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Paul Westheim

Heil Kadlatz!

Paul Westheim

HEIL KADLATZ!

Der Lebensweg
eines alten Kämpfers

Herausgegeben
und mit einem Nachwort
von Christian Welzbacher

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Inhalt

Heil Kadlatz!

Christian Welzbacher Nachwort

Anmerkungen

Weiterführende Literatur in Auswahl

Editorische Notiz

»Een Spion! Vater, een englischer Spion in unsere Straße«, aufgeregt stürzte Gustav in die Portierloge.

Herr Kadlatz, Portier eines hochherrschaftlichen Hauses am Hohenzollerndamm in Wilmersdorf, war gerade vertieft in eine der Broschüren, die jetzt in den ersten Wochen nach Kriegsausbruch massenweise verbreitet wurden. Es war darin das Ende des englischen Weltreichs prophezeit, das man von der Flankenseite aus nur aufzurollen brauchte. Die Flanke sei Indien. Mit Hilfe der Türken werde man sich des Suezkanals bemächtigen, der Schlüsselstellung nach Indien. Wenn man nach Niederwerfung der Russen dann auf dem Landwege nach Indien marschiere … Und so. Unwillig über die Störung herrschte Kadlatz den Jungen an: »Doofkopp. Von wejen Spion. Jroßer Bengel, der uf Ostern injesejnet werden soll, un lässt dir von alle Welt verkohlen.«

»Jar nich verkohlen. Hast doch selber in de Loge ein Plakat zu hängen: Achtung Spione!«

In der Tat verzierten die Loge des Herrn Kadlatz ein paar jener Plakate, die in patriotischem Eifer von amtlichen und nichtamtlichen Komitees gedruckt und in allen öffentlichen Lokalen zum Aushang gebracht worden waren. »Pflanzt Sonnenblumen. Ölgewinnung aus Sonnenblumen!« »Werft keine Obstkerne fort. Deutsches Fett aus Obstkernen.« »Achtung Spione! Mund zu, Augen auf. Bürger seid vorsichtig im Gespräch. Deutschland wimmelt von Spionen, die Euch aushorchen wollen. Jede Nachricht kann dem Feind dienen.«

Dass Deutschland von Spionen wimmelte, war selbstverständlich auch die Ansicht von Herrn Kadlatz. Alle Zeitungen waren voll davon und alle Welt war bemüht, durch immer neue Geschichten die Spionagepsychose zu nähren. Man hörte von geheimnisvollen Goldautos, die durch Deutschland rasten, um Gold aus Frankreich nach Russland zu bringen … Von der Wasserleitung in Nürnberg, die die Franzosen mit Cholerabazillen verseucht hätten. Das war sogar amtlich geschwindelt. W. T. B. oder so. Von Sprengkörpern, die man unter Eisenbahnbrücken gefunden habe usw. So war er selbst ja auch Mitglied eines freiwilligen Bahnschutzes geworden, der seine Aufgabe darin sah, Bahnübergänge, Brücken usw. gegen heimtückische Anschläge zu sichern. Was umso erfolgreicher gelang, da von niemandem auch nur der Versuch gemacht wurde, dem Bahnübergang von Wilmersdorf oder Schmargendorf ein Leid anzutun. Da Kadlatz gedienter Mann war, hatte man ihm sogar eines der wenigen Gewehre anvertraut, über die man verfügte. Modell 98, mit dem die Truppen ins Feld zogen, war es freilich nicht, sondern ein ganz veraltetes Ding, mit dem man wohl überhaupt nicht mehr schießen konnte. Immerhin, wie es so in der Ecke der Loge stand, machte es doch einen Ehrfurcht gebietenden Eindruck. Kadlatz konnte sich damit als wehrhafter Mann vorkommen, und wenn er gar, das Gewehr geschultert und die schwarz-weißrote Armbinde des freiwilligen Bahnschutzes umgebunden, durch die Straßen marschierte, imponierte er sich selbst.

Wenn er den Jungen ob seiner Spionenmeldung anschnauzte, so eben weil ihm als Vater und Portier Anschnauzen zur zweiten Natur geworden war. Vor allem aber, weil ihn die Bierbankphantasie jenes politisierenden Broschürenschreibers im Augenblick weit mehr interessierte. Der Spion hätte sich zu einer passenderen Zeit entdecken lassen sollen. Gerade hatte er mal einen Moment Ruhe, das heißt: es hatte sich niemand in der Loge eingefunden, mit dem er die Tagesereignisse zu bequatschen gehabt hätte, und da kam der Junge mit seinem Spion angelaufen. »Am Hohenzollerndamm een Spion —?!«, brummelte er. »Jeh man lieber runter nach die Heizung und schlack den Ofen aus.«

»Wahrhaftig wahr«, beteuerte der Junge. »Die Schmidten von Nr. 201 hat ihn entdeckt. Aus dem Eckhaus am Emser Platz hat er jeden Abend Pinkelzeichen jejeben!«

»Pinkelzeichen! Hahaha!«, lachte Herr Kadlatz. »Pinkelzeichen. Du bist mir ein Held. Weest nich ma, wat Blinkzeichen is. Ick möcht bloß wissen, wat ihr den janzen Tag in der Schule treibt.«

Kadlatz hätte nicht Berliner Portier sein müssen, wenn es ihn schließlich nicht doch herausgetrieben hätte aus seiner Loge, um zu sehen, was los war. Es gehörte ja sozusagen zu seinen beruflichen Obliegenheiten, zu wissen, was im Haus, vor dem Haus und um das Haus herum vor sich ging. Vielleicht war das sogar der Teil seiner Obliegenheiten, dem er am gewissenhaftesten nachging. So schlappte er denn, wie er war, in Pantoffeln und Hemdsärmeln auf die Straße, wo vor dem Eingang zur Post – im Erdgeschoss war ein Postamt – ein aufgeregtes Menschenknäuel sich angesammelt hatte und heftig diskutierte. Mittelpunkt war Frau Schmidt, die jedem, der hinzukam, aufgeregt aufs Neue den Fall in aller Umständlichkeit zu schildern versuchte. »Wat soll ick ihn sahrn, Herr Kadlatz! Heutzutage die Menschen, man sollte’t nich für möglich halten. Sie kennen ihm doch, den Denzer, bei uns an die Ecke. Ingenieur bei Siemens, hat’s immer jeheißen. Soll aber einer sin aus’n Jeneralstab von London, habense jetzt rausgekriegt. Haben ihm ooch schon injesperrt, in’t Konzertionslager oder so. Ick wees nich, mir kam er immer schon verdächtig vor. Hat so’n stechenden Blick in’t Ooge, wissense. Na un neulich uf’n Abend, et war so jejen Uhre neune, Aujuste war noch nich zu Hause, ick liege janz jemietlich in’t Fenster, ick hatt’ jrad een Paar Fersen anjestrickt, wat soll ick ihn sahrn, wie ick so een bisschen übern Platz kieke, wat seh ick? Oben bei Denzern aus’t Fenster wat aufleuchten. Een Oogenblick bloß, un wieder weg, un wieder da. Ick denke, nanu, det hat doch wat zu bedeuten, denk ick. Un jrade kommt ooch Aujuste zu Hause. Ick sahre zu Aujusten: Du Aujuste, sahre ick, kiek ma, ob du nischt siehst. Un richtig. Wieder janz deutlich. Ih, du meine Jiete, sahr ick, wat det woll zu bedeuten hat. Det kommt mir verdächtig vor. Un Abend für Abend. Un Willem, wat Aujusten ihr Freund is, der sagt, det is doch klar wie Hiob: Leuchtsignale. Die Sorte is feindlicher Ausländer. Un is vielleicht bestimmt vor een Flieger un vielleicht schmeißense noch ’ne Bombe bei uns uf’n Hohenzollerndamm. – Ick krieje denn ooch een barbarischen Schreck un sahre zu Aujusten, injerickt in de Zeitung müsste so ’ne Sache werden. So ’ne Engländersche, so ’ne mickrige Schrippe, machen sich mausig hier un spionieren —«

»Aasbande, rausholen un uf die Wache is det eenzig Richtige«, brüllte einer aus der Menge.

»Sahr ick ja ooch. So ’ne Brieders. Ooch noch Engländer«, pflichtete ein anderer bei, »Jott strafe England!«

Kadlatz war sich klar, dass da was geschehen müsse. Das Vaterland in Gefahr. Energisch musste da durchgegriffen werden. Überhaupt eine fabelhafte Gelegenheit, dem ganzen Hohenzollerndamm zu zeigen, wie er, Kadlatz, mit feindlichem Spionengesindel umzugehen verstand. »Een Momeng mal«, sagte er, »die Sache wer ick schon infädeln.« Eiligst rannte er in die Loge zurück, zog Stiefel, Rock und Bahnschutzarmbinde an, nahm das Gewehr und stellte sich an die Spitze des Zuges, der in der Hauptsache aus aufgeregt schreienden und spektakelnden Weibern bestand.

In der Wohnung der Frau Denzer, die vergeblich versicherte, dass sie gar nicht verstehe, was man von ihr wolle, in Tränen ausbrach und die Polizei anrufen wollte, was Kadlatz aber nicht zuließ, wurde das Eckzimmer gestürmt.

Es war das Schlafzimmer der Frau Denzer, das durchwühlt wurde. Vergebens suchte sie den Leuten klar zu machen, dass sie geborene Deutsche wäre, Berlinerin, aus der ihnen allen bekannten Familie der Bolle, die allmorgendlich ganz Berlin mit Milch versorge. Auch der Mann sei geborener Deutscher, er habe nur jahrelang in den englischen Kolonien zugebracht und sich da naturalisieren lassen. Doch von alldem wollte man nichts wissen. Schränke und Schubladen riss man auf, in der Hoffnung, irgendeinen mysteriösen Apparat zu finden, der zu Spionagezwecken bestimmt war. Kadlatz, der Führer, der die strategische Leitung hatte, benutzte die Gelegenheit, einen Ring, der in dem Toilettentisch lag, mitgehen zu lassen. Was war schon dabei. War doch »feindliches Eigentum«. Krieg ist Krieg. Auch eine Flasche Weinbrand, die sich im Esszimmer vorfand, wusste er unbemerkt in die hintere Hosentasche zu bugsieren. Dann nahm man »die Engländerin« mit zur Polizeiwache, wo Kadlatz Bericht erstattete und Frau Schmidt erneut Gelegenheit fand, ihre Erzählung über die allabendlich beobachteten Lichtsignale vorzubringen.

Die mit peinlicher Gewissenhaftigkeit durchgeführte polizeiliche Untersuchung ergab, dass die »Blinksignale« offenbar der Widerschein einer Lampe waren in dem großen Toilettenspiegel, der in der Mitteltüre des Kleiderschranks eingelassen war. Vermutlich war beim Öffnen und Schließen der Türe jener Widerschein entstanden, den das durch Spionagegeschichten erregte Gemüt von Augustens Freund für Geheimsignale gehalten hatte.

Was Kadlatz nicht hinderte, sich als Held des Tages zu fühlen, der in seiner Loge einem bewundernd lauschenden Publikum erzählte, wie es dank seines Scharfsinns und seines energischen Durchgreifens gelungen war, ein feindliches Spionagenest auszuheben … Auch die andere Seite des Heldentums, die Bescheidenheit, erwies er, indem er kein Wort verlauten ließ über die bei dieser Gelegenheit gemachte Beute.

In der Loge von Kadlatz war in diesen ersten Kriegswochen ein ständiges Kommen und Gehen. Die Türe, ausstaffiert mit einem Schild: »Hauswart. Eintritt für Unbefugte verboten« – und wehe dem »Unbefugten«, der es sonst gewagt hätte, das Schild zu übersehen und den Herrn Portier in seiner Ruhe zu stören! –, stand fast immer sperrangelweit offen. Jeder, der an der Loge vorbeimusste, die Mieter des Hinterhauses, die Dienstboten, die Telegrafenboten des Postamts, sogar alle möglichen Leute aus der Nachbarschaft, kamen auf einen Sprung herein, um neue und neueste Kriegsneuigkeiten zu hören oder aber mitzuteilen, was man »aus bester Quelle« von einem Geheimrat im Ministerium, einem Offizier im Generalstab oder sonst einer bestunterrichteten Seite erfahren hatte. Die Portierloge von Kadlatz, unerschöpflicher Born von Kriegsinformationen, die in keiner Zeitung und keinem Extrablatt zu finden waren, schon deshalb nicht, weil neun Zehntel ebenso phantastische wie sinnlose Erfindung war, war für den halben Hohenzollerndamm die Nachrichtenzentrale, sozusagen ein privater Generalstab, in dem mit großartigeren und kühneren Schlachtplänen aufgewartet wurde, als sie sämtliche Generalstäbe der Welt zu ersinnen vermocht hätten. Unnötig zu sagen, dass Kadlatz sich von Tag zu Tag mehr als höchst gewichtige Persönlichkeit vorkam.

Die Besorgung des Hauses hatten stillschweigend die Frau und die beiden Kinder, die 14-jährige Olga und der 13-jährige Gustav, übernommen. Vater befand sich sozusagen im Kriegszustand. Das heißt, er gehörte keiner Truppe an, trug auch keine Uniform, war aber so beschäftigt mit allem, was er täglich und stündlich über Kriegsoperationen, Kriegspläne, Kriegsaussichten, Kriegsziele, Weltlage usw. zu hören bekam, dass jede Ablenkung durch eine zivile Portierbetätigung sich von selbst verbot. Im Ernst, was hätte aus der ganzen Weltlage werden können, wenn er, Kadlatz, sich nicht mit allen Kräften darum gekümmert und gesorgt hätte. Das Einzige, was er wohl oder übel hatte konzedieren müssen, war das Aufschütten der Kohlen für die Warmwasserversorgung. Und auch das geschah nie ohne Fluchen und ohne das Bewusstsein, damit einen, wenn auch nur bescheidenen Teil seiner Kraft und seiner Zeit dem höheren vaterländischen Ziel des Kriegsgerüchtehörens und Kriegsgerüchteverbreitens zu entziehen.

Unnötig zu sagen, dass er sich die erdenklichste Mühe gegeben hatte, die Loge den neuen Zeitverhältnissen entsprechend auszustatten. Sämtliche Wände waren auf Krieg umgestellt, richtiger: auf Krieg umgehängt. Abgesehen von jenen Plakaten, die wohl dem Überfluss an gedruckten Ermahnungen entstammten, die tagtäglich auf das Postamt herniederprasselten, sah man an der Stelle, wo vordem ein Haussegen mit Bibelspruch gehangen hatte, jetzt ein Bild des Kaisers mit der Unterschrift: »Ich kenne keine Parteien mehr.« Auch Kadlatz kannte keine Parteien mehr. Kaum noch seine eigene. Als klassenbewusster Proletarier war er, wie sich von selbst versteht, Sozialdemokrat gewesen. Und zwar einer der rabiatesten. Hatte sich auch nie eine Gelegenheit entgehen lassen, auf die verfl… kapitalistische Ausbeuterbande zu schimpfen. In jedem Schutzmann sah er einen Schergen des kapitalistischen Systems, in jedem Beamten einen feilen Fürstenknecht. Wenn der Reichstag eine Militärvorlage bewilligte oder einen Panzerkreuzer, so kochte er vor Entrüstung, die er in Ermangelung von anderem an den Dienstboten des Hauses auszulassen pflegte, mit denen er irgendwelchen Krach anfing. Und gegen Wilhelm sich in Ausdrücken zu ergehen, für die das Wort »Majestätsbeleidigung« noch gelinde Umschreibung ist, war sein täglicher Sport. So rabiater Internationalist er vordem gewesen war, so strammer Nationalist war er jetzt, hohenzollern-, kriegs- und siegbegeistert. Er achtete streng darauf, dass alle Parteien im Haus die Fahnen heraushängten, wenn er das Flaggen für angemessen hielt. Und wer keine Fahne hatte, war für ihn einfach erledigt. Er hasste England wie einen Mieter, der es gewagt hätte, ihm zu Neujahr kein Trinkgeld zu geben. Das übrige »Pack«, Russen, Franzosen oder gar Serben, hätte er bei lebendigem Leibe schmoren können, wenn er die Gelegenheit dazu gehabt hätte. Neben dem Kaiserbild hing an der Wand einer jener Kriegsbilderbogen mit bunten Zeichnungen und Knüttelversen, wie eine findige Industrie sie sofort in Massen herausgebracht hatte. Gustav hatte ihn mit aus der Schule gebracht. Mit dem Kaiserwort »Jetzt wollen wir sie dreschen« als Überschrift versehen, las man da unter anderem:

»Das ist der Ni-Ni-Nikolaus.

Wie wird dir bei dem Kriegsgebraus?

Einst strahltest du in Friedenspose,

jetzt hast du zitternd voll die Hose.

Das ist der Po-Po-Poincaré.

Der große Held im Frack, oh weh!

Als freches Lügenmaul er übt sich.

Doch Keile gibt’s wie Anno 70.

Der Feinde sieben, um uns rum!

Wir schlagen alle lahm und krumm!

Und meldet sich ein zwölfter,

man los mit Gott! Dem Mutigen helft er!«

Hauptstück aber war eine vom Lokal-Anzeiger herausgegebene Landkarte von Europa, auf der er morgens und abends, sowie die Zeitung oder ein Extrablatt herauskam, mit Fähnchen in den verschiedenen Landesfarben den jeweiligen Stand der Armeen absteckte. Was gar nicht so einfach war, gehörte es doch zu den unerklärlichen Launen des Kriegsgottes, allzu häufig nur entscheidende Aktionen an Orten stattfinden zu lassen, die überhaupt nicht auf der Karte verzeichnet waren. Die Folge waren weit auseinandergehende Diskussionen, an welcher Stelle nun wirklich die Fähnchen einzupicken waren.

Die gewichtigste Informationsquelle für die Kadlatz’sche Loge war Friedrich, Friedrich Pehlke, Bursche des Majors Holsten, der Vorderhaus drei Treppen wohnte. Friedrich in seiner neuen feldgrauen Uniform war ja Angehöriger der Armee und als solcher eben Fachmann für Heeres- und Kriegswesen. Pulver hatte er allerdings noch keins gerochen. Und »militärisches Denken« beschränkte sich bei ihm darauf, vor jedem Vorgesetzten die Hacken zusammenzuklappen und nach Möglichkeit sich nicht erwischen zu lassen, wenn man was ausgefressen hatte.

Immerhin, in der Loge von Kadlatz war er umstrahlt von dem Nimbus, zur Armee zu gehören. Was seinen Eindruck auch nicht verfehlte auf diejenigen unter den Dienstboten, die im Banne der großen Zeit mit hingebungsvollem Eifer bemüht waren, ihr Herz auf Feldgrau umzustellen. Doch davon abgesehen, für Kadlatz und die vielen Heimstrategen, die seine Loge frequentierten, war die Meinung, die ein Mann wie Friedrich äußerte, sozusagen die Meinung der Armee, wenigstens konnte man sie dafür halten, auf jeden Fall andern gegenüber als Auffassung der Armee ausgeben. Wenn, wie der Psalmist sagt, alles Menschenwissen Stückwerk nur ist, so blieb das, was Friedrich vom Kriegsgeschehen wusste, recht weit noch hinter dem als übliches Normalmaß zu bezeichnenden menschlichen Stückwerk zurück. Der Major war längst a. D. gewesen und hatte ein gemächliches Leben als Versicherungsagent geführt. Seine Kriegsbetätigung bestand darin, auf dem Tempelhofer Feld in einem der Bezirkskommandos irgendwelche Listen zu führen. Wobei ihm Friedrich als Bursche aufwartete, soweit seine wertvolle Kraft nicht von der Majorin für häusliche Verrichtungen mit Beschlag belegt wurde. Was er vom Krieg zu hören bekam über das hinaus, was in allen Zeitungen stand, war das, was militärisch mit dem Fachausdruck »Latrinengerüchte« bezeichnet wird. So war er in der Tat unschätzbar als Informationsquelle. Denn von allen den Nachrichten, die er verbreitete, wussten selbst die gewiegtesten Fachleute des Hohenzollerndamms nichts. Und wenn nachher alles doch ganz anders kam, so war der plausible Grund dafür die völlig veränderte Kriegslage. Kadlatz unterließ es denn auch nicht, seiner Schätzung des wertvollen Kriegsgerüchtelieferanten Ausdruck zu verleihen, indem er persönlich ihm einen Schlüssel zum Fahrstuhl aushändigte. Was fast wie Auszeichnung mit dem E. K. I angesehen werden kann, da Kadlatz sonst streng darauf hielt, dass keiner der Dienstboten den Fahrstuhl oder auch nur den Vorderaufgang benutzte. In dem Punkt war er ganz und gar Haustyrann und er wäre kein rechter Portier gewesen, wenn er sich irgendeine Gelegenheit, den Haustyrannen zu spielen, hätte entgehen lassen.

»Kommst wie jerufen«, begrüßte er Friedrich, »kannst mir ma helfen, die Fähnchen wieder richtig zu stecken.« Durch einen unerklärlichen Zufall war nämlich die ganze auf der Karte so mühsam abgesteckte Front in Bewegung geraten. Die Engländer standen bei Amsterdam, die Franzosen diesseits des Rheins und den Österreichern war es gelungen, wer weiß wie weit, nach Russland vorzudringen. Der Zufall war ein Scheuerlappen, der den Händen von Frau Kadlatz so unglücklich entrutscht war, dass ein Teil der Fähnchen am Boden lag. Damit Vater nichts merke, hatte sie sie in aller Eile wieder eingesteckt, wobei die ganze Kriegslage in ein chaotisches Durcheinander geraten war. »War jewiss eins von die verfluchten Jören. Warst du woll, Olja?«, herrschte er die Tochter an, die die feldgraue Uniform Friedrichs in die Loge gelockt hatte.

»War’s ja jar nich! Alliens soll ick jewesen sin.«

»Lass dir jesagt sind, erwisch ick ma eenen bei die Karte, die Knochen schlag ick ihm zusamm.«

Mit Friedrich, dessen geographische Kenntnisse kaum über die Vergnügungslokale an der Oberspree hinausreichten, konnte er sich nur unter den größten Schwierigkeiten über die richtige Platzierung der Fähnchen verständigen. Einzelne Orte in Belgien zum Beispiel meinte er partout ins Elsass verlegen zu müssen, wo wiederum Kadlatz sie trotz allen Fluchens nicht ausfindig zu machen vermochte. »Antwerpen«, sagte Kadlatz, »jetzt, wo wir Antwerpen haben, wird kurzer Prozess mit die Engländer jemacht. Pass uff, die sin schneller wieder über ’n Kanal drüben, wie sie riebergekommen sind. Dann jeht’s uf Paris. Der Franzose is so schon fertig, Poincaré ausjerückt. Ieberhaupt die Franzosen, die wer’n die Anjeschissenen sein. Die Engländer, die wer’n sich in Calais festsetzen. Jloobst du, det die da wieder rausjehn? Nie im Leben. Die haben bloß mitjemacht, um Calais zu schlucken …« Nur die Sache mit den Russen, die in Ostpreußen immer weiter vordrangen, gefiel ihm nicht. »Sin bloß die Österreicher dran schuld, die schlappen Kerle. Keen Murr in die Knochen. Ausjerechnet die müssen wir uns als Verbündete aussuchen. Wenn man sich det Theater mitansieht, dann möcht man als alter Kerl die Knarre über’n Buckel nehmen un dazwischenfegen.«

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Der Leser wird mit Recht fragen, wieso Kadlatz bei seiner Begeisterung für die gute Sache nicht schon längst wie so viele andere »die Knarre« über den Buckel genommen hatte. Selbstverständlich hatte auch er sich in den ersten Kriegstagen nach dem Tempelhofer Feld aufgemacht, um sich freiwillig zu melden. Im Begriff zu den Fahnen zu eilen, hatte er unterwegs allerdings Hemmungen bekommen. Nicht etwa, weil er zu der so wenig mannhaften Überzeugung gekommen wäre, besser ist besser und weit vom Schuss am allerbesten. So ein Schlappier war Kadlatz nicht. Den Schützengraben stellte er sich wie alle anderen auch als heroischromantisches Abenteuer vor: »Jeder Stoß ein Franzos’, jeder Schuß ein Russ’« und so. Im letzten Augenblick war ihm nur eingefallen, dass aus seiner Meldung als Kriegsfreiwilliger sich gewisse Peinlichkeiten ergeben könnten. Ihm waren nämlich für eine gewisse Zeit die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt worden, und diese Zeit war erst im nächsten Jahr um. Bei der Auffassung, dass der feldgraue Rock ein Ehrenkleid sei und dass es eine Ehre sei, fürs Vaterland zu sterben, hätte es sich begeben können, dass er zurückgewiesen worden wäre. Dass er bei aller Begeisterung sich dem nicht aussetzen wollte, wird man verstehen. Ohnehin war er der Überzeugung, dass ihm schweres Unrecht geschehen war. Im Grunde war die ganze Sache doch nur eine Lappalie. Auf seiner früheren Stelle, er war Vorarbeiter in einem Kabelwerk gewesen, war es eines Nachts zu einem Einbruch gekommen. Vielmehr zu einem Einbruchsversuch, da unversehens der Wächter auftauchte. Wobei der Zufall gewollt hatte, dass dieser zur Unzeit auftauchende Wächter eins über den Schädel bekommen hatte. Trotzdem war das Gericht zu der ihm, Kadlatz, unverständlichen Auffassung gekommen, die Sache, die beinahe ein Menschenleben gekostet hätte, könne so ganz leicht nicht angesehen werden. Kadlatz im Besonderen warf man vor, dass er sich nicht allein von einer Rotte Metalldiebe habe verleiten lassen, als Werksangehöriger habe er sich auch noch dazu hergegeben, den ortskundigen Führer zu machen. Nicht nur brummen hatte er dafür müssen; es waren ihm auch die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt worden.

Dank den Bemühungen eines Fürsorgevereins für entlassene Sträflinge hatte er schließlich bei Herrn Rosenthal, in dem Hause am Hohenzollerndamm, die Portierstelle bekommen. Der »geborene Portier« führte in »seinem« Haus ein strenges Regiment. Übertretungen der Hausordnung, Eigenwilligkeiten der Mieter, ihrer Kinder oder gar der Dienstboten duldete er unter gar keinen Umständen. Die einzigen Eigenwilligkeiten, die er zuließ, waren die, die er sich selber erlaubte.

Da aus »Knarre über den Buckel nehmen« unter diesen Umständen nichts wurde, meldete er sich bei jenem freiwilligen Bahnschutz, der ihm im Haus und vor der Nachbarschaft das Ansehen gab, in schwerer Zeit dem Vaterland als freiwilliger Helfer beigesprungen zu sein, im Übrigen aber eine vergnügliche Angelegenheit war. Ins Leben gerufen hatte ihn ein Wilmersdorfer Architekt, der weniger seiner Bauten als seiner lustigen Streiche und seiner Trinkfestigkeit wegen berühmt war. Da es ihn in so großer Zeit nicht an seinem Schreibtisch hielt, an dem es ohnehin nichts zu tun gab, hatte er aus dem Drang nach irgendwelcher gemeinnütziger Betätigung ein paar Mann zusammengetrommelt, in einer leerstehenden Parterrewohnung ein »Großes Hauptquartier« errichtet und, da die Wohnung zufällig am Bahngelände lag, einen Bahnschutz mobilisiert. Die Gefahren, die abzuwehren man entschlossen war, waren in der Hauptsache eingebildete Gefahren. So war der Dienst nicht schwer und wurde von den Beteiligten auch nicht so überaus ernst genommen. Wichtiger, und man könnte fast sagen auch anstrengender, war das Beisammensein in jenem Hauptquartier. Der Architekt verstand die Gebefreudigkeit der umwohnenden Bürgerschaft für den guten Zweck mobil zu machen; so fehlte es in der Zentrale seines Bahnschutzes weder an Ess- noch an Trinkbarem und dementsprechend auch nicht an der gehobenen Stimmung.

Kadlatz tat in seiner Loge sehr gewaltig, sagte auch was von »Plackerei«, jedes Mal wenn er zum Dienst musste. Trotzdem kann behauptet werden, dass diese Art Kriegsbetätigung ihm durchaus zusagte.

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Die erste schwere Enttäuschung, die der Krieg ihm bereiten sollte, war die Angelegenheit der Schwestern Goerndt. Diese beiden alleinstehenden jungen Damen, die im Gartenhaus im zweiten Stock über der Wohnung von Frau Geheimrat Krause eine Dreizimmerwohnung hatten, waren »Damen«, Damen in Gänsefüßchen. Nicht, dass sie’s gewerbsmäßig betrieben hätten. Sie hatten jede ihren Freund und es schien sogar, als ob sie ihren Freunden treu wären. Was erstaunlich klingen mag; aber sogar das kommt vor. Man wusste im Haus, dass der eine Herr Ehler war, Sohn eines Großkonfektionärs vom Hausvogteiplatz, und dass der andere, Herr Kilchberg, eine Knopffabrik oder Knopfagentur hatte. Man wusste auch, dass Ehler und Kilchberg als Kollegen gemeinsam für den Unterhalt der Schwestern Goerndt sorgten. Man nannte sogar eine ganz bestimmte, allseitig für mehr als ausreichend erachtete Ziffer. Wenn die beiden Freunde zu ihren Freundinnen kamen, so wurde Kadlatz beauftragt, die benötigten Spirituosen heranzuschaffen. Was ihm jedes Mal ein angemessenes Trinkgeld einbrachte. Auch fand jeweils, was an angebrochenen Pullen übrig blieb, den Weg in die Portierloge. Und da Frau Kadlatz die Aufwartung bei den Schwestern besorgte, fiel auch immer noch von den nicht aufgegessenen Delikatessen mancherlei ab.

Kadlatz, der selbstverständlich auf Anstand und gute Sitte in dem ihm anvertrauten Hause hielt, hatte schon seine Bedenken gegen das Treiben der Schwestern Goerndt. Aber da er in so ergiebiger Weise davon profitierte, sah er großzügig darüber hinweg. Gehörte es auch keineswegs zu seinen Gepflogenheiten, sich in anderer Leute Sachen nicht hineinzumischen, so hatte er doch auch das Prinzip, sich dieses Vergnügen zu versagen, wenn er befürchten musste, durch solche Einmischung sich irgendwie selbst zu schaden. In diesem Falle der Schwestern Goerndt tat er trotz nicht zu bestreitender moralischer Bedenken sogar sein Möglichstes, beruhigend einzuwirken auf die verwitwete Geheimrätin Krause, die durch ihre Stütze, Bertha, mancherlei gehört hatte von dem Treiben, dem die Wohnung über ihr diente.

»Janz recht hamse, Frau Jeheimrätin, billigen kann man so wat nich in een anständjet Haus. Davor sin die Häuser doch nich da. Un anjenehm is et ooch nich vor die Mieter. Aber die jungen Leute heutzutage. Un wat fragt so ’n Hauswirt nach, wenn er bloß die Miete kriegt. Un bei die Goerndt’schen oben, na, allens nich so schlimm. Sind sonst janz ordentliche Meechens.« Und wenn von gut aussehenden und gut zahlenden jungen Männern ausgehalten zu werden der Wunschtraum der meisten dieser Stützen und Hausmädchen war, den sie hinter sittlicher Entrüstung zu verbergen trachteten, so war diese Entrüstung erwünschter Vorwand, sich eingehend mit dem so hochinteressanten Thema zu befassen. Kadlatz war Menschenkenner genug, um durch immer wieder neue Einzelheiten, deren Richtigkeit dahingestellt bleiben mag, jenen Wunschträumen weitere Nahrung zu geben.

Als Reserveleutnants hatten die Herren Ehler und Kilchberg sofort einrücken müssen. Es gab Tränen in der Goerndt’schen Wohnung. Es kamen Feldpostbriefe, und es wurden oft Feldpostpäckchen abgesandt. Die beiden Schwestern lebten häuslich und zurückgezogen. Niemand hätte ihnen auch nur das Geringste nachsagen können. Mit eiserner Faust sozusagen hatte die große Zeit das Ärgernis am Hohenzollerndamm weggefegt. Für alle, die moralische Bedenken gehabt hatten, wäre nun alles in schönster Ordnung gewesen. In Kadlatzens Brust sollte sich so nach und nach doch ein Widerspruch der Gefühle entspinnen. Mit Wehmut dachte er zurück an die guten Trinkgelder, die guten Tropfen und die guten Happen, die das Treiben in der Goerndt’schen Wohnung ihm eingebracht hatte. Und aus Wehmut wurde Wut, dass es damit nun aus und vorbei war. Hatte er die Goerndts damals, als sie ihre spendablen Freunde noch hatten, »janz ordentliche Meechens« genannt, so waren sie jetzt für ihn »nichts weiter als Huren«. Das Ärgernis, das er seinerzeit zu nehmen versäumt hatte, nahm er jetzt umso mehr. Und lebhaft bedauerte er, dass die Geheimrätin ihre ohne Frage berechtigten Beschwerden nicht erneut vorbrachte, nachdem der Anlass ja nicht mehr gegeben war.

Sei es nun, dass der Krieg sich allzu sehr in die Länge zog und die Natur auch bei den Schwestern Goerndt ihr Recht wieder forderte, sei es, dass die Unterstützungen von den Herren Ehler und Kilchberg nicht mehr oder doch nicht mehr in dem erforderlichen Maße eingingen, eines Tages glaubte er bemerkt zu haben, dass bei den Goerndts sich irgendetwas anderes angesponnen habe. Und wenn ein gewiegter Portier solchen Verdacht erst mal gefasst hat, so ruht er nicht, bis er sich von der Richtigkeit seiner Vermutungen überzeugt hat. Auf Grund seiner mit aller Sorgfalt betriebenen Feststellungen gab er sich bereits den rosigsten Hoffnungen hin. Aussichten, die umso verlockender waren, als der Krieg, wie auch ihm nicht entgehen konnte, die Menschen immer knickriger machte. Selbst die, die früher stets eine offene Hand gehabt hatten, gaben seltener und weniger. Auch das Lukullus-Leben bei dem Bahnschutz hatte ein vorzeitiges Ende gefunden, einmal weil die Behörden es für richtiger erachtet hatten, auf diese Art Hilfsdienst zu verzichten, zum anderen aber, weil im Laufe der Zeit auch die Gebefreudigkeit der Bürger erlahmt oder anderen Zielen zugewendet worden war. Umso grausamer war die Enttäuschung, als ihm zum Bewusstsein gekommen war, dass das neue Leben, das in der Goerndt’schen Wohnung erblühte, sich fundamental von dem der guten alten Vorkriegszeit unterschied. Weder nahmen die neuen Herren die Mithilfe des Portiers in Anspruch, noch gedachten sie seiner. Es gab keine Trinkgelder. Offenbar tranken sie auch ihre Alkoholflaschen selber aus. Was denn doch zu viel war. Kadlatz unterließ es denn auch nicht, in ehrlicher Entrüstung das ganze Haus über das skandalöse Treiben in der Goerndt’schen Wohnung aufzuklären. »Een richt’jer Hurenbetrieb, sahre ick. Det kann man ja jar nich mitansehn. Jeden Tach andere Kerle un ooch noch in diese jroße Zeit. Det so was ieberhaupt möglich is in een hochherrschaftlichet Haus«, tobte er. Die Frau Geheimrätin, aufs Neue von Bertha angestachelt, teile voll und ganz die portierliche Entrüstung. Bei nächster Gelegenheit unterrichtete Kadlatz auch Herrn Rosenthal, den Wirt, die Mieter rebellierten, sie wollten sich das unter gar keinen Umständen mehr gefallen lassen. Die Frau Geheimrätin sei in vollster Rage, dass über ihrem Kopf so was vor sich gehe. Und so weiter. Herr Rosenthal konnte nicht umhin, den Damen Goerndt einen eingeschriebenen Brief zu schicken, in dem er die Klagen über das sittenwidrige Verhalten zum Anlass nahm, vom Vertrag zurückzutreten. Im anderen Falle sehe er sich zu seinem Bedauern genötigt, Exmission zu beantragen. Die Schwestern, empört und entrüstet, heulten, wollten auf keinen Fall in einem Hause bleiben, in dem man ihnen solche Briefe schrieb. In kürzester Frist zogen sie aus. In ihre Wohnung zog ein stellenloser Sänger, von dem Kadlatz allerdings auch nichts hatte. Und da er den ganzen Tag übte, hatte die Geheimrätin allen Grund, über den Wohnungstausch entsetzt zu sein. Auf ihre Beschwerde über das unerträgliche und unaufhörliche Gesinge, ließ er ihr sagen, das gehöre zu seinem Beruf. Sie musste zu der Erkenntnis kommen, dass der Beruf, den die Schwestern Goerndt ausgeübt hatten, eigentlich vorzuziehen sei, da er ohne störendes Geräusch ausgeübt zu werden pflegt.

Unnötig zu sagen, dass Kadlatz für seine Person durchaus kein Kostverächter war. Er war einer von den unendlich vielen, die sich sehr leicht über Ungehörigkeit und Unsittlichkeit erregen, sofern ein anderer das Vergnügen hat. »Ick, ick jönne jedem sein Verjniejen«, pflegte Kadlatz zwar jedes Mal zu versichern, was ihn aber nicht abhielt, im gerade gegebenen Fall ebenso viel Entrüstung zu zeigen wie die, die so löblichem Grundsatz nicht huldigen. Eine Gelegenheit, die sich bot, sich entgehen zu lassen, hätte er als dumm, als direkt dusselig empfunden. Im Gegenteil, häufig genug legte er es geradezu darauf an, eine solche Gelegenheit herbeizuführen. Das weibliche Hauspersonal, das ihm zwar nicht unterstellt war, dem gegenüber er sich aber doch als eine Art Aufsichtsbeamter fühlte, betrachtete er als Freiwild. In den weitaus meisten Fällen, ohne dem nötigen Verständnis zu begegnen, nicht einmal jetzt in der Kriegszeit, wo doch ein ganz ansehnlicher Prozentsatz von Männern in den besten Jahren sozusagen hors concours war. Im Keller nach der Heizung zu sehen, war eins jener Geschäfte, zu dem er sich niemals ohne vernehmlichen Protest herbeiließ; begab es sich aber, dass eins der Hausmädchen etwas im Keller zu tun hatte, so war mit ziemlicher Sicherheit damit zu rechnen, dass er urplötzlich vor oder hinter der Betreffenden auftauchte. Wobei es ihm auch mal auf einen Griff nicht ankam, obzwar er sonst der Auffassung war, dass jeder Handgriff, der dem Portier zugemutet wurde, zu viel und von Übel sei. »… So ’n oller Knickstiebel«, pflegten die Mädchen nach derlei vergeblichen Versuchen zu sagen. »Was der sich wohl einbildet, so ’n oller Kerl. Bei mir – in die Kanne. Und überhaupt im Haus, da kommt doch nichts Gescheites bei raus.«

Mit Genugtuung glaubte er feststellen zu können, dass er bei Bertha, der Geheimrätin Krauses Stütze, so nach und nach Terrain gewann. Zwar verhielt auch sie sich abweisend – was er sich denn denke, sie habe sich nie was zuschulden kommen lassen, wenigstens sei’s kaum der Rede wert gewesen –, aber dass er sie überhaupt in die Notwendigkeit solcher Abweisung versetzte, schien sie nicht gerade unangenehm zu empfinden. Wenn er ihr alle vier Wochen beim Teppichklopfen half, so war das Frühstück, das er nachher noch extra aufgetischt bekam, von Mal zu Mal ergiebiger, wenigstens glaubte er das konstatieren zu können. Und auf vorgesetzte Frühstücke verstand er sich. Auch wollte es ihm scheinen – und auch darin dürfte er sich nicht geirrt haben –, als sei sie ganz Ohr, wenn er nicht gerade verblümt von den Vorgängen in der Goerndt’schen Wohnung sprach, oder nach Kriegsausbruch von dem, was angeblich die Kosaken in Ostpreußen und speziell mit den armen Ostpreußinnen trieben. Möglich auch, dass die beängstigend anwalzende »russische Dampfwalze« entscheidend war bei ihrem Entschluss, die Taktik des Abweisens nicht auf die Spitze zu treiben. Bei so bedrohlicher Weltlage konnte es für sie, die sie mit einer alten, ebenso wehrlosen Geheimrätin allein in der Wohnung war, doch ratsam sein, so etwas wie einen männlichen Schutz zu haben. Und dass man ihn im Hause selbst haben konnte, war gewiss nicht das Schlechteste. So sollte es dazu kommen, dass einer der Flurnachbarn, als er spätabends noch einen Brief zum Kasten tragen wollte, den Portier in Socken, die Stiefel unterm Arm, am Türschloss der Krause’schen Wohnung herumhantieren sah.

Versteht sich, dass auch diese Entwicklung der Dinge nicht unbekannt bleiben sollte im Haus. Ihm selbst war es vielleicht gar nicht so unangenehm, dass die Leute es sich nicht nehmen ließen, sich über den amourösen Seitensprung des Portiers aufzuhalten. Er versicherte zwar immer wieder, dass jeder »sich wat Eckliches besehn könne, der über ihm un Berthan wat zu meckern habe«; andererseits gefiel er sich aber doch sehr in dem Nimbus des erfolgreichen Herzensbrechers. Vielleicht, man kann ja nicht wissen, brachte es die eine oder andere auch auf den Geschmack. Er hoffte es wenigstens.

Bertha suchte er einigermaßen zu beruhigen. Einigermaßen nur, denn nachdem die Sache nun mal so weit gediehen war, wie es erfreulicherweise der Fall war, war er nicht geneigt, noch viel Federlesens zu machen. »Wat jehn dir die Leute an? Albernes Getratsch, musst jar nich druf hinhören. Mach man bloß keine Zicken. So wat kann ick uf’n Tod nich vertragen«, sagte er. Mit der Tatsache, dass er nunmehr Herrenrechte hatte, hatte sie sich eben abzufinden. Ihr darüber von vornherein jeden Zweifel zu benehmen, hielt er überdies für ganz praktisch. »Det wär ja noch schöner, wenn ’ne Frau wat zu melden hätte«, war seine Devise.

»Die Olle«, womit seine eigene Frau gemeint war, hatte, wie er ihr erklärte, »die Schnauze zu halten.« »Wirst mir woll dummkommen?«, hauchte er sie an. »Det sin meine Sachen un jehn kein’ was an. Ick soll dir woll wieder mal en Ding verpassen?!« Zu welchem Zwecke er sich eines alten, sonst kaum noch benötigten Spazierstocks zu bedienen pflegte. »Überhaupt wer ich von nun an in die Loge schlafen. Det Bett könnt ihr uf’n Mittag rieberschaffen.«

»Na, denn kann dir deine Bertha ooch die Socken stoppen«, sagte Frau Kadlatz als praktische Hausfrau.

»Kann se ooch«, erklärte er. Womit er die Angelegenheit für erledigt hielt. Zu der Müller’schen, der Portierfrau von nebenan, sagte sie bei der Erörterung des Falles: »Lässt er mir wenigstens in Frieden, der olle Brummkopp. Nu braucht Justav nich aus’ Bette, wenn nachts eener in’t Haus will. Wird schon bald jenug haben, von in die Loge schlafen. Un wenn die olle Ziege, die Bertha, erst ma ihre Senge gekriegt hat, schickt sie ihm schon von alleene wieder. Aber so sin die Männers.«

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Es lässt sich nicht verschweigen, mit der Länge der Zeit verlor der Krieg den Reiz der Neuheit. Nicht nur für Kadlatz, der versichterte, dass er schon längst »die Neese pleng« habe. »Bloß wat für Schieber, die sich jesund machen. Aber unsereener – Wenn der Mist bloß erst ma zu Ende wär —« Friedrich sah er nun fast als einen Drückeberger an. »Ooch eener von die Kadetten, die sich in de Schreibstuben rumdrücken.« Die Karte an der Wand fand längst keine Beachtung mehr. Selbst wenn auf irgendeiner der Fronten mal was abzustecken gewesen wäre, so interessierte ihn das kaum noch. Die Fähnchen waren zum Teil rausgefallen und achtlos in den Müll gefegt worden. Eines Tages riss er die ganze Karte runter. Wozu auch? Gesprächsthema war jetzt eine andere Karte, die Brotkarte. »Fuffzig Jramm Brot uf’n Tag für’n schwer arbeitenden Mann! Wat sich die Herrschaften woll bei jedacht ha’m. Na die, die haben ja alles. Die wer’n schon Fettlebe machen. Un Kohlrübenmarmelade, un Zichorienbrühe statt Kaffee. Un stundenlang anstehen vor en Klacks Butter. Det des Volk sich so wat ieberhaupt jefallen lassen dhut. Na, et is noch nich aller Tage Abend, det sahre ick.« Dass er als »schwer arbeitender Mann« von Kohlrübenmarmelade und dergleichen amtlich zugeteilten Delikatessen verschont blieb, überhaupt trotz Brot-, Fleisch- und Fettkarte nicht so ganz von Kräften kam, dafür sorgte Bertha, die treue Seele, die es jeweils schon so einzurichten wusste, dass in der geheimrätlichen Wirtschaft immer noch eine angemessene Portion abfiel, die ihm unbemerkt zuzustellen nicht immer so ganz einfach war.

Herr Blomeyer, der Bildhauer, der im hinteren Hof das angebaute Atelier hatte, schickte rüber, Kadlatz solle eiligst kommen, er, Blomeyer, habe seine Einberufungsorder erhalten.

Blomeyer hatte es verstanden, diesen seit langem befürchteten Moment mittels einer angeblichen Herzneurose und den entsprechenden Attesten eines Stabsarztes a. D. herauszuschieben. Hatte eine ganze Stange Geld gekostet. In diesem Falle hatte Blomeyer ganz gegen seine sonstigen Gepflogenheiten sogar auch gezahlt. Per saldo hatte es sich trotzdem gelohnt, denn die Atteste des Stabsarztes a. D. schienen doch nicht ohne Beachtung geblieben zu sein. Und auch jetzt war er nur g. v. (garnisondienstverwendungsfähig) geschrieben worden.

»Dem fehlt jar nischt. Een janz Jehenkter, der sich bloß zu drücken versteht«, hatte Kadlatz missbilligend erklärt. Weiterhin, als seine Kriegsbegeisterung entschieden abgeflaut war, hatte er aber so etwas wie Respekt: »Alle Hochachtung. Eener, der sich nich an die Hammelbeine kriejen lässt!« Blomeyer hatte für den Fall, dass er nun doch wegmüsse, mit ihm besprochen, dass er die Schlüssel zum Atelier in Verwahrung nehmen und auf die Sachen aufpassen solle.

»Also nun jeht’s weg«, sagte Kadlatz. »Uff, nieder, uff, nieder, wer’n Se ooch man sehn, wie det so is.«

»Mit mir werden sie keine großen Lichter aufstecken«, sagte Blomeyer. »Bei meiner Herzneurose. Auf alle Fälle hab’ ich mir noch mal ein extra Attest ausstellen lassen. Wer weiß, vielleicht bin ich bald wieder da.«

»Na, na, wen die erst ma in die Klauen haben …«

Blomeyer gab ihm dann im Einzelnen Bescheid. Vor allem sollte er auf die Formen achten. Drückte ihm auch noch ein Trinkgeld in die Hand. Den Schlüssel werde er am anderen Morgen in der Loge abgeben.

Als Blomeyer, den Pappkarton am Arm, abgezogen war, hielt Kadlatz es doch für seine Pflicht, das ihm anvertraute Atelier einmal einer näheren Inspektion zu unterziehen. Eigentlich, ging’s ihm dabei durch den Kopf, sei’s unverantwortlich, eine so tipptoppe Bleibe einfach leerstehen zu lassen. Geplagter Mann, der er war, der keine Minute für sich allein haben konnte, für den war doch so was gerade das Richtige, wenn man mal ein bisschen ungestört sein wollte. Auch das mit Bertha würde sich auf die Weise sehr vereinfachen. Die Loge war doch zu ungemütlich und in Socken bei Krausens reinschleichen, das hatte ihm nie so recht gepasst.

Da der Zähler fürs elektrische Licht abgelesen war, zog er von der Flurbeleuchtung aus ein paar Drähte. Auf so was musste er als Portier sich ja verstehen! Und während Blomeyer auf einem Kasernenhof sich im Dienste des Vaterlandes abrackerte, war aus seinem Atelier ein Buen Retiro oder Monrepos oder Sanssouci für Kadlatz und seine Bertha geworden.

Das Unglück wollte es, dass Blomeyer eines Tages völlig unerwartet auf Urlaub kam, und gerade in einem Augenblick, in dem irgendwelche Störung Kadlatz entschieden unerwünscht sein musste.

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Mit Olga gab’s eine ärgerliche Geschichte. Vater sollte eigentlich gar nichts davon erfahren. Aber wenn es nun einmal so ist, dass vor den Argusaugen des Portiers die Bewohner des Hauses keine Geheimnisse haben können, so noch weniger die eigene Familie. Was eigentlich geschehen war, ob überhaupt was geschehen war, ist ungewiss. Olga behauptete steif und fest, es sei ganz und gar nichts dabei gewesen. Aber ihre Glaubwürdigkeit schien Kadlatz nicht übermäßig hoch zu bewerten. Die Portierfrau war fortgegangen, »auf Butter zu stehen«. Dieses Anstehen vor dem Butterladen, um die auf Karten entfallende wöchentliche Butterration zu erhalten, pflegte erfahrungsgemäß ein bis zwei Stunden zu dauern. Auf diese Erfahrungstatsache bauend, hatte Olga einen jungen Burschen aus der Nachbarschaft, Paule Wampser, mit dem sie gelegentlich auch auf dem Rummelplatz zu sehen war, mit in die Wohnung genommen. Angeblich, um ihm »den Zeppelin zu zeigen«, den Gustav mittels eines Patentbaukastens gebastelt hatte. Im Schlafzimmer baumelte er unter der elektrischen Ampel. Der Zufall hatte es gewollt, dass gerade an diesem Tage die benötigte Buttermenge in der Meierei nicht eingegangen war, und die anstehenden Frauen, unter ihnen auch Frau Kadlatz, unverrichteter Sache wieder abziehen mussten. Als sie nach Hause kam, fand sie die Wohnung verschlossen, und als auf ihr energisches Klingeln und Pochen endlich geöffnet wurde, bemerkte sie noch, dass jemand zum Fenster herausturnte, und in diesem Jemand erkannte sie Paule Wampser, den Olga zur Besichtigung des Zeppelins mitgenommen hatte.

»Von wejen Zeppelin«, brüllte Kadlatz sie an, »mir kannste nich for dumm verkoofen. Du nich. Da muss schon een janz anderer komm’ als so ’ne Rotzjöhre. Uf die Sachen bin ick scharf, det kann ick dir sahrn. Wo ick als Vater die Verantwortlichkeit vor habe. Is doch kaum zu jlooben. So ’ne miserablichte Kreatur! Na warte man, der Aal soll dir sauer aufstoßen. Ick wer dir jleich zeijen, wat Jehorsam parieren heeßt. Un so ’n mankbeenigter Kerl, der Wampser. Wenn ick den zu fassen krieje, den wer ick die Seele aus’n Leib treten. Un so zusammenschlagen, det der die Knochen uf Eis stellen muss. Den möcht ick sehn, der bei so ’ne Sache nich in Rage kommt. Un wer ick wütend, denn kann et Mord un Totschlag jeben. Schäm dir, du Miststicke.«

»Wat brauch ick mir zu schämen, wo ick mir doch jar nischt bewusst bin«, erwiderte Olga.

»Nischt bewusst un heimlich mit’n Kerl sich inschließen. Da haste deine Olja«, blaffte er nun auch die Frau an, die in Sorge um den weiteren Verlauf der Dinge herbeigeeilt war.

»Sei du man janz stille«, ging nun auch Olga zur Offensive über.

»Wat sagste?«, donnerte er nun los. »Ooch noch kess obendrein. Bist woll ’n bisken trillerig in’n Kopp. Da kann een ja die Jalle in’t Blut treten.«

»Jawoll, du mit deine Bertha. Als ob ick nich Bescheid wüsste.«

Das war denn doch zu viel für Kadlatz. Die Galle schien ihm sichtlich ins Blut getreten zu sein, und mit dem Spazierstock fing er an, auf sie loszuschlagen. Und nachdem er nun mal beim Dreschen war, hielt er es für angezeigt, auch die Frau gleich mitzuvermöbeln. »Wirst ihr woll noch recht jeben? Soll man so wat für möglich halten? Wenn ick nich so ’n Jemütsmensch wär’ —. Heulend und schreiend rannten die beiden Weiber raus auf den Hof, er mit seinem Prügel hinterher, den Anwohnern des gesamten Blocks ein Schauspiel bietend, das unzählige an die Fenster lockte.

Nachher, als die beiden hinter der schützenden Wohnungstüre Gelegenheit hatten, sich den Schaden zu besehen, meinte Olga resigniert: »Ick sahre weiter nischt wie Unschuld dhut weh!«

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