Zersa


Zersa neigte den Kopf. „Stammesschwester“, murmelte sie. „Wie könnte ich dir nicht verzeihen?“

Sie strich über Numas Haar, dann schob sie sie in die Arme des neben ihr hockenden Mannes und trat wieder vor Ano und die Frau, die ihn begleitete.

„Ano. Shia. Ich bin zurückgekommen innerhalb der Frist, die ihr mir gegeben habt. Zusammen mit Tiano vom Volk der Menschen ist es mir gelungen, dieses Wesen zu finden.“

Sie kniete neben dem wimmernden, von Licht gefesselten Bündel. Der Letzte des Drachenstammes berührte ihre Gedanken.

Lass mich gehen. Wenn du mich am Leben lässt, werde ich wieder töten, Schwester. Du kannst mich nicht heilen, auch wenn ich fühle, dass du es willst.

Sie biss sich auf die Unterlippe.

Ano sah sie an. „Was ist das? Was ist dieses Ding? Und was ist das für ein Licht?“

Zersa schüttelte den Kopf. „Nicht was, Ano. Wer.“

Shia zog eine Augenbraue hoch.

Zersa atmete tief. „Er ist ein Überlebender. Er hat es mir selbst gesagt, von Ata zu Ata. Von Seele zu Seele. Ich muss ihm glauben. Er ist ein Überlebender des Echsenstammes. Er hat gesehen, wie sie alle starben. Er hat aus dem Tod der anderen die Kraft gezogen, weiter zu leben. Er wollte Rache. Aber er fand nur den Wahnsinn, geboren aus Einsamkeit und Trauer. Er wusste nicht, was er tat, als er unsere Kinder schändete und tötete. Und das Licht ... es kommt von mir.“ Sie hob ihre Hände, schloss die Augen, und das Glühen kehrte zurück. „Ich bin Ata. Ihr seht Ata als das, das die Gestalt wechseln kann und dem Tier nahe ist. Ihr seht Ata als das Wilde, das den Lehren der Menschen nach gezügelt werden muss, damit es nicht zum Dämon wird. Aber das ist es nicht. Ata ist auch die Macht der Waldmutter. Ich habe gekämpft und dem Tod und dem Wahnsinn in die Augen gesehen. Ich habe einem verwundeten Menschen das Leben gerettet und ihn innerhalb einer einzigen Nacht geheilt. Ich bin Ata. Ich bin ein Kind der Waldmutter, ich bin nicht verflucht. Ich bin gesegnet. Ich habe in mir die Gabe der wahren Heilung gefunden.“

Anos Augen wurden groß, auch Shia starrte Zersa an, als sei sie ein Wesen aus einer anderen Welt. Zersa sah Tianos Blick und lächelte. Er sah sie an, als sei er stolz auf sie, und das erfüllte sie mit einer Wärme, die sie nie zuvor gefühlt hatte.

„Wenn ich nicht gesehen hätte, wie du Iya geheilt hast, würde ich dir nicht glauben“, sagte Ano schließlich leise. „Wir werden dich beobachten, Zersa Ata. Du hast nicht getötet. Aber fremd bist du uns trotzdem.“

„Weil ihr angefangen habt, mich mit Menschenaugen zu sehen“, erwiderte Zersa. „Seht mich mit den Augen des Stammes. Nicht mit den Augen derer, die an Alnea und Hiru glauben. Sondern mit denen der Kinder der Waldmutter. Verliert euch nicht selbst.“

Ano neigte den Kopf. „Wir reden später darüber, Zersa Ata.“

Er wechselte einen Blick mit Shia, die ihm kaum merklich zunickte, dann wanderten seine Blicke zu dem Wesen.

„Was auch immer er ist. Er wurde auf frischer Tat ertappt, wie er dabei war, erneut ein Mitglied unseres Stammes zu morden. Zersa Ata, deine Schuld ist von dir genommen, denn du hast uns nicht nur den wahren Mörder gezeigt, du hast ihn auch gefangen und besiegt. Die Todesstrafe ist von dir genommen. Sie wird an ihm vollstreckt.“

Zersa neigte den Kopf. Ein winziges, kaum merkliches Lächeln huschte über ihre Lippen. Sie nickte.

„Von Ata zu Ata. Lass mich es tun, Ano.“

Ano zögerte kurz, dann nickte er. Zersa sah ihn an.

„Ich brauche mein Messer. Darf ich es holen?“

„Natürlich.“

Zersa verneigte sich leicht, dann huschte sie zu Tiano. Er sah sie an, kurz zögerte er und nahm sie in die Arme. Die Blicke der anderen schienen ihm gleich zu sein.

„Bist du sicher, dass du es tun willst?“

„Niemand anderes außer mir sollte es tun“, flüsterte sie zurück. „Ich werde ihn nicht töten. Ich werde ihn erlösen. Seine ganze Existenz besteht nur aus Wahnsinn, Einsamkeit und Schmerzen. Ich bin Ata wie er. Von der Waldmutter berührt. Ich schicke ihn zu ihr. Und sie wird ihn aufnehmen und von seiner Schuld befreien. Alles wird gut werden, glaube mir.“ Sie löste sich von ihm, dann huschte sie in die Dunkelheit davon, während die Uruni langsam einen Kreis um den Letzten des Echsenstammes bildeten. Es dauerte nicht lange, und Zersa kehrte zurück. Sie hielt ein langes Messer aus schwarzem Stein in den Händen. Die Klinge schimmerte im Feuerschein. Von ihren Schultern floss ein Umhang aus rot gefärbten Federn, darunter war sie nackt. Sie hatte sich das Haar zurückgebunden. Langsam trat sie in den Kreis hinein und kniete an der Seite des Wesens. Sie sah die anderen nicht mehr. Dieser Moment gehörte nur ihr und dem Letzten des Drachenstammes. Sie sah ihn an. Seine Augen waren nicht mehr bleich. Jetzt waren sie grün, grün wie der Wald. Sie sah ihn in seiner Uruni-Gestalt vor sich, die Haut mit grüngoldenen Schuppen bedeckt, das Haar lang und blauschwarz. Wie ein Schatten lag die Ata-Gestalt über ihm, eine schlanke Echse, die schillerte wie ein Opal. Er lächelte.

Ich danke dir, Ata. Schwester. Und glaube nicht, dass alle Menschen schlecht sind. Ich selbst habe heute gelernt, dass es nicht so ist. Und glaube nicht nur, was du siehst. Ich will dir etwas schenken.

Seine Hand schob sich an den Lichtkäfig. Sie fasste danach und fühlte, wie er ihr etwas in die Handfläche legte. Dann nickte er ihr zu und sie hob das Messer, um es nur einen Atemzug später mit aller Kraft in seine Brust zu rammen. Licht barst.

Sie spürte Blut an ihren Händen.

Ein Zittern in der Erde.

Zersa wich zurück, als der Boden zu leben begann, Schösslinge aufwuchsen und das, was vom Letzten des Drachenstammes übrig war, innerhalb weniger Augenblicke vollständig überwucherten. Auch ihr Messer verschwand in dem satten Grün, Ranken umwoben es und ließen es blühen. Sie stand auf. Die Welt um sie herum begann, sich zu drehen. Sie taumelte. Starke Arme fingen sie auf und sie ließ sich in wohliges Dunkel sinken.

Vergessen.

Wenigstens für einen Moment.

 

***

 

Noch bevor sie die Augen öffnete, wusste sie, dass sie in der vertrauten Umgebung ihrer Hütte lag. Nur eines war anders als sonst: sie war nicht allein. Neben sich spürte sie Tiano, fühlte den Arm, den er um sie gelegt hatte, spürte seinen Körper um sich herum wie einen schützenden Wall. Mit einem Lächeln drehte sie sich zu ihm um und berührte sanft sein Gesicht. Ihre Fingerkuppe glitt von einem Punkt zwischen seinen Augen die Nase entlang bis zu den Lippen. Auch er lächelte, öffnete die Augen und sah sie an.

„Meine Katze. Darf ich dich nicht doch so nennen? Wie fühlst du dich?“

Zersa schmiegte sich an ihn. „Besser. Ich habe wirres Zeug geträumt. Tiano ...“

„Was?“

„Du ... du weißt es jetzt. Und du bist immer noch hier?“

Er lachte leise. „Wem soll ich sonst all die Fragen stellen, die in meinem Kopf Schlange stehen?“

Zersa vergrub das Gesicht an seiner Brust. „Ich hatte geglaubt, wenn du erfährst, dass ich ... dass ich wirklich ein Tier bin, dann willst du mich nicht mehr in deiner Nähe haben.“

„Zersa.“ Ihr Name von seinen Lippen klang wie ein sanftes Schnurren.

„Ich war überrascht. Ja. Aber warum sollte ich nicht mehr bei dir sein wollen? Du bist wunderbar. Du bist schön. Du bist faszinierend. Und ich ...“ Jetzt wurde er rot.

„Ich begehre dich, Zersa. Jetzt noch viel mehr als in dieser Nacht im Wald. Ich möchte bei dir sein. Wenn du mich willst.“

„Wenn ich...?“ Zersa hatte das Gefühl, einen Ameisenhaufen in ihrem Inneren zu fühlen, hunderte winziger Tierchen, die in ihrem Magen krabbelten. „Tiano. Ich habe dich in dieser Nacht gewollt. Und ich will dich noch immer. Ich habe nie geglaubt, dass das möglich ist. Aber ich glaube, eine Uruni hat sich in einen Menschen verliebt. Ich weiß nur nicht ... wie das gehen soll.“

Tiano küsste sie, dann gab er sie frei.

„Vielleicht, indem der Mensch im Wald bei den Uruni bleibt. Wenn die ihn denn wollen. Sie haben mich ziemlich seltsam angesehen, als ich dich aufgefangen habe. Nachdem du ... nachdem du es zu Ende gebracht hast, haben die anderen mich wie ein Hornissenschwarm überfallen, sie wollten wissen, wer ich bin, wie ich dich gefunden habe, was geschehen ist in den Wäldern. Ano hat mich beinahe verhört. Sie haben zugelassen, dass ich dich in deine Hütte bringe, dann haben sie mich vor euren Dorfrat gebracht und ich habe ihnen alles gesagt. Ich habe ihnen auch das Band gezeigt ... das, das von dem Mädchen stammt. Phea ...“

„Pehaja. Haben sie dir geglaubt?“

„Nach einer Weile. Ich habe ihnen gesagt, wer ich bin. Und was ich in den Wäldern suche. Und sie haben gesagt, weil ich dem Stamm der Wildkatze geholfen hätte, stünde ich nun unter seinem Schutz. Vor allem, weil ich es ganz offensichtlich geschafft habe, die Ata des Stammes zur Freundin zu gewinnen.“

Zersa lachte. „Die Ata des Stammes haben sie mich genannt? Unglaublich. Bis vor fünf Tagen war ich noch eine Mörderin. Und jetzt nennen sie mich mit Ehrfurcht Ata.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist verrückt.“

Tiano nickte. „Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Ich verstehe nicht viel von dem, was passiert ist. Aber was ich verstanden habe, ist, dass sich in der letzten Nacht anscheinend einiges geändert hat. Was wirst du jetzt tun, Zersa?“

„Ich weiß es nicht. Was willst du tun?“

„Bei dir bleiben.“

Zersa strich über die Narben auf seiner Brust. „Und was noch? Was ist mit deiner Suche?“

„Natürlich will ich weitersuchen. Aber noch lieber... will ich bei dir sein.“

„Dann werden wir gemeinsam gehen.“ Zersa schloss die Augen und legte den Kopf auf Tianos Brust.

„Ich muss zu den anderen Stämmen und vor ihrem Rat sprechen. Sie müssen erfahren, was geschehen ist. Sie müssen aufhören, ihre Ata als etwas Falsches, Verdorbenes zu sehen. Sie müssen sie wieder frei leben lassen. Dann, nur dann können sie ihre Kraft nutzen. Und du wirst mich dabei begleiten. Dann kannst du deine Suche bei den anderen Stämmen fortsetzen. Komm mit mir, Tiano. Bitte.“ Sie nahm seine Hand. Tiano lächelte und küsste ihre Hand, jede einzelne Fingerspitze und dann die Handfläche.

„Frag nicht, wie gern ich ja sage“, murmelte er. Dann griff er unter die Decke und zog etwas hervor.

„Das hier hattest du in der Hand, nachdem es vorbei war. Ich habe keine Ahnung, was das ist.“

Tiano reichte Zersa eine kleine Kristallkugel an einem Lederband. Sie nahm sie. Im Licht des Feuers, das Tiano angezündet hatte, schimmerte sie. Einen Atemzug lang betrachtete sie Tiano durch die Kugel – und zuckte zusammen.

„Zersa? Was ist? Was hast du gesehen?“

Sie zuckte die Schultern. „Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht nur einen Lichtreflex.“ Sie nahm das Band und hängte sich die Kugel um den Hals. „Sie hat ihm gehört. Und ich glaube, er hat sie benutzt, um seine Kräfte zu stärken. Sie ist wie ein Wassertropfen, der im Sonnenlicht leuchtet und einen Grashalm anzünden kann. Verstehst du?“

Tiano nickte. Er lächelte und beugte sich über Zersa, um sie zu küssen und sie spürte, dass er schon bald keinen Gedanken mehr an die Kugel aus Kristall verschwendete.

 

Als sie eine ganze Weile später ruhig nebeneinander lagen, wartete sie, bis Tiano schlief. Dann hob sie die Kugel vor ihre Augen, kniff das eine zu und blickte mit dem anderen hindurch.

Wie schön er war in seiner anderen Gestalt. Ich habe noch nie einen weißen Tiger mit blauen Augen gesehen. Aber er wird Zeit brauchen, bis er bereit ist, anzunehmen, was er ist. Nie hätte ich geahnt, dass auch die Menschen ihre Ata haben. Wir werden sehen, was die Zukunft bringt. Seine Suche bei den anderen Clans wird ihn vielleicht genug lehren, damit er nicht wahnsinnig wird, wenn er sein Erbe erkennt und sein Tier findet. Das Blut ist mächtig in ihm.

Sie lächelte und fragte sich im Stillen, was mit Tianos Uruni-Mutter geschehen war und wo sie jetzt sein mochte.

Aber das war nicht ihre Suche und nicht ihre Aufgabe. Zumindest jetzt nicht. Jetzt musste sie ihrem eigenen Weg folgen. Und er würde sie begleiten.



 

 

Ende


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Nachtjägerherz

Tina Alba