Impressum

2. Auflage 2016

© Dryas Verlag

Herausgeber: Dryas Verlag, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Herstellung: Dryas Verlag, Frankfurt am Main

Lektorat: Kristina Frenzel, Berlin

Korrektorat: Birgit Rentz, Itzehoe

Umschlaggestaltung: © Guter Punkt, München (www.guter-punkt.de)
Umschlagmotiv: © Julia Jonas, Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

Skizze & Plan Buchende © Rob Reef

Satz: Dryas Verlag, Frankfurt am Main

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

ISBN Print 978-3-940258-67-0, ISBN E-Book 978-3-940258-53-3

www.dryas.de


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STABLEFORD

 

Ein Krimi aus Cornwall

von Rob Reef

 

Eine „Skizze des Petershead Golf Club“ sowie den „Plan des ersten Stockwerkes von Peters Inn – Grimpen Manor“ finden Sie am Ende des Buches.

 

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Lesetipps

Verbrechen in Cornwall: "Die Tote von Higher Barton"


 

Goldfinch Verlag, ISBN Print 978-3-940258-14-4, ISBN E-Book 978-3-940258-12-0

 

Mabel Clarence ist sich sicher: Noch vor ein paar Minuten lag in der Bibliothek des Herrenhauses eine kostümierte tote Frau – erdrosselt mit einem Strick. Doch nun ist sie verschwunden, ohne jede Spur. Und wo keine Leiche, da keine Ermittlungen. Glauben schenkt der älteren Besucherin aus London nur ein kauziger Tierarzt. Also stellt Mabel in bester Miss-Marple-Manier eigene Nachforschungen an und versinkt immer tiefer im undurchsichtigen Sumpf der Vergangenheit – bis sie selbst in die Schusslinie des Mörders gerät …
Very British – ein spannender Krimi in düster-idyllischem Cornwall-Ambiente.






Mörder in Oxford: "Die Toten vom Madgdalen College"


 

Goldfinch Verlag, ISBN Print 978-3-940258-39-7, ISBN E-Book 978-3-940258-42-7

 

Bei einem Alumni-Dinner im Magdalen College der Universität Oxford bricht ein wichtiger Lokalpolitiker tot zusammen. Er wurde vergiftet, doch keiner der Gäste an seinem Tisch will etwas gesehen haben.
Und auch bei ihren weiteren Nachforschungen stoßen Inspector Heidi Green und ihr neuer Kollege Frederick Collins von der Thames Valley Police auf eisernes Schweigen. Nur eins steht fest: Ein paar der Ehemaligen hüten ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit. Bald gibt es eine zweite Leiche …
Ein Oxford-Krimi mit überraschenden Wendungen, der Einblicke in die Welt der altehrwürdigen Universitätsstadt Oxford gewährt.

 

 

 

 


Ermittlungen in Kent: "Canterbury Requiem"


 

Goldfinch Verlag, ISBN Print 978-3-940258-40-3, ISBN E-Book 978-3-940258-43-4

 

Es regnet und ein kalter Wind fegt durch Canterburys Straßen, als Ella sich nach der Chorprobe von Aileen verabschiedet. Am nächsten Morgen ist Aileen tot. Zunächst sieht alles nach einem Unfall mit Fahrerflucht aus, doch dann stellt sich heraus, dass Aileen starke Beruhigungsmittel im Blut hatte. Entschlossen beginnt Ella, die erst kürzlich nach Canterbury gezogen ist, in Aileens Leben nachzuforschen.
Dabei stößt sie auf Ungereimtheiten, häkelnde alte Damen, einen mürrischen Professor, einen pfiffigen Nachbarsjungen, einen ausgesprochen attraktiven jungen Mann im Pub und einen Detective Inspector, der ihr das Leben nicht unbedingt leichter macht …

 

 

 

 

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Die Suche nach dem Mörder wird in jedem Detektivroman ungemein dadurch vereinfacht, dass in jedem Fall der Autor der Täter ist.
Elliot Paul


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KAPITEL 42: Ein glückliches Ende

„Verzeihung, ist dieser Platz noch frei?“

Stableford sah von seiner Zeitung auf und lächelte. „Nun, er ist eigentlich für meine schlechten Manieren reserviert. Das hat zumindest eine junge Dame vermutet, mit der ich so ziemlich genau vor einer Woche in diesem Zug nach St. Ives gereist bin.“

„Ich bin mir sicher, dass sie sich geirrt hat“, sagte Harriet und setzte sich.

Sie bestellten Kaffee.

„Steht etwas von der gestrigen Untersuchung in deiner Zeitung?“, fragte sie neugierig.

Stableford blätterte zurück und überflog noch einmal den kurzen Artikel, der mit der Schlagzeile „Doppelmord auf Petershead“ überschrieben war. „Nur, dass der Rathaussaal in St. Just bis auf den letzten Platz gefüllt war und der bestellte Coroner ständig um Ruhe bitten musste, da eine gewisse Miss Taylor ungeheures Aufsehen erregte“, erklärte er.

„Du bist albern“, schimpfte Harriet.

„Ich versuche dir lediglich etwas Neues zu berichten. Schließlich warst du ja hautnah dabei und der Artikel beinhaltet nichts, was du nicht selbst mit angehört hast: Die Jury befand in zwei Fällen auf einen gewaltsam beigebrachten, nicht natürlichen Tod und ein als Zeuge geladener Verdächtiger war zur Anhörung selbst nicht erschienen. Der zuständige Amtsarzt äußerte auf Nachfrage des Coroners die Befürchtung, dass der Mann die Hauptverhandlung wohl nicht erleben werde. Der Beitrag schließt allerdings mit einer Bemerkung, die auch für mich neu war: ‚Es ist allein dem großen Geschick des brillanten Superintendent Cyril Hattam zu verdanken, dass der Fall schon vor der Eröffnung des ordentlichen Gerichtsverfahrens als restlos aufgeklärt gelten darf.‘“

Harriet lachte. „Das wusste ich tatsächlich auch nicht, aber es erscheint mir logisch. Er ist ja schließlich ein Polizist, nicht wahr?“

„Ein folgerichtiger Schluss, mein lieber Watson!“

Der Zug setzte sich langsam in Bewegung und die beiden schauten aus dem Fenster, um die von der Morgensonne beschienene Silhouette von St. Ives zu bewundern.

„Ich soll dich übrigens sehr herzlich von Mr Fitzpatrick grüßen“, sagte Harriet nach einer Weile. „Er hat mir erzählt, dass er nach Südamerika zurückgehen will.“

„Das freut mich zu hören“, erwiderte Stableford. „Nach all den Jahren des Versteckspielens hat er eine zweite Chance verdient.“

„Ich hätte mich auch gerne von Dr Holmes verabschiedet“, fuhr Harriet fort, „aber ich habe ihn nach der Verhandlung aus den Augen verloren. Der junge Bursche an der Rezeption meinte, dass er ebenfalls heute Morgen ausgecheckt hat. Er hat ihm ein Taxi nach St. Ives bestellt. Ich dachte, dass wir ihn auf dem Bahnsteig treffen würden, aber gesehen habe ich ihn nicht. Weißt du, wo er abgeblieben ist?“

„Oh ja“, sagte Stableford und faltete die Zeitung zusammen. „Er ist für ein paar Tage zu den Tavys gezogen. Sie haben eine kleine Pension hier in St. Ives und Holmes sehnte sich – wie er es ausdrückte – nach Ruhe, Frieden und Fish & Chips.“

„Ich werde ihn ein wenig vermissen“, meinte Harriet nachdenklich. „Geht es dir auch so?“

„Wir werden ihn bestimmt bald wiedersehen.“

„Wir?“, fragte Harriet überrascht. „Dann hast du eine Idee, wie es mit uns weitergehen wird?“

„Nun, wir besuchen deine Eltern in Yorkshire und ich bitte den Vikar von Upper Biggins um deine Hand. Dieses Vorgehen ist bei der Werbung um eine Pastorentochter wohl angemessen, meinst du nicht?“

„Soll das ein Antrag sein?“

„Ja. Und was sagst du dazu?“

„Ich sage ja“, antwortete Harriet, beugte sich über den Tisch und küsste ihn.

Sie zahlten und verließen kurz darauf den Speisewagen. Der Zug nach London war nur spärlich besetzt und so fanden sie in einem Zweite-Klasse-Wagon ein Abteil ganz für sich allein. Sie setzten sich nebeneinander und blickten aus dem Fenster. Stableford war glücklich. Die Anspannung der letzten Tage fiel langsam von ihm ab und er gab sich dem wohligen Gefühl der Schläfrigkeit hin.

„Meinst du, dass Mr Fenshaw verurteilt wird?“, fragte Harriet nach einer Weile müde.

„Ich glaube nicht, dass er die Verhandlung überlebt. Aber wie dem auch sei, er hat seine Strafe erhalten. Es ist die tragische Fallhöhe, die mich an dieser Geschichte so erschreckt, diese antike Wucht, die so gar nicht in unsere Zeit zu passen scheint. Sein Stolz hat seine Familie ausgelöscht, die Tochter zur Mörderin gemacht und die Gattin in den Selbstmord getrieben. Die alten Dramatiker hätten sich diesen Stoff sicher nicht entgehen lassen. Chloé hat in gewisser Weise ein mythisches Schicksal ereilt. Wie Antigone starb sie unvermählt und wie sie war Chloé schicksalhaft dem Acheron versprochen, dem Gott des Flusses, der ins Totenreich führt.“ Stableford schloss die Augen und begann zu rezitieren:


„Der alles schwaigende Todesgott,

Lebendig führt er mich zu des Acherons Ufer,

Und nicht zu Hymenäen berufen bin ich,

Noch ein bräutlicher singt mich,

irgendein Lobgesang,

Dagegen dem Acheron bin ich vermählt.“


„Was sind Hymenäen?“, fragte Harriet schläfrig.

„Hochzeitslieder.“

„Das ist hübsch.“

„Wo war ich stehen geblieben?“

„John?“

„Ja, Harriet?“

„Halt den Mund!“ Sie küsste ihn und legte dann ihren Kopf an seine Schulter. „Eines sag mir aber doch noch: Woher wusstest du, dass ich nichts mit dem Mord an William zu tun hatte?“

„Ich wusste es nicht“, entgegnete Stableford ehrlich. „Ich vertraute einfach einem ungeschriebenen Detektivroman-Gesetz: Die offensichtlich Verdächtigen sind am Ende immer unschuldig. Der Umstand, dass ich mich bei unserer ersten Begegnung Hals über Kopf in dich verliebt habe, mag allerdings auch eine Rolle gespielt haben.“

Harriet antwortete nicht. Ihre tiefen Atemzüge verrieten ihm, dass sie eingeschlafen war. Er sah aus dem Fenster und überlegte, wo er mit ihr leben würde. Mitten in London oder vielleicht in einem kleinen Cottage auf dem Land? Kinder sollten auf dem Land aufwachsen. Die Luft war gesünder und ...

Plötzlich fiel ihm auf, dass er seit Tagen keine Medikamente mehr genommen hatte. Er hatte es einfach vergessen. Hatte er sie überhaupt eingepackt, oder lagen sie noch auf dem Nachttisch im Peters Inn?

Er kämpfte gegen den Schlaf. Doch dann musste er an Holmes’ unglaubliches Angebot denken. Er blickte auf seine Uhr und strich mit dem Daumen über das kalte Metall des Schrapnellgitters. Nach einer Weile löste er das Armband und entfernte den aufgesteckten durchbrochenen Deckel über dem Ziffernblatt. Er konnte seiner Vergangenheit nicht entkommen, aber er hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass sie wirklich hinter ihm lag. Und was lag vor ihm?

Eine vielversprechende Zukunft, dachte Stableford und schlief ein.

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Bilder

Impressum

Lesetipps

 

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Petershead Golf ClubSkizze des Petershead Golf Club



Peters InnPeters Inn (Grimpen Manor, Plan des ersten Stockwerkes

KAPITEL 1: 10 Uhr 30 ab Paddington

Ungeheuer ist viel. Doch nichts ungeheurer als der Mensch, dachte John Stableford, Professor für Literatur am Londoner Lazarus College, als er sich einen Weg durch die graue Menschenmasse in der gewaltigen Halle der Paddington Station bahnte. Sein Ziel war der Zehnuhrdreißig nach Penzance, der berühmte Cornish Riviera Express. Es war ein kalter Oktobermorgen im Jahr 1936 und die Menschen, die sich an ihm vorbeischoben, trugen dicke Mäntel und Schals. Stablefords Gepäck bestand aus einem kleinen Reisekoffer und einer Golftasche aus Segeltuch. Fröstelnd tastete er nach dem Ticket in der Innentasche seines alten Tweedanzuges, den er dem Anlass entsprechend trug. Über diesen Anlass wusste er reichlich wenig. Die Einladungskarte, die er nur eine Woche zuvor mit der Nachmittagspost erhalten hatte, war knapp gefasst:


„Das Bankhaus Milford & Barnes gibt sich die Ehre, Sie, John Wickham Stableford, als langjährigen Kunden zu einem Golf-Wochenende in Peters Peter (Cornwall) einzuladen.

Wir haben uns erlaubt, für Sie ein Zimmer im Peters Inn (bei Peters Peter) zu reservieren. Das Turnier beginnt am Samstag um 8.30 Uhr. Gespielt wird Stableford.“


Obwohl er tatsächlich ein langjähriger Kunde dieses Bankhauses war, hatte Stableford das Schreiben zunächst für einen dummen Scherz gehalten, denn Witze über seine Namensgleichheit mit Dr Frank Stableford, dem Mediziner und Erfinder der im ganzen Land immer populärer werdenden Golfzählmethode, hörte er nicht nur in seinem Golfclub. Sprüche wie „Stableford spielt Stableford“ oder „Hey, Stableford, wie steht’s?“ waren auch unter seinen Studenten sehr beliebt. So war er nicht wenig überrascht gewesen, als nur einen Tag nach der Einladung und ohne Zusage seinerseits ein Brief mit einem Zugticket erster Klasse eingetroffen war. Da er allein lebte und ihn die Studien für sein neuestes akademisches Buchprojekt, „Die abenteuerliche Reise (Quest) als philosophischer Erkenntnisweg im Werke Joseph Conrads“, über viele Wochen an seinen Schreibtisch gefesselt hatten, war ihm die Entscheidung für Peters Peter letztlich nicht schwergefallen. Trotz seiner tiefen Abneigung gegenüber gesellschaftlichen Anlässen jeder Art erschien ihm das Wochenende auf dem Lande als eine willkommene Abwechslung und ein geeignetes Mittel, seine geistige Erschöpfung zu überwinden.

Die große, dreiteilige Bahnhofsuhr der Paddington Station zeigte Viertel nach zehn. Am Bahnsteig Nr. 1 angelangt, wo der Express schon bereitstand, machte Stableford sich auf die Suche nach dem St.-Ives-Kurswagen erster Klasse. Er fand ihn im hinteren Teil des Zuges, klopfte die kurze Bulldog-Pfeife aus, die stets zwischen seinen Zähnen steckte, stieg ein und las – nun vollends von der Echtheit der Einladung überzeugt – seinen Namen an einer Abteiltür. Koffer und Golftasche waren schnell in den Gepäcknetzen des noch leeren Coupés verstaut, und bereits bevor sich der Zug in Bewegung setzte, saß Stableford an einem Tisch im Speisewagen. So begann seine abenteuerliche Reise.

KAPITEL 2: Die Dame im Zug

„Verzeihung, ist dieser Platz noch frei?“

Stableford sah von seinem Frühstück auf und verlor sich in einem graublauen Augenpaar. Vor ihm stand eine junge Frau von sieben- oder achtundzwanzig Jahren. Sie war schlank, trug ein grünes Tweedkostüm, dunkle Strümpfe und flache Schuhe. Ihr ovales, von kupferfarbenen Locken umrahmtes Gesicht war das Schönste, was er seit Langem gesehen hatte. Während er noch ungläubig darüber nachdachte, ob sich die oft besungene Liebe auf den ersten Blick so anfühlen mochte, bemerkte er, wie sich ihr zunächst freundlicher Gesichtsausdruck zusehends in Empörung verwandelte.

„Hat es Ihnen die Sprache verschlagen? Ist dieser Platz noch frei oder ist der Tisch für Sie und Ihre schlechten Manieren reserviert?“

Der scharfe Ton ließ ihn aus seiner Starre erwachen.

„Entschuldigung, nein – ich meine ja, der Platz ist noch frei“, stammelte er. Dabei spürte er, wie Wut in ihm aufstieg. Wer war dieses schnippische Geschöpf, das ihm jetzt gegenübersaß und ihn gegen seinen Willen so verzauberte? Aber geschah es tatsächlich gegen seinen Willen? Während Stableford dieser Frage nachhing, begann sich sein Ärger zu legen. Er hatte – nun vollends verwirrt – das brennende Bedürfnis, den missglückten Erstkontakt durch eine leichte Unterhaltung wiedergutzumachen, obwohl das seichte Geplauder definitiv nicht seine Stärke war. Von ihrer barschen Art und seinen eigenen Gefühlen verunsichert, verwarf er nacheinander „das Wetter“, „das Reisen mit der Eisenbahn“ und „die neuesten West-End-Produktionen“ als mögliche Themen und zog es schließlich doch vor zu schweigen.

Das war seit Jahren seine sichere Festung, ein Ort, an dem er sich wohlfühlte und den er nur selten verließ. Und doch ertappte er sich jetzt dabei, wie er die junge Frau gebannt beobachtete. Erst als sie aus ihrer Tasche ein Buch hervorholte und – ihn demonstrativ ignorierend – darin zu lesen begann, eröffnete sich ihm ganz unverhofft die Chance auf ein Gesprächsthema, bei dem er sich sicher fühlte. Es war ein Detektivroman, den er kannte, denn Detektivromane waren seine heimliche Leidenschaft.

„‚Der Mord am Viadukt‘, ein gutes Buch“, begann er vorsichtig und etwas mühsam. „Wussten Sie, dass der Autor ein katholischer Priester ist?“

„Nein, das wusste ich nicht, aber sicherlich wird mir dieser wertvolle Hinweis helfen, die ethisch-moralische Dimension eines völlig banalen Rätselromans besser zu begreifen. Sie müssen sich nicht mit mir unterhalten, nur weil ich an Ihrem Tisch sitze.“

„Ich unterhalte mich eigentlich gern“, log Stableford, dann ergänzte er gereizt: „Und, nebenbei bemerkt, ein wenig ethisch-moralische Dimension würde Ihren Manieren sicherlich nicht schaden.“

Sie sah auf und für einen Moment hatte er das instinktive Bedürfnis, in Deckung zu gehen. Doch der erwartete Angriff blieb aus. Stattdessen musste sie lachen und Stableford stimmte erleichtert ein.

„Wollen wir Frieden schließen?“, fragte er. „Mein Name ist John Stableford, und nur für den Fall, dass Sie mich weiter ignorieren wollen, möchte ich noch anmerken, dass das Rührei hier nicht zu empfehlen ist.“

„Nennen wir es zunächst einen Waffenstillstand, wenn Sie einverstanden sind. Mein Name ist Harriet Taylor. Ist das Rührei wirklich so schlecht?“

Harriet Stableford – ja, das würde gut klingen, dachte er und erschrak. Dann riss er sich zusammen und sagte mit fester Stimme: „Ja.“

Erst jetzt schien die junge Frau ihn etwas genauer zu betrachten. Offenbar fand sie ihn nicht unsympathisch. Ihre Anspannung legte sich zusehends, und als ihr Tee serviert wurde, begann sie ganz unvermittelt von ihrer Familie in Yorkshire zu erzählen: von ihrer über alles geliebten Mutter, ihren drei jüngeren Schwestern und ihrem Vater, dem Vikar von Upper Biggins, einem kleinen Dorf in den North York Moors. Und da Stableford ihre Geschichten sichtlich genoss, erzählte sie weiter – von ihrer abenteuerlichen Ankunft in London, ihrem ersten Job als Verkäuferin in einem Hutladen in der Oxford Street, dem zweiten als Garderobiere in einem Nachtclub nahe der Tottenham Court Road und von ihrer letzten Beschäftigung, dem Modellsitzen für eine Gruppe junger Künstler, die ihre Ateliers größtenteils in Chelsea hatten. Dann schwieg sie plötzlich und schien ihren Gedanken nachzuhängen, sodass schließlich Stableford nach einem kurzen Zögern ins Erzählen geriet: von seinem Studium in Oxford und seiner anachronistischen Existenz als Literaturprofessor in einer Zeit, die die Naturwissenschaften und ihre Anwendung, die Technik, vergötterte.

„Und wie kommt es, dass sich ein Literaturprofessor für ein so triviales Genre wie den Detektivroman interessiert?“, fragte Harriet und deutete auf ihr Buch.

„Nun, meine Beschäftigung damit liegt näher, als Sie vielleicht ahnen“, antwortete Stableford lächelnd. „Fragen Sie den nicht mehr ganz nüchternen Dekan eines x-beliebigen Colleges in Oxford oder Cambridge nach dem interessantesten Buch der letzten Jahrzehnte und er wird Ihnen erklären, dass er sich nicht zwischen ‚Trents letzter Fall‘ und ‚Roger Ackroyd und seine Mörder‘ entscheiden kann. Früher spielten die Gelehrten in ihrer Freizeit Schach, heute messen sie ihre intellektuellen Fähigkeiten im Wettstreit mit den Autoren von Detektivromanen. Der obligatorische Mord zu Beginn dieser Geschichten ist, um im Schach-Jargon zu bleiben, der Eröffnungszug des Autors, auf den hin der Leser seine erste Schlussfolgerung ziehen muss, bis schließlich einer der beiden Kontrahenten den König, also den Mörder, schachmatt setzen kann. Das Ganze hat schon an sich einen hohen intellektuellen Reiz, der eigentliche Clou liegt für mich allerdings in der strukturellen Nähe der typischen Handlungsmuster dieser Romane zum philosophisch-wissenschaftlichen Denken selbst.“

„Jetzt wollen Sie mich aber veralbern!“, rief Harriet lachend.

„Nichts liegt mir ferner! Ich halte den Detektivroman tatsächlich für die letzte Form des reinen spekulativen Denkens in unserem säkularisierten Zeitalter. Er hat, wenn Sie so wollen, eine metaphysische Grundstruktur, obwohl das zu lösende Problem, also der Mord, stets ein immanentes ist. Aber ich langweile Sie bestimmt mit meinem trockenen akademischen Gerede.“

„Ganz und gar nicht! Mein Vater hat meine Schwestern und mich früh an die klassischen Denker herangeführt. Wenn ich Sie richtig verstehe, fasziniert die Gelehrtenwelt am Detektivroman das freie Spiel mit logischen Schlüssen, die durch die Abkehr von den großen philosophischen Fragen in der Welt der Wissenschaft kaum mehr von Belang sind.“

„Ganz genau, Miss Taylor“, sagte Stableford beeindruckt und verliebte sich gleich noch ein bisschen mehr in die junge Dame. „Der Detektiv stellt wie der Philosoph Hypothesen in einer für ihn unerklärbaren Welt auf. Er betritt sozusagen ein Labyrinth, wenn er mit der Aufklärung des Falls beginnt. Dort folgt er verwirrenden Hinweisen, Spuren und Aussagen, die er logisch ordnen muss, um dem Zentrum näher zu kommen.“

„Wo ihn dann der Minotaurus erwartet?“, fragte Harriet mit einem leicht ironischen Unterton.

„Eher ein zeitgemäßeres Monster, Miss Taylor – der Mörder, den er überwältigen oder zumindest überführen muss. Der glückliche Theseus hatte den Ariadnefaden zu seiner Unterstützung, der moderne Held aber muss sich seinen eigenen Faden spinnen, um dem Labyrinth zu entkommen. Dazu knüpft er aus Beobachtungen und Befragungen den Tathergang zusammen und bringt so die Wahrheit mit ans Licht.“

„Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Mr Stableford, aber Ihr Ariadnefaden erscheint mir doch eher als das Seemannsgarn alter Sagen. Ist nicht vielmehr die Rationalität der Leitfaden, an den sich die populären Ermittler in Ihren Detektivromanen halten?“

„Sie denken vermutlich an Doyles Sherlock Holmes und Poes Dupin, die ihre Fälle nach strengen rationalen Methoden aufklären. Nun, es mag Sie überraschen, aber von den etwa zweihundertdreißig Schlüssen, die Sherlock Holmes in seinen Abenteuern nach seiner deduktiven Methode zieht, erfüllen nur knapp dreißig die Kriterien einer wissenschaftlich fundierten logischen Deduktion. Nur in diesen wenigen Fällen nimmt er es auf sich, die Gültigkeit seiner Hypothesen empirisch zu prüfen. Holmes ist durchaus vielseitiger, als uns sein Chronist Dr Watson glauben machen will. Er schließt deduktiv und induktiv, also sowohl vom Allgemeinen auf das Besondere als auch von beobachteten Phänomenen auf eine allgemeine Erkenntnis. Aber vorrangig stellt er Hypothesen im Sinne der Abduktion auf, das heißt, er folgt seiner Intuition, wird kreativ und rät. Tatsächlich sind seine Nachforschungen so erfolgreich, weil er das Raten perfekt beherrscht. Natürlich nutzt er auch hin und wieder naturwissenschaftliche Methoden, aber wenn Sie Holmes einmal näher betrachten, führt er, sieht man von seinen Lastern ab, das asketische Leben eines gelehrten Mönchs. Selbst Dr Watson passt in diesen Interpretationsansatz: Holmes hat keine Familie, dafür einen ewigen Novizen, der die Taten seines Lehrers preist und für die Nachwelt niederschreibt.“

„Ich fand Dr Watson immer sehr sympathisch“, sagte Harriet nachdenklich. „Und das nicht nur, weil Watson der Mädchenname meiner Mutter ist. Er mag naiv erscheinen, aber er verleiht den Geschichten Menschlichkeit und hält den gesunden Menschenverstand trotz all seiner Schwächen in Ehren.“

„Da haben Sie vollkommen recht! Holmes wäre allein nicht zu ertragen. Und doch wünschte ich mir, ein Mal in seine Fußstapfen treten zu können. Mir muss ja nicht gleich ein Mörder über den Weg laufen. Ein Diebstahl oder die Jagd nach einem Erpresser würden mir für den Anfang schon genügen“, gestand Stableford. „Ich verbringe dieses Wochenende übrigens auf einem Golfplatz, ganz so wie die Protagonisten in Ihrem Detektivroman. Vielleicht kommt die Gelegenheit zur Aufklärung eines Verbrechens ja ganz unverhofft in Peters Peter. So heißt der Ort, an dem das Turnier stattfindet.“

Harriet blickte ihn fassungslos an. Dann stand sie ohne ein weiteres Wort auf und verließ hastig den Speisewagen.

Stableford starrte ihr hinterher und fragte sich, was er falsch gemacht hatte. Frauen waren für ihn wie ein Buch mit sieben Siegeln. Er fühlte sich fraglos zu ihnen hingezogen, aber er verstand sie nicht. Bei Harriet schien es anders gewesen zu sein, aber hatte er sich nicht schon einmal gründlich getäuscht?

Obwohl er keinen Alkohol vertrug, bestellte er sich einen Whisky, entzündete seine alte Pfeife und betrachtete, seinen düsteren Gedanken nachhängend, die vorbeiziehende Landschaft. Als der Zug ein Waldstück durchquerte, sah er sich plötzlich selbst in der Fensterscheibe und musterte sein Spiegelbild. Er war schlank, mittelgroß und sicher kein Adonis. Trotz seiner zweiundvierzig Jahre wirkte er eher wie Mitte dreißig. Die Narbe über seiner rechten Augenbraue verlieh seinem Gesicht etwas Düsteres, aber seine lebendigen braunen Augen, seine schmalen Hände und seine intelligente, leicht melancholische Ausstrahlung erschienen ihm nicht unattraktiv. Doch wer wusste schon, was Frauen an Männern attraktiv fanden?

Mit dem dritten Whisky brachte ihm der besorgt dreinblickende Kellner unaufgefordert die Rechnung. Resigniert kam Stableford zu dem Schluss, dass er wohl genauso flirtete, wie er Golf spielte: Er machte einfach zu viele dumme Fehler. Wie war er nur dazu gekommen, einer vollkommen fremden Dame beim ersten Aufeinandertreffen seinen albernen Pennälerwunsch zu offenbaren, ein Mal Sherlock Holmes spielen zu dürfen? Kein Wunder, dass sie verschreckt das Weite gesucht hatte! Vielleicht war es besser so, versuchte er sich selbst einzureden und merkte doch sofort, dass er über das abrupte Ende dieses unverhofften Tête-à-Têtes noch lange nicht hinwegkommen würde.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass Harriet ihr Buch auf dem Tisch vergessen hatte. Er nahm es an sich und öffnete es. Auf der Innenseite des Buchdeckels befand sich ein kunstvoll gestaltetes Exlibris: An einer dorischen Säule lehnte eine griechische Göttin, die eindeutig Harriets Gesichtszüge trug. Unter der Abbildung stand mit roter Tinte geschrieben: „Eigentum von William Slocum“.

KAPITEL 3: Ein missgelauntes Trio

Zurück in seinem Abteil fand Stableford die drei Plätze gegenüber seiner Bankreihe belegt. Er grüßte und ließ sich am Fenster nieder – froh, wieder zu sitzen, denn der Whisky wirkte jetzt deutlich. Ihm gegenüber blätterte eine junge Frau von vielleicht zweiundzwanzig Jahren sichtlich gelangweilt in einem Magazin, das sie ungeschickt in einer Ausgabe der Vogue versteckt hielt. Sie trug ihr kurzes dunkelbraunes Haar wie die Dame auf dem Titelblatt und ein elegant geschnittenes rubinrotes Kleid mit Pelzbesatz am Kragen, das nach Stablefords Einschätzung ein kleines Vermögen gekostet haben musste. Als der Zug über eine Weiche fuhr, verrutschten ihr die beiden Zeitschriften für einen Moment, sodass Stableford den Titel ihrer wirklichen Lektüre erkennen konnte: „Ich gestehe. Wahre Geschichten um Liebe und Leidenschaft.“

Sieh an!, dachte Stableford amüsiert und sank noch etwas tiefer in den gemütlich gepolsterten Sitz des Erste-Klasse-Coupés.

Ihm blieb nicht lange verborgen, dass die Stimmung im Abteil nicht die beste war. Der groß gewachsene korpulente Mittfünfziger im dunklen Anzug, der neben der jungen Dame saß, hatte Stablefords Gruß bei seinem Eintreten gänzlich ignoriert. Nun blickte er von seiner Zeitung auf, nickte ihm, mehr drohend als grüßend, zu, um gleich darauf wieder hinter dem Wirtschaftsteil der Times zu verschwinden.

Verwundert wandte sich Stableford der dritten Person im Abteil zu. Sie wirkte wie eine reifere Version der jungen Frau am Fenster. Ganz offensichtlich handelte es sich bei dem Trio also um eine Familie. Die Dame war etwa Anfang vierzig und schön, in einem erwachsenen Sinn des Wortes. Unter ihrem Pelzmantel trug sie ein durchaus gewagt geschnittenes schwarzes Kleid, an dessen Kragen eine große goldene Brosche in Form eines Skarabäus prangte. In ihrem Blick entdeckte Stableford nach einiger Zeit etwas, womit er nicht gerechnet hatte – Angst.

Er fühlte sich unwohl, denn die drei mussten sich kurz vor seinem Eintreten gestritten haben.

Mit der Spannung, die in diesem Abteil herrscht, könnte man halb London illuminieren, dachte er und stellte sich schlafend, bis ihn der Schlaf tatsächlich übermannte. Kurz vorher aber hörte er noch eine Frau flüstern.

„Ich habe ihn gesehen, Arthur, hier im Zug. Arthur, ich habe Angst.“

Und die leise, aber scharfe Antwort eines Mannes: „Halt den Mund, Helen!“

KAPITEL 4: Den Anschluss verloren

„Sir! Hören Sie, Sir! Wir haben die Endstation erreicht. St. Ives, Cornwall. Sie müssen den Zug jetzt verlassen.“

Stableford erwachte aus einem tiefen traumlosen Schlaf. In der Tür stand ein Schaffner. Das Abteil war leer.

„Wie lange stehen wir hier schon?“, fragte Stableford verwundert.

„Nun, der Zug traf pünktlich um fünf Uhr fünfundvierzig hier in St. Ives ein“, erwiderte der Schaffner und verschwand ohne ein weiteres Wort im Gang.

Stableford gähnte herzhaft und rieb sich die Augen. Dann erhob er sich, nahm sein Gepäck aus dem Netz über seinem Platz und stand wenig später auf dem völlig menschenleeren Bahnsteig, der nur schwach von zwei Gaslaternen beleuchtet wurde. Die Bahnhofsuhr zeigte sieben an. Ihre Zeiger waren das Einzige, was sich an diesem Ort bewegte.

In dem kleinen Gebäude hinter dem Bahnsteig fand Stableford zu seiner großen Erleichterung den Bahnhofsvorsteher. „Entschuldigen Sie, ich muss noch heute Abend nach Peters Peter weiterreisen. Wie mache ich das am besten?“

Der Mann sah ihn mitleidig an. „Peters Peter? Da haben Sie aber wirklich Pech. Vor dem Bahnhof warteten drei große Limousinen, die Gäste aus London nach Peters Peter bringen sollten. Sie sind allerdings schon lange weg. Aber ich kenne da jemanden, der Sie fahren könnte. Mein Schwager hat eine Garage am anderen Ende der Stadt. Wenn Sie wollen, rufe ich ihn an.“

„Wenn Sie das organisieren könnten, wäre ich Ihnen wirklich dankbar. Wie viele Gäste waren es denn?“

„Drei Frauen und drei Männer, wobei die Frauen deutlich hübscher waren“, erwiderte der Mann lachend und verschwand in seinem Büro, um zu telefonieren. Kurze Zeit später kehrte er zurück. „Sie haben Glück! Mein Schwager ist in zwanzig Minuten vor dem Bahnhof. Das Ziel Ihrer Reise hat ihn zwar ziemlich überrascht, aber so eine Fuhre kann er sich nicht entgehen lassen. Über den Preis müssen Sie selbst mit ihm verhandeln.“

Stableford dankte dem Mann und trat wenig später auf den kleinen Bahnhofsvorplatz hinaus.

„Haben Sie Feuer?“, fragte eine Stimme hinter ihm, als er gerade damit begonnen hatte, seine Pfeife zu stopfen.

Stableford fuhr herum. Auf einer Bank neben dem Eingang saß ein groß gewachsener Mann, vielleicht fünfundvierzig Jahre alt und von auffällig athletischer Statur. Er stand auf und kam langsam auf Stableford
zu.

„Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt haben sollte“, sagte er, sah aber selbst aus, als ob er gerade einem Geist begegnet wäre.

Stableford holte seine Streichhölzer hervor, gab dem anderen Feuer und zündete anschließend seine eigene Pfeife an. Sie rauchten eine Weile schweigend. Da sich kein Gespräch zu entwickeln schien, ließ Stableford seinen Blick schweifen und entdeckte neben der Bank, auf der der Fremde gesessen hatte, eine Art Seesack und – eine Golftasche.

„Verzeihen Sie meine Neugierde, aber könnte es sein, dass Sie auch nach Peters Peter müssen?“

Der Mann musterte ihn misstrauisch. „Ja“, sagte er schließlich müde, um dann, als wenn er gerade eine schwere Entscheidung getroffen hätte, fortzufahren: „Aber ich glaube nicht, dass wir diesen Ort heute noch erreichen werden.“

„Nun, ich glaube, Sie haben Glück“, entgegnete Stableford. „Ich warte auf einen Wagen, der mich dorthin bringen soll. Wenn Sie wollen, können wir gemeinsam fahren.“

Der andere zögerte erneut, nahm das Angebot aber schließlich an. „Thomas Fitzpatrick, Reiseschriftsteller aus London“, stellte er sich vor.

Kurz darauf kam ein Wagen in Sicht, der sehr dynamisch auf dem Bahnhofsvorplatz gewendet wurde und mit äußerst wenig Spielraum vor den beiden Männern zum Halten kam. Auf der Seite des betagten hellblauen Vauxhall 14/40 stand in goldenen Lettern: „E.R. Finch & Son. Taxi Services & Motor Engineers“.

KAPITEL 5: Reise in die Unterwelt

Mr Finch, ein älterer Mann, von dem Stableford inständig hoffte, dass er die schmalen Straßen, die sie mit atemberaubender Geschwindigkeit Richtung Westen entlangjagten, besser kannte als die englische Grammatik, war vor Begeisterung für seine kornische Heimat kaum zu bremsen. Nach einem kurzen Ausflug in die Geschichte der Artus-Legende, die er wie jeder waschechte Bewohner Cornwalls mit den Ruinen von Tintagel Castle verband, kam er auf den Bergbau zu sprechen, der die Region über Jahrhunderte geprägt hatte. Die Dunkelheit ignorierend, zeigte er mit ausladenden Bewegungen auf jede noch so unbedeutende, vom fahlen Mondlicht beschienene Zinn- oder Kupfermine, die sie passierten, und brachte sich und seine Passagiere dabei fast jedes Mal ernsthaft in Gefahr. Erst als Zennor hinter ihnen lag und Finch die Bergmannsgeschichten langsam ausgingen, kam er auf das Ziel ihrer Fahrt zu sprechen. Die beiden Männer erfuhren, dass Peters Peter auf Petershead nordöstlich von Cape Cornwall lag.

„Das Eigentümliche an dieser Landzunge ist übrigens seine Trennung vom Festland, müssen Sie wissen“, schrie Finch gegen das Motorengeheul an. „Da fließt ’n Bach am Boden von so was wie ’ner kleinen Schlucht. Es gibt bloß eine Brücke, und die ist älter als wie wir drei zusammen, wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben tun. Der Bach ist manchmal auch ’n Fluss, kommt auf die Jahreszeit und das Wetter an. Heißt übrigens Acron oder so, der Bach mein ich.“

Acheron, dachte Stableford düster, denn natürlich kannte er den Fluss, der in der griechischen Mythologie in die Unterwelt führte. Ich hoffe, dass wir ihn zwei Mal überqueren werden.

Nach gut eineinhalb Stunden Fahrt erreichten sie die besagte Brücke, eine wenig Vertrauen einflößende Holzkonstruktion, die zur Gegend passend Petersbridge hieß und tatsächlich uralt sein musste. Sie passierten sie im Schritttempo, und selbst ihr todesmutiger Chauffeur atmete hörbar auf, als sie wieder festen Boden unter den Rädern hatten. Danach kamen sie nur noch langsam voran, denn die Straße war nicht mehr befestigt und voller tückischer Bodenwellen und Schlaglöcher. Nach etwa zwanzig Minuten durchfuhren sie ein Dorf mit nicht mehr als zehn oder fünfzehn Häusern und einer kleinen Kirche. Die Gebäude, allesamt aus grauem Granit errichtet, wirkten ärmlich und verfallen. Nicht ein Mensch war auf der Straße zu sehen und hinter keinem der kleinen Fenster brannte Licht.

„Wie heißt dieser Ort?“, fragte Stableford etwas beklommen.

„Peters Peter“, antwortete Finch fröhlich. „Ist seit über zehn Jahren verlassen. ’ne echte Geisterstadt.“

„Gibt es denn noch andere Dörfer auf Petershead?“

„Nö, und ehrlich gesagt dachte ich, dass auch das Peters Inn mit der Schließung vom Golfplatz dichtgemacht hätte. Ist nämlich sozusagen das Clubhaus gewesen. Aber da hab ich mich wohl getäuscht. Wäre zumindest besser für Sie, nicht wahr?“

Stableford und sein Begleiter sahen sich unsicher an. Die Frage blieb unbeantwortet.

„Das gefällt mir nicht“, sagte Fitzpatrick leise. „Das gefällt mir ganz und gar nicht. Am liebsten würde ich umkehren.“

Auch Stableford gefiel das Ganze nicht wirklich. Sie hatten den Acheron überquert und waren nun scheinbar tatsächlich in der Unterwelt, dem Reich der Toten, gelandet. Doch immerhin hatte das Peters Inn nicht „dichtgemacht“. Schon aus einiger Entfernung sah Stableford ein fahles Licht, das sich beim Näherkommen als eine starke Laterne über dem Eingang des Hauses entpuppte, vor dem der Wagen wenig später zum Halten kam. Das große, zweistöckige Gebäude aus grauem Granit hatte ganz und gar nichts mit einem Inn zu tun. Es war reich mit elisabethanischen Stilelementen versehen, allerdings wohl erst im späten achtzehnten Jahrhundert errichtet worden. Das Seeklima hatte deutliche Spuren an der Fassade hinterlassen, was dem Haus einen morbiden Charme gab.