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Inhaltsverzeichnis
»Wäsche weg! Die Zigeuner kommen!«. Einleitung
1. Schnitzel und Saucen. »Zigeuner« und »gypsies«
2. »Verkundschafter der christen lant«. Feinde und Fremde
3. »Greuliche und schwartze leute«. Gauner und Teufel
4. »Volk des Orients«. Primitive und Wilde
5. »Endgültige Lösung«. Der europäische Genozid
6. »Wie mit den Juden«. Die verweigerte Wiedergutmachung
7. »Interdit aux nomades«. Diskriminierung in Westeuropa
8. »Apartheid«. Verfolgung in Osteuropa
9. »Sozialtourismus«. Europa und der Antiziganismus
10. »Lass maro tschatschepen«. Die Roma und der Antiziganismus
»Die Feindschaft gegenüber Sinti und Roma ist genauso zu ächten wie die gegen Juden«. Zusammenfassung
»Wir klagen uns an«. Eine Kritik der »Zigeunerforschung«
Warum nicht »Zigeuner«? Glossar
Anhang
Anmerkungen
Literaturverzeichnis
Zum Autor
Impressum

1. Schnitzel und Saucen
»Zigeuner« und »gypsies«

Dürfen wir noch »Zigeunerschnitzel« essen, Pommes mit einer »Zigeunersauce« bestellen und schnulzige Lieder über »gypsy women« singen, werde ich oft gefragt. Wenn es euch Spaß macht, nur zu!, pflege ich dann zu antworten. Beachtet aber bitte, dass die Roma es keineswegs spaßig finden, wenn sie als »Zigeuner« und »gypsies« bezeichnet werden. Schließlich wollt ihr ja auch nicht als »boches«, »Hunnen«, »Krauts« oder gar samt und sonders als »Faschisten« bezeichnet und beschimpft werden.

Damit ist das Wesentliche gesagt. Genau wie die Deutschen wollen auch die Roma nicht beschimpft werden. Dies geschieht aber, wenn man sie als »Zigeuner« oder als »gypsies« bezeichnet, denn diese und alle anderen europäischen Fremdbezeichnungen der Roma sind negativ konnotiert. Wie kam es dazu?

Den Anfang haben die Griechen gemacht. Denn die haben die Roma, die vom 9. bis zum 11. Jahrhundert über Konstantinopel in den europäischen Teil des damaligen Byzantinischen Reiches eingewandert sind, als »atsigganoi« bezeichnet (im Neugriechischen werden sie »tsigganoi« genannt). Vermutlich weil die Griechen meinten, dass die eingewanderten Roma der christlichen Religionsgemeinschaft der »athinganoi« (= die Unberührbaren) angehörten. Ob es sich hierbei um eine Eigen- oder eine Fremdbezeichnung dieser Religionsgemeinschaft gehandelt hat, weiß man bis heute nicht. Sicher ist, dass sie keine positive Bedeutung hatte. Den Athinganen wurde nämlich nicht nur unterstellt, unberührbar zu sein und sein zu wollen, weil sie alle Kontakte mit ihren christlichen Brüdern und sonstigen Mitmenschen vermieden, sondern sich allzu weit von den offiziellen Dogmen und Lehren der Amtskirche entfernt zu haben, weil sie gnostische, d.h. geheime und nicht legitimierte Lehren verbreiteten. Dazu gehörte die dem persischen Zarathustra-Glauben entlehnte und als manichäistisch bezeichnete Lehre von der Existenz eines »guten« und eines »bösen« Gottes. Beide Götter bzw. Gott und Teufel sollen die Anhänger der gnostischen Sekte der Athinganen angebetet haben.

In den Augen der Amtskirche war das Häresie, d.h. eine von den Lehren der Kirche abweichende und falsche Lehre. Daher wurden die Athinganen zu Häretikern erklärt und genau wie später die Sekte der Katharer (= die Reinen) verketzert und verfolgt. Bei den Athinganen war dies schon im 9. Jahrhundert der Fall. Danach verliert sich ihre Spur. Ob Angehörige dieser nur im Gebiet der heutigen Türkei nachweisbaren gnostischen Sekte jemals nach Europa gelangt sind, ist ebenso zu bezweifeln wie die Vermutung, dass die Roma, die zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert nach Europa eingewandert sind, jemals »athinganoi« waren.

Dass sie dennoch von den Griechen nach den »athinganoi« als »atsigganoi« bezeichnet worden sind, ist also sachlich falsch und negativ konnotiert. Damit wurde den Roma unterstellt, wie die Athinganen keine oder zumindest keine guten Christen zu sein, weil sie nicht nur Gott, sondern auch den Teufel verehren würden. Dafür seien sie, wie in byzantinischen Quellen behauptet, vom Teufel mit der Verleihung von magischen Fähigkeiten belohnt worden. Dieses antiziganistische Gerücht wurde mit dem Hinweis auf die offensichtlich nachweisbare Tatsache begründet, dass sich einige der nach Griechenland eingewanderten Roma als Zauberer und Handleser betätigten.

Ähnliche Vorwürfe sind auch den Roma gemacht worden, die im 13. und 14. Jahrhundert nach Griechenland eingewandert sind. Sie haben sich in einem Teil der Peloponnes niedergelassen, der von den Zeitgenossen als »Kleinägypten« bezeichnet worden ist. Vermutlich deshalb wurden diese Roma von den Griechen nicht »atsingganoi«, sondern »aigypsios« (= Ägypter) genannt. Dies geschah ebenfalls in einer antiziganistischen Absicht. Wurden doch die gegenüber den »richtigen« Ägyptern im Land am Nil bestehenden Vorurteile auf die »falschen« Ägypter auf der griechischen Peloponnes übertragen.

Dass die beiden griechischen Fremdbezeichnungen negativ konnotiert waren, scheinen jene Roma nicht gewusst zu haben, die zu Beginn des 15. Jahrhunderts aus übrigens ungeklärten Gründen Griechenland und die angrenzenden Balkanländer verlassen haben und in das damalige Deutsche Reich und seine europäischen Nachbarländer gezogen sind, wo sie von ihren neuen mitteleuropäischen Mitbürgern als »atsingganoi« und »aigypsios« bezeichnet wurden. Allerdings waren diese griechischen Begriffe ins Lateinische und einige andere europäische Sprachen übersetzt bzw., wie man sagen muss, verballhornt worden. Aus den griechischen »atsingganoi« wurden die lateinischen »cingari«, die deutschen »Zigeuner«, die französischen »tsiganes«, die schwedischen »zigenare« etc. Die griechische Fremdbezeichnung der »aigypsios« wurde von den Engländern und Spaniern mit »gypsies« und »gitanos« wiedergegeben.

Diese Verunglimpfungen ihrer griechischen Fremdbezeichnungen haben sich die Roma gefallen lassen. Ihre Anführer, die von den Repräsentanten der geistlichen und weltlichen Gewalten als Barone, Grafen und Woiwoden tituliert wurden, scheinen sogar stolz darauf gewesen zu sein, als Barone, Grafen, Woiwoden der »cingari«, »Zigeuner«, »tsiganes«, »zigenare« etc. bzw. der »gypsies« und »gitanos« angesprochen zu werden. Wurden ihnen und ihren Gefolgsleuten doch in den Geleit- und Schutzbriefen, die ihnen im 15. Jahrhundert von geistlichen und weltlichen Gewalten ausgestellt wurden, weitreichende Rechte und Privilegien zugestanden.1 Dazu gehörte das Recht, im Lande herumzuziehen, Handel zu treiben und Streitigkeiten unter sich durch eigene Gerichte zu schlichten. Damit besaßen die Roma zu dieser Zeit eine bessere Rechtsstellung als die Juden. Wie die meisten der mittelalterlichen Juden verfügten die Anführer der Roma auch über bedeutende Geldmittel. Sie nutzten sie, um die Geleit- und Schutzbriefe zu erkaufen, sich in teure Gewänder zu kleiden und Jagdhunde zu halten, was damals nur Adligen gestattet war. All das wissen wir nicht von den Roma selber, sondern aus den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Chroniken der gadsche, die ihre neuen Mitbürger sicherlich nicht mit offenen Armen aufgenommen haben, ihnen aber keineswegs feindlich gegenüberstanden. Wenigstens zunächst nicht.

Doch dann kam es zu einem dramatischen Wandel. Die in das Deutsche Reich und seine europäischen Nachbarländer eingewanderten und hier zunächst integrierten Roma wurden aus der spätmittelalterlichen Feudalordnung ausgeschlossen, diskriminiert und verfolgt. Diese im ausgehenden 15. Jahrhundert einsetzende Verfolgung der europäischen Roma in allen europäischen Ländern führte zu einer radikalen Veränderung des Roma-Bildes. Dies wirkte sich v.a. auf ihre Namensgebung bzw. deren Deutung aus. Beides geschah mit einer erkennbaren antiziganistischen Intention.

Besonders deutlich wird dies an der deutschen Fremdbezeichnung der Roma als »Zigeuner«. Dabei wurde der aus dem Griechischen stammende Begriff etymologisch aus dem Deutschen abgeleitet. Dies geschah unter Verwendung des schon im Althochdeutschen nachweisbaren Verbs »ziehen« und des aber erst im 16. Jahrhundert in die neuhochdeutsche Sprache aufgenommenen Substantivs »Gauner«.

Sprachgeschichtlich stammt »Gauner« aus dem hebräischen »jowon«. Damit waren die griechischen Ionier gemeint, die bei den Juden offensichtlich übel beleumdet waren. Galten die Ionier doch als notorische Falschspieler. Nachweisbar ist dies jedoch nicht. Dennoch wurden alle Falschspieler in der Rotwelsch genannten Sprache der Außenseiter der mittelalterlichen Gesellschaft unter Verwendung des hebräischen »jowon« als »jauner« bezeichnet. Aus dem rotwelschen »jauner« wurde schließlich das hochdeutsche »Gauner«, womit alle Betrüger und Diebe gemeint waren. Als besonders gefährlich und gerissen galten die umherziehenden Gauner – die »Zigeuner«.

Diese Herleitung des Begriffs »Zigeuner« aus »Zieh-Gauner« ist nur im Deutschen möglich. Dennoch rufen die ebenfalls aus dem griechischen »atsingganoi« stammenden französischen, russischen und schwedischen Fremdbezeichnungen »tsiganes«, »cyganie« und »zigenare« ähnlich negative Assoziationen hervor. Auch sie sollen Nomaden und notorische Diebe sein.

Im Englischen wird zwar zwischen »gypsies« und »travellers« differenziert. Beide Gruppen werden aber meist in einem Atemzug genannt. Übersehen wird dabei, dass es sich bei den »gypsies« um Angehörige einer Ethnie und bei den »travellers« um Zugehörige einer sozialen Schicht handelt. Das sozialantiziganistische Vorurteil gegen die Roma als gerissene Betrüger wird mit der englischen Fremdbezeichnung »gypsies« zumindest angedeutet. Jemanden »übers Ohr hauen« heißt im Englischen umgangssprachlich »to gyp somebody«.

Die ebenfalls im Englischen gebräuchliche Bezeichnung von Geschäften, die bunte und exotisch wirkende Kleider verkaufen, als »gypsy stores« deutet dagegen auf romantisierende, aber gleichwohl ebenfalls antiziganistisch geprägte Vorurteile hin. Die heute weltweit zu beobachtende Liebe zu und Werbung für »gypsy clothes«, »gypsy music«, »gypsy style« und natürlich »gypsy women« ist von Elementen des romantisierenden Antiziganismus nicht frei. Bei den »gypsy women« vom Schlage der allseits bekannten Carmen kommt noch eine gewisse sexistische Note hinzu.

Falsch und antiziganistisch geprägt sind noch zwei weitere europäische Fremdbezeichnungen der Roma. Dies gilt zum einen für die in der Frühen Neuzeit in Norddeutschland und den skandinavischen Ländern gebräuchliche, jetzt aber nur noch in Schweden anzutreffende Bezeichnung der Roma als Tataren bzw. als »tattern« und »tatare«.2 Dies ist falsch, weil die Roma keine Tataren waren, und es ist negativ konnotiert, weil die Tataren bzw. die Mongolen über ein überaus negatives Image verfügten. Hatten sie doch im 13. Jahrhundert fast ganz Russland erobert und waren bis nach Schlesien vorgedrungen, wo sie 1241 ein deutsch-polnisches Ritterheer bei Liegnitz vernichtend geschlagen haben. Damit bedrohten die Mongolen das gesamte christliche Abendland, wie das zwei Jahrhunderte später die Türken getan haben. Jedenfalls ist das von ebendiesem christlichen Abendland so empfunden worden. Doch im Unterschied zu den Türken sind die Mongolen nicht weiter nach Westen vorgedrungen, sondern haben sich nach ihrem Liegnitzer Sieg wieder in den Osten zurückgezogen. Erstaunlicherweise ist den als »tattern« bezeichneten schwedischen Roma dann auch nicht mehr vorgeworfen worden, Spione des Erzfeindes des christlichen Abendlandes zu sein, denn ab dem 15. Jahrhundert waren damit nicht mehr die Tataren, sondern die Türken gemeint.

Ebenfalls falsch und antiziganistisch konnotiert ist auch die französische Fremdbezeichnung der Roma als »bohémiens«.3 Mit diesen »bohémiens« waren ursprünglich die Böhmen bzw. die Tschechen gemeint, die im 15. Jahrhundert von ihren europäischen Nachbarn ebenso gefürchtet wie verachtet wurden. Ob ihrer Grausamkeit und Kriegskunst berühmt waren jene Tschechen, die sich nach dem 1415 als Ketzer verurteilten und hingerichteten Johannes Hus als Hussiten bezeichneten.

Die Hussiten haben sich für die Ermordung ihres religiösen und nationalen Führers und Märtyrers Hus gerächt, indem sie zunächst die in ihre böhmische Heimat vorgedrungenen Reichs- und Kreuzzugsheere schlugen, um dann eigene Heerzüge gegen das Reich durchzuführen. Dabei sind sie über die mittel- und ostdeutschen Gebiete bis in das preußische Territorium des Deutschen Ordens vorgedrungen, das damals nicht zum Deutschen Reich gehörte. An diesen Hussitenzügen haben sich zwar auch die Frauen und Kinder der Hussiten beteiligt, was von den Zeitgenossen besonders vermerkt und verübelt wurde, aber mit Sicherheit keine Roma. Daher machte es wirklich keinen Sinn, irgendwelche Beziehungen zwischen den »Roma-Böhmen« und den hussitischen Böhmen herzustellen. Warum sind die Roma dennoch von den Franzosen als »bohémiens« bzw. Böhmen bezeichnet worden?

Vermutlich weil die Roma, die im 15. Jahrhundert nach Frankreich gezogen sind, aus Böhmen kamen, das damals zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörte. Der Charakter der Herkunftsbezeichnung verlor sich, so dass »bohémiens« und »Zigeuner« zu einem Ausdruck der »liederlichen und unordentlichen Sitten und Gebräuche« wurde und keine ethnische Zugehörigkeit mehr darstellte. Karl Marx hat die »bohème« zum »Lumpenproletariat« gerechnet.

Darin stimmten ihm aber keineswegs alle französischen und europäischen Künstler und Schriftsteller der damaligen Zeit zu. Einige, und ihre Zahl wurde immer größer, waren sogar stolz darauf, zur »Bohème« zu gehören oder dazugerechnet zu werden.4 Dabei zeigten sie sich von dem damals aufkommenden romantischen Zigeunerbild beeinflusst. Sie wollten genauso frei und ungebunden leben und lieben, wie dies die »Zigeuner« angeblich tun würden.

Wie wir gesehen haben, waren und sind alle europäischen Fremdbezeichnungen der Roma nicht nur falsch und antiziganistisch konnotiert, sondern auch ungenau und unpräzise. Dies in zweifacher Hinsicht. Können und werden doch dadurch Personen zu Roma gemacht und erklärt, die gar keine Roma sind. Sie haben oder sollen mit den wirklichen Roma nur die angeblich typischen Roma-Eigenschaften und Verhaltensweisen gemein haben. Andererseits können wirkliche Roma jederzeit bestreiten, Roma zu sein, wenn sie die angeblich typischen Roma-Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht aufweisen.

Mit diesem doppelten Problem waren vor allem die Deutschen konfrontiert. Jedenfalls jene, die in den Roma »Zigeuner« sehen wollten. Sie haben, und tun es zum Teil noch heute, Personen zu »Zigeunern« erklärt, die gar keine Roma waren, sondern nur »wie die Zigeuner« im Lande herumzogen und sich dabei verschiedener krimineller Delikte schuldig gemacht haben oder gemacht haben sollen. Übersehen wurde dabei aber, dass sich schon in der frühen Neuzeit viele Roma nicht so verhalten haben, wie es die »Zigeuner« angeblich tun würden. Sie zogen nicht mehr ziellos im Lande herum, waren sesshaft geworden und übten ganz normale Berufe aus. Im 17. Jahrhundert waren zahlreiche Roma in die europäischen Söldnerheere aufgenommen worden, in denen einige zu Offizieren befördert worden waren. Der Historiker Ulrich Friedrich Opfermann hat herausgefunden, dass sich einige dieser Roma-Soldaten und Roma-Offiziere als »gewesene Zigeuner« bezeichnet haben, weil sie sich sozial angepasst und ihren, wie es in den Quellen heißt, »Zigeuner Habit« abgelegt hätten.5 In nicht wenigen Fällen war das erfolgreich. »Gewesene Zigeuner« sind nicht wie ihre Roma-Landsleute ausgewiesen und vertrieben worden, sondern in die Mehrheitsgesellschaft aufgenommen worden. Dies wurde gewissermaßen mit Brief und Siegel, d.h. durch die Verleihung von Offizierspatenten und Militärpässen, bekräftigt. Den Inhabern eines Offizierspatents und eines Militärpasses und ihren Kindern und Kindeskindern ist dann, man kann sagen: natürlich auch ein bürgerlicher Pass verliehen worden.

Damit gelangten sie in den Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft, die nach dem im Prinzip heute noch geltenden ius sanguinis (= Blutrecht) nur Personen deutscher Abstammung zustand.6 Dies missfiel vielen deutschen Antiziganisten. Sie setzten alles daran, um ihren ungeliebten Roma-Mitbürgern die deutsche Staatsbürgerschaft wieder zu entziehen.

Das konnten sie aber nicht mit dem Hinweis auf die »zigeunerische« Lebensweise der Roma begründen. Zogen doch längst nicht mehr alle deutschen Sinti und Roma »wie die Zigeuner« ständig herum und bestritten nur ganz wenige ihren Lebensunterhalt durch allerlei Gaunereien. Stattdessen verfügten die meisten (heute sind es fast alle) über einen festen Wohnsitz und übten ganz normale Berufe aus. Andererseits waren die wenigsten der Fahrenden, Wohnungslosen und Kriminellen tatsächlich »Zigeuner«. Diesen als »Zigeuner« etikettierten Personen konnte man die deutsche Staatsbürgerschaft nicht entziehen, weil sie deutscher Abstammung waren und dies auch beweisen konnten.

Die antiziganistisch eingestellten nationalsozialistischen »Zigeunerforscher« lösten dieses »Problem« mit Hilfe der »Rassenkunde«, indem sie die »rassereinen Zigeuner« von den »Zigeunermischlingen« und diese wieder von den Personen unterschieden, die sich nur »wie die Zigeuner« verhielten, ohne Roma zu sein.7 Natürlich war das alles Unsinn, doch hatte dieser Methode. Den »Zigeunerforschern« ist es tatsächlich gelungen, die deutschen Sinti und Roma nach rassistischen Kriterien zu bewerten. Damit haben sie die von Himmler schon am 8. Dezember 1938 angeordnete »endgültige Lösung der Zigeunerfrage (…) aus dem Wesen dieser Rasse heraus« nicht nur begründet, sondern vorbereitet.

Darauf, auf den rassistisch motivierten Völkermord an den Roma in der NS-Zeit und die Tatsache, dass dieser nach der NS-Zeit geleugnet worden ist, wird noch einzugehen sein. Hier ist darauf hinzuweisen, dass sich die gesamte Geschichte der Verfolgung der Roma vor, während und nach der NS-Zeit auch auf ihre Namensgebung und deren Deutung ausgewirkt hat. Da die Verfolgung der Roma vor der NS-Zeit vornehmlich mit Motiven des sozialen Antiziganismus begründet worden ist, wollte man in ihnen vornehmlich eine soziale Gruppe sehen. In der NS-Zeit wurden die Roma dagegen zu einer »minderwertigen Rasse« gerechnet, die daher, d.h. aus Motiven des rassistischen Antiziganismus, verfolgt und ermordet worden sind. Bei der Leugnung des rassistisch motivierten Mordes hat man an den sozialen Antiziganismus angeknüpft und die Roma wieder zu einer sozialen Randgruppe gerechnet.

Insgesamt wurden die Roma schon durch ihre Fremdbezeichnungen als »Zigeuner« bzw. »cyganie«, »tsiganes«, »zigenare« etc., »gypsies« und »gitanos«, »bohémiens« und »tatare« nicht als das erkannt und anerkannt, was sie zweifellos sind – eine Ethnie bzw. ein Volk, das zu einer Nation werden kann, deren Angehörige auf jeden Fall und in allen europäischen Staaten den Status einer ethnischen bzw. nationalen Minderheit erhalten müssen. Doch welche Politik wir gadsche auch immer gegenüber den Roma betreiben werden und müssen, eins ist schon jetzt klar und unbedingt zu beachten: Die Roma dürfen nicht länger mit den erwähnten europäischen Fremdbegriffen bezeichnet werden. Nicht nur deshalb, weil alle Fremdbezeichnungen antiziganistisch konnotiert sind, sondern weil von wenigen Ausnahmen abgesehen die Roma selber nicht so bezeichnet werden wollen. Dies ist von uns gadsche zu respektieren.

»Wäsche weg! Die Zigeuner kommen!«
Einleitung

»Wäsche weg! Die Zigeuner kommen!« – rief meine Großmutter 1951 aufgeregt aus, als sich eine Gruppe von Roma unserem Haus näherte. Meine Großmutter nahm die noch feuchte Wäsche von der Leine und befahl mir, sofort ins Haus zu gehen. Folgsam, wie ich im Alter von sechs Jahren noch war, gehorchte ich meiner geliebten Großmutter, fragte sie aber, was das alles solle. Flüsternd und sich sogar bekreuzigend teilte sie mir mit, dass »die Zigeuner« furchtbare Menschen seien, die keineswegs nur Wäsche, sondern auch kleine Kinder stehlen würden. Dies weckte meine Neugier. In der Hoffnung, durch die »Zigeuner« aus der Herrschaft meines überaus strengen Elternhauses und vom gerade begonnenen Schuldienst befreit zu werden, lief ich ihnen nach. Leider vergeblich. Die »Zigeuner« haben mich nicht gestohlen. Sie zogen an mir vorbei. Ich habe ihnen nur sehnsüchtig und voller Neid auf ihre freie Lebensweise nachschauen können.

Mit dieser Geschichte aus meiner Kindheit habe ich beschrieben, was ich Jahre später als Historiker erforscht habe – die Antiziganismus genannte Feindschaft gegenüber jenen, wie sie sich selber nennen, Roma bzw. Sinti und Roma. Sie wurzelt in einer Mischung aus Angst und Neid und besteht aus Vorurteilen der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, die von den Roma »gadsche« genannt werden.

An erster Stelle ist die Namensgebung zu nennen. Denn diese ist falsch und pejorativ. Roma sind keine »Zigeuner«. Dabei handelt es sich um eine Fremdbezeichnung, eine Zuschreibung, die negative Assoziationen auslöst und auslösen soll. Im Deutschen bezieht sie sich auf die Vorstellung, dass Roma ständig herumziehen und Gaunereien begehen würden, das Wort »Zigeuner« bedeutet eigentlich »Zieh-Gauner«. Obwohl dies falsch ist, war das Vorurteil für meine Großmutter eine Tatsache. Sie glaubte fest daran, dass »Zigeuner« vor allem kleine Kinder stehlen würden. Das sich hartnäckig haltende Vorurteil, wonach »Zigeuner« notorische Diebe und Kinderräuber seien, ist das zentrale Element des sozialen Antiziganismus.

Während dies keiner weiteren Erläuterung bedarf, bleibt jedoch zu erklären, warum sich meine Großmutter bekreuzigte, um sich und mich vor den »Zigeunern« zu schützen. Weil sie in den »Zigeunern« teuflische Wesen erblicken wollte, die sich mit dem Teufel verbündet hätten, um von ihm seine magischen Fähigkeiten zu erlernen. Ich sehe in der Verteufelung der Roma das zentrale Element des wiederum von mir so genannten religiösen Antiziganismus.

Zum religiösen und sozialen Antiziganismus kommt ein weiteres Vorurteil. Es handelt sich dabei um den auch von mir als Jungen geteilten Neid auf das angeblich »lustige Zigeunerleben« der Roma, die ständig herumziehen dürfen, statt sich wie alle anderen von anständiger und ehrlicher Arbeit zu ernähren – und ihre Kinder in Schulen zu schicken, wo sie zu dieser anständigen und ehrlichen Arbeit erzogen werden. Die Forschung bezeichnet dieses scheinbar positive Vorurteil als romantischen Antiziganismus.

Diese Erklärungen und Differenzierungen des Antiziganismus sind sicherlich richtig und wichtig, erklären aber nicht, warum diese Vorurteile gegenüber allen Roma bestehen. Meine Großmutter und ich kannten keinen einzigen und haben auch mit keinem der Roma gesprochen, die an unserem Haus vorbeizogen. Dennoch waren wir vom Wahrheitsgehalt der erwähnten Vorurteile gegenüber »den Zigeunern« überzeugt. Warum? Weil wir wie die meisten Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft davon überzeugt waren, dass alle Roma von Natur aus die gleichen negativen Eigenschaften aufwiesen. Dies ist eine genuin rassistische Denkungsart. Ich bezeichne das als rassistischen Antiziganismus, der den sozialen, religiösen und romantisierenden Antiziganismus ergänzt, aber keineswegs verdrängt hat.

Antiziganismus ist also eine Ideologie, die aus sozialen, religiösen, romantisierenden und rassistischen Elementen besteht und auf Vorurteilen über die diebischen, faulen, teuflischen und »rassisch minderwertigen« Roma beruht. Diese Ideologie bzw. dieses »falsche Bewusstsein« ist aber tief in der Mentalität der Mehrheitsgesellschaft verwurzelt und von Generation zu Generation tradiert worden. Die Ängste und Vorurteile gegenüber den Roma wurden von den Herrschenden aufgegriffen und instrumentalisiert, um von sozialen Missständen ablenken und politische Ziele rechtfertigen zu können. Roma wurden nicht nur zu Sündenböcken gemacht, sondern diskriminiert und verfolgt. Das wurde von den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaften nicht nur gebilligt, sondern gefordert, weil der Antiziganismus in ihrer Mentalität fest verwurzelt ist.

Mit der Geschichte und Funktion des Antiziganismus als Ideologie, Mentalität und Politik habe ich mich seit mehr als dreißig Jahren beschäftigt und darüber sowie über den Völkermord an den Roma mehrere Aufsätze und Bücher publiziert. Zunächst davon ausgegangen, dass in erster Linie der deutsche Antiziganismus zum Völkermord geführt hat, haben meine Forschungen aber ergeben, dass es sich keineswegs nur um ein spezifisch deutsches Phänomen gehandelt hat.

Beides ist falsch. Beim Antiziganismus handelt es sich um ein gesamteuropäisches Vorurteil, und der Völkermord an den Roma ist als ein europäischer Genozid zu bezeichnen, weil er keineswegs nur von den Deutschen, sondern auch von den Angehörigen anderer europäischer Völker begangen worden ist. Dennoch ist der Antiziganismus nach 1945 nicht so geächtet worden wie der Antisemitismus, der zum Völkermord an den Juden geführt hat. Die Roma werden immer noch und in allen europäischen Ländern stärker abgelehnt, diskriminiert und verachtet als die Juden. Ein skandalöser Zustand. Niemand ist ein »Zigeuner«, und keiner darf als »Zigeuner« (oder »gypsy«, »gitano«, »tsigan«, »zigenar« etc.) beschimpft, diskriminiert und verfolgt werden. Es muss zu einer Ächtung dieses europäischen Vorurteils kommen.

Um diese Thesen beweisen und diese Forderungen begründen zu können, bin ich folgendermaßen vorgegangen. Zunächst wird im ersten Kapitel begründet, warum nicht nur die deutsche, sondern alle anderen europäischen Fremdbezeichnungen der Roma falsch und antiziganistisch konnotiert sind. Im zweiten Kapitel wird gezeigt, wie es in ganz Europa zur Feind- und Fremderklärung der Roma gekommen ist. Beides ist bis heute nicht überwunden worden. Die Roma werden, wenn auch nicht mehr als Feinde Europas, so doch als Fremde angesehen. Dies, obwohl sie bzw. ihre Vorfahren schon vor tausend Jahren nach Europa eingewandert sind. In den nächsten beiden Kapiteln wenden wir uns der Entstehung und Verbreitung des religiösen und sozialen sowie des rassistischen und romantischen Antiziganismus zu. Dies geschieht wiederum unter einer gesamteuropäischen Perspektive und in einer epochenübergreifenden Weise.

Im darauffolgenden Kapitel wird die Geschichte des intendierten und rassistisch motivierten Völkermordes an den Roma skizziert, der im Romanes, der Sprache der Roma, Porrajmos (= das Verschlungene) genannt wird. Wie bereits oben angedeutet, wird dabei auch auf die Kollaboration einiger europäischer Völker am Genozid der Roma verwiesen.

Beides – die europäische Kollaboration und die rassistische Motivation des Porrajmos – ist jedoch, wie im sechsten Kapitel gezeigt wird, nach 1945 geleugnet worden. Dies geschah, um den überlebenden Roma den Anspruch auf Wiedergutmachung zu verweigern, und wurde mit dem antiziganistischen Argument begründet, wonach es sich bei den ermordeten Roma um »Asoziale« gehandelt habe, die wegen ihrer »asozialen« Eigenschaften und nicht wegen ihrer »rassischen« Herkunft ermordet worden seien.

Von diesem Stigma sind die Roma in Westeuropa bis heute nicht befreit worden, auch wenn sich dazu niemand mehr bekennt. Sie werden zwar nicht mehr offen als Asoziale beschimpft, aber etwas verschämt zu einer »sozialen Randgruppe« erklärt, deren Angehörige aufgefordert werden, sich endlich in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren. Dieses Integrationsgebot ist vielleicht gut gemeint, basiert aber auf der falschen Annahme, dass sich die Roma bisher nicht integriert haben und das auch nicht wollen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Integration der Roma wird nicht von den Roma verweigert, sie wurde und wird zum Teil noch heute von Politikern in Europa verhindert, indem die Roma von der Mehrheitsgesellschaft separiert werden. Sie müssen ihre Kinder auf besondere und schlecht ausgestattete (Hilfs-)Schulen schicken, werden gezwungen, in besonderen und schlechten Wohnquartieren zu leben, und erhalten schlechtere Sozialleistungen als ihre Mitbürger. Die Separierung und Diskriminierung der Roma wird von vielen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft begrüßt und gefordert. Für sie sind und bleiben die Roma eben ewige »Zigeuner« oder ständig herumziehende »Nomaden«. Dies ist, wie im siebenten Kapitel gezeigt wird, jedoch stärker in den westeuropäischen Ländern als in Deutschland der Fall.

In Osteuropa ist die Situation der Roma noch schlimmer. Hier werden die schon seit Jahrhunderten lebenden Roma nicht »nur« in rechtlicher und sozialer Hinsicht diskriminiert, hier sind sie offenen Verfolgungen ausgesetzt, die nicht nur mit Elementen und Motiven des sozialen (und religiösen), sondern auch des rassistischen Antiziganismus begründet werden.

Sowohl die Diskriminierung der Roma in Westeuropa wie ihre Verfolgung in Osteuropa hätte von Europa bzw. den verschiedenen europäischen Institutionen und Organisationen verhindert werden müssen. In mehreren ost- und westeuropäischen Ländern werden den Roma sogar die Minderheitenschutzrechte verweigert. Dies ist ein Verstoß gegen die Konventionen und Gesetze, die vom Europaparlament beschlossen und vom Europarat erlassen worden sind. Die EU hat bisher auch darauf verzichtet, die Mitgliedstaaten zu kritisieren oder ihnen den Ausschluss aus der Europäischen Union anzudrohen, die die Diskriminierung und offene Verfolgung ihrer Roma-Staatsbürger tolerieren oder gar selber betreiben. Das ist skandalös.

Noch skandalöser ist, dass den europäischen Roma häufig das verwehrt wird, was ihnen als Bürgern eines Staates der Europäischen Union eigentlich und von Rechts wegen zusteht, nämlich die Freizügigkeit, das Recht, von einem europäischen Staat in den anderen zu ziehen und dort zu wohnen und zu arbeiten. Stattdessen werden die Roma, welche der Not in ihren Heimatländern entfliehen, als »Sozialtouristen« beschimpft, weil sie sich ihnen angeblich nicht zustehende Sozialleistungen ergaunern würden.

Ein, wie ich finde, besonders perfides und abscheuliches Beispiel für die fortdauernde Diskriminierung der Roma hat die Bundesrepublik Deutschland im September 2014 geliefert, indem sie den Roma aus einigen Balkanstaaten, die noch nicht der EU angehören, das Grundrecht auf Asyl verweigerte. Und dies mit der ebenso fadenscheinigen wie falschen Begründung, die Roma würden in diesen Staaten nicht politisch verfolgt. Roma, die aus diesen formal als »sicher« eingestuften Staaten in die Bundesrepublik Deutschland geflüchtet sind, werden derzeit alle wieder ausgewiesen und in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt.

All das ist ein Beleg für die Fortexistenz des Antiziganismus im gegenwärtigen Europa. Dagegen wehren sich, wie im zehnten und letzten Kapitel dargestellt wird, einige Roma-Verbände. Sie fordern jene Rechte ein, die ihnen als Angehörigen einer ethnischen Minderheit zustehen. Einige europäische Roma gehen in ihrer Forderung sogar noch weiter: Sie wollen nicht mehr nur als Minderheit angesehen werden. Schließlich handelt es sich bei den Roma um ein Volk, das zu einer Nation werden und die Errichtung eines Nationalstaates fordern kann. Wohlgemerkt kann. Denn bisher haben nur ganz wenige Roma die Errichtung eines Roma-Staates gefordert. Doch einen Namen hat er schon – Romanestan. Romanestan könnte die europäischen Roma vor dem europäischen Antiziganismus schützen, wie Israel die Juden vor dem weltweiten Antisemitismus schützt.

Dazu muss, ja sollte es jedoch nicht kommen. Die Abwehr des europäischen Antiziganismus und der Schutz der europäischen Roma sollte unsere Aufgabe sein. Denn dafür sind wir Europäer verantwortlich. Wir müssen unsere Vorurteile überwinden und die Feindschaft gegenüber den Roma genauso ächten wie die gegen die Juden. Daher und noch einmal: Niemand ist ein »Zigeuner«, und keiner darf als »Zigeuner« (oder »gypsy«, »gitano«, »tsigan«, »zigenar« etc.) beschimpft, diskriminiert und verfolgt werden.

Wie schon diesen Ankündigungen zu entnehmen ist, ist die gesamte Arbeit nicht zweckfrei und ohne Zorn – sine ira et studio – geschrieben worden. Sie ist kritisch und zielt auf eine Bekämpfung und Überwindung des Antiziganismus ab. Erklärungsbedürftig hingegen ist die Gewichtung der Arbeit. Der Schwerpunkt liegt auf der Gegenwart. Der Geschichte wird weniger Raum gewidmet. Das kann man kritisieren, ist die Gegenwart doch nicht ohne die Geschichte zu verstehen. Dennoch blicken wir aus der Gegenwart auf die Geschichte, um aus der Geschichte etwas für die Gegenwart zu lernen.

Dass die gesamte Arbeit in gedrängter Kürze und in einer essayistischen Form gehalten ist, nur über einen ganz knappen Anmerkungsapparat verfügt und in einer allgemein verständlichen Sprache geschrieben ist, geschah bewusst, um einen möglichst breiten Leserkreis zu erreichen, der sich für dieses wichtige und uns alle betreffende Thema interessiert.

Weiterführende Literaturhinweise findet man in einem angehängten Kapitel, in dem ich die »Zigeunerforschung« kritisiere. In einem abschließenden »Glossar« werden die wichtigsten Begriffe noch einmal erwähnt und erklärt. Diese zusätzlichen Informationen sollen die Leser in die Lage versetzen, meine sehr persönlich gehaltenen Thesen und Forderungen zu verstehen und mit mir zu diskutieren. Darauf freue ich mich.

2. »Verkundschafter der christen lant«
Feinde und Fremde

»Verkundschafter der christen lant« seien die Personen, »so sich ziegeiner nennen«, stellte der in Freiburg tagende Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation am 4. September 1498 fest.8 Gemeint waren die Roma, die beschuldigt wurden, Spione der Türken zu sein, denn das sei »glauplich anzeigt« worden. Daher sollten den Roma alle Geleit- und Schutzbriefe entzogen und ihnen verboten werden, im Lande herumzuziehen und Handel zu treiben: »nit ziehen, handeln noch wandeln (…) noch inen des sicherheit oder geleyt geben.« Roma sollten aus dem Heiligen Römischen Reich bzw. »uß den landen teutscher nacion« vertrieben werden. Wer sich diesem Beschluss widersetze oder wieder einwandere, könne von jedermann tätlich angegriffen und getötet werden, ohne dafür von den Gerichten bestraft zu werden: »wann wo sie (= die ziegeiner) darnach betreten und yemants mit der tate gegen inen zu handeln fürnemen würde, der soll darin nit gefrevelt noch unrecht getan haben.«

Damit wurden die Roma, wie einige Forscher meinen, für vogelfrei erklärt. Dies ist nicht ganz richtig, denn nur formal geächtete Personen konnten nach mittelalterlicher Rechtsauffassung zum Tode verurteilt werden. In ganz schweren Fällen wurde ihnen dann eine christliche Bestattung verwehrt. Ihre Leichen wurden einfach verscharrt oder den Vögeln und Wölfen zum Fraß vorgeworfen. Mit einer zynischen Umdeutung des ursprünglich positiv gemeinten Begriffs wurde diese gerichtlich angeordnete Praxis als »vogelfrei« bezeichnet. Gemeint war nicht mehr »frei wie ein Vogel«, sondern »frei für die Vögel«.

Dies alles traf auf die Roma nicht zu. Sie sind vom Reichstag nicht geächtet und kollektiv zum Tode verurteilt worden. Ihre Leichen konnten daher auch nicht den Vögeln zum Fraß vorgeworfen werden. Die Roma sollten »nur« vertrieben werden. Der Beschluss des Freiburger Reichstages beinhaltete also keine Vogelfreierklärung der Roma, sondern eine gegen die Roma gerichtete Feinderklärung.

Genauer gesagt war es eine europäische Feinderklärung. Abgegeben wurde sie zwar nur vom Reichstag des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, doch dieses Reich verstand sich immer noch als Fortsetzung des von Karl dem Großen erneuerten Römischen Reiches, das schon von den mittelalterlichen Zeitgenossen als »Europa« bezeichnet worden ist. Zu diesem »Europa« gehörten zwar auch Länder, die wie Frankreich, England und die Schweiz nicht oder nicht mehr zum Römischen Reich gehörten, sich aber dennoch mit ihm verbunden fühlten. Daher haben diese Länder den Beschluss des Reichstages übernommen und ebenfalls dazu aufgerufen, die Roma aus ihren Territorien zu vertreiben. Frankreich hat das bereits 1504, sechs Jahre nach dem Reichstag, umgesetzt. Seit 1514 wurden die Roma aus den Schweizer Städten vertrieben, 1530 aus England und 1541 auch aus Schottland ausgewiesen. 1557 folgte Polen dem gesamteuropäischen Beispiel.

Warum aber wurden die Roma zu Feinden Europas erklärt? Weil sie, wie der Freiburger Reichstag meinte gehört zu haben, Spione der Türken – »erfarer, usspeer und verkundschafter der christen lant« seien. Mit diesem »christen lant« waren ganz offensichtlich nicht nur die »landen teutscher nacion«, sondern das gesamte christliche Abendland gemeint, das sich von den Türken bedroht fühlte. Dies geschah nicht zum ersten Mal. Das christliche Abendland hat sich bereits seit seiner Konstituierung durch das muslimische Morgenland bedroht gefühlt. Zunächst von dem arabischen Großreich, das im 8. Jahrhundert bis nach Frankreich vorgedrungen war. Der weitere Vormarsch der muslimischen Araber wurde aber durch die christianisierten Franken gestoppt. Karl Martell bereitete ihnen bei Tours und Poitiers eine vernichtende Niederlage, von der sich die Araber nicht erholt haben. In den folgenden Jahrhunderten wurden sie Schritt für Schritt auch aus Spanien wieder verdrängt. Die von den Christen »reconquista« (= Rückeroberung) genannte Befreiung Spaniens von der muslimischen Herrschaft endete 1492 mit der Eroberung Granadas, des letzten arabischen Staates auf europäischem Boden.

Zwei Jahrhunderte zuvor hatte das christliche Abendland damit begonnen, das muslimische Morgenland anzugreifen. Die in den ersten Kreuzzügen gewonnenen und wieder christianisierten Territorien des arabischen Großreiches im Nahen Osten waren Ende des 13. Jahrhunderts jedoch wieder verloren gegangen, und das christliche Abendland wurde erneut vom muslimischen Morgenland bedroht. Dies in Gestalt des muslimischen Osmanischen Reiches, das in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts nicht nur die asiatischen, sondern auch die europäischen Teile des Byzantinischen Reiches eroberte. 1453 fiel schließlich seine Hauptstadt Konstantinopel.