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Nr. 2813

 

Die falsche Welt

Teil 2 von 4

 

An Rhodans Grab

 

Im Herzen des lemurischen Imperiums – unter Irrdenkern und Sehern

 

Andreas Eschbach

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Menschen haben Teile der Milchstraße besiedelt, Tausende von Welten zählen sich zur Liga Freier Terraner. Man treibt Handel mit anderen Völkern der Milchstraße, es herrscht weitestgehend Frieden zwischen den Sternen.

Doch wirklich frei sind die Menschen nicht. Sie stehen – wie alle anderen Bewohner der Galaxis – unter der Herrschaft des Atopischen Tribunals. Die sogenannten Atopischen Richter behaupten, nur sie und ihre militärische Macht könnten den Frieden in der Milchstraße sichern.

Wollen Perry Rhodan und seine Gefährten gegen diese Macht vorgehen, müssen sie herausfinden, woher die Richter überhaupt kommen. Ihr Ursprung liegt in den Jenzeitigen Landen, in einer Region des Universums, über die bislang niemand etwas weiß.

Ein Zeitriss trennt die Freunde Rhodan und Atlan. Mit dem Fernraumschiff RAS TSCHUBAI strandet Perry Rhodan mehr als 20 Millionen Jahre in der Vergangenheit. Der Arkonide Atlan setzt die Reise durch die Synchronie fort. Aber dann gerät er mit der ATLANC in eine »falsche Welt«, tausend Jahre in der Zukunft.

Die Atopen haben gesiegt und ein lemurisches Imperium beherrscht die Milchstraße. Auf Hilfe kann Atlan nur noch im Solsystem hoffen. Er folgt der Spur einer mysteriösen Prophezeiung nach Terra, das nun Lemur heißt – bis AN RHODANS GRAB ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Haran Vellec – Der Student bekommt hohen Besuch.

Atlan – Der Arkonide findet, was er nicht zu finden hoffte.

Jawna Togoya – Die Posbi-Frau nimmt es mit einer Übermacht auf.

Miuna Lathom – Die kybernetische Agentin spürt ihre Beute auf.

Germo Jobst – Der schmächtige Junge beweist erstaunliche Fähigkeiten.

Intermezzo

 

Alles begann damit, dass Perry Rhodan als erster Mensch der Neuzeit zum Mond flog und dort das havarierte arkonidische Raumschiff AETRON entdeckte. Indem er es eroberte und die Besatzung zwang, das Wissen um ihre weit überlegene Technik preiszugeben, gewann er die Grundlagen, die ihm erlaubten, zuerst die Dritte Macht zu gründen und später das Solare Imperium aufzubauen.

Das zumindest erzählt uns die Geschichte.

Doch war es wirklich so?

Haran Vellec betrachtete den Text auf seinem Terminal, überlegte, wie er weitermachen wollte.

»Schreiben«, sagte er. Holte tief Luft. »Eine Tatsache, die sich nur schwer ... Nein, korrigiere: Eine Tatsache, die nicht dazu passen will, ist ... Nein, korrigiere: Etwas, das dazu nicht passen will, ist eine kleine, unauffällige Statue aus Naturstein, die fast seit Gründung der Stadt Terrania bis zu ihrer Zerstörung in einem Park in der Nähe des Raumhafens stand. Es sind zahllose Bilder davon überliefert, aus allen Jahrhunderten, und sie zeigen alle dasselbe – einen gealterten Arkoniden in einem weiten Umhang, der lächelnd den rechten Arm ausgestreckt hält. Alle Quellen besagen, dass diese Statue Crest da Zoltral darstellt, den Forschungsleiter der AETRON.«

Haran blätterte zu den Bildern weiter, um die es ging. Ärgerte sich wieder einmal, dass er keine Holostation besaß, die es ihm erlaubt hätte, alle Unterlagen in einer Bilderwolke rings um sich herum zu platzieren. Gleich nach dem Abschluss würde er sich eine leisten, schwor er sich.

»Absatz«, fuhr er fort. »Das allein ist schon ... Nein, korrigiere: wäre schon merkwürdig genug: Warum sollte man jemandem, den man überrumpelt und ausgetrickst hat, ein Denkmal errichten? Vollends rätselhaft wird es durch die Entdeckung von Aufnahmen, die im Unterschied zu den üblichen Abbildungen der Statue auch deren Sockel zeigen. Ein Sockel, der folgende Inschrift trägt: Ein Freund der Menschen

Haran hielt inne, rieb sich die Schläfen, fragte sich zum tausendsten Mal, ob er sich mit dieser Arbeit nicht um Kopf und Kragen schrieb. Ein Student der Geschichtswissenschaft, der sich in dieselbe Ecke wie die Rhodan-Versteher stellte ...?

Aber da waren diese Fotos. Uralt, doch gut erhalten. Tatsachen. Und vor Tatsachen durfte ein Geschichtswissenschaftler nicht die Augen verschließen.

»Absatz. Das zwingt dazu, die Frage zu stellen, ob nicht zumindest ein Körnchen Wahrheit ist an den Behauptungen der Irrdenker, wonach Crest da Zoltral Rhodan aus freien Stücken unterstützt haben soll. Ob der Umstand, dass die Flaggschiffe der Imperiumsflotte jahrhundertelang den Namen CREST getragen haben, nicht Ausdruck des Triumphes über einen besiegten Widersacher war, sondern von Dankbarkeit ...«

In diesem Augenblick klopfte es an der Tür.

1.

Tanos

 

Die beiden Gestirne des Thiasan-Sonnentransmitters, zwei Rote Riesen, glühten in der Schwärze des Alls wie zwei unheimliche Augen. Das Schiff, mit dem sie unterwegs waren, bewegte sich mit hoher Geschwindigkeit darauf zu, doch die stellaren Dimensionen waren einfach zu gewaltig, als dass sich das optisch bemerkbar gemacht hätte.

»Allmählich könnten sie sich melden«, sagte John Wa in die gespannte Stille hinein.

Atlan hob die Brauen. »Das werden sie schon.«

Er musterte den jungen Wissenschaftssoldaten unauffällig. Er war sich immer noch unschlüssig, ob ihre beiden Begleiter wirklich die beste Wahl darstellten. Rein logisch gesehen ja – das hatte auch sein Extrasinn bestätigt. Die Auswahl an Fachleuten an Bord der ATLANC war nun einmal begrenzt.

Trotzdem. Atlan wurde ein mulmiges Gefühl nicht los, und er fragte sich, woran das liegen mochte.

John Wa war jung, noch keine vierzig, und ausgewiesener Positronik-Spezialist, der Beste, den sie an Bord hatten. Er trug – das war vielleicht das Auffälligste an ihm – eine Brille, aber nicht, um etwa eine Sehschwäche auszugleichen, sondern aus modischen Gründen. Und weil allerhand positronische Instrumente eingebaut waren: Swoon-Technologie, kein ganz billiges Spielzeug.

Ja, und Wa trug noch etwas – nämlich eine anhaltend gute Laune zur Schau und ein Selbstvertrauen, das auf Atlan entschieden aufgesetzt wirkte.

Wobei ... Wenn das so war, dann vermutlich aus dem harmlosen Grund, dass er Sigalit Barka, die Xenotechnik-Analystin, beeindrucken wollte. Zwischen den beiden knisterte es spürbar, und bestimmt nicht nur, weil sie miteinander konkurrierten.

Sigalit Barka stammte von der Erde, doch ihre sehr helle Haut, ihre weißblonden Haare und ihre goldenen Pupillen ließen vermuten, dass ihre Ahnenreihe einige Arkoniden aufwies. Auch sie war jung, konnte aber erhebliche Meriten vorweisen – andernfalls wäre sie erst gar nicht auf die RAS TSCHUBAI gelangt. Auf der ATLANC hatte sie sich bei der Analyse der Waffensysteme hervorgetan. Ohne ihre Vorarbeit wäre das einstige Richterschiff wohl nicht aus der Falle im Arkonsystem entkommen – oder nur mit erheblich schwereren Schäden.

Viertes Besatzungsmitglied war Jawna Togoya, die Posbi-Frau. Sie saß im Pilotensessel und hatte, wie üblich, alles im Griff und die Ruhe weg.

Bei dem Schiff, mit dem sie zu ihrer risikoreichen Mission aufgebrochen waren, handelte es sich um eine ... ja, wie erklärte man das?

Avan Tacrol, dem halutischen Wissenschaftler, war es gelungen, die Datenbank einer Raumwerft auf einem Randplaneten des arkonidischen Einflussgebiets anzuzapfen und die Baupläne einer in dieser Zeit recht gebräuchlichen Privatjacht zu entwenden. Diese Jacht – ein knapp fünfzig Meter langes, pfeilförmiges, elegantes Schiff – hatten sie an Bord des Richterschiffs nachgebaut, wobei eine der Space Jets, die sie aus der RAS TSCHUBAI übernommen hatten, als Ausgangsbasis gedient hatte.

Dank der tt-Progenitoren war das eine eher leichte Übung gewesen. Die eigentliche Herausforderung stand ihnen noch bevor: nämlich die, von den Kontrollsystemen des Tamaniums als Privatraumschiff akzeptiert zu werden.

»Hier Thiasan-Kontrolle«, krachte es unvermittelt aus den Lautsprechern. »Identifiziert euch und nennt das Ziel eurer Reise.«

»Hab ich's nicht gesagt?«, fragte Atlan und legte den Finger auf das Sensorfeld, das die Sprechverbindung aktivierte. »Hier ist die Privatjacht AIETA JAGDARA, und wir wollen ins Tanossystem.«

»AIETA JAGDARA, übermittelt eure Zulassung, den Stand eurer Reiselizenz und die Kennung eures Textur-Fädlers«, kam es zurück. Am anderen Ende war keine Positronik, sondern ein richtiger Mensch, wenn auch ein ziemlich gelangweilt wirkender.

»Zu Diensten«, antwortete Atlan und sendete die vorbereiteten Dateien ab.

Dann wechselte er einen Blick mit den anderen. Nun galt es.

Die Zulassung war die eines tatsächlich existierenden Schiffs, dessen Daten und Schlüsselkodes Avan Tacrol ebenfalls kopiert hatte. In den Unterlagen besagter Raumwerft wurde es als möglicherweise verunglückt geführt – eine Information, die sich mit etwas Glück noch nicht bis zur Verwaltung des lemurischen Reiches herumgesprochen hatte.

Die Reiselizenz war der Grund, warum sie den Sonnentransmitter verwenden mussten: Jedes nicht-lemurische Schiff in der Galaxis unterlag der sogenannten Lizenzpflicht, was hieß, dass es sich nur mit einem maximalen Überlichtfaktor von 100.000 fortbewegen konnte und außerdem höchstens 10.000 Lichtjahre weit. Danach war es notwendig, die Lizenz erneuern zu lassen. Da sie eine arkonidische Jacht flogen, hätte so ein Flug zur Erde etwa vier Monate gedauert und unterwegs eine dreimalige Erneuerung der Lizenz erfordert: eine Prozedur, die sie nicht überstanden hätten, ohne Verdacht zu erregen.

Das Heikelste aber war die Kennung des Textur-Fädlers. Dieses Aggregat erlaubte einem Raumschiff die Benutzung der Sonnentransmitter, deren Gesamtheit im Sprachgebrauch der lemurischen Behörden Stellare Transport-Textur hieß. Sie hatten das Gerät anhand der von Tacrol aufgespürten Pläne nachgebaut, aber ob es wirklich funktionierte, musste sich erst erweisen.

»Das klappt«, meinte Sigalit Barka leise. Sie hatte an der Analyse der Pläne mitgearbeitet.

»AIETA JAGDARA«, meldete sich die Kontrollstelle kurz darauf, »ihr habt Einflugerlaubnis auf Standardkurs sieben. Ich übermittle die Daten. Ende und gute Reise.«

»Ha!«, machte Sigalit Barka.

»Fängt gut an«, bestätigte John Wa.

»Bitte Ruhe auf den billigen Plätzen«, sagte Atlan und leitete die Kursdaten an Jawna weiter.

Ab da war die Stimmung an Bord deutlich gelöster. Inzwischen waren sie den Sonnen so nahe, dass sie den lodernden Feuerring des Transmitterfelds sehen konnten. Fünf große Transportschiffe waren vor ihnen auf dem Kurs, verschwanden eines nach dem anderen in dem Feld, dessen Mitte schwärzer als schwarz erschien.

Endlich waren sie an der Reihe. Tanos – das war der lemurische Name des Wegasystems. Atlan fragte sich, was sie dort wohl erwartete. Dann kam der Entzerrungsschmerz des Sprungs.

 

*

 

»Tanos-Kontrolle an AIETA JAGDARA. Bitte melden.«

Atlan dehnte die Schultern, kniff die Augen zusammen. Wie weit war der Sprung gegangen? Knapp 30.000 Lichtjahre? Das war keine Kleinigkeit.

»Woher kommt der Ruf?«, fragte Atlan.

John Wa hatte die Instrumente der Ortung vor sich. »Vom sechsten Planeten«, sagte er, noch sichtlich mitgenommen von dem weiten Transmittersprung. »Pigell.« Er stutzte. »Mann – die Wega hat tatsächlich einen Begleiter! Einen Weißen Zwerg.«

»Versuch, mehr über das System herauszufinden«, sagte Atlan.

»Tanos-Kontrolle an AIETA JAGDARA«, kam erneut. Im Hintergrund war hektisches Stimmengewirr zu hören. »Bitte melden.«

Überhaupt herrschte hier deutlich mehr Betrieb als im Thiasansystem. Und schon dort war nicht gerade wenig los gewesen. Wolken von Raumschiffen schwebten in der Nähe der riesigen, weißblauen Sonne und ihres winzigen Begleiters.

Atlan aktivierte die Antwortfrequenz. »Hier AIETA JAGDARA. Ich höre.«

»Tanos-Kontrolle. Was ist euer nächstes Ziel?«

Atlan räusperte sich. »Ähm ... wir dachten, wir fliegen direkt weiter ins Apsusystem.«

Der Unbekannte am anderen Ende der Verbindung gab einen entnervten Seufzer von sich. »Du glaubst nicht, wie alt dieser Witz ist«, knurrte er. »Ich weise euch einen Landeplatz auf Ferrol zu. Tanos VIII für Randweltler. Ende.«

Atlan bedankte sich, unterbrach die Verbindung, sah sich um und zuckte mit den Schultern. »Zumindest probieren musste ich es.«

»Wenn er den Flug einfach so freigegeben hätte, hätte ich stark an der Gültigkeit unserer übrigen Informationen gezweifelt«, äußerte Jawna.

Apsu war der lemurische Name für Sol. Und nach allem, was sie in Erfahrung gebracht hatten, war das Apsusystem nicht nur das Herz des neuen lemurischen Reiches, sondern auch das am besten gesicherte Sonnensystem der Galaxis.

»Wie steht es mit unseren Informationen über das Wegasystem?«, wandte sich Atlan an John Wa.

»Also«, sagte der und rieb sich den Nacken, »ein paar Planeten sind verschwunden. Wega XIV, auch bekannt als Gol, Wega XV alias Hodhir, Wega XXVIII beziehungsweise Kerinthol sowie Wega XL sind nicht mehr auffindbar.«

Atlan furchte die Stirn. »Die großen Gasriesen also. Vermutlich hat man die zu dieser neuen Sonne verarbeitet.«

»Die heißt übrigens Lichtstein«, erklärte Wa. »Durchmesser 11.900 Kilometer. Kleiner als Terra.«

Atlan fragte sich, was mit den Bewohnern der verschwundenen Planeten geschehen sein mochte. Auf Gol hatten einzigartige Energiewesen gelebt, mit denen Kontakt aufzunehmen nie recht geglückt war. Und Wega XV, ein Wasserstoffriese mit einer Schwerkraft von fast 4 Gravos, war Heimat der maahkähnlichen Hoodhirs gewesen. War es den Lemurern gelungen, diese Wesen umzusiedeln? Oder hatten sie keine Rücksicht auf sie genommen?

»Ferrol scheint nach wie vor Hauptanlaufstelle zu sein.« Jawna wies auf den Hauptschirm, auf dem die Kurse aller Raumschiffe als farbige Linien eingeblendet waren. Ein ganzes Büschel davon führte vom Sonnentransmitter zum achten Planeten des Systems.

»Gut«, beschloss Atlan. »Dann bleiben wir in der Herde. Auf Ferrol sollte sich herausfinden lassen, wie wir ins Hochsicherheitsgebiet Apsusystem kommen.«

Intermezzo

 

Es klopfte erneut.

Haran spürte sein Herz pochen. Seltsam, dass ausgerechnet in diesem Augenblick jemand zu ihm wollte, so spät am Abend. Er erwartete niemanden. Überhaupt lag das Wohnheim gerade ziemlich ausgestorben da; wer es sich leisten konnte, hatte ein paar Tage freigenommen, um irgendwo eines der großen Quinto-Feste zu besuchen.

Er starrte den Text an, den er geschrieben hatte. Hatte es etwas damit zu tun? Ja, er wusste, dass alles, was man schrieb, zentral gespeichert wurde – wo auch sonst? Er wusste, dass die Sicherheitskräfte diese Daten überwachten, um Anschläge und terroristische Akte schon im Vorfeld zu vereiteln. Aber sie würden wohl kaum eine wissenschaftliche Arbeit ...?

Oder doch? Auf einmal musste er an die Gerüchte denken, die kursierten. Dass Leute spurlos verschwunden seien, nachdem sie etwas Irrdenkerisches geäußert hatten.

Angeblich. Aber er kannte eine Menge Leute, die ausgemachte Irrdenker waren, die ständig davon redeten, wie freiheitlich und demokratisch und weltoffen die Liga Freier Terraner gewesen sei. Von denen war bis nun keiner spurlos verschwunden – dabei hätte man das bei manchen nicht mal als Verlust empfunden.

Es klopfte zum dritten Mal.

Haran schob das Terminal beiseite – es war mit Antigrav-Positionierung ausgestattet und blieb dort im Raum hängen, wo man es hinrückte –, stand auf und ging zur Tür. Öffnete.

Und trat fassungslos zurück. »Du?«

2.

Ferrol

 

Ferrol war nicht wiederzuerkennen. Einst eine trotz aller Raumfahrt vorwiegend von Dschungelgebieten geprägte Welt, schien nun eine einzige, endlose Megalopolis aus Raumhäfen, Lagerhallen, Handelszentren und Industrieanlagen den gesamten Planeten zu bedecken. Über manchen Arealen spannten sich riesige, milchig-weiße Schleierschirme, die keinerlei Einblick oder Ortung gestatteten: was vermutlich hieß, dass sich darunter militärische Anlagen verbargen.

Sie gingen auf dem zugewiesenen Landeplatz nieder, sicherten ihr Raumschiff und begaben sich in die Stadt, die laut dem von der Anflugkontrolle mitgelieferten Besucher-Datenpaket Khélar-Dash hieß. Hier gab es buchstäblich Tausende von Hotels, für jede nur mögliche Spezies. Das, in dem sie unterkamen, war auf Lemuroide ausgerichtet, aber eher auf, wie sie erst nach einer Weile merkten, reisende Familien mit Kindern.

Ausweise wollte hier niemand sehen. Dafür schwirrten Schwärme winziger, chromglänzender Kugeln umher, die jedes Lebewesen, dem sie begegneten, genau zu untersuchen schienen. Man hatte den Eindruck, es mit fliegenden Augen zu tun zu haben – was sie wahrscheinlich auch waren, ein Überwachungssystem nämlich.

Doch wenn, dann erregte ihre Gruppe augenscheinlich kein Aufsehen. Atlan hatte sich für diesen Einsatz neu maskiert, seine Gesichtszüge mit Biomolplast umgestaltet, sein Haar dunkler gefärbt und sich das Aussehen eines ziemlich alten Mannes gegeben. Jawna hatte ihr Äußeres durch Umjustierung ihres Endoskeletts geändert; sie war nun einen guten Zentimeter größer als sonst und schlanker, und sie hatte sich die Haare rotbraun gefärbt. Was John Wa und Sigalit Barka anbelangte, konnte man davon ausgehen, dass in dieser Zeit, tausend Jahre nach ihrer Geburt, niemand mehr mit ihrem Auftauchen rechnete; sie trugen daher keine besondere Maske.

Nachdem sie ihre Zimmer bezogen hatten, teilten sie sich auf. Atlan und Jawna zogen los, um das neue Ferrol zu erkunden, während John und Sigalit von den Terminals des Hotels aus Erkundungen darüber einzogen, wie sie ins Apsusystem gelangen konnten. Atlan suchte und fand die dunkleren Viertel, die es in der Umgebung jedes Raumhafens gab und in denen gesetzliche Vorschriften eher als lästige Hindernisse betrachtet wurden denn als Handlungsrichtlinien. Dank seiner überreichlichen Erfahrung im Umgang mit Halbwelt-Existenzen schaffte er es, die Hyperkristalle, die sie aus den Beständen der ATLANC mitgenommen hatten, in gängige Zahlungsmittel umzutauschen, in Kreditchips, Galaxkarten und dergleichen.

Für eine Reise ins Apsusystem, brachte er in Erfahrung, benötigten sie allerdings tatsächlich Ausweise. Wobei jene, die sie auf Grundlage der per Hyperfunk eingesammelten Informationen auf der ATLANC vorbereitet hatten, als Fälschungen erkannt werden würden.

»Das ist aber unangenehm«, sagte Atlan zu dem narbengesichtigen Epsaler, mit dem er über dieses Thema verhandelte. »Was kann man denn da tun?«

»Gib mir noch einen von diesen hübschen roten Steinen«, antwortete sein Gegenüber, »und dann löse ich dein Problem.«

Nach einer angemessenen Runde Feilschen zog Atlan den Lederbeutel wieder aus der Tasche, legte einen kleinen Khalumvatt vor sich hin und, ehe der Epsaler zugreifen konnte, die Hand darüber. »Ich will erst wissen, wie es funktioniert.«

Der Epsaler lehnte sich zurück, die baumstammartigen Arme auf dem Tisch. »Süchtige«, sagte er. »In den Gossen Ferrols landen jede Menge davon, von jeder Art, die die Galaxis kennt. Viele sind todkrank. Und wer todkrank ist, der geht zu einem Ausweishändler und macht den Deal.«

»Was für einen Deal?«

»Du möbelst diese Leute ein bisschen auf. Andere Frisur, Schminke – sie müssen langweilig aussehen, durchschnittlich. Dann schickst du sie zu den Behörden, wo sie einen neuen Ausweis beantragen – und wenn sie den haben, gibst du ihnen Geld dafür. Und meistens setzen sie es um in den letzten großen Trip.«

Atlan nickte verstehend. »Ausweise von Toten also.«

»Echte Ausweise. Von Leuten, deren Tod niemand je meldet. Weil, wenn sie gefunden werden, haben sie ja keine Ausweise mehr.« Der Epsaler bleckte die Zähne. Zusammen mit seinen Narben sah das Furcht einflößend aus. »Wie viele brauchst du?«

»Vier«, sagte Atlan. »Drei Lemurer – zwei Frauen, ein Mann. Und ein Arkonide, männlich.«

 

*

 

Als Atlan zurück ins Hotel kam, begegnete ihm auf dem Flur ein Ferrone, der ein albernes Kostüm trug und große Plüschohren im selben Blau wie seine Haut. »Die Kindergruppe«, sagte er in verschliffenem Interkosmo. »Du hast nicht zufällig die Kindergruppe gesehen?«

Atlan verneinte. »Mir sind keine Kinder begegnet.«

»Ah«, machte der Ferrone. »Na so was.« Dann schlurfte er an Atlan vorbei in Richtung Lift, mit hängenden Schultern und leblosem Blick.

Als Atlan den anderen von dieser Begegnung erzählte, nickten alle. »Von der ferronischen Kultur ist praktisch nichts mehr übrig«, erläuterte Sigalit. »Das gilt sogar für die Ferronen selbst – sie sind eine Minderheit auf ihrem Planeten.«

»Man hat den Eindruck, alles, was nicht Raumhafen oder Handelsplatz ist, ist Vergnügungsviertel«, ergänzte John Wa. »Für jeden Geldbeutel und jedes Niveau.«

»Der Rote Palast ist nicht mehr Sitz einer Regierung«, wusste Jawna zu berichten, »sondern Sitz der Warenbörse. Und Sehenswürdigkeit für zahlungskräftige Touristen. War ja schließlich mal Ausgangspunkt des Galaktischen Rätsels und ist daher geschichtlich bedeutsam.«

»Mit anderen Worten, das Wegasystem ist der Vorhof des lemurischen Imperiums.« Atlan setzte sich in einen der elegant aussehenden, aber denkbar unbequemen Sessel und legte die vier Ausweise auf den Tisch. »Dann lasst uns überlegen, wie wir ins Zentrum des Ganzen gelangen.«

Das war, wie sich herausstellte, im Grundsatz so schwierig nicht: Zwar war das Apsusystem bestens gesichert und militärisch so gut wie unangreifbar, aber es war nicht abgeschottet. Im Gegenteil, das Tamanium ermunterte seine Bürger und Vasallen dazu, das prächtige Herzstück des Reiches zu besichtigen.

Es kostete nur eine Kleinigkeit.

John Wa studierte die Ausweise – rechteckige, flexible Karten, den Geldkarten nicht unähnlich – mit sichtlicher Skepsis. »Was ist mit dem Individualschwingungsmuster?«, fragte er. »Oder sonstigen biometrischen Daten, die mit gespeichert sind?«

»Das wird ja wohl kein Problem für euch sein, diese Daten anzupassen, oder?«, meinte Atlan.

John und Sigalit wechselten einen Blick.

»Nein«, sagte John dann. »Natürlich nicht.«

Sie studierten die einschlägigen Angebote. Auf eigene Faust nach Apsu zu reisen, war ausgeschlossen, das war nur den auf dem Planeten Ansässigen gestattet. Alle anderen mussten sich einer organisierten Reisegruppe anschließen. Wobei, den Bildern nach zu urteilen, mit ausnehmend komfortablen Luxusraumschiffen gereist wurde.

Jawna Togoya nahm den für sie bestimmten Ausweis zur Hand, runzelte die Stirn. »Was soll denn das?«, fragte sie. »Hier steht Explizite Terranerin