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Michael Wanner
Letzte Stunde

Michael Wanner

Letzte Stunde

Ein Baden-Württemberg-Krimi

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Michael Wanner, geboren 1954, hat in Tübingen studiert. Als Jurist vertritt er Gewerkschaftsmitglieder vor den Arbeitsund Sozialgerichten. Er lebt mit seiner Frau, die wie er Kriminalromane, Drehbücher und Theaterstücke schreibt, in Tübingen.
www.storystore.de

1. Auflage 2015

© 2015 by Silberburg-Verlag GmbH,
Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.
Coverfoto: © Joe Belanger – 123RF.
Druck: CPI books, Leck.
Printed in Germany.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1666-3
E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1667-0
Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1398-3

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Inhalt

Mittwoch, 12. Juni

Donnerstag, 13. Juni

Freitag, 14. Juni

Samstag, 15. Juni

Montag, 17. Juni

Dienstag, 18. Juni

Freitag, 22. Juni

Sonntag, 23. Juni

Montag, 24. Juni

Mittwoch, 26. Juni

Mittwoch, 12. Juni

»Papa! Bitte! Beeil dich! Wenn wir jetzt nicht endlich losfahren, kommen wir noch zu spät!«

»Stimmt, Opa, Mama hat recht! Wir müssen wirklich los, wenn ihr noch einen Platz ganz vorne haben wollt!«

»Ja doch. Ich komm ja schon«, versuchte Friedrich Holzwarth sowohl seine Tochter Magdalena als auch seine Enkelin Friederike zu beruhigen.

Er stand vor dem Spiegel im Schlafzimmer seiner Wohnung im Hennentalweg in Tübingen und kämpfte damit, seine Krawatte so zu binden, dass am Schluss ein wenigstens einigermaßen vorzeigbarer Knoten herauskam. Seit einigen Jahren weigerte er sich konsequent, ein solches, seiner Auffassung nach vollkommen sinnloses Kleidungsstück zu tragen, das – zumindest bei ihm – überdies ständig der Gefahr ausgesetzt war, in Suppenteller eingetaucht oder mit Eigelb bekleckert zu werden. Für den seltenen Fall, dass er zu einer Beerdigung oder einer Hochzeit gehen musste, hingen ein schwarzer sowie ein blau-rot gestreifter Langbinder im Kleiderschrank, die er jedes Mal nach seiner Rückkehr nur so weit lockerte, dass er sie über den Kopf ziehen konnte und beim nächsten Gebrauch lediglich wieder festziehen musste. Aber jetzt blieb Friedrich keine andere Wahl, als sich mit dem dezent gemusterten Stück Stoff abzumühen, das Magdalena für ihn nach einer Inspektion seiner Garderobe eigens für den heutigen Tag in einer Herrenboutique erstanden hatte. Zunächst hatte Friedrich sich standhaft geweigert, seinen Widerstand aber letztlich Friederike zuliebe aufgegeben. Schließlich war es der große Tag seiner Enkelin. Im Rahmen einer Schulfeier sollte ihrer Klasse der Preis offiziell überreicht werden, den sie bei einem Wettbewerb der Landeszentrale für politische Bildung wegen ihres gemeinsamen Projekts »Maßnahmen gegen die Politikverdrossenheit Jugendlicher« gewonnen hatte. Und Friederike war diejenige gewesen, die das Projekt maßgeblich vorangetrieben und gelegentlich aufgetretene Motivationskrisen bekämpft hatte.

Normalerweise drückte Friedrich sich nach Kräften und mit pfiffigen Ausreden vor offiziellen Veranstaltungen wie Dienstjubiläen oder Verabschiedungen, die er eigentlich als Leiter einer Mordkommission besuchen musste. Aber Friederikes Bitte, ihn zur Preisverleihung zu begleiten, wollte er unter keinen Umständen abschlagen. Bei Licht besehen konnte er eigentlich nie eine Bitte seiner Enkelin abschlagen. Aber in diesem Fall kam noch erschwerend hinzu, dass Friederike schon auf die Begleitung ihrer innig geliebten Großmutter verzichten musste. Die Germanistikprofessorin Hanna Kirschbaum konnte nicht an der Schulfeier teilnehmen. Sie hatte eine Gastprofessur an der University of California angetreten und würde frühestens zu Weihnachten wieder für ein paar Tage zurück nach Tübingen kommen.

»Opa! Jetzt komm doch endlich! Ist doch piepegal, wie das Ding um deinen Hals aussieht. Von mir aus kannst du es auch ganz weglassen. Hauptsache, wir kommen jetzt endlich mal in die Gänge!«

»Ja … wenn es Friederike egal ist … es ist immerhin ihre Feier.«

Friedrich schenkte seiner Tochter kurz ein Siegerlächeln, zog sich die Krawatte vom Hals und preschte zwischen Tochter und Enkelin zur Wohnungstür.

Dort blickte er sich um und wandte sich bester Laune an die beiden, die noch immer unter der Schlafzimmertür standen: »Worauf wartet ihr beiden denn noch? Abmarsch!«

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Alexander Schief hatte keine Eile. Er würde ohnedies wieder zu früh kommen.

Er kam ständig zu früh.

Die Feier, zu der er eingeladen war, begann um 14.30 Uhr, also in einer knappen Stunde. Trotzdem stand er bereits jetzt frisch geduscht und rasiert vor dem Schlafzimmerschrank und überlegte, welches Oberhemd er zu seinem dunkelblauen Anzug mit Weste tragen sollte. Dabei fiel sein Blick in den Spiegel, der in die Innenseite der Schranktür eingepasst war. Er sah die Fotografie hinter sich an der Wand, die Doro und ihn erschöpft, aber glücklich auf einem Dolomitengipfel zeigte.

»Wenn du doch nur noch bei mir wärst!«, seufzte er und hatte Mühe, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten.

Er verließ das Schlafzimmer in der Unterwäsche, setzte sich im Wohnzimmer auf das Sofa, auf dem er unzählige Abende zusammen mit seiner Frau vor dem Fernseher verbracht hatte, verbarg sein Gesicht in den Händen und blieb regungslos sitzen.

»Wie habe ich mich auf meinen Ruhestand gefreut!«, dachte er bitter. »Darauf, nicht mehr unterrichten zu müssen. Davon befreit zu sein, renitenten Rotzlöffeln Latein und Griechisch beizubringen. Endlich mit Doro zu reisen. Indien. Bali. Die Vereinigten Staaten von Amerika. Australien.«

Er zwang sich aufzustehen, ging zurück ins Schlafzimmer. Sein starrer Blick schien auf den offenen Kleiderschrank gerichtet zu sein. Aber statt seiner Hemden sah er, wie die Bergwacht Doro tot von dem Felsplateau zurückbrachte, auf dem sie nach ihrem Ausrutschen und folgenden Absturz liegen geblieben war.

Er zwang sich, das Bild zu vertreiben.

»Jetzt habe ich Zeit ohne Ende. Genau das, was ich mir vor allem in den letzten Jahren an der Schule so sehr gewünscht habe. Und jetzt weiß ich nicht, was ich damit anfangen soll.«

Er schloss die Schranktür, um die Fotografie nicht mehr sehen zu müssen, und ging erneut zu seinem Wohnzimmersofa.

»Meine Güte! Wenn mir vor einem Jahr einer erzählt hätte, dass ich meine Arbeit noch einmal vermissen würde! Ich hätte ihn für verrückt erklärt! Und jetzt freue ich mich wie ein Schneekönig, weil ich zu dieser Feier eingeladen werde. Nicht weil ich dort gerne hingehen will. Sondern weil mir so ein weiterer von diesen öden Nachmittagen erspart bleibt. Weil ich so nicht wieder in diesem Sofa sitze und die Wand anstarre, bis ich endlich den Fernsehapparat zur Tagesschau anschalten kann.«

Er blieb noch einige Zeit sitzen. Dann aber raffte er sich entschlossen auf.

»Doro würde das nicht dulden!«

Er zog sich vollständig an und marschierte ausgehbereit in seiner Wohnung von einem Zimmer ins andere. Immer wenn er am Bad vorbeikam, trat er ein, blickte kurz in den Spiegel und überprüfte den ordnungsgemäßen Sitz von Krawatte und Einstecktuch.

Nach fünfzehn Minuten hielt er es nicht mehr aus. Er setzte sich ins Auto und fuhr zu seiner Schule, die nur wenige Straßenzüge entfernt lag. Er stellte den Wagen auf denselben Platz, auf den er ihn in all den Jahren zuvor gestellt hatte, und betrat das Schulgebäude. Auf dem Weg zur Aula begegnete ihm niemand, sodass er überlegte, das Schulgebäude noch einmal zu verlassen, um nicht allein in dem großen Saal sitzen zu müssen. Aber dann hörte er, dass hinter der Aulatür Kammermusik gespielt wurde. Er öffnete die Tür so leise wie möglich. Die vier Schülerinnen, die an der der Tür gegenüberliegenden Seite hinter ihren Notenständern saßen, ließen sich dadurch nicht aus der Ruhe bringen und musizierten weiter. Schließlich stand ihr erster öffentlicher Auftritt als Streichquartett unmittelbar bevor.

Alexander Schief warf einen Blick auf das festlich geschmückte Podium, das den Saal etwa im Verhältnis zwei zu drei teilte. Hinter dem Podium standen wie immer vier Stuhlreihen, die für die Lehrer reserviert waren. Auf der gegenüberliegenden Seite des Podiums war für die übrigen Besucher der Feier aufgestuhlt worden.

Alexander schlich von der Eingangstür auf Zehenspitzen geradeaus zu den für die Lehrer reservierten Plätzen. Auch jetzt noch fühlte er sich eher als Lehrer denn als Gast der Schule. Er setzte sich an das der Tür zugewandte Ende der vorderen Sitzreihe, wo er bei ähnlichen Veranstaltungen während seiner aktiven Zeit auch immer gesessen hatte, und freute sich, dass die Schülerinnen seine Wartezeit verkürzen würden. Er mochte Mozart zwar nicht besonders, aber der Musik zuzuhören war allemal besser, als in der Sackgasse auf- und abzumarschieren, an deren Ende das Hermann-Hesse-Gymnasium lag.

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Friederike saß wie auf Kohlen. Aufgrund eines harmlosen Auffahrunfalls, den ein Fahrer drei Autos voraus verursacht hatte, staute sich der Verkehr. Beide Fahrspuren waren blockiert, so dass Friedrich auch nicht wenden konnte. Sie wollte auf gar keinen Fall erst ankommen, wenn alle Plätze in den vorderen Reihen bereits belegt waren.

»Opa, kannst du nicht deine Sirene anstellen? Dann machen alle Platz und wir sind ruckzuck raus hier!« Auch wenn sie Friedrich sonst problemlos um den Finger wickeln konnte, glaubte Friederike nicht wirklich daran, dass ihr Opa der Bitte nachkommen würde.

Und tatsächlich brummte Friedrich: »Das kommt überhaupt nicht in Frage. Schlag dir das aus dem Kopf!«

So blieb Friederike nichts anderes übrig, als nervös mit den Fingern auf ihrem Sitz herumzutrommeln. Dabei war ihre Sorge um gute Plätze für Mutter und Opa nicht der einzige Grund für ihre Nervosität. Wenn es jetzt nicht bald weiterging, hatte sie auch keine Chance mehr, vor Beginn der Feier noch mit Flori zu reden.

Flori.

So nannte sie insgeheim den drahtigen, 1,83 Meter großen, muskulös gebauten Studienassessor für Mathematik und Sport Florian Schneider, der vor knapp einem Jahr den Mathe-Unterricht der damaligen 8 c übernommen hatte. Schon nach der ersten Stunde war es um Friederikes Seelenfrieden geschehen gewesen. Sein dunkles, halblanges, welliges Haar, seine sehr engen Jeans, die er zu dezent gemusterten Hemden trug, und vor allen Dingen sein strahlendes, fast lausbubenhaftes Lächeln lösten bei Friederike Empfindungen aus, die ihr bis dahin unbekannt gewesen waren. Wenn sie Flori mit den anderen Lehrern oder gar mit ihren Mitschülern verglich, so lagen ihrer Auffassung nach Galaxien dazwischen. Vom Normalsterblichen zum Gott mutierte Florian für Friederike spätestens in dem Moment, in dem er mit der 8 c auf der Neckarinsel das Vermessen von Flurstücken und Abständen zwischen einzelnen Platanen demonstrierte. Die Schüler hantierten eifrig mit Maßbändern und rot-weiß gestreiften Stangen, als plötzlich vom Fluss her Hilfeschreie zu hören waren. Alle Kinder liefen zum Ufer. Offensichtlich waren zwei Stocherkähne zusammengestoßen und in der Folge davon ein Kind über Bord gegangen, das nicht schwimmen konnte. Es paddelte zwar wild mit den Armen herum, konnte aber trotzdem nicht verhindern, dass es flussabwärts trieb und immer wieder mit dem Kopf unter Wasser geriet. Florian Schneider spurtete zum Ufer, hechtete, ohne anzuhalten oder Kleidungsstücke abzustreifen, in die Fluten und kraulte mit kräftigen Zügen zu dem Kind. Zurück am Ufer begann er sofort mit Wiederbelebungsmaßnahmen. Zehn Minuten später konnte ein völlig aufgelöster Vater sein Kind wieder in die Arme nehmen.

Noch während der ersten drei Gymnasialklassen waren Friederike die sportlichen Erfolge mit dem Mädchenteam ihres Fußballvereins, des FC Tübingen, wichtiger gewesen als französische Vokabeln oder mathematische Formeln. Sie brachte deshalb in aller Regel lediglich Noten im Bereich »befriedigend« mit nach Hause. Seit Florian Schneiders Heldentat strengte sie sich vor allem im Mathematikunterricht, aber allmählich auch in den anderen Fächern mehr an. Entsprechend wurden die Ergebnisse der Klassenarbeiten sehr zur Freude ihrer Eltern und Großeltern besser und besser. Nur bei Friedrich wuchs die Befürchtung, seine Enkelin könne vielleicht etwas zu viel von der aus seiner Sicht überkandidelten Intellektualität ihrer Großmutter, seiner Exfrau Hanna, geerbt haben.

Allerdings blieb abzuwarten, wie sich Friederikes Noten in Zukunft entwickeln würden, denn seit Ende des letzten Schuljahres nahm sie sich wieder weniger Zeit für ihre Hausaufgaben. Statt wie früher nur einen kurzen Blick auf die Artikel des Schwäbischen Tagblatts zu werfen, in denen es um Landes- und Bezirksligaergebnisse der Fußballer von TSG und SV 03 Tübingen ging, vertiefte sie sich jetzt anhaltend in den politischen Teil der Zeitung. Und wenn sie damit fertig war, schnappte sie sich dicke Sachbücher, die sie in der Stadtbücherei ausgeliehen hatte und in denen ebenfalls politische Fragen im Mittelpunkt standen. Das ging so weit, dass ihre Mutter sie sogar einmal darauf hinweisen musste, es sei Zeit, zum Fußballtraining aufzubrechen. Grund für diese neueste Entwicklung war, dass Friederike gegen Ende des letzten Schuljahres erstmals in ihrem Leben das Tübinger RACT-Festival, eine Mischung von Open-Air-Konzert und politischer Information, am Anlagensee besucht hatte. Eine Mitschülerin, die am Tag zuvor bereits dort gewesen war, hatte berichtet, dass Florian Schneider hinter einem Stand von Attac gestanden hatte, um eifrig mit Festivalbesuchern über Globalisierung und Finanzkrise zu diskutieren.

Ohne Flori wäre Friederike sicher nicht auf die Idee gekommen, eine solche Veranstaltung zu besuchen. Zu diesem Zeitpunkt interessierte sie sich weder für die Auftritte lokaler Rock- und Hip-Hop-Bands noch für Workshops zu Themen wie »Inklusion als Herausforderung der Schule von morgen« oder »Kampf ums Wasser – Ressourcenverteilung in der so genannten Dritten Welt«. Aber die Chance, außerhalb der Schule und sozusagen auf Augenhöhe mit Flori reden zu können, war zu verlockend.

Friederike kam mit sehr gemischten Gefühlen vom Anlagensee zurück. Die vielen Informationsstände, der an vielen Stellen in der Luft liegende süßliche Geruch und vor allem die ohrenbetäubende Musik, die von der Rock-Bühne dröhnte, all das war einerseits faszinierendes Neuland für sie. Aber ein »Hallo, Friederike. Schön, dass du auch gekommen bist« war der einzige Satz, den Flori an sie richtete. Danach wandte er sich sofort wieder den beiden Studentinnen zu, die Friederike nicht nur um ihr Alter, sondern auch um das attraktive Äußere beneidete. Florian setzte mit ihnen eine bereits begonnene Diskussion fort, ohne sich weiter um seine Schülerin zu kümmern. Friederike, die so gut wie nichts von dem verstand, worüber da gesprochen wurde, beschloss an Ort und Stelle, sich ab sofort umfassend zu informieren, um bei solchen Gesprächen ebenfalls mitreden zu können.

Und deshalb war es so wichtig, dass sie gerade heute nicht zu spät kam. Noch vor Beginn der Feier war die beste Gelegenheit, mit Flori auf Augenhöhe über die Politikverdrossenheit Jugendlicher zu diskutieren. Hinterher, fürchtete sie, würde sie kaum noch die Möglichkeit dazu haben. Und ausgerechnet jetzt saß sie hier wegen dieses blöden Unfalls fest. Es war zum Auswachsen!

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis endlich ein Abschleppwagen kam und wenigstens eine Fahrspur frei machte.

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»Lass mich los!«, forderte Saskia Hoffmann.

»Den Teufel werde ich tun!«, kündigte Jakob Gutscher an und drückte seine Freundin noch enger an sich.

Saskia legte für einige Sekunden ihren Kopf an Jakobs Schulter und genoss, wie er über ihre Haare streichelte. Dann machte sie sich sanft, aber bestimmt von ihm los.

»Wir müssen jetzt mit den Brezeln anfangen! Sonst werden wir nie rechtzeitig fertig. Ich habe zugesagt, dass ich Punkt 14.30 Uhr mit Butterbrezeln, Gläsern und je zwei Kisten Trollinger und Riesling aus dem Remstal auf der Matte stehe.«

»Und was ist mit mir? Ich habe heute Morgen mein Seminar sausen lassen. Nur wegen dir! Obwohl das sehr wahrscheinlich eine Menge Ärger geben wird! Und ich bin von Freiburg hierhergetrampt. Auch nur wegen dir!«

»Um dich werde ich mich schon noch kümmern. Mach dir da mal keine Sorgen!« Saskia machte durch einen verführerischen Blick deutlich, auf welche Art sie sich später um Jakob zu kümmern gedachte. »Aber zuerst müssen die Brezeln geschmiert werden!«

Jakob schmollte. »Meine Güte! Was ist damit schon verdient?«

»Erstens: Kleinvieh macht auch Mist. Und zweitens: Es ist mit Sicherheit kein Fehler für mein kleines, aufstrebendes Ein-Frau-Unternehmen, wenn ich dort einen möglichst guten Eindruck hinterlasse.«

Jakob war nicht überzeugt. »Aber …«

Saskia unterbrach ihn sofort. »Zu so einem Schulfest kommen jede Menge Leute, die ordentlich Kohle haben. Wer weiß? Vielleicht brauchen zwei oder drei von denen in nächster Zeit eine kleine, aufstrebende Catering-Firma für irgendeine Veranstaltung. Und da könnte es doch sehr gut sein, dass sie sich an die freundliche, außerordentlich gut aussehende junge Frau mit den leckeren Butterbrezeln vom Schulfest erinnern. Also los! Du schneidest und ich schmiere!«

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Als Annette Winter die Garagentür öffnete, zogen sich ihre Augenbrauen zusammen und die Augenlider verengten sich: Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sie sich ärgerte. Seit neun Monaten bewohnte sie in der Fürststraße eine kleine Dachwohnung. Inzwischen waren die beiden Zimmer längst mit wenigen Möbelstücken und einigen persönlichen Habseligkeiten gemütlich eingerichtet. Mit den anderen Hausbewohnern hatte sie keinerlei Probleme. Die einzige Ausnahme war der Student, der ein Stockwerk unter ihr wohnte. Ständig stellte er sein Fahrrad so ab, dass Annette es erst umständlich beiseitebugsieren musste, damit sie an ihr eigenes herankam. Obwohl sie ihren Mitbewohner bereits mehrfach darauf angesprochen hatte, dauerte es auch heute wieder länger als eigentlich notwendig, bis sie sich in den Sattel schwingen und in Richtung Wilhelm-Keil-Straße in Bewegung setzen konnte. Dabei wollte sie gerade heute auf gar keinen Fall zu spät kommen. Ihre neun Jahre jüngere Halbschwester Janka, die bei ihrem Vater in Tübingen wohnte, besuchte zur Zeit die Kursstufe eins des Hermann-Hesse-Gymnasiums. Sie sollte bei der Schulfeier mit ihrem Cello erstmals öffentlich als Teil eines Streichquartetts auftreten, und Annette wollte Jankas großen Auftritt keinesfalls verpassen.

Annette wandte sich nach rechts und trat kräftig in die Pedale. Schon nach weniger als einer Minute steinlachabwärts hatte sie eine Brücke erreicht. Sie überquerte sie und fuhr an der Rückseite der Thiepval-Kaserne, unter anderem der Sitz des Tübinger Finanzamtes, entlang. Wie jedes Mal blieb Annettes Blick an der bunt bemalten Wand hängen, die das Anwesen vom Gehweg trennte. Und sie las, ebenfalls wie jedes Mal, die Worte, die auf die Mauer gesprüht waren.

bunt wohnen

quer denken

anders leben

Dieses Motto faszinierte Annette, auch wenn ihr durchaus bewusst war, dass es mit ihrem tatsächlichen Leben zumindest im Moment nicht allzu viel zu tun hatte. Sie wohnte weder bunt, noch dachte sie quer oder lebte anders. Im Gegenteil. Von Zeit zu Zeit erschrak sie darüber, wie durch und durch normal sich ihr bisheriger Lebensweg gestaltet hatte. Gleichzeitig kam dann aber auch immer ein Gefühl von Stolz auf. Stolz darauf, dass sie jetzt das erreicht hatte, was über viele Jahre ihr Ziel gewesen war.

Nach ihrem Realschulabschluss kam für sie ein Wechsel an eine weiterführende Schule mit der Perspektive Abitur und anschließendem Studium definitiv nicht in Frage. Aber auch eine Ausbildung wollte sie noch nicht antreten. Sie hielt sich ein Jahr lang – sehr zum Leidwesen ihrer Eltern – mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Auf das Drängen insbesondere des Vaters, jetzt endlich mit einer soliden Berufsausbildung zu beginnen, zuckte Annette nur mit den Schultern. Ihre Unschlüssigkeit im Hinblick darauf, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte, wurde – auch wenn Annette sich dessen nicht sofort bewusst war – an dem Abend beendet, als sie mit ihrer Freundin Carina zu einem Geburtstagsfest eingeladen war. Carina fühlte sich nicht besonders gut, wollte früh gehen und fragte Annette, ob sie sie begleiten könne.

Annette lehnte ab, weil sie darauf hoffte, dass Martin, den sie schon seit geraumer Zeit im Visier hatte, doch noch auf der Party erscheinen würde. Carina ging allein. Auf dem Nachhauseweg wurde sie überfallen und vergewaltigt. Einen Tag später erkundigte sich Annette, wer im näheren Umkreis Ju-Jutsu-Kurse anbot und welche Voraussetzungen erforderlich waren, um in den Polizeidienst des Landes Baden-Württemberg eintreten zu können. Sie stellte ihre Bewerbungsunterlagen zusammen, bestand den Sprach-, Rechtschreibe- und Intelligenztest sowie die Sport- und Gesundheitsprüfung ohne Schwierigkeiten und hielt schließlich nach drei Wochen die Zusage für einen der begehrten Plätze in den Händen. Kurze Zeit später rückte sie bei der Bereitschaftspolizeidirektion Göppingen ein und begann mit ihrer Ausbildung für den mittleren Dienst. Nach zweieinhalb Jahren versah sie ihren Dienst als Streifenpolizistin im Polizeirevier Eislingen, wo sie schnell durch überdurchschnittlichen Einsatzwillen und Belastbarkeit auffiel.

Deshalb drängte sie ihr Vorgesetzter schon nach kurzer Zeit, sich für das Auswahlverfahren zum gehobenen Dienst anzumelden. Auch diese Prüfung schaffte Annette auf Anhieb. Sie begann ihr Studium an der Hochschule für Polizei in Villingen-Schwenningen. Aufgrund ihres guten Abschlusses hatten ihre Ausbilder dafür gesorgt, dass sie die von ihr gewünschte Stelle in Tübingen auch bekam. Dort arbeitete sie jetzt schon seit knapp einem Jahr in dem Kommissariat, dem Friedrich Holzwarth vorstand.

Als Annette das Ende der Schellingstraße erreicht hatte, fuhr sie auf dem kleinen Fußweg weiter, der sie in die Mühlbachäcker und von dort in die Wilhelm-Keil-Straße brachte. Zwischen Sparkassen-Carré und Landratsamt wandte sich Annettes Blick unweigerlich nach links und fiel auf ihre derzeitige Arbeitsstätte, das Derendinger Polizeihochhaus. Schnell konzentrierte sie sich wieder auf die Straße und erreichte den Pausenhof des Hermann-Hesse-Gymnasiums nur wenige Augenblicke später.

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»Wir kommen nun zur Übergabe des Preises. Darf ich die Schülerinnen und Schüler der Klasse 9 c zu mir aufs Podium bitten?«

Die Schulleiterin Silke Wittenberger-Munz entsprach, zumindest was ihre Kleidung betraf, nicht dem klassischen Bild einer Karrierefrau. Sie trug stattdessen ein Abendkleid in einem dunklen Malveton, das bis zu ihren Waden reichte. Die Fingernägel waren in der Farbe des Kleides lackiert. Lippen und Augen hatte sie ebenso dezent wie zur übrigen Farbgestaltung passend geschminkt. Obwohl sie im Schulalltag eine randlose Brille trug, die ihrem Gegenüber häufig erst beim zweiten oder dritten Blick auffiel, hatte sie sich heute für Kontaktlinsen entschieden. Ihre penibel geschnittene dunkelbraune Kurzhaarfrisur erforderte mindestens alle 14 Tage einen Friseurtermin.

Sie verließ das Rednerpult und ging mit wenigen Schritten zu dem Tisch, auf dessen weißer Decke und von Blumengebinden umrahmt ein überdimensional großer Briefumschlag lag. Der Umschlag enthielt einen Scheck über eine relativ bescheidene Summe, die die ausgezeichneten Schülerinnen und Schüler für ihre nächste Klassenfahrt verwenden würden.

Silke Wittenberger-Munz mochte keine feierlichen Preisverleihungen. Als bekannt wurde, dass eine Klasse des Hesse-Gymnasiums ausgezeichnet werden würde, hatte sie zunächst vorgehabt, die Presse durch einen Zweizeiler zu informieren und kein weiteres Aufhebens darum zu machen. Aber ihr Mann, Holger Munz, der nach der bevorstehenden Wahl unbedingt für den Wahlkreis Tübingen als Bundestagsabgeordneter nach Berlin gehen wollte, überredete sie dazu, eine kleine Feierlichkeit zu organisieren, bei der er eine Möglichkeit zur Präsentation seiner Person erhielt. Auch wenn die Wahl erst in drei Monaten stattfinden würde, wollte er sich die Möglichkeit nicht entgehen lassen, durch einen entsprechenden Bericht des Schwäbischen Tagblatts auf sich aufmerksam zu machen.

Seine Frau sagte schließlich zu, auch wenn sie dadurch gezwungen war, ähnlich anerkennende Floskeln zu benutzen wie bei der Übergabe der Preise für besonders herausragende Schüler am Ende jedes Schuljahres. Jahr für Jahr hatte sie entweder bienenfleißige Streber oder besonders begabte Faulenzer auszuzeichnen. Beide Schülergruppen konnte sie etwa gleich schlecht leiden. Aber als Leiterin des Hermann-Hesse-Gymnasiums gehörte es nun einmal zu ihren Aufgaben, die Preise in die meist schwitzenden Hände der überwiegend adrett angezogenen Jugendlichen zu übergeben. Nur Manuela Breuninger, derzeit Kursstufe zwei, tanzte jedes Mal aus der Reihe. Sie verstand es Jahr für Jahr wieder, allein schon durch ihre zerrissenen Jeans und Haarsträhnen in Neongelb, Grün und Lila sowohl anerkennende Blicke von den meisten ihrer Mitschüler als auch missbilligend-resignierte Augenaufschläge von den Eltern der anderen Preisträger auf sich zu ziehen. Ihr seit Jahren gleichbleibender Schnitt von 1,0 machte sie unangreifbar, auch wenn sich einzelne ältere Kollegen hinter vorgehaltener Hand über Manuelas Aussehen mokierten.

Nach der Aufforderung der Direktorin an die Schülerinnen und Schüler der Klasse 9 c, nach vorne zu kommen, defilierten die Jugendlichen wie bei Siegerehrungen im Fußball an ihrer Schulleiterin vorbei, bekamen von ihr die Hand gedrückt und verließen die Bühne wieder in Richtung ihrer stolzen Eltern oder Großeltern.

Friederike war die Drittletzte in der Reihe. Sie ging zwei Schritte, blieb dann aber plötzlich stehen und schaute nicht etwa zum Tisch mit dem Preis, sondern hinter sich zu den beiden Stuhlreihen, die für die Lehrkräfte reserviert und aus der Sicht der Festbesucher hinter dem Podium aufgestellt worden waren. Friederike konnte nicht auf Anhieb erkennen, ob Flori inzwischen unter seinen Kolleginnen und Kollegen saß. Bei ihrer Ankunft in der Aula war er noch nicht da gewesen.

»Friederike, was ist los? Willst du mir nicht die Hand geben?«

Die Stimme der Schulleiterin verriet nicht, ob die Frage aus Ungeduld gestellt worden war oder deshalb, weil sie Friederike davor bewahren wollte, sich lächerlich zu machen.

»Doch … doch, natürlich …«

Friederike setzte sich in Bewegung. Sie war kaum losgegangen, als sie ein entsetzter Aufschrei aus mehreren Kehlen im Auditorium erneut erstarren ließ. Sie folgte den Blicken der Festbesucher, die nahezu allesamt auf die Eingangstür der Aula gerichtet waren.

Dort steht eine Person in schwarzem, wattiertem Overall, über dem Kopf eine Sturmhaube. Lediglich zwei kleine Schlitze für die Augen sind frei. Niemand erkennt, ob Frau oder Mann. In der rechten Hand hält die Person eine Pistole. Sie stellt sich breitbeinig auf, hebt den rechten Arm über Schulterhöhe, stützt die rechte Hand mit der linken, senkt die Pistole in die Waagrechte, richtet sie auf die Lehrerreihen, schwenkt kurz von rechts nach links und wieder zurück und drückt ab.

Auf das Krachen des Schusses reagieren manche der Anwesenden mit lauten, manche mit erstickten Schreien. Die meisten Besucher verhalten sich mucksmäuschenstill. Einzelne Festbesucher springen auf und versuchen in den hinteren Bereich der Aula zu fliehen. Die meisten jedoch verharren regungslos auf ihren Sitzen. Eine Lehrerin bemerkt, dass ihr Nachbar langsam in sich zusammensackt. Sie schreit schrill auf und zieht so die Blicke aller Anwesenden auf sich. Aus dem Einschussloch auf der Stirn des Mannes fließt Blut über Wangen und Hals auf den Hemdkragen. Es gibt keinerlei Zweifel: Der ältere Herr ist getroffen.

Friedrich Holzwarth duckt sich hinter den breiten Rücken seines Vordermannes und fingert sein Handy so aus der Hosentasche, dass möglichst wenig davon zu sehen ist. Er weiß zwar, dass das Hesse-Gymnasium wie alle anderen Tübinger Schulen auch mit einer Sue-BOX ausgestattet ist. Falls ein »Schwerwiegendes Unerwartetes Ereignis« einträte, würde ein Anruf eines Lehrers ein schulinternes Alarmsystem aktivieren. Lehrerinnen und Lehrer bekämen eine SMS auf ihre privaten Handys. Außerdem würde schulweit ein bestimmter Klingelton ausgelöst. Aber Friedrich will sich nicht darauf verlassen, dass dieses System wirklich installiert ist und dass es jemand anderer in Gang setzt. Denn selbst wenn es funktionierte, würde es wenig helfen, da sich fast alle Lehrer ohnedies bereits in der Aula befinden und deshalb nichts unternehmen können. Nein, Friedrich will die Sache selbst in die Hand nehmen. Deshalb verflucht er jetzt die Tatsache, dass er sein Mobiltelefon vor Beginn der Veranstaltung ausgeschaltet hat. Mit starrem Oberkörper drückt er auf verschiedene Tasten und flüstert dann so leise es ging die Worte »Amoklauf« und »Hesse-Gymnasium«. Dann lässt er das Handy so fallen, dass es geräuschlos auf seinen Schoß gleitet und dort liegen bleibt. Friedrich stößt einen stillen Stoßseufzer aus: Die Person im Overall bemerkt nichts. Ein schneller Blick auf Friederike zeigt Friedrich, dass sie regungslos an ihrer bisherigen Position verharrt.

»Gut so! Rühr dich nicht vom Fleck!«, fleht er innerlich, als die vermummte Gestalt die Pistole wieder auf Schulterhöhe anhebt, die rechte Hand mit der linken stützt und erneut abdrückt. Wieder werden Schreie laut. Die Kugel schlägt jedoch nur in der Rückwand der Aula ein, vor der Saskia Hoffmann und Jakob Gutscher neben dem Tisch mit den Brezelkörben und den Weinflaschen und -gläsern kauern. Jakob, an dessen Kopf die Kugel wenige Zentimeter entfernt vorbeifliegt, verliert die Nerven. Er steht auf und beginnt in Richtung Ausgang und damit direkt auf den Schützen zuzurennen.

»Jakob! Bleib stehen!«

Saskia springt ebenfalls auf und versucht, Jakobs Arm zu erwischen, schafft es aber nicht mehr. Jakob kommt nur wenige Meter weit. Zwei weitere Schüsse strecken ihn nieder. Er bleibt regungslos auf dem Boden liegen. Saskia stößt einen Schrei des Entsetzens aus und setzt sich in Bewegung, ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde darüber nachzudenken. Aber sie kommt nicht einmal so weit wie Jakob. Schon nach weniger als einem halben Meter bricht auch sie durch einen weiteren Schuss blutüberströmt zusammen. In diesem Augenblick wird die Eingangstür, die sich jetzt im Rücken des Schützen befindet, von außen geöffnet. Unmittelbar danach erscheint zum ungläubigen Erstaunen Friedrich Holzwarths Annette Winter im Rahmen. Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, legt sie die zwei Schritte zurück, die sie vom Schützen trennen, stellt in einer einzigen, fließenden Bewegung ihren rechten Fuß zwischen seine Füße, beugt das linke Knie bis auf den Boden, umfasst mit beiden Händen die Fesseln der vor ihr stehenden Person und schiebt die linke Schulter unter deren Po. Ein gleichzeitiges kräftiges Zurückziehen der Arme sowie Schieben der Schulter nach vorwärts und oben bewirkt, dass die Person vornüberkippt, im Fallen die Pistole loslässt und mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden liegt. Annette will sofort über ihn hinwegsteigen, um an die zwei Meter entfernte Pistole zu gelangen. Aber instinktiv winkelt der Schütze seine Beine an, sodass Annette strauchelt und zwischen der Person und der Waffe auf dem Fußboden landet. In der Zwischenzeit kommt ihr Gegner wieder auf die Beine. Er wirft noch einen kurzen Blick auf die Pistole, erkennt aber gleichzeitig, dass Annette ebenfalls schon wieder auf den Füßen steht. Er zögert kurz, dreht sich dann aber um, rennt auf die Aulatür zu und spurtet den Gang entlang, so schnell er irgend kann.

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Nachdem Hoffnung bestand, dass der Spuk endlich vorbei war, brach lautstarker Tumult aus. Spitze Schreie übertönten unterdrücktes Wimmern und Stöhnen. Stühle wurden umgeworfen, Verwandte und Freunde bahnten sich den Weg zueinander und fielen sich in die Arme. Handys wurden aus den Taschen gezogen und alle brüllten in die Mikrophone, um die Nachbarn zu übertönen, die gleichfalls versuchten, ihre zum Zerreißen gespannten Nerven durch die Schilderung der Ereignisse zu beruhigen. Kommandos wie »Alle sitzen bleiben!« und »Nichts wie raus!« waren zu hören. An der Tür entstand ein lautstarkes Gerangel: Einige Festbesucher hinderten die Schulleiterin mit Gewalt daran, den Aulaeingang von innen abzuschließen, und öffneten beide Türflügel weit. Jetzt gab es kein Halten mehr. Schüler, Lehrer und Gäste drängten wild durcheinander und mit aller Kraft zum Ausgang. Stämmige Erwachsene stießen kleinere Kinder einfach zur Seite. Männer zogen ihre Frauen mit Gewalt hinter sich her. Nachdem Friedrich sich vergewissert hatte, dass es seiner Tochter und seiner Enkelin gutging, bahnte er sich unter Einsatz beider Ellenbogen seinen Weg von der Mitte des Saales zum Ausgang. Ein kurzer Blick zu Annette bestätigte ihm, dass er sich nicht weiter um sie kümmern brauchte. Er stürmte weiter, erreichte die Tür und blickte den Flur in beide Richtungen entlang. Von der Person im schwarzen Overall war nichts zu sehen. Friedrich entschied sich für die Flurseite, die in Richtung des Gebäudeausgangs führte, während Annette, die Friedrich inzwischen gefolgt war, sich in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung setzte.

Friedrich arbeitete sich von Deckungsmöglichkeit zu Deckungsmöglichkeit vor. Als er im Eingangsbereich angekommen, aber noch gut zehn Meter von der Tür entfernt war, sah er die schwarze Gestalt in Richtung Landratsamt rennen. Nachdem der Kommissar schließlich im Gedränge der fliehenden Menschen die Tür erreicht hatte, war die vermummte Person nirgends mehr zu sehen. Dafür bemerkte er, dass bereits die ersten Polizei- und zwei Notarztwagen anrückten. Eine panische Menschenmenge strömte an Friedrich vorbei ins Freie. Viele rannten zu auf dem Parkplatz abgestellten Autos. Die Sanitäter hatten zunächst keine Chance, in die Schule hineinzugelangen. Erst als der Strom der Fliehenden langsam abebbte, konnten die Sanitäter mit ihrer Ausrüstung den Notärzten zum Tatort folgen. Als sie zurückkamen, lagen Saskia Hoffmann und Jakob Gutscher auf zwei Rollbetten. Ihre Gesichter waren kreideweiß, aber sie atmeten regelmäßig.

Einer der Ärzte deutete auf die Betten. »Die beiden da haben verdammtes Schwein gehabt. Das Mädchen wurde in die Brust getroffen, aber zum Glück weit genug weg vom Herzen und ohne dass eine wichtige Blutbahn verletzt worden wäre. Den Jungen hat es nur am Oberschenkel erwischt. Wir müssen die beiden jetzt sofort in die Klinik bringen. Dann bekommen wir das wieder hin.«

Friedrich stellte sich den Sanitätern trotzdem in den Weg. »Können Sie uns irgendetwas zu dem Täter oder zu einem eventuellen Motiv sagen?«, fragte er die beiden Verletzten.

Während Jakob nur stumm den Kopf schüttelte, brachte Saskia mühsam ein »Keine Ahnung« über die Lippen.

Einer der Sanitäter schob das Rollbett kommentarlos gegen Friedrichs Körper, so dass ihm nichts übrig blieb, als den Weg frei zu machen.

»Und was ist mit dem älteren Herrn?«, erkundigte sich Friedrich bei einem der Notärzte.

»Den hat es erwischt. Mitten ins Gehirn. Dem konnten wir nicht mehr helfen. Da war absolut nichts mehr zu machen.«

In diesem Moment kam ein junger Streifenpolizist auf Friedrich zugerannt. »Funkspruch aus der Zentrale«, berichtete er aufgeregt. »Anruf vom Landratsamt! Eine schwarz gekleidete Person mit Sturmhaube ist da vor ein paar Minuten rein!«

»Versuchen Sie, telefonischen Kontakt mit denen da drin zu bekommen!« Friedrich deutete auf den Behördenbau. »Wenn Sie jemanden dran haben, will ich mit ihm reden!«, befahl er dem jungen Mann, der zurück zum Streifenwagen rannte.

Im Moment war Friedrich zur Untätigkeit verdammt. Deshalb rief er sofort seine Tochter an. Eine fremde Frauenstimme teilte ihm mit, dass der Teilnehmer im Moment nicht zu erreichen sei. Friedrich presste »Scheiße« zwischen den Zähnen hervor und drückte Friederikes Kurzwahlnummer. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung meldete sich seine Enkelin nach dem zweiten Klingeln. Friedrich wollte keinerlei Zeit verlieren.

»Ihr bleibt beide vorerst in der Aula!«, befahl er. »Dort ist im Moment der sicherste Ort für euch! Verstanden?«

Friedrich musste sein Telefonat beenden, weil ein Streifenbeamter auf ihn zurannte und rief: »Ich hab den Ersten Landesbeamten dran!«

Friedrich eilte zum Streifenwagen, stellte sich knapp vor und bat um Informationen zur Lage. So erfuhr er, dass eine der Sekretärinnen von ihrer Tochter per Mobiltelefon über die Vorkommnisse am Hermann-Hesse-Gymnasium informiert worden war. Und unmittelbar danach hatte sie sich auf den Weg zum Büro ihrer Freundin und Kollegin gemacht, um ihr sofort von den Neuigkeiten zu berichten. Als sie ihr Büro gerade verlassen hatte, sah sie, dass eine schwarz gekleidete Gestalt mit Kopfbedeckung am anderen Ende des Ganges um die Ecke bog. Die Sekretärin rannte sofort zurück zu ihrem Arbeitsplatz und rief von dort aus mit Panik in der Stimme erst die Polizei und dann ihren Vorgesetzten an. Der Erste Landesbeamte persönlich hatte daraufhin sofort angeordnet, alle Türen abzuschließen.

Friedrich kehrte zu seinen Kollegen zurück.

»Sobald genügend Kollegen hier sind, umstellt ihr das Gebäude weiträumig«, ordnete er an. »Das SEK aus Göppingen ist unterwegs. Bis die da sind, geht mir niemand da rein! Keiner spielt den Helden! Wir warten, bis das SEK da ist!«

Seine Kollegin Annette Winter hatte zwar erreicht, dass der Amokläufer die Pistole verlor, mit der er geschossen hatte, aber es war keineswegs auszuschließen, dass er unter dem wattierten Anzug weitere Waffen verborgen hatte.

Nur kurze Zeit später waren die ersten Mannschaftswagen der Bereitschaftspolizei zu sehen. Es dauerte nur Minuten, bis das Landratsamt so umstellt war, dass es von niemandem unbemerkt verlassen werden konnte.

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Die Rotoren des Hubschraubers, mit dem die Männer des SEK aus Göppingen anflogen, waren so laut, dass sich alle, die auch nur in der Nähe des Landeplatzes standen, die Ohren zuhalten mussten. Die Kufen der Maschine hatten kaum den Boden berührt, als die bis an die Zähne bewaffneten Sondereinsatzkräfte heraussprangen und in Richtung Landratsamt stürmten. Mit ihren Schilden, den gepanzerten Westen und den schweren Visierhelmen hinterließen sie einen extrem martialischen Eindruck. Scharfschützen postierten sich rund um das Landratsamt, während zwei Gruppen von Männern sich im Laufschritt dem Eingang der Behörde näherten. Dort hielten sie kurz inne, bis einer der Männer den Befehl »Go!« gab.

Hinter der Tür, die abzuschließen niemand auf die Idee gekommen war, bot sich den Männern ein mehr als überraschendes Bild. Ein mit schwarzer Hose und einem Kapuzenpulli in derselben Farbe gekleideter Mann stand mitten in der Eingangshalle und reagierte auf die hereinstürmenden Einsatzgruppen völlig unerwartet. Er lief weder weg, noch griff er an. Stattdessen schaute er die Männer fassungslos an und murmelte mit dem Ton ungläubigen Erstaunens: »Was um Gottes willen ist …«