0 Einleitung

„Nach dem Abitur möchte ich nach Mexiko, San Christobal de las Casas, um dort im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres in einer Kindertagesstätte mit Kindern aus mittellosen indigenen Familien zu arbeiten. Da ich selbst das Glück hatte, ohne Probleme an Bildung zu kommen, möchte ich dieses Privileg weitergeben, um Kindern einen Weg aus der Armut zu ermöglichen. Ich will mich außerdem mit meinen tänzerischen, musikalischen und kreativen Fähigkeiten einbringen und so das Selbstwertgefühl und die sozialen Kompetenzen der Kinder stärken, ihnen die Möglichkeit geben, ihre Fähigkeiten und Talente zu entwickeln, und die Kinder mit Freizeitangeboten begeistern. Die Kindertagesstätte sorgt nicht nur dafür, dass die Kinder zur Schule gehen, sondern fördert nachmittags sowohl das Wissen der Kinder als auch soziale Kompetenzen, Talente und Fähigkeiten. Die Kinder bekommen eine warme Mahlzeit, lernen Körperhygiene, und auch Spiele, Sport und Workshops sind Bestandteil des Programms. Durch meine Arbeit will ich ein Signal setzen, dass es wichtig ist, sich für mehr Frieden und Gerechtigkeit in der Welt zu engagieren“ (Dieterich u. a. 2009, 69).

Was die Schülerin Ronja G. hier über ihre Zukunftspläne zu Papier bringt, führt mitten in eine Diskussion, die in letzter Zeit mit Vehemenz entbrannt ist: Bildung wird aus der Sphäre des Vertrauten, des Überkommenen und beinahe schon Selbstverständlichen heraus genommen und mitten hinein in den Gegensatz von Armut und sozialer Privilegierung gestellt. Bildung ist nicht immer schon als Angebot für alle da. Bildung muss nicht bloß durch die mehr oder weniger Interessierten angeeignet und vollzogen werden. Nein, Bildung rückt in die Sphäre von Gerechtigkeit – und dies in zweierlei Hinsicht. Einerseits kann Bildung mit Vorrechten zu tun haben, mit ungebührlicher Bevorzugung, aber ebenso auch mit Benachteiligung. Und es gibt den Ausschluss von Bildung. Zudem wird Bildung in ihren verschiedenen Facetten und Voraussetzungen als Weg zur Überwindung von Armut diskutiert.

Andererseits gewinnen Ronjas Äußerungen ihre besondere Überzeugungskraft dadurch, dass sie einen rein theoretischen Gerechtigkeitsdiskurs überwindet. Mit ihrem Engagement für die Bildung anderer als Beitrag zu Frieden und Gerechtigkeit bezeugt sie bereits diese Gerechtigkeit und lässt diese performativ Realität werden.

Gleichwohl nimmt Ronja damit etwas in Anspruch, dessen Implikationen jedoch alles andere als selbstverständlich vorausgesetzt werden können. Mag auch manches daran zunächst intuitiv einleuchten, ist insbesondere der Gerechtigkeitsbegriff klärungsbedürftig. Was ist überhaupt gerecht? Über Gerechtigkeit spricht man derzeit in verschiedenen Zusammenhängen mit besonderer Heftigkeit: Gerechtigkeit im zwischenmenschlichen Austausch, was schon im Streit kleiner Kinder um ihr Spielzeug beginnt, Gerechtigkeit zwischen den Nationen, Kulturen und Gesellschaften im Weltmaßstab, Gerechtigkeit im Umgang mit den natürlichen Ressourcen, Gerechtigkeit als Verhalten oder gar Haltung eines Menschen. Eine Frage der Gerechtigkeit entsteht auch bei der Zumessung von Gehältern. So hat im März 2012 die OECD festgestellt, dass bei 34 Mitgliedsstaaten das Gehalt von Männern im Durchschnitt um 16 %, in Deutschland dagegen um 21 % höher ist als das von Frauen (Spiegel-Online 2012).

Doch ist es eine Frage der Gerechtigkeit, wie es den Kindern in der Schule ergeht? Alle haben doch von vornherein während des Unterrichts, so könnte man meinen, die gleichen Chancen. Alle sitzen gemeinsam in der selben Unterrichtsstunde, jeder hat die gleichen von der Schule bereitgestellten Materialien, jeder hat die Möglichkeit, durch Beiträge, durch Projekte sich einzubringen, jeder bekommt doch bei Hausarbeiten oder Klassenarbeiten die gleiche Aufgabe. Sieht man aber genauer hin stellt sich die Sache anders dar. Nach Ausweis der Bildungssoziologie lassen sich die Unterrichtenden mehrheitlich in ihren Selbstkonzepten, ihren Unterrichtsansätzen und ihrem „elaborierten Code“ von dem Bild eines mittelstandsbezogenen Schülers leiten. Sie können sich als Mitglied des bürgerlichen Mittelstands oft kaum vorstellen, dass in vielen Familien, auch von Gymnasialschülern, nicht einmal ein Schreibtisch vorhanden ist (Vorholt 2011, 104). Auch die OECD hat in der PISA-Studie mit erheblicher Vehemenz darauf hingewiesen: Nicht nur in Lebenswelt, in Wirtschaft und Politik, nein auch und gerade in der Bildung gibt es ein massives virulentes Gerechtigkeitsproblem. Dies hat die OECD noch in ihrer neuerlichen Studie „Bildung auf einen Blick“ wiederholt betont (OECD 2012).

Bildungsungerechtigkeit ist nicht allein ein massiver politischer und ökonomischer Skandal. Es handelt sich hier um eine Form der „Kollateralexklusion“ und damit um eine der „strukturellen Gewalt“ (Schönig 2009, 47). Damit ist die Tatsache gemeint, dass die Bildungsungerechtigkeit, unter der Kinder und Jugendliche leiden, Bestandteil und Folge jener Exklusion durch Armut und fehlende gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe ist, die bereits deren Eltern prägt. Die Exklusionsforschung widmet sich jenen Mechanismen, die für den Ausschluss von Teilhabe und von Rechten verantwortlich sind. Exklusion ist „demzufolge als eine Gleichzeitigkeit von Drinnen und Draußen zu verstehen. Es bedeutet, Teil einer Gesellschaft zu sein und dennoch die Erfahrung machen zu müssen, nicht dazuzugehören“ (Callies 2008, 256). Genauer: Man kann aufgrund „bestimmter Kriterien des Ausschlusses, die mit dem Legalitätsstatus, der Sozialkompetenz, dem Bildungsabschluss oder der Kulturaffinität zusammenhängen, gar nicht erst ins Spiel kommen, man kann andererseits aber auch durch bestimmte Umstände der Stigmatisierung, Degradierung und Ignorierung aus dem Spiel fallen“ (Bude 2008, 255).

Solche Ausschlusserfahrungen können in sehr verschiedenen Lebensbereichen erfolgen: Ausschluss aus sozialen und kulturellen Netzen, Ausschluss von einem Mindestsockel an Wohlstand, Ausschluss vom Arbeitsmarkt. Die soziologische Exklusionsforschung hat dementsprechend auch das Bildungsphänomen als Forschungsfeld entdeckt und sich etwa den Exklusionsmechanismen bei „ausbildungsmüden Jugendlichen“ (Bude 2008, 27) zugewandt. Exklusion drängt schon allein wegen der damit nicht selten verbundenen, teilweise traumatischen Beschämungserfahrungen pädagogisch wie religionspädagogisch zu einer näheren Auseinandersetzung (Haas 2013; Mette 2010).

In solchen Exklusionserfahrungen ereignet sich das, was Avishai Margalit ‚Demütigung‘ nennt. Damit sind „alle Verhaltensformen und Verhältnisse“ gemeint, die „einer Person einen rationalen Grund geben, sich in ihrer Selbstachtung verletzt zu sehen“ (Margalit 2012, 21). Demgegenüber ist Margalit um eine Kultur der Achtung, der Würdigung bestrebt. Über rein formale Theorien der Gerechtigkeit, die in seinen Augen lediglich Güter nach Gerechtigkeitsmaßstäben verteilen, profiliert er eine Politik der Achtung. Deren Ziel ist weniger eine gerechte Gesellschaft als eine „anständige Gesellschaft“, die über das mikroethische Zusammenleben der Menschen hinaus sich mit der Organisation einer Gesellschaft im Ganzen beschäftigt, also auch deren Institutionen und Strukturen im Blick hat (Margalit 2012, 13).

Ein wesentliches Moment der Demütigung ist die Armut. Diese freilich allein durch eine, vom Gefühl des Mitleids gespeiste, Wohlfahrt aus der Welt zu schaffen, hält Margalit für zusätzlich entwürdigend. Verbunden mit einem unterschwelligen Überlegenheitsgefühl artikuliert sich eine „Wohlfahrtsgesellschaft als demütigende Gesellschaft“ (Margalit 2012, 228).

In der Armut geht es nicht primär um monetäre Armut, sondern um sozialen Ausschluss. Der Armutsbegriff ist sozial, kulturell und ökonomisch konstruiert, was dessen Definition erheblich erschwert (Huster u. a. 2008, 39–220; Huster u. a. 2009, 48–59; Wilhelms 2010, 161). Schon Thomas von Aquin kommt zu einem weiten Armutsbegriff: „Arm sind Menschen, die immer oder zeitweise in einem Zustand der Schwäche, der Bedürftigkeit, des Mangels leben, wobei es nicht nur um das Fehlen physischer Kraft und materieller Güter (Geld, Nahrung, Kleidung) geht, sondern insgesamt um einen Mangel an sozialer Stärke, die ein Ergebnis ist von sozialem Ansehen und Einfluss, Waffengewandtheit und Rechtspositionen, von Gesichertsein durch soziale Bindungen, aber auch von Wissen und politischer Macht“ (Kuhlmann 2008, 302). Mag auch Waffengewandtheit nicht mehr zu den erstrebenswerten Kompetenzen zählen, so wird doch deutlich, worin vor allem das Problematische von Armut liegt. Es geht um Anerkennungsverweigerung, um nicht vorhandene Teilhabe, es geht vom Capabilityansatz Amartya Sens aus gedacht um einen „Mangel an Verwirklichungschancen“ (Motakef 2007, 101). Bildung und Armut stehen dabei in einem Interdependenzverhältnis (Butterwegge 2009, 17–18).1 Von Bildungsarmut ist die Rede (Allmendinger 1999, 35–50; Sandkötter 2010, 14–17). Kinder in Armutsverhältnissen laufen in einem großen Maße Gefahr, in ihrer Schullaufbahn Benachteiligungen zu erfahren. Umgekehrt mindert geringe Bildung die Chance zu sozialem Aufstieg und gesellschaftlicher Teilhabe (Büchner 2008, 147; Kuhlmann 2008, 301–319). Dies schlägt sich im Schulsystem wie auch im Wissenschaftssystem nieder (Allmendinger 2009, 143–153; Allmendinger 2012).

Neben der Exklusionsfrage und dem Armutsaspekt spielt aber noch ein anderer Gesichtspunkt eine Rolle. Bildungsgerechtigkeit kann vor allem deshalb zu einem solch massiven Problem werden, weil Bildung aus verschiedenen Perspektiven relevant ist:

  1. Bildung wird aus ökonomischen Gründen für die gesellschaftliche Prosperität für unerlässlich gehalten. Unverblümt ist von Humankapital die Rede, das es zu entwickeln und deren Potentiale es auszuloten gelte. Employability als Ziel, um dem Fachkräftemangel abzuhelfen, ist ein wichtiges Stichwort. „Wenn die Herstellung von Bildungsgerechtigkeit nicht schon aus anderen Gründen erstrebenswert wäre, so ließe sich spätestens der wirtschaftliche Nutzen von Bildung dazu anführen. Die empirischen Belege für die wirtschaftliche Bedeutung von Bildung, etwa in Form von Beschäftigungschancen und Erwerbseinkommen, sind überwältigend“ (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2007, 114).
  2. Bildung gilt aus gesundheitlichen Gründen als unverzichtbar: Krankheiten treten bei Abiturienten und Menschen mit höherer Bildung weniger auf als bei Hauptschulabsolventen. Literacy in Mathematik, im Lesen, in der Sprache geht nicht selten mit Gesundheitskompetenz und damit einer gesünderen Lebensführung einher.
  3. Bildung ist unverzichtbare Basis für demokratische Teilhabefähigkeit und zivilgesellschaftliches Engagement, für kulturelle und gesellschaftliche Partizipation.
  4. Bildung ist wesentliche Voraussetzung von personaler Identität und Lebensführungskompetenz.
  5. In jüdisch-christlicher Tradition ist Bildung ein elementares Moment der Kultivierung der dem Menschen zugesagten Gottesebenbildlichkeit (Hohl/Schelke 2008, 55–59).

Angesichts der nicht zu übersehenden Bedeutung von Bildung für die Gesellschaft, für gesellschaftliche und kulturelle Partizipation und Individualität stellt damit das Problem der Bildungsgerechtigkeit vielleicht „die soziale Frage der Gegenwart“ dar (Heimbach-Steins 2009, 13).

Diese ziemlich eklektische, unsystematische Auflistung ist keineswegs vollständig. Sie müsste gewiss noch in sich ausdifferenziert und begründet werden. Innere Spannungen und Widersprüche sind nicht zu übersehen, aus denen sich freilich eine Problemspannung ergibt, die in die Komplexität des Themas selber hineinführt. Wie stehen Ökonomisierung von Bildung zur identitätstheoretisch und theologisch begründeten Bildung? Welche Gerechtigkeitsvorstellungen sind maßgebend, welche Gerechtigkeitstheorien? Wie stehen Bildung und Gerechtigkeit zueinander? Kann eine bestimmte Fassung des Bildungsbegriffs Bildungsungerechtigkeit befördern oder gar herbeiführen? „Wird Bildung einseitig auf verwertbares Wissen, als Zurüstung für ganz bestimmte gesellschaftliche Aufgaben, reduziert, verstärkt sie dann nicht eher den Druck gerade auf die Benachteiligten, statt ihnen zu helfen?“ (Wilhelms 2010, 163). Wenn jeder nach neoliberalem Credo primär für sich selber verantwortlich ist, intensiviert dies nicht den Druck auf diejenigen, die sich eben schon wegen ihrer prekären Herkunftskontexte nicht selber helfen können? „Gibt es eine Verbindung zwischen einem bestimmten Verständnis von Bildung und dem nicht nur in Deutschland zu beobachtenden empörenden Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft auf der einen und Kompetenz beziehungsweise Bildungsbeteiligung auf der anderen Seite?“ (Wilhelms 2010, 161). Allein schon hinsichtlich des erst noch zu klärenden Bildungsbegriffs wird deutlich, dass es nur bei einem umfassenden Verständnis von Bildung als Moment menschlicher Selbstentfaltung im sozialen Zusammenhang gelingen wird, das Problem der Bildungsgerechtigkeit begrifflich scharf zu fassen und „die richtigen Antworten auch auf die Herausforderungen zu geben, die die schicksalhafte Verknüpfung von sozialer Herkunft und Kompetenz beziehungsweise Bildungsbeteiligung bedeutet“ (Wilhelms 2010, 156).

In die Bildungsprozesse werden enorme Hoffnungen gelegt, ihrerseits zur Beseitigung von Bildungsungerechtigkeit beizutragen. Bildung soll Chancengleichheit herstellen, soll Gerechtigkeiten ermöglichen, Ungerechtigkeiten und Benachteiligungen beseitigen (Heidenreich 2011, 223). Allerdings sollte die Erkenntnis empirischer Bildungsforschung und Bildungssoziologie „beunruhigen, dass sich diese Benachteiligungen in dem Maße einstellen, wie die Kinder in den Genuss schulischer Bildung kommen. Können derartige Ungleichheiten zu Beginn der Schulkarriere offenbar noch ganz gut ausgeglichen werden, schlagen sie je stärker durch, je länger die Schulzeit anhält“ (Möhring-Hesse 2011, 197). Kurioserweise werden in dem Maße Hoffnungen in die Bildung gesetzt als unserem Bildungssystem schlechte Noten attestiert werden (Wilhelms 2010, 156). Welche Rolle kommt der Bildung hinsichtlich der Bildungsgerechtigkeit zu?

Ähnlich komplex stellt sich das Ringen um einen angemessenen Gerechtigkeitsbegriff dar. Wie verhalten sich solche Kategorien wie Teilhabe- und Beteiligungsgerechtigkeit, Chancen- und Leistungsgerechtigkeit zueinander, wenn man Bildung nicht einfach objektivistisch als zu verteilendes Gut verstehen möchte? Kann man herkömmliche Gerechtigkeitstheorien ungebrochen auf die Bildungsfrage anwenden, wo wir es doch in Bildungsprozessen mit Subjekten zu tun haben, die erst durch diese Prozesse in den Stand gesetzt werden sollen, sich an der Ermittlung dessen verantwortlich und mündig beteiligen zu können, was denn in dieser Situation gerecht sei?

Kurzum: Führt nicht die auf dem Felde der Bildungsgerechtigkeit zu Tage tretende Komplexität des Bildungs- wie des Gerechtigkeitsbegriffs zu der Notwendigkeit, Bildungsgerechtigkeit als „eigenständige Kategorie“ zu entwickeln (Stojanov 2011, 15; Brenner 2010, 34)?

In der Erziehungswissenschaft und Pädagogik (Brake/Büchner 2012), in Bildungssoziologie und Philosophie findet derzeit eine intensive Auseinandersetzung mit der Bildungsgerechtigkeitsfrage statt (Becker 2011; Bauer/Bittlingmayer/Scherr 2012). Der Sozialisationsbegriff wird eng mit dem Begriff sozialer Ungleichheit diskutiert (Bauer 2012, 157–176), Bildungsforschung wird ungleichheitsbezogen reflektiert (Kramer 2011) und der Kompetenzbegriff wird bildungssoziologisch auf die Frage zugespitzt, inwieweit die permanente Ausrichtung des Selbst auf Kompetenzgewinn in Bildungsprozessen Bildungsungerechtigkeit perpetuiert (Kurtz/Pfadenhauer 2010).

Aus theologischer Sicht müsste dieses Thema wegen des inneren Zusammenhangs von Bildung, Teilhabe und Gerechtigkeit im Lichte einer Theologie der Gottesebenbildlichkeit nicht minder wichtig sein. Das Bildungsthema „rührt an die für eine christliche Kirche grundlegende Überzeugung von der gleichen Würde und Freiheit der Menschen, die mit der Forderung an einen gleichen Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe unlösbar verknüpft ist“ (Huber 2007, 57). Mehr noch: Eine theologische Perspektive könnte hier möglicherweise einen spezifischen, unverzichtbaren Beitrag einbringen, der auch die anderen wissenschaftlichen Perspektiven bereichern könnte. Deshalb muss Bildung „ein Thema ‚öffentlicher Theologie werden, einer Theologie also, die aus der Sicht der jüdischchristlichen Tradition Orientierungen in Fragen grundlegender Bedeutung zu geben versucht, die die Öffentlichkeit beschäftigen“ (Bedford-Strohm 2010, 14; Grümme 2012).

Bislang haben sich allerdings innerhalb der Theologie allein die christliche Sozialethik und die christlichen Sozialwissenschaften in teilweise sehr beeindruckender Manier dieser Aufgabe gestellt (Heimbach-Steins 2007, 311–316; Bedford-Strohm 2010, 14–23). Beide Kirchen haben sich, wenn auch zögernd und auf unterschiedlichem Niveau, – die katholische Kirche deutlich zurückhaltender als die evangelische Kirche – mit diesem Thema befasst (Mette 2013, 21–26). Nur die Religionspädagogik hat hier einen blinden Fleck. Dies ist sicherlich der Niederschlag ihrer im Zuge zunehmender Aufmerksamkeit für ästhetische und kulturhermeneutische Aspekte vollzogenen Entpolitisierung (Grümme 2009, 81–90). „Zudem haben die bildungspolitischen Entwicklungen der letzten fünfzehn Jahre, die zwar den Bildungsbegriff, allerdings einen Bildungsbegriff funktionaler Prägung, wieder in die öffentliche Diskussion zurückgebracht haben, auch die religiöse Bildung, mindestens die schulische, in die Auseinandersetzungen um einen output-orientierten, mess- und nachweisbaren Kompetenzerwerb verwickelt. Neben der Tatsache, dass die gesamte Auseinandersetzung um Kompetenzorientierung viele Kräfte absorbiert, trägt eine bildungsstandardisierte religiöse Bildung nicht zwingend zur Reflexion über Gerechtigkeit bei. Vor allem aber ist sie einer Bildung zur Gerechtigkeit im Rahmen religiöser Lern- und Bildungsprozesse kaum förderlich“ (Könemann/Mette 2013, 13). Dies fällt umso schwerer ins Gewicht, als es gerade die Bildungsgerechtigkeit sein müsste, mit der sich die Religionspädagogik beschäftigen müsste. Die mit Problemen religiöser Bildung im Dienste einer religiösen Urteilsbildung und Autonomie beschäftigte Religionspädagogik hat allen Grund für eine solche Auseinandersetzung. Ein Menschenrecht auf Bildung wird damit zur religionspädagogischen Sache selbst. Doch nicht nur die Frage nach der Gerechtigkeit von Bildung ist religionspädagogisch höchst relevant. Auch thematisch ist Gerechtigkeit zu lernen „die religionspädagogische Aufgabe“ (Mette 1991, 3–26).

Allerdings sind die verschiedenen Auffassungen von Gerechtigkeit wie Chancen- und Bildungsgerechtigkeit, Teilhabegerechtigkeit, Befähigungsgerechtigkeit „in die theologisch-(religions-)pädagogischen Theoriezusammenhänge noch kaum integriert. Zugleich ist deutlich, dass es sich dabei um Grundbestimmungen handelt, die nicht nur in bildungspolitischer oder sozial-pädagogisch-diakonischer Hinsicht dringend weiter geklärt werden sollten. Sie verbinden sich mit grundlegenden anthropologischen Fragen und Auffassungen von Gesellschaft sowie des guten Lebens“ (Schweitzer 2011, 99–100; Mette 2013, 29–33).

Aufgabe der Religionspädagogik müsste es daher sein, einen spezifisch religionspädagogischen Zugang zur Bildungsgerechtigkeit in systematischer Stringenz zu entwickeln. Die Rezeption und der Dialog mit philosophischen Gerechtigkeitstheorien, sozialethischen, erziehungswissenschaftlichen und bildungstheoretischen Forschungen sind für sie als Verbundwissenschaft selbstverständlich. Allerdings obliegt es ihr, dies aus einer Perspektive pädagogisch-religionspädagogischer Aneignung heraus zu tun. Sie betreibt eben keine Ethik. Sie denkt religionspädagogisch und bildungstheoretisch. Bildungsgerechtigkeit müsste als religionspädagogisches Thema konturiert werden. Dann könnte die herauszuarbeitende Option für die Schwachen und Ausgegrenzten, in der der Kern eines theologischen Gerechtigkeitsbegriffs liegt, in religionspädagogischer Brechung zur Sprache kommen. Eine Religionspädagogik, die sich als politisch sensible, öffentliche Religionspädagogik definiert (Grümme 2009; Grümme 2012), kann sich so in das ethische wie pädagogische Ringen um Bildungsgerechtigkeit einbringen.

Von der kontextuellen Verwurzelung und der alteritätstheoretischen Denkform dieser Religionspädagogik her versteht sich die Anlage der folgenden Überlegungen. Anstatt bei der Konstruktion einer religionspädagogischen Gerechtigkeitstheorie zu beginnen, strukturiert sie der methodische Dreischritt von Sehen – Urteilen – Handeln (Grümme 2009). Sie lässt sich zunächst von Empirie belehren (1). Um diese angemessen gerechtigkeitstheoretisch einordnen zu können, bedarf es einer Auseinandersetzung mit diversen philosophischen, sozialphilosophischen (2) und theologischen (3) Gerechtigkeitstheorien, die angesichts der Komplexität des Feldes einer gewissen Ausführlichkeit bedarf. Ähnliches gilt für einen angemessenen Bildungsbegriff (4). Aus den gerechtigkeitstheoretischen wie bildungstheoretischen Horizonten resultiert ein Menschenrecht auf Bildung, das aus dem Blickwinkel diverser Wissenschaften rekonstruiert und angeschärft wird (5). Diese verschiedenen Aspekte ermöglichen schließlich nicht nur eine Beurteilung der eingangs dargestellten empirischen Befunde (6). Sie dienen als Anlauf für einen konstruktiven religionspädagogischen Zugang zur Bildungsgerechtigkeit (7), der dann exemplarisch in einige wenige Horizonte hinein konkretisiert wird (8). Bildungsgerechtigkeit wird damit als religionspädagogisches Thema ausgewiesen. Neben diesem – abstrakt formuliert – eher formalen Zugriff ist Bildungsgerechtigkeit auch material als Thema religiöser Lern- und Bildungsprozesse relevant. Der RU ist auch ein Raum der Bildung zur Gerechtigkeit (9). Exemplarisch soll dies in einer Unterrichtssequenz (9.4.) und an einem kindertheologischen Zugang zu bildungsfernen Kindern dokumentiert werden (9.5.).

1 Wie eng Armut und Bildungsferne zusammenhängen, zeigt die Armutsdefinition Butterwegges: 1. „eine weitgehende Mittellosigkeit oder monetäre Defizite“; 2. „ein länger dauernder Mangel an lebensnotwendigen bzw. allgemein für unverzichtbar gehaltenen Gütern und Dienstleistungen, der einen gravierenden Ansehensverlust bei anderen Gesellschaftsmitgliedern bedingt“; 3. „die Notwendigkeit, staatliche Unterstützung in Anspruch zu nehmen, auf vergleichbare Formen der „Fremdalimentierung“ zurückgreifen oder den eigenen Lebensunterhalt durch Bettelei, evtl. auch durch illegale Formen des Broterwerbs zu bestreiten, verbunden mit dem Zwang, ‚von der Hand in den Mund‘ zu leben, also keinerlei längerfristige Lebensplanung betreiben zu können“; 4. „Mängel im Bereich der Wohnung, des Wohnumfeldes, der Haushaltsführung, Ernährung, Gesundheit, Bildung, Freizeit und Kultur, die fast zwangsläufig zum Ausschluss der betroffenen Personen von einer Beteiligung am gesellschaftlichen leben führen, wie sie anderen möglich ist“; 5. „die Macht- bzw. Einflusslosigkeit der betroffenen Personen in allen gesellschaftlichen Schlüsselbereichen“; 6. „eine allgemeine Missbilligung der Lebensweise davon Betroffener, die marginalisiert, negativ etikettiert und stigmatisiert, d. h. ausgegrenzt und in der Regel selbst für ihr Schicksal verantwortlich gemacht werden, während man dessen gesellschaftliche Determiniertheit und seine strukturellen Hintergründe tunlichst ignoriert bzw. negiert“: Butterwegge 2009, 17–18.

1 Empirie

Wohl kaum hat es je einen größeren Aufschrei in der deutschen Bildungsszene gegeben als im Jahre 2000, als die OECD die sogenannte PISA-Studie veröffentlichte. Nicht nur, dass Deutschland sich in seinem spätestens seit dem 19. Jahrhundert gepflegten Selbstverständnis als Kulturnation angegriffen sah, räumt doch der empirische Vergleich den Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler in Lesekompetenz sowie in mathematischer und naturwissenschaftlicher Grundbildung („literacy“) allenfalls durchschnittlichen Rang ein. Höchst besorgniserregend ist die Tatsache, dass ein Fünftel aller 15–Jährigen in Deutschland keine grundlegenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten hat, um elementare Anforderungen im Berufsleben oder überhaupt nur den Alltag bewältigen zu können. Mit dieser Gruppe an Bildungsverlierern wird eine gesellschaftliche Formation konstituiert, die den Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt massiv in Frage stellt. Gerade nach den Bildungsreformen der 1970er Jahre, in denen eine größere Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit angezielt worden war, musste es wie eine Neuauflage der von Georg Picht bereits in den 1960er Jahren beklagten Bildungskatastrophe erscheinen, wenn wie in kaum einem anderen Land der untersuchten Staaten soziale und kulturelle Herkunft einerseits und Bildungserfolg andererseits zusammenhängen. Zwar sind es nicht mehr die beinahe zum Klischee erstarrten katholischen Mädchen vom Land, die damals als bildungspolitische Problemfälle par excellence galten. Aber in Deutschland, so die PISA-Studie: „tragen die soziale Lage, das Bildungsniveau, die kulturellen Ressourcen und Aktivitäten sowie der Migrationsstatus von Familien sowohl gemeinsam als auch in jeweils besonderer Weise zur Entstehung und Weitergabe von Ungleichheiten in der Bildungsbeteiligung und im Kompetenzerwerb bei“ (Baumert/Schümer 2001, 379). Während bezogen auf die Lesekompetenz „in Deutschland die Koppelung von sozialer Lage der Herkunftsfamilie und dem Kompetenzerwerb der heranwachsenden Generation ungewöhnlich straff ist, gelingt es in anderen Staaten ganz unterschiedlicher geographischer Lage und kultureller Tradition, trotz ähnlicher Sozialstruktur der Bevölkerung, die Auswirkungen der sozialen Herkunft zu begrenzen. Dies ist in der Regel auf eine erfolgreichere Förderung von Kindern und Jugendlichen aus sozial schwächeren Familien zurückzuführen“ (Baumert/Schümer 2001, 393).

Inzwischen ist seit der Veröffentlichung mehr als ein Jahrzehnt vergangen. Verschiedene schulstrukturelle, bildungspolitische und soziale Maßnahmen wurden ergriffen. Doch neuere Studien zeigen, dass sich an der engen Koppelung von sozialer Herkunft, Migrationshintergrund und Kompetenzerwerb nur graduell etwas verändert hat. So sehr sie sich in Forschungsdesign und Kontexten unterscheiden, sind sie sich darin einig.

Eklatant deutlich wird dies im sogenannten Munoz-Bericht. Vernor Munoz, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Bildung, hat 2007 einen Bericht vorgelegt, in dem er seine Analysen des deutschen Bildungssystems auf der Basis von Beobachtungen während eines offiziellen Deutschlandbesuchs im Jahr 2006 zusammenfasst. Er führte Gespräche mit Regierungsvertretern, Vertretern der Zivilgesellschaft, mit Lehrpersonal, Studierenden und Medienvertretern. Verschiedene Schulen konnte er besuchen. Sein Bewertungskriterium ist klar: das Menschenrecht auf Bildung für alle Altersstufen (Munoz 2007, 69–72). Sein Fazit dagegen ist ernüchternd: Trotz erkennbarer Initiativen und Aufbrüche, trotz starker struktureller und systemischer Veränderungen im Bildungssystem unter dem Eindruck empirischer Schulstudien wie vor allem der PISA-Studie, trotz Fortschritten in einzelnen Bereichen wie etwa der stärkeren Einbindung der Eltern in den Bildungsprozess, der Ausdehnung des Ganztagsangebotes, einer veränderten Lehrerausbildung, der Verbesserung der Sprachkompetenz, der effizienteren Förderung von bildungsbenachteiligten Kindern vor allem mit Migrationshintergrund, der Qualitätsentwicklung der Lehr-Lernprozesse durch bindende Bildungsstandards und ergebnisorientierte Evaluationen und eine Professionalisierung der Lehrertätigkeit durch Ausweitung diagnostischer und methodischer Kompetenz bleiben die „Ergebnisse hinter den Erwartungen“ zurück (Munoz 2007, 81). Deutschland ist es demnach „nicht gelungen (…), Bildung nach Menschenrechtsgesichtspunkten zu gestalten. Das ist ein Mangel, den besonders Migranten und behinderte Kinder zu spüren bekommen“ (Munoz 2007, 84). Immer noch würden die Individuen zu sehr dem Bildungssystem angepasst und nicht umgekehrt entsprechend dem Postulat der Inklusion Bedürfnisse und Rechte der Individuen durch eine gemeinsame Ausbildung aller Kinder im selben Schulumfeld gewahrt, immer noch würden durch eine zu frühe Einstufung in bestimmte Schulformen Mechanismen der Exklusion aufrechterhalten, immer noch würde zu wenig gesehen, dass die bildungspolitische und auch sozialpolitische Schaffung von Bildungsmöglichkeiten ohne Diskriminierungen für alle Mitglieder der Gesellschaft eine menschenrechtliche wie eine ökonomische und politische Notwendigkeit darstellt (Munoz 2007, 71–94). Bildungsgerechtigkeit ist demnach eine unausgeschöpfte politische Aufgabe ersten Ranges (Meyer / Vorholt 2011).

Nun könnte man erwarten, dass wenigstens dieser Bericht drastische Veränderungen angestoßen hätte. Und in der Tat wurde insbesondere das Postulat der Inklusion bildungspolitisch durch massive Interventionen in allen Bundesländern in Deutschland in Angriff genommen. Dennoch zeigen empirische Studien die Ungleichzeitigkeit und Phasenverschobenheit solcher Maßnahmen. Im März 2012 wurde von der Bertelsmannstiftung und dem Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung der ‚Chancenspiegel‘ veröffentlicht. Ihm geht es anhand der vier Parameter von Integrationskraft, Durchlässigkeit, Kompetenzförderung, Zertifikatsvergabe um die Frage der Chancengerechtigkeit im allgemeinen Schulsystem in Deutschland. Bemerkenswert ist das Design der Untersuchung. Die PISA-Studie und der Munozbericht konzentrierten sich mehr oder weniger auf die sozialen Ungleichheiten, die zu erheblichen Benachteiligungen führten. Demgegenüber erweitert der Chancenspiegel seine Perspektive. Er fragt nicht mehr primär nach den Benachteiligungen aufgrund sozialer, kultureller und ethnischer Herkunft. Denn damit werde doch unterstellt, dass unbeschadet dessen das Schulsystem selber gerecht sei. Die Gründe für eine nur wenig ausgeprägte Bildungsgerechtigkeit lägen dann vorwiegend außerhalb des Schulsystems. Zwar hatte die PISA-Studie durchaus problematische Effekte auch im Schulsystem gesehen. Doch fehlten die analytischen Instrumente, um diese genauer zu erheben. Dem versucht der Chancenspiegel durch eine strikt schulpädagogische Rückgründung der Analysekategorien und der entsprechenden Indikatoren zu begegnen, die wiederum mit gerechtigkeitstheoretischen Aspekten verbunden werden. Daraus ergeben sich vier Gerechtigkeitsdimensionen, die durch die schulpädagogisch gewonnenen Indikatoren untersucht und aufgehellt werden können und die in eine gerechtigkeitstheoretische Schultheorie münden (Bertelsmann 2012, 25–27/177–182).

Schulpädagogisch gesehen hat die Schule in ihrer gesellschaftlichen Einbindung nach Helmut Fend vor allem vier Funktionen: Enkulturation, Integration, Qualifikation und Allokation (Bertelsmann 2012, 22–27). Es sind die Dimensionen der Integrationskraft und der Durchlässigkeit, die im besonderen Maße die schulischen Gerechtigkeitsaspekte betonen. Belehrt und sensibilisiert durch drei unterschiedliche Stränge der philosophischen Gerechtigkeitstheorie gewinnen drei Frageperspektiven prominente Bedeutung:

  1. Unterstellt man die Theory of Justice von John Rawls und das für sie maßgebliche Differenzprinzip stellt sich die Frage nach der Gerechtigkeit der Schule als Institution. „Schule als Institution ist als gerecht zu betrachten, wenn sie allen Kindern zugutekommt und nicht eine bestimmte Gruppe bevorzugt (Unterschiedsprinzip) und ein Mindestmaß an kognitiven wie sozial-emotionalen Kompetenzen gewährleistet“ (Bertelsmann 2012, 117). In dieser Fragerichtung dominiert die Analyse sozialer Ungleichheit.
  2. Legt man den Befähigungsansatz (Capability Approach) zugrunde, fragt man nach der Schule als einem Raum, in dem Fähigkeiten zur eigenen Entscheidungskompetenz und zur maximalen Teilhabe an Kultur und Gesellschaft angebahnt werden. Dabei stehen einerseits das bildungstheoretische Ziel von Autonomie, andererseits aber nicht minder die Prozesse im Zentrum, die zu diesem Ziel führen, weil in ihnen die Bedingungen für Gerechtigkeit in der Gesellschaft deutlich werden.
  3. Fragt man aus der Perspektive einer Anerkennungstheorie, geraten solche Mechanismen in der Schule und im Unterricht in den Blick, in denen Anerkennung und Wertschätzung über rein kognitive Leistungen hinaus grundlegend für Gerechtigkeitsfragen werden (Bertelsmann 2012, 17–22).

Aus der Verbindung von schulpädagogischen und gerechtigkeitstheoretischen Perspektiven resultieren vier unterschiedliche Gerechtigkeitsannahmen (Bertelsmann 2012, 25–29), mit deren Hilfe dann die empirischen Analysen strukturiert und ausgerichtet werden:

Hinsichtlich der Integrationskraft gelten soziale und systemische Integration als Indikatoren und Gradmesser einer gerechten Gesellschaft und einer gerechten Schule. Entscheidend dabei ist, dass Integration nicht mit Exklusion einhergehen oder gar auf ihr beruhen kann. Positiv formuliert wird Integration durch solche Räume und Gelegenheiten angebahnt, in denen integrative Kompetenzen durch kommunikative Gemeinschaft aufgebaut werden.

Hinsichtlich der Durchlässigkeit zeigt sich die pädagogische Sinnwidrigkeit von Selektion. Diese setzt auf eine strukturelle Homogenisierung, nicht auf pädagogische Arbeit. Angesichts der Persistenz von Selektionsmechanismen in der Gesellschaft müssen diese freilich möglichst gerecht gestaltet werden. Diese haben dann als gerecht zu gelten, wenn „Zuweisungs- und Mobilitätsdynamiken im System unabhängig von sozioökonomischen Merkmalen der Kinder und Jugendlichen sind und auch systeminterne Angebotsformationen nicht zu Verzerrungen innerer Zuweisungsprozesse führt“ (Bertelsmann 2012, 28; Platzbecker 2013, 278–287).

Hinsichtlich der Kompetenzförderung sind Schulen dann gerecht, wenn alle Potentiale der Schülerinnen und Schüler ausgeschöpft und keine im System angelegten einseitigen Anregungs- und Förderungseffekte zugelassen werden.

Hinsichtlich der Zertifikatsvergabe gilt, dass unter den Bedingungen systeminterner Anforderungen und systemexterner Vergleichbarkeiten und unter der Voraussetzung, dass damit Lebenschancen verbunden sind, ein Schulsystem umso gerechter ist, je höherwertiger eine angemessene Zertifikatsvergabe erfolgt.

Was sind nun die Ergebnisse der die ganze Bundesrepublik erfassenden Untersuchung?

Insgesamt lässt sich sagen: Die Ergebnisse sind ernüchternd! Zwar werden im Vergleich zu PISA erhebliche Fortschritte nachgewiesen und es finden sich teilweise signifikante Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern, vor allem zu Fragen der Inklusion und der Durchlässigkeit. Insgesamt aber offenbart das Schul- und Bildungssystem in Deutschland ein erhebliches Gerechtigkeitsdefizit. Für unsere Zwecke erübrigt sich ein detailliertes Referat des akribischen Forschungsberichtes und dessen anspruchsvollen Datenbestandes, der ganz bewusst auf ein Ranking zwischen einzelnen Bundesländern verzichtet. Stattdessen sollen vier sehr kurze Schlaglichter genügen. Sie sind auf die Felder soziale Herkunft, Inklusionsproblematik sowie Migration und Geschlecht fokussiert, beziehen sich vor allem auf den Chancenspiegel und berücksichtigen an einzelnen Stellen Ergebnisse anderer Studien.

1.1 Soziale Herkunft

Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg, der gerechtigkeitstheoretisch höchst problematisch ist: „Die soziale Herkunft eines Schülers hat in Deutschland einen erheblichen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit, im Anschluss an die Grundschule auf ein Gymnasium zu wechseln: Die Chancen sind für Kinder aus Akademikerfamilien deutlich höher als für Kinder aus einem Arbeiterhaushalt. Diese Benachteiligung lässt sich für alle Bundesländer aufzeigen – wenn auch in unterschiedlichem Maße“. So ist in Ländern wie Bremen, Brandenburg, Berlin, Hessen „der Zusammenhang zwischen Herkunft und Gymnasialbesuch am geringsten ausgeprägt: Hier haben Grundschüler aus den oberen sozialen Schichten eine 2,5–mal höhere Chance auf einen Besuch des Gymnasiums“. In Baden-Württemberg, Bayern, Niedersachsen „hingegen unterscheiden sich die Chancen auf einen Gymnasialbesuch zwischen den oberen und unteren sozialen Schichten um das 6,1–Fache“ (Bertelsmann 2012, 18; Werner 2006). Die Merkmale sozialer Herkunft und Bildungsbeteiligung interdependieren nach Ausweis einer Vielzahl empirischer Studien stark. „Das Schulsystem in Deutschland ist sozial ungerecht“, so urteilt das von der Vereinigung der bayerischen Wirtschaft bei dem mit Vertretern wie Dieter Lenzen, Wilfried Bos, Jürgen Oelkers, Manfred Prenzel erziehungswissenschaftlich höchst prominent besetzten „Aktionsrat Bildung“ in Auftrag gegebene Gutachten (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2007, 30; Ottersbach 2011, 339–350).

Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer sozialer Ungleichheit: Primäre soziale Ungleichheit bezieht sich auf die Differenz zwischen Kindern aus einfachen und gehobenen Sozialverhältnissen. Erstere haben daheim geringere Anregungspotentiale, geringere wirtschaftliche und kulturelle Ressourcen. Sie bilden damit ihre Intelligenz und ihre Interessen weniger gut aus und erreichen weniger hohe Zertifikate. Unbeschadet dieser primären sozialen Ungleichheit erreichen dennoch solche Kinder insbesondere aus Arbeiter- und Migrantenfamilien teilweise gute bis sehr gute Leistungen, erlangen aber dennoch nicht die dafür angemessenen Gratifikationen wie Noten, Abschlüsse, Zertifikate. Diese Form von Bildungsungleichheit, die nicht durch Leistungsdifferenzen gedeckt ist und sowohl durch elterliches Entscheidungsverhalten als auch durch eine zumeist verdeckte Benachteiligung durch Lehrkräfte und Schule verursacht wird, nennt man sekundäre soziale Ungleichheit (Tillmann 2010, 41–46).

Ein in diesem Zusammenhang bislang kaum erforschtes Phänomen ist das der räumlichen Bildungssegregation. Aus französischen, nordamerikanischen, in zunehmendem Maße auch aus deutschen Kontexten ist bekannt, dass sich gesellschaftliche Stratifizierung auch räumlich niederschlägt. Arme und Reiche wohnen in unterschiedlichen Stadtvierteln. Armuts- und Reichtumsgebiete sind oft strikt getrennt. Zusätzlich zu diesem bekannten, zur Verödung insbesondere mancher nordamerikanischer Innenstädte beitragenden Phänomen zeigt sich jedoch, dass neben der sozial bedingten Segregation sich eine Bildungssegregation wohnräumlich auswirkt. Wenn dies auch makrosoziologisch noch weiter erhärtet werden muss, so ist es doch „unstrittig, dass Bildungsniveaus zusammen mit anderen Merkmalen sozialer Ungleichheit kleinräumlich segregiert sind“ (Schönig 2007, 139).

1.2 Inklusion

Der 2007 vorgelegte Munozbericht hatte bereits die fehlende Inklusion in Deutschland massiv beklagt. Nicht nur, dass das Wahlrecht der Eltern eingeschränkt würde, für ihre Kinder die individuell angemessene Schulform wählen zu können. Nicht nur, dass bereits die frühe Bildung in Deutschland für die Bedürfnisse behinderter Kinder unangemessen sei. Die Politik selber betreibe eine aktive Form der Trennung und damit der Exklusion, die allerdings in den einzelnen Bundesländern durchaus unterschiedlich ausfalle. Während in Berlin fünfundvierzig Prozent der behinderten Kinder in Regelschulen unterrichtet würden, besuchten in Bayern nur siebzehntausend der fünfzig- bis sechzigtausend behinderten Kinder die Regelschulen (Munoz 2007, 90–91).

Nun müssen zwar inzwischen alle Bundesländer wegen der Anerkennung der UN-Konvention von 2009 inklusive Schulen für alle Kinder und Jugendlichen schaffen. Damit sollen alle Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf gemeinsam mit Schülern ohne Förderbedarf lernen und keine Benachteiligung erfahren. „Anhand der Exklusionsquoten wird deutlich, wie viele Schüler in den Bundesländern immer noch separat in Förderschulen unterrichtet werden. So steht einer durchschnittlichen Exklusionsquote von 4,1 Prozent“ z. B. in Berlin, Hessen, Niedersachen, Rheinland-Pfalz in den ostdeutschen Ländern wie Sachsen und Thüringen „eine Quote von durchschnittlich 7,4 Prozent gegenüber“ (Bertelsmann 2012, 15). Mit dem Fortbestand der Exklusion, d. h. dem immer noch hohen Anteil an Schülern auf Förderschulen, wird aber die „Legitimation und Reproduktion von sozialer Ungleichheit und damit von Chancenungerechtigkeit“ unterstützt (Haeberlin 2009, 3; Koch 2010, 155–158). Denn Förderschulen erzielen bei vergleichbarer kognitiver Ausgangslage der Schülerinnen und Schüler keine besseren Leistungen. Von einer Rückkehr der Förderschüler in die Regelschule könne keine Rede sein, während integriert lernende Schülerinnen und Schüler im ‚Förderschwerpunkt Lernen‘ die Möglichkeit haben, die üblichen Schulabschlüsse zu erwerben. Erhoffte Kompensationseffekte durch Förderschulen sind nicht erkennbar. Deshalb, so die desillusionierende Bilanz Markus Dederichs, gehören die Schülerinnen und Schülern ganz klar zu den „abgehängten Bildungsverlierern“ (Dederich 2011, 51). Förderschulen perpetuieren damit soziale Exklusion, insofern die kritische Systemfrage stillgestellt wird. Förderschulen bereiten ihre Schülerinnen und Schüler „auf die soziale Benachteiligung vor und sollen möglichst die soziale Ruhe trotz Chancenungerechtigkeit durch internalisierte Rechtfertigung der eigenen Benachteiligung sichern“ (Haeberlin 2009, 3; Müller-Friese 2009).

1.3 Migration

Gewiss muss zwischen Kindern verschiedener sozialer Schichten und verschiedener Herkunftsländer unterschieden werden. So sind die Ergebnisse von Kindern aus iranischen oder ostasiatischen Ländern wesentlich besser als diejenigen von Kindern aus türkischen, italienischen oder marokkanischen Kontexten. Jugendliche aus Migrationszusammenhängen schneiden vor allem deshalb in Tests schlechter ab, weil sie oft aus Familien mit sehr niedrigem sozioökonomischem Hintergrund stammen (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2007, 35). Dennoch sind die Befunde des europäischen TIES-Survey von 2008 eindeutig: 16 % aller Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, also mehr als doppelt so viel wie bei ihren deutschen Mitschülerinnen und Mitschülern, verlassen die Schule ohne Abschluss. Nur 11 % aller ausländischen Schülerinnen und Schüler in Deutschland erreichen im Jahr 2007 eine Studienberechtigung (gegenüber 30 % bei deutschen Schülerinnen und Schülern). 41 % erreichen einen Hauptschulabschluss. Die Überrepräsentanz auf Förderschulen ist eindeutig (Karaksagoglu/Neumann 2011, 62; Neuhoff 2008).

Kinder und Jugendliche mit Migrationsstatus besuchen seltener Gymnasien. Öfter diagnostiziert man bei ihnen eine Lernbehinderung. Sie werden „systematisch“ eher auf Real- und Hauptschulen empfohlen als Kinder ohne Migrationshintergrund (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2007, 51). Zudem wirkt sich der rechtlich teilweise sehr unsichere Status von Migranten aus, macht es doch einen massiven Unterschied, ob ein Kind ein von Abschiebung bedrohter Flüchtling, ein Asylant, ein Aussiedler oder ein Kind von Arbeitsmigranten ist. Da finden sich teilweise erhebliche Differenzen in den Regelungen zum Schulbesuch allein schon innerhalb der deutschen Bundesländer (Motakef 2007, 108; Nieke 2010).

Insgesamt lassen sich demnach Kontextfaktoren wie soziale Lage der Migrationsfamilien, mentalitäts-, kultur-, sprach- und milieubedingte Gründe sowie individuelle Dispositionen einerseits und schulische wie unterrichtliche Faktoren andererseits unterscheiden (Gogolin 2008).

1.4 Geschlecht

Im Bildungsbericht der Bundesregierung und der Bundesländer aus dem Jahr 2012 wird eine Ambivalenz hinsichtlich einer Geschlechtsabhängigkeit der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs deutlich. Disparitäten nach Geschlecht sind unübersehbar. Allerdings scheinen sich inzwischen die Vorzeichen verändert zu haben. Manche sprechen hier von nicht-intendierten Nebenfolgen einer „Erfolgsgeschichte“ (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2007, 20). Zwar habe die Mädchen- und Frauenförderung erhebliche Fortschritte an Bildungsbeteiligung von Mädchen erzielt, sodass der erwähnte, zur Karikatur geronnene Typus eines katholischen Arbeitermädchens vom Lande empirisch nicht mehr nachweisbar sei. Doch habe dies zu einer Verstärkung der sozialen Schichtung innerhalb der Frauen geführt, weil die Frauen aus höheren Schichten erheblich mehr von dieser Förderung profitiert hätten. Erhebliche Folgen hinsichtlich der „Benachteiligung männlicher Lerner“ seien unübersehbar (Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2007, 20).

Einerseits zeigen empirische Bildungsforschungen die enormen Bildungserfolge von Mädchen und jüngeren Frauen auf. In der Altersgruppe von 40– bis unter 35–jährigen Frauen besitzen mit mehr als 42 % mehr als doppelt so viele Frauen als in der Alterskohorte der 60- bis unter 65-Jährigen einen Hochschulabschluss. Dies liegt sicherlich vor allem in der besseren Frühförderung in den Familien. Ihnen wird mehr vorgelesen, mit ihnen wird mehr gesungen und musiziert, so dass sie diesen Vorsprung gegenüber den Jungen im Bereich der Lesekompetenzen im Verlauf der schulischen Entwicklung weiter ausbauen können. Sie sind in der Gruppe der 15–Jährigen zweieinhalbmal so viel in den oberen Kompetenzstufen vertreten als Jungen, die ihrerseits auf den beiden unteren Kompetenzstufen die Mehrheit bilden. Mädchen verlassen weniger die Schule ohne Schulabschluss als Jungen und erlangen etwas häufiger einen Mittleren Schulabschluss und wesentlich häufiger das Abitur. Doch auch wenn inzwischen fast jede Zweite die Hochschulreife erlangt, entscheiden sich diese Frauen mehrheitlich für Ausbildungsberufe unterhalb der Hochschulebene. Eindeutig sind demnach die Mädchen und Frauen Gewinner des schulischen Bildungssystems (Autorengruppe 2012; Prengel 2008; Kaiser 2010), während sich Jungen dagegen zunehmend zu Problemfällen entwickeln.

Eine eigene Jungenförderung tut Not,2 die auch rollenpädagogische und gendersensible Momente beinhalten muss. Denn einerseits sind Jungen zwar massiv benachteiligt, andererseits gehört es inzwischen gerade bei Jungen in den unteren Schulformen und bei den Bildungsverlierern selber gewissermaßen zur sozialisatorischen Selbstkonstruktion, sich gegen die Anmutung erhöhter Bildungsanstrengung und Bildungsbeteiligung zu wehren, ja Schule überhaupt als etwas Wichtiges anzunehmen. Ob hier die Koppelung von sozialer Lage und Migrationshintergrund eine nochmals dynamisierende Wirkung zeigt, bleibt eine zu klärende Frage (Motakef 2007, 108–113). Auf der anderen Seite hat sich die Zahl an höheren Bildungsabschlüssen und Qualifikationen nicht auf dem Arbeitsmarkt niedergeschlagen. Nicht nur, dass die Gehälter bei Frauen deutlich niedriger sind als bei Männern in vergleichbaren Berufen mit vergleichbaren Abschlüssen. Frauen weisen im Vergleich zu Männern niedrigere Beschäftigungsquoten auf, sind deutlich weniger vollzeitbeschäftigt und sind deutlich weniger in Führungspositionen in Wirtschaft, Politik und Hochschulen, „obschon berufsstrukturelle Entwicklungen eher zugunsten der Frauen verlaufen“ (Autorengruppe 2012, 211).

1.5 Bildungsungerechtigkeit konkret. RU in der Hauptschule

Offensichtlich gibt es Schulformen, die in besonderer Weise eine Korrelation zur Bildungsungerechtigkeit aufweisen. Dies wird eklatant daran ersichtlich, dass hier die eben genannten empirischen Faktoren von Bildungsungerechtigkeit in signifikant erhöhter Verdichtung nachzuweisen sind. Dies gilt für die Berufsschule, in der soziale Fragen, Genderfragen und vor allem Migrationsfragen das Gerechtigkeitsproblem bedrängend machen und in vielerlei Hinsicht eine anspruchsvolle Herausforderung nicht zuletzt für die religiöse Bildung darstellen (Kiessling 2005; Schneider 2012). Der Religionsunterricht an der Berufsschule steht deshalb dafür, „Integration durch religiöse Bildung“ anzustreben (Biesinger u. a. 2012, 3).

In ganz besonderer Weise jedoch gilt dies für die Hauptschule. Hier komprimiert sich das Gerechtigkeitsproblem noch einmal. Die Bildungsbeteiligung ist dort besonders prekär. Nach Ausweis des Bildungsberichts der Kultusministerkonferenz und des Bundesbildungsministeriums 2010 besuchten 36 % der ausländischen Jugendlichen und 16 % der deutschen Jugendlichen eine Hauptschule. Lediglich 43 % der deutschen Bewerber mit Hauptschulabschluss, aber nur 28 % der ausländischen Jugendlichen bekamen überhaupt nur einen Ausbildungsplatz (Reichhold 2012, 36–37). Und auch die Herausforderungen für die Religionspädagogik gewinnen eine Dramatik, die sich bis in die Konzeptionierung der Lehrerbildung hinein erstreckt.

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