Klaus Reichert
Christian Hoffstadt (Hrsg.)

Vom Höhlengleichnis
zum Gehirnkino

Aspekte der Medizinphilosophie

Band 1

 

Klaus Reichert
Christian Hoffstadt (Hrsg.)

Vom Höhlengleichnis
zum Gehirnkino

Eine kleine Philosophie der
Wahrnehmungsstörungen

projekt verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Vom Höhlengleichnis zum Gehirnkino: eine kleine Philosophie der Wahrnehmungsstörung/​Hrsg.: Klaus Reichert; Christian Hoffstadt. - Bochum: Projekt-Verl., 2002

(Aspekte der Medizinphilosophie; Bd. 1)

ISBN 978-3-89733-076-8

ISSN 1610-1693

ISBN 978-3-89733-296-6

© 2002 projekt verlag, Bochum

Postfach 10 19 07

44719 Bochum

Tel.: 0234/​3 25 15 70

Fax: 0234/​3 25 15 71

e-mail: Lektorat@projektverlag.de

Internet: www.projektverlag.de

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Für Stella

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Einleitung

Klaus Reichert • Christian Hoffstadt

I Wahrnehmung und Wahrnehmungsstörungen

Klaus Reichert

Die Welt steht Kopf

Die Lust am Unsinn

Die beiden Kranken

Visuelle Wirklichkeiten

Sichaufdemkopfstehendfühlen

Die Metapher vom Weltkopfstand

Literatur

Tanja Wiersbitzki

Blind für seine Blindheit

Literatur

Franz Peschke

Der Sandmann kommt – Eine Interpretation von E.T.A. Hoffmanns Geschichte „Der Sandmann“

Literatur

Klaus Reichert

Neglect oder das fehlende Bewusstsein, dass die Welt aus zwei Hälften besteht

Literatur

Joachim Erb

Bilder aus der Dunkelkammer - Zur Kenntnis des Charles Bonnet-Syndroms

Literatur

Franz Peschke

Nasen

Literatur

Joachim Marowski

Wiedersehen macht Freude?

Vom Kaleidoskop und den Hunden

Visuelle Halluzinationen

Palinopsie

Literatur

Christian Hoffstadt • Klaus Reichert

Vom Höhlengleichnis zum Gehirnkino – Nachgedanken zur Palinopsie

Literatur

Filme

Oliver Neumann • Klaus Sewekow

Die Behandlung neurovisueller Störungen

Einleitung

Neurovisuelle Störungen Häufigkeit

Gesichtsfeldeinschränkungen

Fallbeispiel

Fusion, Stereosehen und visuelle Belastbarkeit

Neglect

Visuell-räumliche Störungen

Einfache Sehleistungen

Komplexere Sehleistungen

Balint-Syndrom

Literatur

Franz Peschke

Götter, Licht, Augen und Erkenntnis

Literatur

II Selbstwahrnehmung und gestörte Ich-Konstruktion

Klaus Reichert • Klaus Sewekow

Der Mann mit den drei Armen

Einblick

Der Fall

Phantomglieder

Das Besondere

Ausblick

Literatur

Jiri Modestin

Die Entwicklung der Identität und ihre psychiatrischen Aspekte

Kulturgeschichtliche Perspektive

Individuelle Identitätsbildung

Erschwernisse der Identitätsbildung

Identitätsstörungen

Identität bei psychisch Kranken

Rolleninduzierte Identitätsveränderungen

Schlussfolgerungen

Literatur

Christian Hoffstadt

Das Ich und seine Geschichten

Einleitung

Ich und Person

Ricoeurs narrative Identität und das Ich als Anderer

Das synchrone und diachrone Ich in der Psychoanalyse

Split-Brain und die Rückkehr des Dualismus

Das erzählte Selbst im postmodernen Pluralismus

Schlussbemerkung

Literatur

Klaus Reichert

Begegnung mit dem Doppelgänger

Literatur

Christian Hoffstadt • Andreas Schulz-Buchta

Der Mensch als Prothesengott - Über die (Selbst-)Wahrnehmung des Menschen in Medizin, Ethik und Philosophie

0. Systemeinstellungen

1. Anthropologisches

2. Textkörper – Auf dem Weg zum lesbaren Menschen

3. Ethik der Prothetik

4. Körperentwürfe

5. Prototypen humanistischer Vorurteile

6. Wahrscheinlichkeiten

7. Aporie des Prothesengottes

Literatur

Franz Peschke

Die Familie des Prothesengottes - Eine neue Logik der Verwandtschaft

Einleitung

Vom Vater zur leasing mother

Die Verwandtschaftsverhältnisse in neuem Licht

Oder die Strategie der Gene?

Literatur

Glossar

Die Autoren

Kultur- und Geisteswissenschaften im projekt verlag

Fußnote

Einleitung

Klaus Reichert • Christian Hoffstadt

„Das Sehen ist nicht mehr die Möglichkeit zu sehen,

sondern die Unmöglichkeit, nichts zu sehen.“

Paul Virilio

Da weder die Neurologie, ihre biologischen Fundamente und ihr theoretischer Überbau, noch die Geisteswissenschaften in ihrer gesamten Breite und ihren Übergangsgebieten zur Medizin (z. B. Psychologie) imstande sind, das Spektrum der Wahrnehmung bzw. der Selbstwahrnehmung allein ausreichend zu bearbeiten, müssen die Grenzen dieser Fachgebiete überschritten werden, um neue Perspektiven zu eröffnen (zumeist wird dies schon unbescheiden „Fortschritt“ genannt). Auf diese Weise kommen sich entfremdete Fachbereiche wie die Neurologie und die Psychiatrie in fast nostalgischer Weise wieder näher, aber auch größere Bögen werden zu den Philosophen, Psychologen und Kulturwissenschaftlern gespannt. Vielleicht verbindet sie alle der Reiz des Pathologischen, des Absonderlichen, des Seltsamen, das der Bereich der Wahrnehmung des Menschen und seiner Selbstwahrnehmung bereitstellt.

Weit davon entfernt, uns als (selbst-)wahrnehmende Wesen schlüssig in all unseren Facetten definieren zu können, bieten sich uns mehr denn je unzählige Geschichten der Wahrnehmung, der Selbstwahrnehmung, des Ich als Folgeprodukt von äußeren Eindrücken. Klassische Erkenntnistheorie, Ästhetik, Medientheorie, Naturwissenschaft und Medizin sind den Fragen nachgegangen: Wie nimmt der Mensch wahr? Wie wird sein Ich durch das Wahrgenommene beeinflusst? Ist das Ich nur ein Bündel von Wahrnehmungen, oder gibt es eine grundlegende Ich-Matrix?

Dies sind Fragen, die in einem bewusst heterogenen Feld von Aufsätzen besprochen werden sollen und die lediglich – soweit dies geht – in zwei große Komplexe eingeteilt sind: Wahrnehmung bzw. Wahrnehmungsstörung und (gestörte) Selbstwahrnehmung.

Wahrnehmungsstörungen sind in der so genannten Bewusstseinsphilosophie (teilweise in Verbindung mit der Neurobiologie) schon seit längerer Zeit beliebt, wegen ihrer Absonderlichkeit (die für den Nicht-Mediziner besonders groß erscheint) und der Möglichkeit, von ihr auf die normale Wahrnehmung des Bewusstseins zurückzuschließen. In diesem Sinne wird hier nicht verfahren, ein mechanistisches Modell des Geistes, das sich exzentrischer Fälle bedient, soll eben nicht geboten werden (womit noch nichts über dessen Wahrheitsgehalt gesagt sein soll), sondern eben eine Einbettung in die verschiedenen kulturellen, philosophischen und medizinischen Perspektiven.

Der zweite Komplex, der sich mit der Identität des Menschen, der Person, des Bildes des Menschen von sich selbst, seiner Selbst-Wahrnehmung beschäftigt, leitet sich sowohl aus den Forschungen der Psychiatrie ab, aber auch aus der Psychoanalyse und der schon älteren philosophischen Frage nach der Identität der Person (wobei letztere im Gegensatz zur „Bewusstseinsdebatte“ – obwohl damit verknüpft – wesentlich weniger Aufmerksamkeit erregt).

Am Schluss befindet sich ein Glossar, das sowohl dem interessierten Laien als auch dem nur auf einem der genannten Felder versierten Leser Geleit geben soll. Im Text nicht explizit erklärte Begriffe, die einem speziellen Diskurs entstammen, werden im Text mit einem (*) vermerkt und sind im Glossar kurz erklärt.

Vielleicht ist damit ein Anfang gemacht, Interfakultativität nicht mehr nur als Monotheorie zu praktizieren, die sich nur der interessanten Beispiele aus anderen Wissenschaften bedient; vielleicht bedarf es eines erweiterten Sichtfeldes, eines Perspektivenwechsels, der es erlaubt, nicht nur Dinge anders zu sehen, sondern auch die eigenen Untersuchungsmechanismen zu verstehen.

Karlsruhe, im Juli 2002

Klaus Reichert

Christian Hoffstadt

Palinopsie

Bei unserer Patientin Frau B. entspricht das wiederholte Sehen von Passanten und passierenden Hunden dem Begriff der Palinopsie. Eine Palinopsie, ein Kunstwort aus dem altgriechischen palin = wieder und opsis = das Sehen, bezeichnet ein Wiedersehen im Sinne einer erneuten Begegnung, die nie wirklich stattfindet. Palinopsie ereignet sich bei der Entwicklung oder Rückbildung eines homonymen Gesichtsfeldausfalls, und gewöhnlich tritt sie im gestörten Gesichtsfeld auf.

Unmittelbar nach dem Verschwinden oder nach einer gewissen Latenzzeit entsteht der Eindruck, als bestünde der Sehreiz weiterhin als Ganzes oder auch als Teil desselben, unverändert oder verändert in manchen Details (z. B. im Farbton, in der Größe), aber dennoch als die Quelle eines Trugbildes. Beschreibungen hiervon gibt es seit mehr als hundert Jahren [Lissauer 1889]. Es besteht auch seit 50 Jahren das Synonym der visuellen Perseveration [Critchley 1951].

Ich berichte im Folgenden über einige eindrucksvolle Fälle aus der Literatur der letzten Jahrzehnte. Den Berichten sind bestimmte Dinge gemeinsam: Konturen und Farben des Gesehenen gleichen anfangs noch dem Original, verblassen aber rasch; die Trugbilder verschwinden oft nach Sekunden oder Minuten und erscheinen im Gegensatz zu den allen Menschen geläufigen Nachbildern in ihrem ursprünglichen Farbton.

Im ersten von drei geschilderten Fällen [Michel/​Troost 1980] sieht eine 71-jährige Frau immer wieder das Gesicht von jemandem, den sie gerade noch auf ihrem Fernsehschirm gesehen hatte. Später schälte sie eine Banane, und nach einigen Minuten sah sie plötzlich auf der Wand des Zimmers eine Vielfalt solcher zur Hälfte geschälter Früchte. Bald sah sie haufenweise Zwanzig-Dollar-Noten, nachdem sie einen solchen Schein in ihre Geldbörse hineingetan hatte. Sie schaute sich selbst im Spiegel an, und kurz darauf trugen alle Personen, die ihr gegenübertraten, die gleichen Kleider wie sie selbst. Bei dieser Patientin fand sich eine homonyme Gesichtsfeldstörung links entsprechend einem computertomografisch dargestellten rechtsseitigen Posteriorinfarkt. Im zweiten Fall sah ein 66-jähriger Diabetiker Objekte, die nach seiner etwas unbeholfenen Beschreibung außerhalb des linken Auges herumwirbelten. Auch er sah Gesichter aus dem Fernsehen bei den Personen, die sich in seinem Zimmer aufhielten. In der Computertomografie fand sich ebenfalls ein Herd im Bereich der rechten hinteren Hirnarterie. Im dritten Fall war es ein 68 Jahre alter Diabetiker, der verschiedene Nahrungsmittel seines Frühstückstellers wie aufgehängt irgendwo im Zimmer, aber in greifbarer Nähe sah. Bei ihm fand sich ein linksseitiger Posteriorinfarkt.

Bei einem anderen 66-jährigen Mann dauerte die Palinopsie einige Minuten. Es fand sich ein Glioblastom im rechten Okzipitallappen [Lazaro 1983]. Auf dem Weg zur Arztpraxis sah er einen Mann auf einer Bank sitzen. Beim Betreten der Praxisräume hatten alle Personen im Wartezimmer, eingeschlossen seine eigene Frau, das Gesicht des Mannes auf der Bank; auch trugen alle die gleiche Kleidung wie er, und seine Frau vermochte er erst dann zu identifizieren, als sie ihn ansprach.

Berichtet wird auch von einem 37-Jährigen [Fournier et al. 2000] mit einer homonymen Hemianopsie nach links, dessen Lieblingsbeschäftigung ebenfalls das Fernsehen war. Wenn er fernsah und seinen Kopf zur linken Seite drehte, dann war es ihm, als ob das Fernsehbild sich mitbewegte. Er verglich dies mit einem Stroboskop, einem Gerät mit einer hohen Flickerlichtfrequenz; dabei blieben die Bilder aber immer scharf und behielten auch ihre ursprüngliche Färbung; manchmal allerdings waren sie kleiner als das Originalbild.

Bei einem Patienten mit einem zystischen Hirntumor parieto-okzipital rechts kam es über Jahre hinweg tagtäglich zu palinoptischen Phänomenen [Cummings et al. 1982].

Eine 73-jährige Frau sah bei den Besuchern einer Weihnachtsparty Nikolausbärte in jedem Gesicht [Meadows/​Munro 1977]. Noch einen Tag später traten alle erdenklichen Leute mit roter Mütze und im Nikolausmantel vor sie hin. Bei ihr fand man eine so genannte obere Quadrantenanopsie nach links, von ihr selbst nicht als einschränkend bemerkt. Sie starb plötzlich an einem frischen Herzinfarkt. Bei der Autopsie konnte man diesen nachweisen, aber auch einen etwas älteren Hirninfarkt rechts okzipital, der die Palinopsie leicht erklärt. In einem ungewöhnlichen Fall einer 66 Jahre alten Hausfrau wird eine Bewegungsbeschleunigung folgender Art beschrieben: sie, die seit 16 Jahren an einer Migräne litt, erwachte morgens mit einer Schwäche im linken Arm und dem Gefühl, dass der Arm nicht mehr zu ihr gehöre. Zugleich sah sie einen Nebel in der linken Gesichtshälfte. In den Tagen danach ging ein Mann an ihrem Fenster vorbei, den sie immer wieder in ihrer linken Gesichtshälfte sah, jedoch mit immer größerer Geschwindigkeit vorbeigehend. Sie benutzte den Vergleich mit einem Film, der mit doppelter Geschwindigkeit lief. Die Größe des Mannes blieb unverändert. Ein andermal sah sie ein winkendes Kind, das mit zunehmender Geschwindigkeit sein Winken wiederholte; und bei einem dritten Erlebnis dieser Art sah sie ihren Bruder, wie dieser mit seiner Hand durch sein Haar fuhr, auch dies mit immer größer werdender Geschwindigkeit [Cleland et al. 1981].

Palinopsien sind ein flüchtiges Phänomen – abgesehen von dem oben wiedergebenen Fall eines zystischen Gehirntumors. Man nimmt an, dass noch funktionierende Teile der Sehrinde mit einer raschen Kompensation beginnen. Gewöhnlich kommt es zu Palinopsien in der gestörten Gesichtsfeldhälfte, aber auch im ganzen Gesichtsfeld. Die Bilder erscheinen entweder sofort oder nach einem kurzen Intervall zum inzwischen verschwundenen Sehreiz, sie erscheinen manchmal kleiner oder größer, in Teilen oder als Ganzes. In seltenen Fällen wechseln die Bilder von einer Gesichtshälfte in die andere: Man spricht dann von einer visuellen Allästhesie; oft sind die Bilder von realen Objekten überhaupt nicht unterscheidbar. Im Vergleich zu den physiologischen Nachbildern finden sie sich nie bei einer Erkrankung der Augennetzhaut oder des Sehnerven oder der Sehnervenkreuzung. Zuvor gesehene Gegenstände erscheinen meist nicht irgendwo an einem beliebigen Ort im Raum, sondern in einem angemessenen Rahmen. Dabei werden oft nur Details des gesehenen Bildes wiedergegeben. Sehr bekannt ist eine Zeichnung einer im Raume vielfach wiedererschienenen Kaffeekanne, die nur an für Kaffeekannen geeigneten Stellen des Wohnraumes platziert wird, nicht nur auf dem Tisch, sondern auch auf einem Wandregal, einem Stuhl und der Fensterbank [Kölmel 1982]. Die Verwendung des Begriffes der kategorialen Einordnung dabei bedeutet, dass es das Gehirn selbst sein muss, von dem ein Phänomen wie die Palinopsie ausgeht, dass diese Art des Wiedersehens eine „Chefsache“ ist, keine Leistung der Peripherie.

Zwischen Primärreiz und erneuter Wahrnehmung können manchmal auch neben den eher typischen kurzen Zeitabständen Tage oder noch längere Zeiträume liegen. So sah ein rüstiger 79-Jähriger auf der Fahrt zum Augenarzt durch das Busfenster eine riesige Wand aus blauen Fliesen, mit denen er vier Monate vorher die Wände seines Badezimmers neu belegt hatte [Kölmel 1982].

Palinopsien sind faszinierend, sie erheben aber zugleich die klare Forderung nach einer ganz nüchternen Betrachtung dieser Art von Wiedersehen, das nur bei Menschen auftritt, die in Folge einer meist akuten Gehirnerkrankung eine Schädigung des Sehfeldes haben.

Literatur

Bender, Morris B./​Feldman, Martin/​Sobin, Allan J.: Palinopsia. In: Brain 91 (1968), S. 321 - 338.

Cleland, P.G./​Saunders, M./​Rosser, R.: An unusual case of visual perseveration. In: Journal of neurology, neurosurgery and psychiatry 44 (1981), S. 262 - 263.

Critchley, M.: Types of visual perseveration: „Paliopsia“ and „illusory visual spread“. In: Brain 74 (1951), S. 267 - 299.

Cummings, Jeffrey et al.: Palinopsia reconsidered. In: Neurology 32 (1982), S. 444 - 447

David, A.S./​Busatto, G.: Die Halluzination. Eine Störung von Gehirn und Geist. In: Nervenheilkunde 18 (1999), S. 104 - 115.

Fournier, Annick V./​Zackon, David H.: Palinopsia: a case report and review of the literature. In: Canadian Journal of Ophthalmology 35 (2000), S. 154 - 157.

Kasten, E. Et al.: Chronische visuelle Halluzinationen und Illusionen nach Hirnschädigung. In: Fortschritte der Neurologie Psychiatrie 66 (1998), S. 49 - 58.

Kölmel, H. W.: Visuelle Perseveration. In: Nervenarzt 53 (1982), S. 560 - 571.

Kölmel, H. W.: Die homonymen Hemianopsien, Berlin/​Heidelberg 1988 [Springer], bes. Kap. 9.

Kömpf, D.: Visuelle Halluzinationen – neurologische Aspekte. In: Nervenarzt 64 (1993), S. 360 - 368.

Lazaro, R.P.: Palinopsia: Rare but ominous symptom of cerebral disfunction. In: Neurosurgery 13 (1983), S. 310 - 313.

Lissauer, H.: Ein Fall von Seelenblindheit nebst einem Beitrag zur Theorie desselben. In: Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 21 (1889), S. 2 - 50.

Meadows, J.C./​Munro, S.S.F.: Palinopsia. In: Journal of neurology, neurosurgery and psychiatry 40 (1977), S. 5 - 8.

Michel, Elliot M./​Troost, Todd: Palinopsia: Cerebral localization with computed tomography. In: Neurology 30 (1980), S. 887 - 889.

Müller, Th. Et al.: Palinopsia as sensory epileptic phenomenon. In: Acta Neurol Scand 91 (1995), S. 433 - 436.

Swash, Michael: Visual perseveration in temporal lobe epilepsy. In: Journal of neurology, neurosurgery and psychiatry 42 (1979), S. 569 - 571.

Vom Höhlengleichnis zum Gehirnkino

Nachgedanken zur Palinopsie

Christian Hoffstadt • Klaus Reichert

„Die Wiederholung ist Pathos, die

Philosophie der Wiederholung Pathologie.“

Deleuze, Differenz und Wiederholung

Wir haben uns Menschen in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung vorzustellen. Die Menschen sind seit Kindheit an Hals und Schenkeln gefesselt und müssen auf einem Fleck bleiben und können nur nach vorne hin sehen. Sie schauen wie im Kino auf eine Leinwand, das Licht kommt durch den Zugang der Höhle hinter ihnen. Sie sehen die Schatten derer, die sich in ihrem Rücken aufhalten, die wie Gaukler ihre Kunststücke zeigen, die allerlei Gefäße tragen, und sie sehen Bildsäulen und andere Bilder. Platon schreibt in seinem berühmtesten Text vom Höhlengleichnis: „Auf keine Weise also können diese irgendetwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? – Ganz unmöglich. –“ [Platon: Politeia, 514a-515c]

In seinem Höhlengleichnis beschreibt er bildlich-metaphorisch die Erkenntnisfähigkeit des Menschen in Art eines modernen „Illusionsbunkers“ (populäre Bezeichnung des Kinosaales).

Bei Platon gehört auch die anamnesis, das Wiedererkennen bzw. -erinnern der unsterblichen Seele an Werte, Tugenden etc. zu seinem philosophischen Erkenntnismodell, z. B. im Dialog Phaidon [Steiner 1992, 60].

Deleuze widmet der Differenz und der Wiederholung ein ganzes Buch. Es geht sowohl um Nietzsches Wiederkehr des ewig Gleichen, als auch um Platon: „Der ganze Platonismus ist auf diesem Willen aufgebaut, die Phantasiegebilde oder Trugbilder auszutreiben […].“ [Deleuze 1997, 166]. Platon ist also ein Denker der Identität, hier der Identität der unsterblichen Seele und der Ideen. Die Differenz wird untergeordnet.

Ein Wiedersehen der im Aufsatz von J. Marowski (in diesem Band) gezeigten Art ruft beim Betroffenen nicht so sehr Erschrecken, sondern vielmehr Erstaunen und Verwunderung hervor, zumal er sich des trügerischen Charakters der Erscheinungen rasch bewusst wird. Für manche Nordamerikaner, über die die medizinische Literatur der letzten Jahrzehnte berichtet, scheint die Palinopsie eine Art fortgesetzten Fernsehens zu sein. Tagtäglich werden sie mit den Werken dieses Massenmediums konfrontiert. Die so genannten Serien sind etwas Normales geworden, die Wiederholung feststehender Muster wesentlicher Bestandteil des Fernsehens. In den Serienprodukten wird der Eindruck erweckt, dass gänzlich Neues geboten werde, unvorhergesehene Wendungen sich ereignen, während aber immer wieder dieselbe Geschichte erzählt wird. In einem Essay über Die Innovation im Seriellen zeigt Umberto Eco die Freude und den Trost, den die Konsumenten bei der Wiederkehr des Immergleichen finden: Den Trost darin, dass ihnen das Entstehen des wirklich Neuen mit der Implikation des Alterns und des näherrückenden Todes erspart bleibt.

Günther Anders geht direkt auf die Verbindung von Mensch und Television/​Maschine ein. Anknüpfend an Walter Benjamin betont er den „Industrie-Platonismus“ [Anders 1994, S. 52] der Waren, der modifizierten Menschen als auch der TV-Sendungen. Alles wird unsterblich, weil es reproduzierbar ist. Laut Anders erzeugt Television eine Simultaneität, eine Geschichtslosigkeit des Gesehenen und des Sehenden [Anders, S. 134]. Ähnlich wie die pseudohalluzinatorischen Störungen der Patienten im vorausgegangen Aufsatz bringt das Fernsehen serielle Bilder abwesender Personen und Dinge. Dies ist auch eine Art visueller Trugerscheinungen, die durch technische Apparate erzeugt werden [ebd., 155]. „Phantome sind ja nichts anderes als Formen, die als Dinge auftreten.“ [ebd., S. 170]. Die „Schablonen“ des TV treten in die Realität des Zuschauers ein; anfangs bemerkt er dies wohl noch, später mitunter nicht mehr. „Realität wird durch Reproduktion produziert; erst im Plural, erst als Serie ist, Sein‘“ [ebd., S. 180]. „Einmal ist keinmal“ ist das Pendant aus dem Erfahrungsschatz der Umgangssprache.

Der Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“ zeigt einen Tag aus dem Leben des Wetterreporters Phil Connors (Bill Murray), der die Außenreportage vom so genannten „Murmeltiertag“ aus dem kleinen Nest Punxsutawny leitet. Schon am zweiten Tag bemerkt er nach dem Erwachen, dass irgendetwas nicht stimmt: Alle Ereignisse gleichen sich, und es stellt sich heraus, dass schon wieder „Murmeltiertag“ ist. Eine Abreise kommt wegen eines herannahenden Schneesturmes nicht in Frage; so versucht der Protagonist, sich auf verschiedenste Weisen damit anzufreunden, dass er jeden Tag dieselben Leute trifft, die gleichen Dinge passieren etc., die er aber nach und nach in einer Art Katharsis immer besser meistern kann (er verwandelt sich von einem Menschenfeind in einen Menschenfreund und wird am Ende vielleicht deshalb auch erlöst, und die angeschlossene Liebesgeschichte findet ein gutes Ende).

Der Film „Being John Malkovich“ ist die Geschichte eines erfolglosen Puppenspielers, der einen Zugang zum Bewusstsein/​Körper des Schauspielers John Malkovich findet (der sich selbst spielt): Dieser Zugang ist ein Loch in der Wand eines Büros, in dem er arbeitet. Zuerst versucht er mit einer Kollegin, Geld damit zu machen, anderen Zugang zu Malkovich zu verschaffen. Als Malkovich entdeckt, dass es diesen Zugang zu ihm gibt, verlangt er, selber durch den Tunnel „in sich“ zu gehen. Dies führt dazu, dass eine Art feedback-Effekt entsteht: Alle Personen, die Malkovich – in sein eigenes Bewusstsein versetzt – sieht, haben seinen Kopf bzw. sehen komplett aus wie er. In vielen Fällen einer Palinopsie treten solche Gesichts- und Handlungsstereotypien auf (z. B. im von Marowski zitierten Fall eines Glioblastoms im rechten Okzipitallappen).

Der Film „The Truman Show“ weist nicht ganz so starke Bezüge zum Wiedersehen in unserem Sinne auf: Dort ist der Hauptdarsteller eingesperrt in eine künstliche Welt riesigen Ausmaßes, die vom Fernsehen überwacht wird. Sein ganzes Leben lang wird er ohne sein Wissen von Millionen von Fernsehzuschauern beobachtet.

Ein gigantisches Potential an Schauspielern und Statisten dient allein der Aufrechterhaltung seiner Illusion, die dann zerbricht und zur Enttäuschung wird, als ihm die stereotype Abfolge seines Alltags auffällt.

Während in Platons Gleichnis die Menschen an Hals und Schenkeln gefesselt bleiben, gelingt Truman seine Befreiung aus seiner Scheinwelt. Obwohl Truman bewusst wird, dass vor ihm nun eine ihm gänzlich unbekannte Welt voller Gefahren liegt, entscheidet er sich für das Unbekannte und Neue, nämlich das Leben per se, und das Altern und das Näherrücken des Todes nimmt er in Kauf.

Literatur

Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bände, Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1994.

Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung, München 1997.

Eco, Umberto: Die Innovation im Seriellen. In: Über Spiegel und andere Phänomene, München 1990 [dtv], S. 155 - 180.

Platon: Politeia. In: Ders.: Sämtliche Werke, Bd. 2, hg. Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 1994, S. 195 - 537, bes. 420 f.

Steiner, Peter M.: Psyche bei Platon, Göttingen 1992.

Filme

Being John Malkovich, Gramercy Pictures 1999.

The Truman Show, Paramount Pictures 1998.

Und täglich grüßt das Murmeltier, Columbia Pictures 1993.

Die Behandlung neurovisueller Störungen

Oliver Neumann • Klaus Sewekow

Einleitung

Der Mensch sieht nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn. Die Augen sind nur ein in vielerlei Hinsicht unzulänglich konstruiertes Empfangsorgan, um eintreffende Lichtquanten in bioelektrische Signale umzuwandeln. Die Realität oder das, was jeder Einzelne dafür hält, ist also ein höchst subjektives Konstrukt bestimmter Hirnareale aufgrund einer simultan seriellen und parallelen, hierarchischen Verarbeitung dieser bioelektrischen Signale.

Man unterteilt die visuelle Wahrnehmung in die elementaren und in die komplexeren oder höheren visuellen Wahrnehmungsleistungen. Zu den elementaren Wahrnehmungsleistungen gehören z. B. das Gesichtsfeld, die Sehschärfe, die Farb- und Formwahrnehmung, die Positions- und Längenschätzung u. ä. Die komplexeren oder höheren visuellen Wahrnehmungsleistungen umfassen im Wesentlichen Prozesse, welche die Erkennung, bzw. Wiedererkennung, Bewertung und Benützung von Objekten, Gesichtern oder Situationen ermöglichen.

Ein nicht unerheblicher Teil der Selbstwahrnehmung des Menschen erfolgt in der visuellen Modalität. Insbesondere zentrale Sehstörungen führen deshalb zu einer veränderten Wahrnehmung der Umwelt, aber auch der eigenen Person, wie es in dem folgenden Zitat aus dem Buch eines geschätzten Kollegen deutlich wird:

„Ich ging in den Korridor hinaus, aber kaum hatte ich ein paar Schritte zurückgelegt, da stieß ich plötzlich mit der rechten Schulter und der rechten Stirn gegen eine Wand und holte mir eine Beule auf der Stirn. Mich packte die Wut, ich konnte mir nicht erklären, warum ich plötzlich gegen die Korridorwand geprallt war. Ich hätte sie doch sehen müssen. Zufällig warf ich einen Blick nach unten – auf den Fußboden, auf meine Beine – und zuckte zusammen: Ich konnte die rechte Seite meines Körpers, meinen rechten Arm und mein rechtes Bein nicht sehen. Wohin konnten sie verschwunden sein?“

Es handelt sich um die Falldarstellung des russischen Neuropsychologen A. R. Lurija, in der er die Krankengeschichte des durch einen Granatsplitter linkshemisphärisch verletzten Patienten Sassetzki über ein Vierteljahrhundert hinweg beschreibt und damit seine Vorstellung von einer „romantischen Wissenschaft“ sehr gelungen realisiert.

Das menschliche Gehirn hat in seiner Evolution den Weg verfolgt, die vorhandene sensorische Informationsmenge effektiv auszuwerten, d. h. aus dem bisher Erlebten allgemein Gültiges, Exemplarisches und für künftiges Handeln Nützliches herauszufiltern. Dies bedeutet, wenn sensorische Erregung zu bewusster visueller Wahrnehmung wird, hat sie die Auswertung und Bewertung durch frühere sensorische Erfahrung schon hinter sich. Der Mensch erfährt die Welt in jedem Wahrnehmungsakt so, wie sie dem Gehirn jeweils am wahrscheinlichsten oder am zutreffendsten erscheint. In diesem Sinne ist das Gedächtnis eigentlich unser wichtigstes Wahrnehmungsorgan.

Bei den neurovisuellen Störungen handelt es sich um zentrale visuelle Wahrnehmungs- und Okulomotorikstörungen, die bei 20 - 40 % der Patienten in neurologisch-neuropsychychologischen Rehabilitationseinrichtungen vorliegen. Während die Behandlung motorischer, sprachlicher und kognitiver Störungen nach Hirnschädigung inzwischen als notwendig angesehen wird, werden die möglichen Auswirkungen visueller Störungen auf den Rehabilitationsprozess noch zu wenig beachtet und relevante Störungen zu selten diagnostiziert und behandelt (Kerkhoff/​Schindler 1999).

Die Darstellung der neurovisuellen Störungen soll dem Leser einen Eindruck von den therapeutischen Möglichkeiten im Rahmen einer Rehabilitationsklinik geben. In der Abbildung 1 sind diese acht Störungsbereiche nach der Häufigkeit ihres Auftretens geordnet.

Abb. 1: Gesamtüberblick über die neurovisuellen Störungsbereiche (nach Huber/​Kömpf 1998).

Gesichtsfeldeinschränkungen

Homonyme Gesichtsfeldausfälle stellen mit 76 % den Hauptanteil der neurovisuellen Störungen und besitzen damit die größte klinische Relevanz. Gefolgt werden Sie von Störungen der Fusion, des Stereosehens und einer reduzierten visuellen Belastbarkeit. Eine Beeinträchtigung der visuellen Raumwahrnehmung treffen wir bei 44 % der Patienten an, und mit etwa 20 - 30 % noch recht häufig treten Störungen der Okulomotorik mit dem Symptom der Diplopie* auf. Komplexere Störungen der visuellen Wahrnehmung wie unilateraler visueller Neglect, Agnosien oder das Balint-Syndrom kommen dagegen bereits deutlich seltener vor.

Zu einer Beeinträchtigung des Gesichtsfeldes kommt es, wenn retrochiasmale Anteile der Sehbahn geschädigt werden, wobei homonyme Hemianopsien entstehen, wenn der Okzipitallappen mit dem hinteren Teil der Sehstrahlung geschädigt wird.

Seltener kommt es zu Quadrantenanopsien, bei denen der obere oder untere Quadrant des Gesichtsfeldes betroffen sein kann. Weitere mögliche Ausfälle sind bilaterale obere oder untere Hemianopsien, parazentrale Skotome oder das Zentralskotom. Abbildung 2 zeigt die verschiedenen Gesichtsfeldeinschränkungen in einer Übersicht (Huber/​Kömpf 1998).

Abb. 2: verschiedene Gesichtsfeldeinschränkungen (Huber/​Kömpf 1998)

Das Ausmaß des Restgesichtsfeldes bestimmt den Schweregrad des Gesichtsfeldausfalles und den Grad der dadurch bedingten Sehbehinderung. Etwa 40 % der betroffenen Patienten mit einer homonymen Hemianopsie weisen ein Restgesichtsfeld von weniger als 4 - 5° Sehwinkelgraden auf und zeigen meist eine ausgeprägte Beeinträchtigung des Lesens. Diese hemianope Lesestörung ist im wesentlichen dadurch charakterisiert, dass Patienten mit linksseitigen Gesichtsfeldeinbußen Schwierigkeiten haben, den Zeilen- und Wortanfang aufzufinden und solche Patienten mit rechtsseitigen Einbußen das Wortende nicht erfassen. Der Lesevorgang ist häufig stockend, stark fehlerbehaftet und für den Patienten mühsam und quälend. Er verliert die Freude am Lesen, was insbesondere für Menschen mit höherem Bildungsniveau einen enormen Verlust an Lebensqualität bedeuten kann.

Ein Großteil der Patienten mit einer Hemianopsie zeigt eine eingeschränkte bzw. unökonomische visuelle Exploration der betroffenen Raumhälfte mittels Augen- und Kopfbewegungen. Das bedeutet, dass sie mit ihrer Suche meist nicht im betroffenen Halbfeld beginnen, sondern auf der gesunden Seite, was die Wahrscheinlichkeit des Nicht-Wahrnehmens wichtiger Dinge in der Umwelt stark erhöht und zu einer erheblichen Behinderung und Gefährdung im Alltag führen kann.

In der Klinik wird der Rehabilitationsprozess insgesamt erschwert, da für diese Patienten die Orientierung insbesondere in komplexen und unübersichtlichen Situationen erheblich beeinträchtigt sein kann. Die Fahrtüchtigkeit ist häufig nicht mehr gegeben, und oftmals kann der Beruf nicht mehr fortgeführt werden. Kommen die erwähnten Leseprobleme hinzu, wird die psychosoziale Reintegration weiter erschwert. Daraus wird deutlich, wie wichtig eine wirksame Behandlung von Gesichtsfeldbeeinträchtigungen und der assoziierten Störungen für die Patienten und ihren weiteren Lebensweg ist.

Es gibt in der Neuropsychologie wirksame Therapieverfahren, die eine Behandlung der Hemianopsie und der assoziiertern Störungen im Kontext einer Rehabilitationsklinik erlauben. Therapieansätze zur Wiederherstellung (Restitution) ausgefallener Gesichtsfeldanteile versuchen durch eine Stimulation des ausgefallenen Gesichtsfeldbereiches mittels eines Lichtstimulus am PC-Bildschirm eine Erweiterung des Gesichtsfeldes zu erreichen. Das Ausmaß des maximal erreichbaren Gesichtsfeldzuwachses liegt jedoch auch nach 100  300 Trainingssitzungen in über 90 % der Fälle unter 5 Sehwinkelgraden. Zum jetzigen Zeitpunkt lässt sich zusammenfassend sagen, dass sich in der systematischen Therapie nach dem Restitutionsansatz bei postchiasmatischen Gesichtsfeldausfällen in 5 - 10 % der trainierten Patienten ein statistisch und im Verhalten signifikanter Zuwachs erreichen lässt. Leider ist es bisher nicht gelungen, hinreichend verlässliche Patientenselektionskriterien für diese Therapieform zu finden. So ist diese Therapieform oft auf einzelne, eher junge Patienten mit inkompletten Läsionen und teilweise erhaltenen Sehleistungen im betroffenen Gesichtsfeld beschränkt.

Vergleichsweise sichere Therapieansätze stellen die okulomotorischen Gesichtsfeldkompensationsansätze dar. Bei über 80 % der Patienten lässt sich so eine alltagsrelevante Verbesserung durch den gezielten Einsatz der Okulomotorik erreichen. Ein Behandlungsplan für einen Patienten mit einer Hemianopsie nach dem kompensatorischen Therapieansatz sei hier beispielhaft in der folgenden Abbildung vorgestellt.

Abb. 3: Therapieplan (nach Kerkhoff/​Schindler 1999)

Durch diese Therapie lassen sich bei über 90 % der Patienten alltagsrelevante Verbesserungen erzielen, die auch 1 - 2 Jahre nach Beendigung der Behandlung stabil bleiben. Als günstige Behandlungsfaktoren haben sich nach Kerkhoff & Schindler (1999) rein okzipitale Läsionen ohne parietale Schädigung erwiesen sowie eine gute Störungseinsicht. Eher hinderliche Faktoren sind assoziierte periphere oder zentrale Seh- und Okulomotorikstörungen, eine geringe Einsicht, häufige Kopfbewegungen, sowie bilaterale oder diffus-disseminierte Läsionen. Das Alter und die verstrichene Zeit seit der Hirnschädigung scheinen keinen Einfluß auf das Therapieergebnis zu haben, so dass Patienten auch nach längerer Zeit noch von dieser Therapieform profitieren können.

Fallbeispiel

Der Patient erlitt einen zerebrovaskulären Insult im Bereich des linken Occipitallappens, der zu einer Schädigung des hinteren Teils der Sehstrahlung im striären Kortex führte. Die in der Akutklinik durchgeführte Gesichtsfelduntersuchung mittels Tübinger Perimeter ergab eine komplette rechtsseitige homonyme Hemianopsie mit einem Restgesichtsfeld von drei Sehwinkelgraden. Der Patient wird konsiliarisch in der Neuropsychologie vorgestellt. Im Erstgespräch mit dem Patienten stehen im Vordergrund der subjektiven Beschwerden der rechtsseitige Gesichtsfelddefekt und eine erhöhte Ermüdbarkeit. Er berichtet über Probleme, Gegenstände und Personen auf der rechten Seite rechtzeitig wahrzunehmen. Er stoße besonders in unübersichtlichen Situationen wie in der Klinikempfangshalle und dem Speisesaal gegen andere Patienten und Gegenstände.

Er empfinde seine Übersicht und Orientierungsfähigkeit als stark eingeschränkt. Das Lesen sei nur sehr langsam möglich, er mache viele Fehler, und der Inhalt erschließe sich ihm kaum, da er viel geistige Kapazität auf das Lesen an sich verwenden müsse. Er lese derzeit weder die Morgenzeitung noch Bücher, was er zuvor sehr gerne getan habe.

Die neuropsychologische Diagnostik ergibt eine mittelgradig eingeschränkte visuelle Explorationsleistung. Das sakkadische Blickfeld ist deutlich eingeschränkt, die Suchgeschwindigkeit ist verlangsamt, und es kommt zu überdurchschnittlich vielen Auslassungen. Bei der Suche im rechten Halbfeld werden viele kompensatorische Kopfbewegungen eingesetzt.

Das computergestützte Standardscreening der basalen visuellen Raumwahrnehmungsleistungen ergibt einen Normalbefund. Die Leseleistung, gemessen mit einem standardisierten Lesetest von 180 Worten Länge, ergibt mit 60 Worten pro Minute ein deutlich unterdurchschnittliches Lesetempo (Cut-Off-Wert 120 WPM). Es treten die typischen rechtshemianopischen Lesefehler mit stockendem Leseverlauf auf.

Die weitere Testdiagnostik ergibt eine leichte selektive Störung des verbalen Gedächtnisses. Die Aufmerksamkeitsfunktionen sind durch eine leichte Verlangsamung der kognitiven Verarbeitungssgeschwindigkeit, bei ungestörter selektiver Aufmerksamkeit und ausreichender Resistenz gegen Ablenkung geprägt. In allen übrigen Funktionsbereichen werden keine nennenswerten Beeinträchtigungen diagnostiziert. Es liegt keine aphasische oder alektische Störung vor. Der Zeitbedarf für die neuropsychologische Diagnostik beträgt etwa drei Tage. Unter Berücksichtigung der zu erwartenden Aufenthaltsdauer des Patienten ergibt sich ein nutzbarer Therapiezeitraum von etwa drei bis vier Wochen, mit folgender Therapieplanung: Der Patient erhält ein kombiniertes Augenbewegungs- und Lesetraining. Die Therapiesitzungen erfolgen mindestens drei mal pro Woche mit einer Sitzungsdauer von jeweils 60 Minuten. Insgesamt sind dies also mindestens 12 Therapieeinheiten, die durch selbstständiges Üben des Patienten ergänzt werden. An Therapieverfahren werden ein Blickbewegungstraining am PC, das der Beschleunigung der Blickbewegungen dient, eingesetzt. Hier wird in der Mitte des Bildschirmes ein farbiges Quadrat gezeigt und anschließend an wechselnden Positionen in der rechten Hälfte des Monitors ein zweites farbiges Quadrat eine definierte Zeit eingeblendet. Der Patient muß durch eine schnelle, ausreichend weite Blicksakkade prüfen, ob beide Quadrate die gleiche Farbe haben und gegebenfalls schnellstmöglich eine Drucktaste betätigen. Erfaßt werden hier die Reaktionslatenzen in Bezug auf die Stimulusposition.

Das zweite Therapieverfahren dient der Verbesserung der Erkundung des visuellen Wahrnehmungsraumes. Das Training erfolgt vor einer etwa 1,2 mal 1,5 m großen Projektionsfläche, vor der der Patient in einem Abstand von ca. 80 cm sitzt und mit Hilfe eines Laserpointers nach Aufforderung durch den Therapeuten bestimmte Zielreize ausfindig machen und aufzeigen muss. Hier wird im Verlaufe des Trainings systematisch der Suchbereich vergrößert und die Reizanzahl und Reizkomplexität erhöht, um die Blickbewegungen zu erweitern und in der Abfolge systematischer und ökonomischer zu gestalten. Das dritte Therapieelement stellt das Lesetraining am Computer sowie am gedruckten Text dar. Ein solches Lesetraining erfordert eine hohe Motivation des Patienten wieder flüssig lesen lernen zu wollen und ist eher bei Patienten mit höherem Bildungsniveau anzutreffen. Je nach Störungsausmaß beginnt das Lesetraining mit dem Lesen eines einzelnen Wortes, das im Falle unseres Patienten im Zentrum beginnend nach rechts in das betroffene Halbfeld hinein eine definierte Zeit eingeblendet wird. Der Patient muss durch entsprechend weite Blicksakkaden zunächst das ganze Wort sicher erfassen, um es erst dann auszusprechen. Es werden zunehmend längere Worte dargeboten, die Darbietungszeit später verkürzt. Hier wird gelernt, die Weite der Blicksprünge wieder richtig zu bemessen, um das silbenweise stockende Lesen zu überwinden. Es wird dann zum Mehrwortlesen übergegangen, schließlich auf zweizeiliges Lesen erweitert, um den Zeilensprung zu üben, und in einem weiteren Schritt wird die Anzahl der gleichzeitig dargebotenen Zeilen weiter erhöht. Gelingt das Lesen sicher genug, wird ein Lesetext dargeboten, der nach einer einstellbaren Zeit beginnt, sich durch Kreuze selbst zu überschreiben, so daß der Patient gezwungen wird, sein Lesetempo zu steigern. Unser Patient erhält also während der ersten zwei Wochen in jeder Therapieeinheit ein 15-minütiges Blickbewegungstraining am PC, trainiert anschließend 20 Minuten an der Projektionswand, um dann weitere 25 Minuten das Lesen am PC in der beschriebenen Weise zu üben. In der dritten und vierten Woche wird das PC-gestützte Blickbewegungstraining durch Leseübungen am gedruckten Text abgelöst, wobei die Texte bezüglich Zeilenbreite und Zeilenabstand anfänglich speziell aufbereitet sind, um dann immer mehr alltagsübliches Buch- und Zeitungstextformat zu erhalten.

Abb. 4: Günstige Anordnung für das visuelle Explorationstraining mit Dia- oder Videoprojektor (Ther = Therapeut; Pat = Patient)

Das Ziel dieser Therapie besteht also in der Erhöhung der Häufigkeit und der Schnelligkeit großer Blickbewegungen in das blinde Halbfeld hinein und zwar in allen Alltagssituationen, wobei dieses kompensatorische Absuchen des blinden Halbfeldes nach potentiell relevanten Informationen möglichst systematisch und damit ökonomisch erfolgen soll. Der Lesevorgang soll wieder flüssiger werden und weniger geistige Kapazität erfordern, so dass sich der Textinhalt leichter erschließt und dem Patienten das Lesen wieder Freude macht bzw. er seinen beruflichen und privaten Verpflichtungen selbständig entsprechen kann.

Ein weiterer wichtiger Therapiebaustein bei Patienten mit einer homonymen Hemianopsie stellt das Bemühen um den Transfer des Gelernten in Alltagssituationen dar. Die mangelnde Übersicht der Patienten, insbesondere über komplexe Situationen, wie sie im Straßenverkehr gegeben sind, führt zu einer ständig erhöhten potenziellen Selbst- und Fremdgefährdung. Ab der dritten Therapiewoche sollte durch geleitete Übungen außerhalb der Klinik unter typischen Alltagsanforderungen der Transfer des in der Klinik gelernten Blickverhaltens geübt werden. Das sichere Überqueren von Straßen, das Benutzen von öffentlichen Verkehrsmitteln und das sichere Begehen belebter Straßen und Plätze sind hier wichtige Übungen. Das praktische Üben von Alltagssituationen ist durch keine noch so elaborierte klinische Therapieform ersetzbar und sollte auch in Zeiten knapper Personalressourcennutzung seinen Platz haben.

Fusion, Stereosehen und visuelle Belastbarkeit

Der Mensch nimmt seine Umwelt mit zwei Augen simultan wahr. Die Vereinigung dieser beiden Sinneseindrücke zu einem verschmolzenen Bild erfolgt mittels der motorischen Fusion in Form von Vergenzbewegungen der Bulbi und der zentralen oder sensorischen Fusion, einer Leistung des Gehirns.

Störungen der motorischen und der sensorischen Fusion treten bei etwa 30 - 50 % der Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma auf, aber auch nach vaskulär bedingten Läsionen. Motorische Fusionsstörungen gehen meist auf eine direkte oder indirekte Hirnstammläsion zurück und scheinen eine eher ungünstige Prognose zu haben. Sensorische Fusionsstörungen treten insbesondere nach temporo-parietalen Läsionen auf. Kortikale Läsionen scheinen wohl insgesamt eine günstigere Rückbildungstendenz zu zeigen. Etwa zwei Drittel der fusionsgestörten Patienten weisen eine gestörte Stereosehschärfe auf, und eine reduzierte visuelle Belastbarkeit führt nach mehr oder weniger kurzer Zeit des Lesens zu sog. asthenopischen Beschwerden, also Verschwommensehen, Augenbrennen und Druckgefühl meist am nasalen Anteil der Bulbi*.

Abbildung 5 zeigt beispielhaft einen Behandlungsplan für Patienten mit einer Störung der horizontalen, konvergenten Fusion und reduzierter visueller Belastbarkeit:

Störungen der zentralen Fusion und der visuellen Belastbarkeit führen zu erheblichen Beeinträchtigungen im privaten wie beruflichen Kontext. Die Arbeit an PC-Bildschirmen ist beispielsweise kaum noch möglich, und die reduzierte Lesedauer erschwert in den meisten Fällen die berufliche Reintegration. Eine wirksame Behandlung muss im Rahmen des Rehabilitationsprozesses Anwendung finden, um die psychosozialen Reintegrationschancen des Patienten zu verbessern.

1. Anamnese der subjektiven Beschwerden: Verschwommensehen, Doppelbilder, Augenbrennen, Kopfschmerzen, Druckgefühl an den Augen, Probleme bei Folgebewegungen, Probleme bei Lesen und Bildschirmarbeit

2. Diagnostik: Messung der horizontalen konvergenten Fusion mittels Bagolinibrille, Prismenleiste und Maddoxkreuz, Erfassung der Stereosehschärfe mit dem Titmustest, Erfassung der visuellen Belastbarkeit über Leseprobe, evtl. verbunden mit der Erfassung der Prä-Post- Kontrastsensitivität

3. Therapieplan und -prinzipien: Steigerung der Disparität dichoptisch dargebotener Bilder unter Verwendung von Prismenleiste und Fusionstrainer.

Häufigkeit: Im Rahmen der Frührehabilitation mehrmals täglich für wenige Minuten, später 2 x wöchentlich à 50 Minuten; Dauer etwa 8 - 15 Behandlungssitzungen.

4. Ziele: Steigerung der horizontalen Fusionsbreite, des Stereosehens und der Lesedauer, Reduktion der visuellen und somatischen Beschwerden, Verbesserung der Belastbarkeit im Nahbereich

5. Evaluation: Abschlussmessung der horizontalen Fusionsbreite, subj. erlebte Belastbarkeit

Abb. 5: Therapieplan bei sensorischer Fusionsstörung (nach Stögerer/​Kerkhoff 1999)

Neglect

Unter einem Neglect versteht man kontraläsionale Vernachlässigungsphänomene, die verschiedene Modalitäten betreffen können (Abbildung 6). In der Akutphase findet man oft eine Abweichung der Augen und des Kopfes zur ipsiläsionalen Seite. Die Patienten verhalten sich quasi so, als ob eine Raumhälfte aufgehört habe zu existieren. So werden häufiger Gespräche (akustischer Neglect), Personen, Gegenstände oder z. B. auch Teile des Essen auf der kontraläsionalen Seite übersehen oder nicht wahrgenommen. Diese Vernachlässigungsphänomene sind oft im späteren Verlauf der Erkrankung nur noch durch sogenannte Extinktionsphänomene, d. h. durch eine doppelte visuelle, akkustische oder taktile simultane Stimulation nachweisbar.

Abb. 6: Hemineglect in der Rehabilitation

Neglectpatienten können auch eine Vernachlässigung ihrer Extremitäten aufweisen, die eine eingeschränkte Spontanbewegung des kontralateralen Armes und/​oder Beines zur Folge hat. Auch findet man teilweise Störungen in der mentalen Vorstellung eines externen Raumes, z. B. eines Zimmers. Hierbei werden dann weniger Details auf der kontraläsionalen (meist linken) Seite wahrgenommen. Bei einer mentalen Rotation um 180º sind diese Details dann wieder verfügbar.

Ein weiteres, häufig anzutreffendes, und mit einer eher schlechteren Prognose verbundenes Symptom im Rahmen eines Neglectes, ist eine Anosognosie (Leugnung der Erkrankung) oder Anosodiaphorie (Bagatellisierung der Erkrankung).

Die oben beschriebenen Symptome sind in Kliniken zumeist in einer Kombination mit mehr oder weniger starker Ausbildung der einzelnen Komponenten zu finden.

Die Neglectsymptomatik tritt weitaus häufiger und ausgeprägter nach Schädigungen der rechten als der linken Hemisphäre auf und betrifft stets die zur Hirnschädigung kontralaterale Seite. Die erhöhte Inzidenz nach rechtshemisphärischen Läsionen ist nicht bewiesen, so dass möglicherweise ein Untersuchungsartefakt, im Sinne einer linksseitigen schnelleren Rückbildungstendenz und damit erschwerten Diagnostik, vorliegt.

Es bestehen verschiedene Vorstellungen darüber, welcher Mechanismus nach einer Hirnschädigung zu der kontralateralen Neglectsymptomatik führt. Erklärungsmodelle finden sich einerseits hinsichtlich gestörten Aufmerksamkeitsprozessen und andererseits hinsichtlich einer beeinträchtigten räumlichen Repräsentation in Bezug auf egozentrische und allozentrische Referenzsysteme. Egozentrische Referenzsysteme lokalisieren Umweltreize bezüglich der Position des Körpers im Raum (Hauptreferenzen: Kopf- u. Rumpfsagittale). Allozentrische Referenzsysteme kodieren Umweltreize unabhängig von der Körperposition im Raum (Hauptreferenz: Symmetrieachse der Reizkonfiguration).

Ein Neglect wirkt sich auf vielfältige Tätigkeiten des Alltags sowie eventuell auch auf Spontanbewegungen der kontralateralen Extremitäten aus. Auch die Bearbeitung neuropsychologischer Untersuchungsverfahren kann durch einen Neglect teilweise erheblich beeinflusst werden. Für die Diagnose entscheidend ist der Nachweis, dass die Verhaltensauffälligkeiten nicht bloß Folge einer gleichzeitig bestehenden Hemianopsie, einer einseitigen Hypakusis*, einer Hemihypästhesie* oder einer Hemiparese* ist. Aufgrund der erschwerten Differenzialdiagnostik kommt somit einer genauen Verhaltensbeobachtung/​Exploration eine tragende Rolle zu (Abbildung 7).

Abb. 7: Diagnostik und Therapie des Neglect

Abb. 8: Diagnostische Verfahren zur Erfassung eines visuellen Neglects

Im klinischen Alltag werden vor allem „paper-/​pencil-Verfahren“ zur Diagnostik eines visuellen Neglects durchgeführt. Computergestützte Verfahren haben eher einen geringeren Stellenwert. In oben stehender Tabelle sind die gebräuchlichsten diagnostischen Verfahren zur Erfassung eines visuellen Neglects zusammengefasst (Abb. 8).