die unterbewusste Reaktion der Raumfahrer. Obwohl sie die Männer unter Kontrolle hatte, sträubten sie sich bei der Erwähnung des USO-Chefs. Sie hatten das politisch-militärische System so verinnerlicht, dass sie niemals gewagt hätten, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Die blonde Frau verachtete sie dafür.

»Ignorieren!«

»Wann treten wir endlich in den Linearraum ein?«, bellte Heyburn und nippte an dem Vurguzz, dessen Aroma sich in der Zentrale ausbreitete.

»In wenigen Sekunden«, antwortete Shoutain lakonisch.

»Der Kerl hält uns hin.«

Gale schüttelte den Kopf. Der Kommandant gehorchte ihr aufs Wort. Mit den Raumfahrern in anderen Bereichen der ESHNAPUR sah das anders aus. Sie besaßen weiterhin ihren freien Willen und begannen sich Fragen zu stellen. Sie musste jede Gegenwehr bereits im Keim ersticken.

Wenn nur der Arkonide endlich aufgab!

»Linearetappe eingeleitet«, verkündete Shoutain tonlos. »Wir springen in den Halbraum … jetzt.«

Heyburn schnaufte zufrieden. Greta Gale hingegen ahnte, dass sie noch lange nicht gerettet waren.

 

Am 20. April 3103 hatten wir die Erde verlassen. Ich betrachtete die Anzeigen in den Ortungsholos. Sie fielen zu meiner Zufriedenheit aus. Der ESHNAPUR war zwar die Flucht aus dem Solsystem gelungen, doch sie hatte uns nicht abgeschüttelt. Dank des Halbraumspürers verlor die AVIGNON auch im Linearraum nicht den Anschluss. Es herrschte eine annähernde Pattsituation: Die Flüchtenden konnten den Abstand zwischen uns nicht vergrößern.

»Sehr unbefriedigend«, murmelte Cada Legove. Der Kommandant hatte die Arme vor der Brust verschränkt, sah aus wie in Stein gemeißelt. Kein Muskel regte sich in seinem Gesicht, nur der Blick aus seinen wachsamen Augen wanderte unermüdlich von einem Holo zum anderen.

»Unbefriedigend?«

»Auf diese Weise vermessen wir die Milchstraße neu.«

»Sie können nicht auf Dauer weiter fliehen«, antwortete ich. »Irgendwann müssen sie einen Etappenstopp zur Orientierung einlegen. Dann kriegen wir sie.«

»Die Waffensysteme beider Schiffe sind etwa gleich stark.«

Ich nickte. »Es kommt also auf die Kampferfahrung an.« Da war ich mit meinen als galaktische Weinhändler verkleideten USO-Spezialisten eindeutig im Vorteil. Ich war nicht auf eine bewaffnete Auseinandersetzung aus. Die Besatzung der ESHNAPUR war gegen ihren Willen zu Fluchthelfern geworden. Ich hoffte, dass Gale und Konsorten nicht so verrückt waren, die unterworfenen Raumfahrer in einen Kampf gegen uns zu treiben. Die Skrupellosigkeit zu einem solchen Schritt besaßen die Entführer zweifellos.

»Wieso haben Sie auf Geleitschutz durch die Solare Flotte verzichtet?«

Schwang in Legoves Frage ein Vorwurf mit? Ich hing dem Klang der Worte nach und überlegte, ob er Verdacht geschöpft hatte. Er löste seinen Blick von den Holos, sah mich unverwandt an und verzog keine Miene, was seine Frage nicht unverfänglicher machte. Wenn der Kommandant der AVIGNON erkannte, wie es um mich stand, brach er die Verfolgung womöglich kurzerhand ab, mir unterstellter USO-Spezialist hin oder her. Nicht einmal ich konnte ihn davon abhalten, wenn er mir meine Sucht nachwies.

Legoves Frage ist vollkommen berechtigt, du Narr. Selbst für den streitbaren Extrasinn war der lautlose Tonfall ungewöhnlich scharf. Niemand an Bord ahnt, wie es um dich steht, vielleicht abgesehen von Cyriane Drays.

Meine Vorsicht ist nicht minder berechtigt, konterte ich den Vorwurf.

Bist du sicher? Oder zeigen sich bei dir bereits Folgeschäden durch den Einfluss des Artefakts, dem du dich aussetzt? Deine Überlegung erinnert mich an beginnenden Verfolgungswahn.

Ich hielt die Befürchtung meines stummen Dialogpartners für Unsinn. So messerscharf seine Schlussfolgerungen zumeist waren, manchmal schoss er mit seinen Mahnungen übers Ziel hinaus. Ich beging nicht den Fehler, meine Sucht zu leugnen. Stillschweigend akzeptierte ich sie, denn sie beeinflusste weder mein Denken, noch meine Fähigkeit, logisch und zielgerichtet zu entscheiden.

»Wir wissen nicht, wohin die Reise geht«, erklärte ich dem Kommandanten, bevor er sich zu fragen begann, weshalb ich so lange schwieg. »Ich will vermeiden, dass andere Machtblöcke in der Milchstraße auf uns aufmerksam werden, weil wir mit einer kleinen Flotte unterwegs sind.«

»Sie befürchten Schwierigkeiten, Chef?«

Ich lächelte, trotz der Lage amüsiert von der Anrede. »Unsere Tarnung ist überflüssig. Inzwischen werden unsere Freunde wissen, wer ihnen auf den Fersen ist. Sie können Ihre Masken ablegen.«

»Sie auch, Lordadmiral«, warf Cleany Havedge ein. Der weißbärtige, fast kahle Museumskurator hockte in einem Sessel und verfolgte die Vorgänge um sich herum mit größtem Interesse. Er genoss es, durch Zufall in ein solches Abenteuer geraten zu sein, denn um nichts anderes handelte es sich in seinen Augen bei unserer Verfolgungsjagd.

»Sehe ich so schlimm aus?«

»Schlimmer«, versicherte er.

Ich ging die Kontrollanzeigen durch, las die zahlreichen Werte ab und erhielt die Bestätigung, dass die ESHNAPUR in der Librationszone nicht davonzog. Ihr Überlichtfaktor von 60 Millionen entsprach dem meines USO-Kreuzers.

Die Informationen, die wir von der Raumhafenüberwachung des Atlan Space Ports erhalten hatten, deckten sich mit unseren eigenen Ortungen. Bei dem Schiff, mit dem Greta Gale die Flucht gelungen war, handelte es sich um einen ausrangierten 100-Meter-Kreuzer der STAATEN-Klasse mit geschätzten hundertfünfzig Besatzungsmitgliedern, von denen ein Teil aufgrund des überstürzten Starts auf der Erde geblieben war. Er besaß eine schwere Transformkanone in der oberen Polkuppel, die noch hätte entfernt werden sollen, dazu Desintegratorgeschütze und Raumtorpedos, war für ein ziviles Fahrzeug also beachtlich bestückt. Ungewöhnlich war das bei der galaktopolitischen Lage nicht. Es gab zahlreiche vom Solaren Imperium abgesplitterte Sternenreiche, die eigene Ziele verfolgten, und Diadochenstaaten, die sich niemandem verantwortlich fühlten. Die weniger stark frequentierten Handelswege konnten ein heißes Pflaster sein, wenn man nicht in der Lage war, sich zu verteidigen. Schon mancher Handelskapitän hatte seine gesamte Fracht verloren. Nicht einmal die USO mit ihren vielfältigen logistischen und militärischen Möglichkeiten konnte überall zugleich sein. Die Milchstraße war ein Pulverfass.

»Wie verfahren wir, wenn wir die ESHNAPUR einholen?«, riss mich Cada Legove aus meinen Gedanken.

»Wir bringen sie auf, was sonst?«

»Ich glaube nicht, dass die Aufrührer sich ergeben. Das haben sie auf der Erde bewiesen. Wir werden nicht um einen Kampf herumkommen.«

Er sprach aus, was auch ich befürchtete. Von den MEINLEID-Anführern Vernunft oder gar Einsicht zu erwarten, wäre töricht gewesen.

»Greta Gale hat wahrscheinlich nur die Zentrale beeinflusst. Sie kann nicht die gesamte Besatzung ständig unter Kontrolle behalten. Wenn sie einen Fehler begeht, schlagen wir zu, ohne die eigentliche Mannschaft zu gefährden. Wenn nicht, ist es umso wichtiger, dass wir sie nicht verlieren. Denn sobald sie irgendwo landet, haben wir sie.«

Wunschdenken, versetzte der Extrasinn. Auf Terra hat Greta Gale viel größere Menschenmengen unter ihre Kontrolle bekommen. Wem willst du etwas vormachen? Deinen Spezialisten oder dir selbst?

Ich ignorierte den Logiksektor, erhob mich und nickte Legove zu. »Ich gehe in meine Kabine und entledige mich meiner Maske. Rufen Sie mich bei jeder Lageänderung.«

Der Kommandant bestätigte, und ich verließ die Zentrale. Mir war unwohl in meiner Haut. Ausflüchte hatten mir noch nie behagt. Wenn ich eine unangenehme Wahrheit vorzutragen hatte, tat ich es. Der aktuelle Fall unterschied sich beträchtlich von anderen, denn er war zu einer persönlichen Sache geworden, seit ich zum ersten Mal in die Muschel gestiegen war und mich ihrem Einfluss ausgesetzt hatte. Wen ging das etwas an? Meine Sucht hatte nicht im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Je weniger Menschen in diese Angelegenheit involviert waren, desto geringer war die Gefahr, dass etwas davon aufgedeckt wurde.

In meiner Kabine betrachtete ich mein Abbild im Spiegel. Die Maskenbildner meiner Organisation hatten gute Arbeit geleistet. Ich sah blauschwarzes, zu einem Nackenzopf geflochtenes Haar und dunkelbraune Haut. Kein Mensch würde Lordadmiral Atlan hinter dem Gesicht mit den gezackten Narben und der goldbraunen Iris vermuten. Auch mir war das Antlitz fremd, ohne mich jedoch zu verwirren. In meinem über elf Jahrtausende währenden Leben waren Masken durch sämtliche Epochen der Menschheitsgeschichte hindurch zu meinen Begleitern geworden.

Ich streifte die Talmi-Ringe von den Fingern und reinigte wie mechanisch die schwarzen Ränder unter meinen Fingernägeln, löste den Zopf und wusch meine Haare aus. Auch die Spezialmittel, um die Färbung meiner Haut rückgängig zu machen, hatte ich in meiner Kabine. Ich benutzte sie und führte die Prozedur durch. Meine Gedanken rankten bei der gesamten Rückverwandlung um das Artefakt im Lagerraum der AVIGNON, um den Sarkophag, die Austernmuschel oder wie immer man das uralte Relikt nennen wollte, das im Schlamm tief unter Kunshun verborgen gelegen hatte. Ich empfand das Verlangen, mich der Muschel anzuvertrauen, und horchte in mich hinein.

Da war keinerlei Beeinträchtigung meiner Fähigkeiten. Warum sollte ich mir nicht meine benötigte Dosis abholen? Weil es aufgefallen wäre. Ich widerstand dem Drang, beendete meine Rückverwandlung in Atlan da Gonozal und kehrte, als meine Augen wieder ihre natürliche rötliche Farbe hatten, in die Zentrale zurück.

 

Die ESHNAPUR raste durch den Linearraum, fort vom Solsystem, ohne Zielangabe. Greta Gale sah sich hektisch in der Zentrale um. Die Instrumentenanzeigen besaßen ein Eigenleben, das ihr missfiel. Die Kontrollleuchten blinkten, einmal rot, dann wieder grün, erwachten schlagartig zum Leben oder erstarben ebenso rasch wieder. Die Frau wünschte, sie hätte den Sinn jeder einzelnen optischen Botschaft erkennen können, ohne sich bei den Raumfahrern darüber informieren zu müssen.

Sie stemmte die Arme auf die Lehnen des Kontursessels, wuchtete sich in die Höhe und ließ sich gleich wieder in das ihre Körperform nachbildende Polster fallen. Mehrere Stunden waren verstrichen, und Atlan gab nicht auf.

Wozu folgte ihr der Arkonide? Sie hatte ihm persönlich nichts getan. Im Grunde war genau das eingetreten, was Homer G. Adams stets forderte: Kunshun zu verlassen, mehr noch, die Erde. Was also trieb Atlan an? Sollte er doch froh sein, dass die Rhodan-Administration ihr Ziel erreicht hatte, schließlich konnte sie endlich ganz Kunshun platt machen. Ohne ihre Anführer würde der Widerstand von MEINLEID gegen die Abrissmaschinen nicht mehr lange andauern.

»Alles in Ordnung, Greta?«

Greta brauchte eine Weile, um zu erkennen, dass Heyburn ihr die Frage gestellt hatte. Es war das zweite Mal innerhalb kurzer Zeit, dass es ihr Mühe bereitete, sich aus ihren Gedanken zu lösen und sich der Wirklichkeit zu stellen.

Svin kauerte keine zwei Meter von ihr entfernt. Sein Blick war glasig. Zu seinen Füßen lag die Vurguzzflasche. Sie war leer. Er grinste übers ganze Gesicht.

Gale taxierte den Kommandanten. »Wie lange dauert es, bis wir unsere Verfolger endlich abhängen? Dieser Arkonide in meinem Rücken gefällt mir nicht. Ich erwarte, dass du dich ein bisschen mehr anstrengst.«

»Die Maschinen der AVIGNON sind unseren ebenbürtig. Wir können ihnen nicht entkommen«, verteidigte sich Karim Shoutain.

»Du versuchst es gar nicht.« Heyburn winkte verächtlich ab. »Und solange wir nicht schneller fliegen, geben die nicht auf. Schießen wir die Kerle ab, dann ist Ruhe, Greta.«

Am liebsten hätte Gale dem Drängen nachgegeben, doch sie war nicht so dumm, ein solches Risiko einzugehen. Atlans Truppe bestand zweifellos aus erfahrenen Kämpfern, wohingegen die ESHNAPUR zivile Raumfahrer beherbergte. Die konnten in einem offenen Kampf nur unterliegen.

»Kursänderung!«, stieß sie aus.

»Welchen Kurs sollen wir einschlagen?«, fragte Shoutain unschlüssig.

»Völlig egal. Ich will einfach, dass du unseren gegenwärtigen Kurs änderst.«

Der Kommandant blickte sie verwirrt an, dann instruierte er den Piloten. »Auch wenn wir quasi ›auf Sicht‹ fliegen, ist es extrem schwierig zu bestimmen, wohin wir jetzt fliegen«, beschwerte er sich. »Um das festzustellen, müssen wir den Linearraum verlassen.«

»Später.« Greta wollte eine Orientierungsphase so lange wie möglich hinauszögern. Vielleicht verloren die Verfolger sie gegen jede Erwartung aus den Augen, vielleicht versagten deren Systeme, vielleicht geschah irgendetwas, von dem sie keine Ahnung hatte, dass es bei einem Raumflug überhaupt geschehen konnte.

»Ach übrigens, eben haben wieder zwei von der Besatzung angerufen«, erinnerte Korfein Walsh. »Die fangen langsam an zu nerven. Sie wollen wissen, was hier los ist. Fehlt nur noch, dass die uns nach und nach auf die Pelle rücken.«

Gale stieß eine Verwünschung aus. »Rufe deine Leute«, wies sie Shoutain an. »Sorge dafür, dass sie sich ruhig verhalten.«

»Es wäre einfacher, wir würden sie alle hierher bestellen. Sind sie erst hier, bekommst du sie auf einen Schlag unter Kontrolle«, schlug Heyburn vor.

»In die enge Zentrale? Wie stellst du dir das vor? Hier finden höchstens zehn weitere Leute Platz.«

»Dann eben in Gruppen. Oder wir rufen sie in einem Lagerraum zu einer Versammlung zusammen. Ich bin sicher, unser guter Kommandant kriegt das hin.«

Gale schreckte vor einem solchen Schritt zurück. Eine düstere Ahnung hatte sich auf ihren Geist gelegt. Sie sah eine Gestalt mit unkenntlichem Gesicht. Jemand verfolgte sie, war ihr bereits viel näher als Atlan. Er saß ihr im Nacken und wartete auf den richtigen Moment, um gegen sie loszuschlagen. Wer war er, und welches Ziel verfolgte er? Gehörte er der Mannschaft an, war gar in der Zentrale anwesend?

Gehetzt sah die blonde Frau sich um. Sie fuhr in die Höhe und schüttelte den Kopf. Einem inneren Drang folgend, ging sie zum Ausgang. »Wir fliegen weiter. Achte darauf, dass alles klappt, Svin.«

»Worauf du dich verlassen kannst.« Heyburn runzelte die Stirn. »Was hast du vor?«

»Ich sehe mich im Schiff um.«

»Sollen Korf oder ich dich begleiten?«

»Wie willst du dann aufpassen, dass in der Zentrale alle spuren?«

Heyburn verzog das Gesicht. »Du weißt, wir tun alles so, wie du es willst. Aber wie bleiben wir in Verbindung?«

»Stell nicht so viele Fragen«, tat Greta den berechtigten Einwand ab. »Mach einfach, was ich dir auftrage.«

Sie nahm sein Nicken kaum wahr, als sich das Schott vor ihr öffnete. Ihre Gedanken kreisten um ein anderes Thema. Sie musste herausfinden, wer es auf sie abgesehen hatte. Sie stürmte aus der Zentrale und atmete schwer. Erst nachdem sich das Schott hinter ihr geschlossen hatte, registrierte sie ihren rasenden Herzschlag. Sie verharrte einige Sekunden, ohne dass sich ihr Zustand besserte. Ein Impuls trieb sie an, der sich nicht beherrschen ließ. Sie lief durch ein paar Schiffskorridore, ohne ein Ziel vor Augen zu haben. Ungewohnte Geräusche drangen aus dem Inneren der Kugelzelle an ihre Ohren, und sie hatte das trügerische Gefühl, dass der Boden unter ihren Füßen vibrierte.

Flucht nach vorn.

Die Enge des Korridors war bedrückend, erinnerte Greta an den Tunnelblick, an dem sie in der Zentrale gelitten hatte. Hier kam er nicht aus ihr, sondern stürzte von außen auf sie ein, drohte sie geradezu zu verschlingen. Sie drehte den Kopf, sah sich um, weil sie ahnte, verfolgt zu werden. Dort lag aber nur ein verlassener Korridor, sonst nichts.

Um ein Haar wäre sie mit drei Personen, zwei Männern und einer Frau in schlichten grauen Bordkombinationen, zusammengestoßen. Es gelang ihr eben noch inne zu halten und sich mit dem Rücken gegen eine Wand zu drücken.

»Wer seid ihr?«

»Wer bist du?«, gab die Frau die Frage zurück. Greta erntete verwunderte Blicke. »Ich habe dich noch nie an Bord gesehen.«

»Ich dich auch nicht«, pflichtete einer der Männer bei. Der Dritte im Bund nickte, sie argwöhnisch musternd.

»Habt ihr nicht gelernt, dass man eine Frage nicht mit einer Gegenfrage beantwortet?« Gale kniff die Augen zusammen. Die Raumfahrer waren wie aus dem Nichts gekommen, ausgerechnet an der Stelle, wo sie sich gerade aufhielt. Man konnte nicht jedes Ereignis im Leben als Zufall abtun. Manchmal steckte Berechnung dahinter, ein Plan mit düsterem Hintergrund. Jetzt kam hinzu, dass die Personen eine Antwort verweigerten. »Was habt ihr hier zu suchen?«

»Wir haben Freiwache und sind auf dem Weg zur Kantine, um etwas zu essen.«

Das klang einleuchtend. Gales Gesichtsausdruck entspannte sich. Diese Leute bedeuteten keine Bedrohung für sie, waren schon gar keine unbekannten Verfolger, sondern einfache Besatzungsmitglieder. Sie fragte sich, was mit ihr los war, dabei wusste sie es ganz genau. »Es ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Ihr kennt mich nicht, aber ich gehöre seit dem Start zur Mannschaft. Ich berate den Kommandanten. Macht euch keine Gedanken. Erledigt das, was ihr tun wolltet. Anschließend kehrt in eure Quartiere zurück und bleibt dort, bis ihr weitere Instruktionen erhaltet.«

Es gab keine Gegenfragen, nicht einmal ein Murren. Die Raumfahrer taten, wie ihnen geheißen. Greta hatte nichts anderes erwartet. Die Bestätigung sorgte dafür, dass sich ihr rasender Herzschlag wieder beruhigte. Sie sah der Frau und den Männern nach, bis sie hinter der Krümmung des Korridors verschwanden, und schalt sich eine Närrin. Sie kannte sich in der ESHNAPUR nicht aus. Besonders wenn man wie sie keine Ahnung vom inneren Aufbau eines Raumschiffs hatte, bestand die Gefahr, sich zu verirren.

Sie kehrte um, bis sie die Zentrale fast wieder erreicht hatte und auf einen Gang stieß, den sie kannte. Er führte unter Benutzung eines Antigravschachtes zum Hangar. Gale folgte seinem Verlauf, wobei sie sich immer wieder umsah. Die Ahnung von wachsamen Blicken, die jeden ihrer Schritte verfolgten, blieb. Hingegen war erstaunlich, dass sie keinen weiteren Besatzungsmitgliedern begegnete. Ein Raumschiff hatte sie sich stets berstend vor Leben vorgestellt, mit Crewangehörigen, die alle paar Meter ihren Aufgaben nachgingen. Die Realität sah anders aus. In einem solchen Schiff verloren sich die Menschen, beziehungsweise sie waren in bestimmten Bereichen wie der Zentrale massiert, wenn sie sich nicht in ihren Kabinen aufhielten. Wie mochte das erst an Bord der stählernen Riesen von Gebirgsgröße aussehen, die Greta in Berichten gesehen hatte?

Es war gleichgültig. Als sie den Hangar betrat, dachte sie nicht weiter darüber nach. Der Gleiter, mit dem die Flucht aus Kunshun gelungen war, war zwischen zwei Shifts und einem weiteren Lastengleiter weltraumfest verankert worden. Zwei Männer hantierten dazwischen, die aufsahen, als die Frau eintrat. Greta erinnerte sich an einen von ihnen. Er war bei ihrem Eintreffen an Bord ebenfalls anwesend gewesen.

»Wie lauten eure Namen?«, wollte sie wissen.

»Jerome Fiklus und Terbat Pollock, junge Frau.«

»Ist mein Befehl ausgeführt worden?«

»Wir haben den Kasten wie gewünscht in eine Kabine gebracht«, antwortete Fiklus.

Der zweite Mann schaute verständnislos hin und her. »Wovon ist die Rede? Wer sind Sie überhaupt? Seit wann nehmen wir Passagiere an Bord, Terbat? Oder verweigerst du mir darauf genauso die Antwort wie auf die Frage nach unserem überstürzten Aufbruch von der Erde?«

»Ich gehöre neuerdings zur Besatzung. Du brauchst dir keine Gedanken darüber zu machen.« Auch diesmal verfehlten Gales Worte ihre Wirkung nicht. Pollocks Neugier erlosch augenblicklich. »Ihr begleitet mich. Führt mich zu meiner Kabine.«

Es wurde Zeit, dass Greta neue Kraft tankte.

 

»Wieder ganz der Alte, Sir«, empfing mich Cada Legove, als ich die Zentrale betrat. »Wenn ich ehrlich sein darf, gefallen Sie mir so viel besser.«

Es ging eben nichts über das klassische Antlitz des alten arkonidischen Adelsgeschlechts der da Gonozal. Ich lächelte, wurde aber gleich wieder ernst. »Wie sieht die Lage aus, Spezialist?«

»Unverändert. Die ESHNAPUR fliegt mit Höchstwerten. Der Pilot hat einmal den Kurs gewechselt, meiner Meinung nach völlig sinnlos. Es lässt sich kein Ziel hochrechnen.«

Kein erfahrener Raumfahrer führte ein solches Manöver durch. Ich vermutete, Greta Gale hatte den Kommandanten dazu angewiesen, weil sie verzweifelt versuchte, uns abzuschütteln. Selbst wenn sie die gesamte Besatzung unter ihre Kontrolle gebracht hatte, würde sie uns auf diese Weise nicht loswerden. »Halten wir den Anschluss?«

»Worauf Sie sich verlassen können, Sir.«

»Wie es aussieht, wird das ein längerer Flug.«

Ich sah zu Cleany Havedge hinüber. Seine anfängliche Euphorie schien verflogen. Sein Körper ruhte tief in dem Kontursessel. Seine Hände umfassten die Knie, die Zeigefinger vollführten darauf einen unermüdlichen Trommelwirbel.

»Wenn Sie sich eine kurze Jagd mit einem triumphalen Erfolg vorgestellt haben, muss ich Sie enttäuschen.«

Er winkte ab. »Ich beklage mich nicht. Das alles ist sehr aufregend. Es ist nur so, dass mir ein solcher Raumflug unwirklich vorkommt.« Er deutete auf einen Holoschirm. »Man sieht zwar etwas da draußen. Es ist aber nicht so, wie ich es kenne. Keine gewohnten Sterne, keine überschaubare Galaxis. Gar kein Universum, wie es mir visuell vertraut ist.«

»Da sind doch die Sterne. Wir fliegen auf Sicht.«

»Aber anders. Ungewohnt.« Havedge rang mit den Händen. Er vermochte die ungewohnten Eindrücke nicht in Worte zu fassen. In seinem Museum war alles an seinem festen, angestammten Platz. Dort hatte er jedes Objekt unzählige Male gesehen. Nichts veränderte sich. Nichts sah jemals anders aus als am Tag zuvor. In den Weiten des Sternenozeans besaß die Kontinuität keine Gültigkeit.

»Glauben Sie mir, das Universum ist noch genauso da wie vor unserem Start«, tröstete ich ihn.

»Das Universum wird viel schöner aussehen, wenn Greta gebüßt hat«, drang eine andere Stimme an mein Ohr. Sie stammte von Tristan Li, dem jungen Mann, der zu MEINLEID gehört hatte, bis er, getrieben von den verderblichen Eskapaden Gales und Orloffs, zu uns übergelaufen war. Die beiden waren, direkt oder indirekt, für den Tod seiner großen Liebe Olgej Zara verantwortlich. An Orloff, ebenfalls nicht mehr am Leben, konnte er sich nicht rächen. Blieb Greta Gale.

Der Junge tat mir leid. Das hatte mich nicht daran gehindert, ihn trotz seiner gesundheitlichen Probleme für meine Zwecke einzuspannen, indem ich ihn dazu gebracht hatte, all seine Energie gegen die beiden MEINLEID-Führer zu richten. Ich hielt nicht viel davon, über Leichen zu gehen, um ein Ziel zu erreichen, doch manchmal ließ es sich nicht vermeiden, gewisse Risiken einzugehen. Risiken nicht nur für sich selbst, sondern auch für andere, wollte man schlimmeres Unheil abwenden.

Du hast Lis Tod in Kauf genommen, wisperte der Extrasinn. Oder zumindest dass er ausbrennt. Akzeptier das als Tatsache. Es steht dir schlecht zu Gesicht, nach Rechtfertigungen zu suchen.

Das tue ich nicht. Mir waren sowohl meine Handlungsweise als auch deren mögliche Folgen klar. Zuweilen geht es nicht anders. Als USO-Chef bin ich mehr Pragmatiker als Friedensmoralist.

Schön, dass du das einsiehst.

Mein Logiksektor schien zufrieden, denn er schwieg. Was mich wieder zu Tristan Li brachte. Ich hatte ihm keine Rache versprochen, sie ihm aber auch nicht ausdrücklich verweigert.

»Wie geht es dir?«

»Gut.« Das einzelne Wort klang wie Hohn in Anbetracht des Tonfalls, mit dem Tristan es aussprach. Sein dunkelbrauner Zopf, der fast bis zum Hosengürtel reichte, hüpfte, als der Junge sich in meine Richtung drehte. Das Gesicht des hoch gewachsenen, knapp zwei Meter großen Asiatennachkommen war eingefallen, die pigmentierte Haut wirkte fahl im künstlichen Licht. Er sah schauderhaft aus, dabei war er erst vor wenigen Stunden in der Muschel gewesen, um sich zu regenerieren.

Schmerzlich kam mir mein eigener Drang ins Bewusstsein, genau diesen Schritt zu tun. Mein Geist schrie förmlich nach dem abgeschotteten Nirwana in dem Artefakt.

»Der junge Mann gehört auf die Krankenstation«, fand Havedge.

»Jedenfalls nicht in die Zentrale der AVIGNON«, unterstützte ihn Legove. »Bei allem Respekt, Sir, für die Gesundheit der Anwesenden bin ich verantwortlich, auch wenn es sich um einen Passagier handelt.«

Tristan Li heulte schrill auf, beinahe wie ein kleiner Hund, der getreten wird. Er befand sich in einer depressiven Phase. Die Stimmungsschwankungen wurden größer, je länger die letzte Prozedur zurücklag. Unübersehbar war sie für Tristan wieder fällig.

»Können Sie gehen, oder brauchen wir eine Antigravliege?«, fragte ich.

Lis schiefes Grinsen verzerrte die Hautpigmentierungen, verlieh ihnen ein unheimliches Eigenleben. Sein Blick schien durch mich hindurchzugehen. »Klar kann ich.«

Da mich seine Versicherung nicht überzeugte, rief ich die Bordmedikerin Cyriane Drays und bat sie, Tristan abzuholen. Wenige Minuten später traf die dunkelhäutige Spezialistin mit dem schmalen Gesicht und den Mandelaugen in der Zentrale ein. Auf den Jochbeinen trug sie mit winzigen Edelsteinsplittern versetzte Schmucknarben, die rötlich funkelten und perfekt mit ihrem kurzen, blauschwarzen Haar kontrastierten. Wie stets war ihr Anblick eine Wohltat für die leidgeplagten Augen eines zwölftausendjährigen Arkoniden.

»Ich dachte mir schon, dass jemand in die Auster steigen muss«, sagte sie und bedachte mich mit einem prüfenden Blick. Ich fühlte mich ertappt wie ein Schuljunge, der einen Holovortrag umprogrammiert hatte. »Ich würde das Gerät gern in die Medoabteilung bringen lassen.«

»Um es zu untersuchen? Dafür sind Sie wohl kaum die Richtige, Doktor.«

»Um den jungen Mann darin besser überwachen zu können.«

»Sie wissen, dass Sie ihn nicht überwachen können, wenn er in der Muschel liegt«, wich ich aus. Mir war nicht daran gelegen, dass der Glücksspender aus dem Lagerraum in die Medoabteilung gebracht wurde. »Nach Lis Regeneration können Sie ihn trotzdem in Ihrem kleinen Reich untersuchen.«

»Mir wäre es lieber …«

»Ich werde darüber nachdenken«, unterbrach ich sie. »Sie dürfen gehen.« Ich ignorierte den empörten Ausdruck in Drays’ Augen und wandte mich an Luella Tarra. »Weiterhin gleichbleibender Abstand zur ESHNAPUR?«

»Positiv, Sir.«

»Funkverbindung herstellen.« Ich versprach mir nicht viel von dem Versuch, Greta Gale umzustimmen. Andererseits war ich den sinnlosen Blindflug durch den Linearraum leid.

Milon Taffys Finger flogen über die Bedienungselemente der Funkanlage. Mehrmals rief er die ESHNAPUR, indem er sich in meinem Namen meldete. Nach dem fünften Kontaktaufnahmeversuch gab er seine Bemühungen auf. »Entweder die empfangen uns nicht, oder sie haben die Ohren auf Durchzug gestellt.«

»Die empfangen uns«, behauptete ich. Leider verhielt sich die MEINLEID-Aufwieglerin so störrisch wie erwartet. Ihr Schweigen nützte ihr gar nichts. Auf keinen Fall würde ich sie entkommen lassen. Mit Hilfe der größeren Muschel konnte sie auf einer beliebigen Welt in der Milchstraße neu anfangen, indem sie sich zur Herrscherin aufschwang und sich die einheimische Bevölkerung untertan machte.

»Darf ich die Ärztin und den jungen Mann begleiten?«, fragte Havedge.

»Wenn Dr. Drays keine Einwände hat, von mir aus.«

»Habe ich nicht«, zeigte sich die Medikerin einverstanden. »Helfen Sie mir, den jungen Mann zu stützen, Kurator.«

Gemeinsam mit Havedge und Li verließ sie die Zentrale, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie hatte miterlebt, wie ich in den Sarkophag gestiegen war, hatte zuvor sogar vehement dagegen protestiert. Mein Sträuben, die Muschel in die Medoabteilung umlagern zu lassen, machte sie hoffentlich nicht zusätzlich misstrauisch, was mein Befinden anging. Ein suchtkranker Lordadmiral der USO wäre die Lachnummer der ganzen Galaxis.

»Die ESHNAPUR verlässt den Linearraum!«

Mit drei Schritten stand ich neben Luella Tarra an der Ortungszentrale. Es gab keinen Zweifel. Das verfolgte Schiff fiel in den Normalraum zurück. Was hatte die Aufrührerin vor? Gab es vielleicht einen technischen Defekt an Bord, oder stand – ich wagte mir die Möglichkeit kaum vorzustellen – ein Besatzungsmitglied nicht unter ihrer Kontrolle und spielte uns in die Hände?

»Linearetappe abbrechen!«, ordnete ich an.

Meine Spezialisten reagierten mit der gewohnten Souveränität. Das vom Kalup-Konverter erzeugte Kompensationsfeld erlosch. Die AVIGNON trat aus der Librationszone. In wenigen Minuten würden wir mehr wissen.

 

Das Quartier war groß und nach Greta Gales Geschmack eingerichtet. Für einen Moment bedauerte sie, dass Simmi nicht an ihrer Seite war, um gemeinsam mit ihr irgendwo in der Abgeschiedenheit der Galaxis ein neues Reich nach ihren eigenen Vorstellungen aufzubauen. Dann verblasste die Erinnerung an ihn. Sie war ihm nahe gewesen, für eine lange Zeit, doch letztendlich kamen und gingen die Männer. Mit ihren sechsundzwanzig Lebensjahren war sie noch jung und würde sich einen neuen Partner nehmen, sobald sie es wollte. Sie konnte jeden Mann an Bord haben, und das nicht nur aufgrund ihrer suggestiven Fähigkeiten, wenn sie aus der Auster stieg. Ihre Anziehungskraft auf das andere Geschlecht war stets groß genug gewesen. Sie dachte an den Ersten Offizier. Ein knackiger Bursche. Vielleicht würde sie ihn vernaschen, wenn der verdammte Arkonide endlich nicht mehr hinter ihr her war.

Sie beobachtete, wie die beiden Raumfahrer aus dem Hangar den Kasten öffneten, in dem das Artefakt steckte. Sie fassten die knapp dreißig Kilogramm wiegende Muschel an den Enden und hoben sie an.

»Seid vorsichtig!«, fauchte Greta. Das Gerät war ihre Garantie für ein Leben, wie sie es sich vorstellte. Es durfte keinen Schaden erleiden. Die technischen Anlagen waren so fremdartig, dass vermutlich nicht einmal der beste Techniker der Menschheit in der Lage wäre, sie zu reparieren, sollte es zu einer Störung kommen.

»Keine Sorge«, sagte Jerome Fiklus.

»Das Ding ist so schwer nun auch wieder nicht«, ergänzte Terbat Pollock. »Was ist das überhaupt?«

»Das geht euch nichts an.« Greta spürte, wie ihre Hände zitterten. Sie konnte es kaum noch erwarten, wieder eine Dosis zu erhalten.

»Dort in die Ecke?«, fragte Fiklus.

»Ja. Nun macht schon.« Diese Trottel arbeiteten für Gretas Empfinden viel zu langsam. Umständlich platzierten sie die Austernmuschel zwischen dem Tisch und einer Liege. »Nehmt die Kiste mit.«

»Was sollen wir damit machen?«

»Entsorgt sie. Dazu werdet ihr hoffentlich allein in der Lage sein.« Als die Männer mit dem Behältnis das Quartier verließen, rief Gale ihnen nach. »Ich habe es mir anders überlegt. Verstaut den Kasten sicher. Vielleicht brauche ich ihn später wieder.«

»Wird erledigt. Wir lagern ihn im Hangar ein.«

Greta verzichtete auf die Bestätigung. Sie aktivierte die positronische Türverriegelung ihres Quartiers, ging zurück zu dem Sarkophag und betrachtete die Zeichen an der metallisch grauen Oberfläche. Sie waren in gerundeten Bändern angeordnet, die der Wölbung der Muschel folgten, und mit nichts zu vergleichen, was Greta jemals auf der Erde gesehen hatte. Kaum ein Zeichen glich dem anderen. Die Vertiefungen besaßen mal Keil-, mal Sternform. Andere waren rund oder so unregelmäßig geformt, dass es keinen Ausdruck dafür gab. Zehn Vertiefungen, diejenigen für die Daumen etwas abgespreizt von den restlichen acht, waren für menschliche Finger vorgesehen.

»Du wartest schon auf mich«, flüsterte Greta. »So wie ich auf dich.« Sie legte die Finger in die Aussparungen und initiierte den Öffnungsmechanismus. Ein paar Sekunden vergingen, bis sich der Erfolg abzeichnete. Entlang einer gezackten Linie öffnete sich die Riesenmuschel. Weißes Licht trat daraus hervor. Gale stieß ein meckerndes Lachen aus. Tristan Li hatte das wunderbare Gerät benutzt, Simmi Orloff und Olgej Zara. Keiner von ihnen war mehr hier. Es gehörte Greta allein, und sie dachte nicht daran, das Geheimnis, das ihr ungeahnte Macht verlieh, mit irgendwem zu teilen. Geteilte Macht war halbe Macht, und sie wollte alles.

Und wenn sie alles verlor?

Ein Schwall aus Panik, Angst und mentaler Verwirrung überfiel die blonde Frau. Sie legte sich auf das Unterteil der inzwischen geöffneten Muschel, spürte die kleinen Kegel, mit denen das Innere versetzt war, ihr Vibrieren und diese Leichtigkeit, als sämtliche Sorgen und Ängste von ihr abzufallen begannen. Der Deckel schloss sich, gerade so weit, dass die Insassin nicht erstickte.

Greta Gale schlief übergangslos ein … und erwachte ebenso übergangslos wieder. Die obere Schale hatte sich gehoben, das Licht strahlte nur noch schwach. Zweieinhalb Stunden hatte sie geschlafen, stellte sie mit einem Blick auf ihre Uhr fest. Das Zeitintervall der Ruhephase änderte sich, dauerte aber nie weniger als zwei und nie länger als vier Stunden.

Eine Tonfolge!

Greta horchte in die Stille ihres Quartiers. Sekundenlang hielt sie nach einem ungebetenen Besucher Ausschau, bis sie begriff, dass die Töne lediglich in ihrem Geist anschlugen. Da war etwas, das in ihrem Verstand hallte, wie das Echo von Worten, die sie vernommen hatte. Eine Botschaft oder nur die Nachwirkungen eines Traums, den sie während der Ruhephase gehabt hatte? Das war bisher nie geschehen. Auch konnte sie sich an keinen Traum erinnern. Sie lauschte auf den Widerhall, der rasch abflaute. Auch als er vollständig verwehte, war Gale keine Deutung möglich.

Dann eben nicht. Sie war viel zu euphorisch, um sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Es ging ihr gut, und sie war stark. Sehr stark sogar, wenn nicht unüberwindlich. Ein Lächeln umspielte Gretas Lippen. Nur nicht übertreiben, auch wenn sämtliche Zweifel hinfort gewischt waren. Sie steckte voller Energie. Der Tatendrang trieb sie aus ihrem Quartier in die Schiffszentrale.

Svin Heyburn fläzte sich in seinem Kontursessel. Er schien wieder halbwegs nüchtern zu sein. Korfein Walsh nickte ihr zu.

»Ist was Erwähnenswertes vorgefallen, Korf?«

Er schüttelte den Kopf. »Alle sind ganz brav. Der Kommandant frisst dir aus der Hand.«

»So wie alle anderen auch.« Heyburn machte eine umfassende Handbewegung. »Man sagt ihnen, spring durch den Ring, und sie springen.«

Ähnlich wie du und Korf, dachte Greta. Auch die beiden MEINLEID-Mitglieder tanzten nach ihrer Pfeife, ohne sich dessen bewusst zu sein. Besser gesagt, die früheren MEINLEID-Mitglieder. Denn MEINLEID existierte nicht mehr. Zorn überwältigte die einstige Anführerin. Nicht der Imperialist Perry Rhodan war dafür verantwortlich, auch nicht der bucklige Gnom Homer G. Adams, sondern der Arkonide Atlan, der glaubte, sich mit seinem USO genannten, reaktionären Agentenhaufen herausnehmen zu können, was immer ihm beliebte.

Nicht mit ihr. Nicht mit Greta Gale. Es wurde Zeit, dass er einen Schuss vor den Bug erhielt, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes.

»Wir verlassen den Linearraum!«, hallte ihre Stimme durch die Zentrale. »Waffensysteme bereitmachen.«

»Was haben Sie vor?«, fragte Karim Shoutain.

»Wir pusten diesen aufgeblasenen Arkoniden aus dem Weltall.«

 

Entgegen seiner Behauptung vermochte sich Tristan Li kaum auf den eigenen Beinen zu halten. Er zitterte am ganzen Körper, seine Augen leuchteten fiebrig. Cleany Havedge half der Medikerin, ihn in den Sarkophag zu legen. Havedge bekam noch mit, wie der junge Mann sich entspannte, dann schloss sich das Artefakt.

»Ich wüsste zu gern, was im Inneren geschieht. Berichte über die Erfahrungen anderer sind eine Sache, diese Erfahrungen selbst zu machen eine viel interessantere.«

»Kommen Sie nicht auf dumme Gedanken.« Cyriane Drays wedelte mahnend mit dem Finger. »Sie würden ebenfalls süchtig. Offenbar führt bereits eine einmalige Benutzung dazu. Ich hielt es für keine gute Idee, dass der Lordadmiral sich hineingelegt hat, auch wenn er behauptet, dass sein Zellaktivator, der Extrasinn und andere Faktoren ihn vor der Sucht schützen.«

»Behauptet? Glauben Sie ihm etwas nicht, Doktor?«

»Es geht um Sie, Kurator, nicht um Atlan. Ich meine das völlig ernst. Lassen Sie die Finger von dieser angeblichen Glücksmaschine.«

Havedge winkte ab. »Nichts anderes gedenke ich zu tun. Das Aussehen des jungen Mannes spricht Bände. Wie lange muss er da drin bleiben?«

»Drei Stunden am Tag – schätze ich anhand der auf der Erde gemachten Erfahrungen. Denn dann öffnet die Schale sich von allein. Die Strahlungsdosis reicht aus, Tristan zu kräftigen. Das Gerät kann also offensichtlich feststellen, wann ihr Insasse die für seinen körperlichen Zustand erforderliche Dosis erhalten hat. Allerdings müssen wir Tristan zusätzlich mit Psychopharmaka stabil halten.«

»Keine angenehme Vorstellung. Können Sie ihn heilen?«

Das Gesicht der Ärztin verdunkelte sich. »Ich habe wenig Hoffnung für Tristan. Die körperlichen und psychischen Folgen der Sucht lassen sich nicht umkehren. Wir tun für ihn, was wir können, aber das ist wenig genug. Ohne seine tägliche Strahlendosis stirbt er binnen weniger Tage. Mit ihr zögern wir, fürchte ich, das Ende nur hinaus.«

»Wie viel Zeit bleibt ihm?«, krächzte Havedge, dem ein Kloß im Hals steckte.

»Ein paar Wochen? Ein Monat oder zwei? Ich weiß es nicht. Trotz unserer Untersuchungen wissen wir ja nicht wirklich, was geschieht. Wir doktern an den Symptomen der Sucht herum, weil wir die Ursachen medizinisch nicht greifen können.«

Die Erklärung nötigte dem Kurator ein Seufzen ab. In seinem Museum lagerten unzählige Artefakte aus der Vergangenheit. Sie waren stumme Zeitzeugen, so faszinierend wie in der Gegenwart ungefährlich. Ihn irritierte die Tatsache, dass ein Relikt aus der Frühzeit der irdischen Geschichte sich unversehens als Bedrohung herausstellte, auch wenn dieses Artefakt extraterrestrischen Ursprungs war. Mehr noch, triumphierte es über die fortschrittliche Medizin, die sämtliche klassischen Krankheiten längst besiegt hatte.

Havedge zog Kreise um den Sarkophag und das Ärzteteam, das Cyriane Drays im Lagerraum versammelt hatte. Die Mediziner hatten verschiedene Apparaturen aufgebaut. Havedge verstand den Sinn nicht, da keines der Geräte mit dem Sarkophag verbunden war. Das passte zu Drays’ Eingeständnis ihrer Hilflosigkeit. Die Wissenschaftler der USO hatten eine Phalanx von Messgeräten und Positronikelementen errichtet, mit denen sie hinter die Geheimnisse des Sarkophags zu kommen versuchten. Auch ihre Bemühungen waren bisher nicht von Erfolg gekrönt.

»Wie wäre es, wenn Sie Ihre rastlose Wanderung zur Abwechslung mal einstellen?«, legte einer der Ärzte Havedge nahe.

»Können Sie sich nicht auf Ihre Arbeit konzentrieren? Ratlos rumstehen ist auch ohne besondere Konzentration möglich«, konterte der Kurator bissig. »Entschuldigung. Das war nicht so gemeint. Ich mache mir Sorgen um den jungen Mann.« Dabei hatte er Tristans Namen vor zwei Tagen noch nicht einmal gekannt. Es gab eine Affinität zwischen ihnen, eine Seelenverwandtschaft, die auf ihrer beider Lebensumstände beruhte. Sie waren Außenseiter der Gesellschaft, durch eine Fügung des Schicksals ins Rampenlicht politischer Ereignisse geraten, die für sie beide eine Nummer zu groß waren.

»Es ist soweit«, riss ihn die Stimme der Medikerin aus seinen Gedanken. »Der Sarkophag öffnet sich.«

Havedge musterte den Patienten, dessen Augen sich gerade öffneten. Der fiebrige Glanz darin war verschwunden. Beinahe schüchtern lächelnd erhob sich Li und entstieg dem Behälter. Seine Körpersprache hatte sich gewandelt. Sie vermittelte den Eindruck von Kraft. Ärzte und Wissenschaftler umschwärmten Tristan.

»Immer mit der Ruhe.« Havedge drängte sie zurück. »Der junge Mann ist kein Versuchskaninchen. Gönnen Sie ihm einen Augenblick, sich zu finden, bevor Sie über ihn herfallen.«

Tristan nickte ihm zu. »Danke, aber ich bin bereit. Ich fühle mich stärker, als ich es früher jemals war.«

»Wir setzen die Untersuchung trotzdem in der Medoabteilung fort«, entschied Cyriane Drays.

»Ich begleite Sie.« Der Kurator schloss sich der Gruppe an, obwohl die Medikerin wenig begeistert von seiner Begleitung war. Hinter ihnen stürzten sich die Wissenschaftler auf den Sarkophag und widmeten sich einer Versuchsanordnung, die sie zuvor unterbrochen hatten.

»Stimmt es, dass Sie die erste, kleinere Muschel untersucht haben?«, fragte Li.

Havedge wünschte, die Gelegenheit dazu hätte sich ergeben, obwohl er vermutlich nicht mehr herausgefunden hätte als Atlans Spezialistenteam. »Dazu bestand leider keine Möglichkeit. Greta Gale war schneller. Stattdessen brachte der Lordadmiral einen Kasten in mein Museum, der mitsamt dem Sarkophag gefunden wurde. Ihn konnte ich eingehend untersuchen.« Seine Augen funkelten bei dieser Erinnerung, und er erzählte Tristan, was er herausgefunden hatte.

»Illochim?«, echote Li nachdenklich. »Davon habe ich nie gehört.«

»Zu schade. Ich hatte gehofft, mit Ihrem Aufenthalt in dem Sarkophag wäre das Erlangen gewisser Informationen verbunden. Im Semitischen wurde meinen Unterlagen zufolge in späteren Übersetzungen aus Illochim der Begriff Elohum, was soviel wie Mächtiger oder Starker bedeutet.«

»Ich habe das Wirken beider Austernmuscheln erlebt. Macht und Stärke hängen mit ihnen zusammen«, bestätigte Tristan, als sie die Medoabteilung erreichten. Drays dirigierte ihn auf eine Antigravliege und schloss ihn an verschiedene Überwachungs- und Diagnoseeinrichtungen an. Auf einem Holomonitor zeichneten sich seine Körperfunktionen ab.

»Bestens«, kommentierte sie die Werte. »Leider wissen wir, dass dieser Zustand nicht lange vorhält. Wie fühlen Sie sich, Tristan?«

»Ich sagte es bereits. Ausgezeichnet. Ich könnte Bäume ausreißen. Wissen Sie, wer diese Illochim aus Ihren Unterlagen waren, Mister Havedge?«