HELMUTH
RILLING

Ein Leben mit Bach

Gespräche mit Hanspeter Krellmann

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

eBook-Version 2015

2. Auflage 2013

© 2013 Bärenreiter-Verlag Karl Vötterle GmbH & Co. KG, Kassel

Gemeinschaftsausgabe der Verlage Bärenreiter, Kassel, und Seemann Henschel GmbH & Co. KG, Leipzig

Umschlaggestaltung: +CHRISTOWZIK SCHEUCH DESIGN (Foto: Holger Schneider)

Lektorat: Jutta Schmoll-Barthel

Korrektur: Daniel Lettgen, Sankt Augustin

ISBN 978 - 3 - 7618 - 7008 - 2

DBV 108 - 07

www.baerenreiter.com

www.henschel-verlag.de

eBook-Produktion:

Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zur Einführung
Erfahrungszuwachs

Das Alter und das Altern

»Wie ein Dirigent sich bewegt, ist ausschlaggebend für seine Ausdrucksfähigkeit«

»Jedes Stück muss ein neues Stück sein«

»Für ein Gesprächskonzert vor jungen Musikern gewinnt man mich fast immer«

»Als Interpret muss ich hinter dem stehen, was die Musik verlangt«

»Bequem wollte ich nie sein«

»Ich schreibe in meine Partituren, was ich denken muss«

Kapitel 1
Kindheit und Jugendzeit

Lebensbeginn, Wachstum

Musikalisches Erbe

Der Vater, zwei Mütter

»Ich komme mit jedem ins Gespräch«

»Musik ist mit Arbeit verbunden«

Interesse an Theologie

Die christliche Familie

Kapitel 2
Der Weg zum Berufsmusiker

Studium in Stuttgart und Rom, Begegnung mit Bernstein

Germani und »die römische Ölung«

Ein Stuttgarter in Rom

»Unglaublich, aber typisch für mich«

»Das Geld blieb die leidige Frage«

Dirigiervolontariat

Studium durch Zusehen

Vorbild Leonard Bernstein

Kapitel 3
Kirchliche Chorarbeit, freier Dirigent

Kantatengottesdienste, Orchestergründungen, Einspielung aller Bach-Kantaten

»Ich will kein Missionar sein«

Freies Repertoire

Festivalgründung Oregon

Kantatengottesdienste

Edition Bach-Kantaten

Kapitel 4
Sicheres Handwerk und künstlerische Gestaltung

Ensemblearbeit, Aufführungspraxis, Lernprozesse

»Die Musiker müssen sich eingeladen fühlen«

»Bach spricht von der Recreation des Gemüths«

Evangelische und katholische Kirchenmusik

Partiturstudium

Orchester- und Choraufstellung

Auswendig dirigieren

»Rezitative sind der Motor des Stücks«

»Die Gächinger können alles«

Aufführungspraxis

»Es geht um die Wertschätzung des Einzelnen«

»Drei Arten, Bach zu musizieren«

Sinngebung der Musik

Kapitel 5
Bach als Herzstück des Repertoires

Von Schütz bis zu zeitgenössischen Auftragskompositionen

»Bach ist der Lehrer aller Musiker«

Sonderfall Weihnachtsoratorium

»Händel hat auf mich wie ein Berg gewirkt«

Die Zeit vor Bach

»Meine Grundfrage: Ist das ein gutes Stück oder nicht?«

Das Wunder Mendelssohn

Die Zeit nach Bach

»Es geht bei Reger kaum um Deutlichkeit«

Neue Chormusik und Fragmentergänzungen

Bachs Kompositionsästhetik und das 19. Jahrhundert

Der authentische Interpret

Kapitel 6
Zentrum Stuttgart mit weltweiter Ausstrahlung

Grundlagen nationaler und internationaler Tätigkeiten

»Objektive Bach-Pflege im freien Westen«

Private und öffentliche Förderung

Praxis und Wissenschaft in Wechselwirkung

Konzertwesen national und international

Oratorienpflege in Deutschland heute

Stuttgarter Bachwoche und Musikfest Stuttgart

Kapitel 7
Der Künstler, Pädagoge und Anreger

Nachwuchsausbildung, internationale Kulturarbeit, Gesprächskonzerte

Hochschularbeit und internationale Kurstätigkeit

Bachakademien in Leipzig, Prag, Moskau

Vierzig Jahre Oregon Bach Festival

Arbeitsbedingungen als Gastdirigent

Junges Stuttgarter Bach-Ensemble

»Ich wollte das Publikum mit den Ausführenden verbinden«

Kammermusik auf der Schwäbischen Alb

Kapitel 8
Erfüllung in Beruf und Privatleben

Zunehmende Verantwortung für künstlerische Arbeit

Der Reiz der Fliegerei

»Kein Verlass auf Intuition«

»Das Alleinsein mit dem Komponisten, mit seinem Werk, empfinde ich als etwas ungemein Schönes«

Partiturlektüre bis zum Konzertbeginn

Beschluss
Veränderungen im Stetigen

Tradition und Fortschrittlichkeit zur Einheit gebracht

Hanspeter Krellmann
Vertrauen

Anhang

Chronik

Diskografie

Dank – Helmuth Rilling

Dank – Hanspeter Krellmann

Biografie Hanspeter Krellmann

Bildgeber

Zur Einführung

Erfahrungszuwachs

Das Alter und das Altern

Herr Rilling, das Alter beschäftigt unsere heutige Gesellschaft sehr. Mögliche Folgen des allgemeinen Alterungsprozesses werden ignoriert oder mit Sorge erörtert.

Fragen zum Alter betreffen alle Menschen. Für die Gruppe, zu der wir beide gehören, werden sie ständig aktueller und auch bedrängender. Für mich persönlich enthält das Älterwerden ein Positivum: Ich blicke dankbar zurück auf das, was ich in meinem Leben machen durfte, auf die vielerlei Möglichkeiten, die sich mir geboten haben und sich mir weiter bieten. Meine Gesundheit ist einigermaßen stabil, und so habe ich die Kraft, um wichtige und vor allem für mich persönlich bedeutsame Dinge zu bewältigen. Was ich allein innerhalb des Jahres 2010 und bis 2012 weltweit machen durfte, erfüllt mich mit großer Dankbarkeit – und ich muss sofort hinzufügen, dass mit dieser Dankbarkeit ein Pflichtgefühl einhergeht.

Pflichtgefühl gegenüber wem?

Gott hat mir, so empfinde ich es, Gesundheit in meinem Alter nicht dafür gegeben, dass ich mich zur Ruhe setze, sondern damit ich mit der mir verfügbaren Kraft lebenslang gesammelte Erfahrungen weitergeben kann, sogar weitergeben muss. Das erkenne ich als Pflicht. Dieses Weitergeben verläuft in zwei Richtungen: Einerseits präsentiere ich die von mir aufgeführte Musik einem Publikum, das meine Konzerte schätzt. Das schließt die Ensembles mit ein. Mit denen erarbeite ich eine handwerklich-sachliche Voraussetzung für die zur Aufführung anstehenden Werke. Darüber hinaus versuche ich, heute vielleicht noch bewusster als früher, sie zum Verständnis des jeweiligen Werks hinzuführen, indem ich den Sinn des Stücks erläutere. Ich lade Publikum und Ausführende ein, zu verstehen, was der Komponist gewollt haben mag, wie man seiner Musik gerecht werden kann. Die zweite Ebene, für die ich dieses Pflichtgefühl empfinde, und das ausgesprochen stark, betrifft die Weitergabe meiner Erfahrungen und Einsichten an jüngere Menschen.

Sie meinen junge Musiker.

Hauptsächlich, ja. Wenn ich zum Beispiel auf das Jahr 2010 zurückblicke, dann gab es sehr viele Orte, an denen ich unterrichtet habe. Ich denke an Meisterkurse in Taipeh mit Bachs Johannes-Passion. Ich denke an das Oregon Bach Festival, bei dem die Meisterkurse zum Alltag gehören, und an viele weitere Situationen. Die Weitergabe von Erfahrungen, bei denen es nur am Rande um die Dirigiertechnik geht, die sich aber mehr auf das grundsätzliche Verständnis von Musik beziehen, empfinde ich als vorrangig wichtig. Das ist die zweite Ebene, wo meine Dankbarkeit eine Verpflichtung beinhaltet.

»Wie ein Dirigent sich bewegt, ist ausschlaggebend für seine Ausdrucksfähigkeit«

Auf den Erhalt der Gesundheit kann man sich ohne eigenes Zutun kaum verlassen. Sie beziehen sich auf die göttliche Gnade. Der Beruf des Dirigenten gilt dank des notwendigen Bewegungsaufwands seit jeher als Altersberuf, und er wird für gesundheitsfördernd gehalten.

Das stimmt. Ein wirklich vitaler Dirigent gebraucht und nutzt seinen gesamten Körper. Wie er im Konzert dasteht und sich bewegt, das ist ausschlaggebend für seine Ausdrucksfähigkeit. Dabei ist der Körper im Ganzen beschäftigt. Freilich dirigiert man nicht jeden Tag. Aber ich stehe bei immer noch rund hundert Konzerten im Jahr jeden dritten, vierten Tag irgendwo am Dirigierpult. Hinzu kommen Proben, bei denen ein zurückgenommener gestischer Einsatz in der Regel ausreicht. Das entspricht allgemeiner Erfahrung, deckt sich zudem mit meiner Zielvorstellung, dass das Konzert immer besser sein soll als die beste Probe. Außer dem Dirigieren tue ich sehr wenig für meine Physis. Ich schwimme ziemlich regelmäßig. Aber das ist es auch schon. Ertüchtigungsmaschinen besitze ich nicht und bin dankbar, dass ich sie momentan nicht brauche.

Helmuth Rilling beim alltäglichen Partiturstudium – in jeder Situation und überall. Hier in Überlingen 2003. © Holger Schneider

»Jedes Stück muss ein neues Stück sein«

Aus dem Arbeitsprozess ausgeschiedene Menschen behaupten immer mal wieder, im Alter reifer geworden zu sein, reifer zu sein vor allem als die jüngeren Menschen um sie herum. Zumindest aber glauben sie, im Laufe ihres Lebens gelassener geworden zu sein. Älteren Künstlern wird Reife in Bezug auf ihr produziertes oder reproduziertes Werk bestätigt. Sind Sie reifer geworden?

Ich würde dieses Wort für mich kaum anwenden wollen. Reife heißt ja auch – und da scheint mir ein Missverständnis möglich –: Alles ist geklärt, es gibt nichts Neues mehr.

Ich finde vieles in unserem Alltag außerordentlich bewegend. Argumente, die nicht die meinen sind, prüfe ich auf ihre Haltbarkeit. Dank meiner internationalen Tätigkeit erlebe ich die Probleme anderer Länder, die mich beschäftigen und auch bedrängen. Zu denen würde ich niemals vom Standpunkt der sogenannten Reife aus Stellung beziehen. Dazu beschäftigen, ja erregen sie mich viel zu sehr.

Im musikalischen Bereich verhält sich das genauso. Ich pflege, wie bekannt, einen gewissen Kanon permanent: Das sind die Oratorien des 18. und 19. Jahrhunderts. Bei meiner Vorbereitung auf diese Werke verlasse ich mich nie darauf, dass ich sie seit Jahrzehnten kenne, verlasse mich nie auch nur auf ein oberflächliches Gefühl der Reife. Ich gehe zurück zu meinen Partituren und entdecke in ihnen oft Details, die mir bisher nicht aufgefallen sind. Für mich gilt: »Das ist jetzt ein neues Stück.« Das Stück, das ich aufführe, muss immer ein neues Stück sein – als wäre es die erste Aufführung, die es erfährt. Das ist eine notwendige Herausforderung!

Hat sich diese Einstellung bei Ihnen mit zunehmendem Alter verstärkt?

Ich glaube, nein, ich weiß, dass ich schon immer so gedacht habe. Vielleicht ist mir mit der Zeit noch bewusster geworden, dass diese Haltung nicht selbstverständlich ist. Hinzu kommt wohl verstärkt eine pädagogische Tendenz im Umgang mit jungen Musikern. Das betrifft auch junge Solisten, die mit mir vorher nie gearbeitet haben. Die müssen lernen, dass – nur ein Beispiel – Rezitativ nicht gleich Rezitativ ist, das einfach nur schnell heruntergesprochen werden kann. Ein händelsches Rezitativ kann man vielleicht schnell durchsingen, weil es nur eine Brücke zum nächsten Satz ist, eines von Bach nicht.

Sie bemühen sich, Musik verständlich zu machen, und das mit einem rastlosen persönlichen Einsatz. Bedeutet Ihnen der Begriff »Gelassenheit« trotzdem etwas?

Das Wort »Gelassenheit« bedeutet mir, im Gegensatz zu »Reife«, eher etwas. Das betrifft vorrangig Problemsituationen. Die gibt es immer wieder. Das bezieht sich auf Menschen, mit denen man zusammenarbeiten muss. Oder auf Menschen, die man lange kennt und die sich plötzlich und unerwartet anders verhalten, als zu erwarten war. Man glaubt, mit jemandem befreundet zu sein, und erkennt plötzlich eine Reaktion, die keine Freundestat darstellt. Dann wird das Phänomen »Gelassenheit« wichtig, weil sich unter seinem Einfluss Situationen perspektivisch verändern lassen. Es gehört Gelassenheit dazu, in solchen Fällen auf Freundschaften verzichten zu müssen.

Über körperliche Defizite haben Sie nicht zu klagen?

Jeder kennt das: Im Alter funktioniert manches nicht mehr so, wie man das sein Leben lang gewohnt war.

Die Frage ist, ob einen das beeinträchtigt.

Man muss solche Defizite hinnehmen. Dafür geht anderes besser.

Sie müssen jedoch abgestimmt werden mit dem anstehenden Arbeitspensum. Das hat sich bei Ihnen, wie es scheint, in den letzten Jahren nicht reduziert. Hundert Auftritte im Jahr …

Es müssten aus meiner momentanen Sicht nicht unbedingt so viele sein. Aber es liegt ja an mir, ich kann ein Angebot akzeptieren oder ablehnen. Die Qualität der Angebote ist dafür ausschlaggebend. Manche Anfrage betrachte ich auch als ehrenvoll und nehme sie aus dem Grund an, und dann will ich sie auch gut bewältigen.

Werkeinführung: Helmuth Rilling in einem Gesprächskonzert, Stuttgart 2011. © Holger Schneider

»Für ein Gesprächskonzert vor jungen Musikern gewinnt man mich fast immer«

Sie werden Ihre Dirigiertermine auch nach dem an Sie herangetragenen Literaturwunsch auswählen …

Man muss, was im Grunde unnatürlich ist, mindestens zwei Jahre im Voraus Terminanfragen zusagen oder absagen. Sagt man zu, kann man eine danach aufkommende Abneigung gegen die Begleitumstände oder eine Skepsis gegenüber dem vorgesehenen Werk nicht mehr berücksichtigen. In der Beziehung bin ich bei Anfragen vorsichtiger geworden. Eine Rolle spielt für mich die Qualität der Ensembles und ob pädagogische Aufgaben daran hängen. Für einen Meisterkurs irgendwo auf der Welt oder für ein Gesprächskonzert vor einer Gruppe junger, interessierter Musiker gewinnt man mich fast immer sofort. Aber Händels Messias in irgendeiner amerikanischen Großstadt zu dirigieren – das lass ich gleich absagen. Es gab mal eine Anfrage der New York Philharmonic für fünfmal Messias im Lincoln Center, in der Avery Fisher Hall. Da habe ich zugesagt, weil ich mit meiner Gächinger Kantorei kommen konnte, und das habe ich nicht bereut.

Es gab – ein weiteres Beispiel – Ihre Zusage, in Tokio fünfmal Beethovens IX. Sinfonie über Silvester/​Neujahr 2010 aufzuführen. Nur einer der vier Sinfoniesätze ist ein Chorsatz, das Werk ist kaum abendfüllend und gehört nicht zu Ihrem Kernrepertoire. Sie nahmen diese Verpflichtung auf sich, verzichteten sogar auf das heimatliche Weihnachtsfest.

Ich habe bei dieser Anfrage gezögert. Einerseits wegen des Stücks, das im Vergleich zur Matthäus-Passion oder anderen Werken nicht im Zentrum meines Interesses steht, sodass ich mich auch nicht als dessen hundertfach erfahrener Deuter verstehen kann. Auf der anderen Seite: NHK ist in Japan die Nummer eins unter den landesweit sendenden Hörfunk- und Fernsehstationen. Ich stehe mit NHK in einer langen und gewachsenen Verbindung als Dirigent, in meinen Anfängen als junger Organist und durch frühe Bachakademien in Japan. Die Konzerte aus der NHK Hall werden via Radio und Fernsehen über das ganze Land verbreitet. Es ist also ein enormer Auftrag. Soll man einer solchen Institution einfach absagen? Ich habe zugesagt.

Beethovens IX. Sinfonie steht nicht im Zentrum Ihres Interesses, sagen Sie. Das Werk ist extrem bedeutungsbelastet. Nachdem die Berliner Mauer am 9. November 1989 gefallen war, dirigierte Leonard Bernstein, der Ihnen viel bedeutet, diese Sinfonie in Berlin. Aus aktuellem Anlass änderte er sogar Schillers Text: Statt »Freude, schöner Götterfunken« ließ er »Freiheit, schöner Götterfunken« singen – eine umstrittene Maßnahme. Warum haben Sie erst relativ spät zu diesem Werk gegriffen?

Für mich ist die Neunte ein kompliziertes Stück – viel komplizierter als andere Großwerke, die zu meinem Repertoire gehören. Warum finde ich sie kompliziert? Sie ist eine Sinfonie. Wenn man von ihr redet, meinen aber viele Menschen im Grunde nur den vierten Satz. Ihm voraus gehen drei einzigartige sinfonische Sätze, die zum Besten gehören, was Beethoven geschrieben hat. Sie sind aus meiner Sicht ungewöhnlich kompliziert gebaut. In ihrer kompositorischen Architektur und der differenzierten Instrumentation sind sie für den Dirigenten zunächst einmal sehr schwer zu lernen. Daraus eine interpretatorische Meinung und eine persönliche Handschrift zu gewinnen, ist für mich ungewöhnlich schwierig. Bei anderen Werken fällt mir das leicht, bei Beethoven nicht.

Nur bei Beethovens Neunter nicht oder auch bei seinen anderen Werken nicht?

Die Missa solemnis oder der Fidelio stellen natürlich auch interpretatorische Probleme. Aber für mich ist die Neunte komplizierter als alles andere. Das betrifft die unglaubliche Architektur gleich des ersten Satzes mit seiner ausgedehnten Durchführung, der ungewöhnlich ausführlichen Coda. Hier sich eine Meinung zum Tempo, zu Spannung und Entspannung zu bilden – das finde ich nach wie vor schwierig, und damit bin ich auch noch nicht fertig. Ich werde das Stück hoffentlich noch einige Male dirigieren und dann noch mehr von ihm erfahren. Was ich sage, bezieht sich auf diese ersten drei Sätze. Der vierte Satz aber ist für mich der Grund gewesen, warum ich das Stück so wenig oder eigentlich fast nie gemacht habe.

»Als Interpret muss ich hinter dem stehen, was die Musik verlangt«

Also gerade das Chorstück …

Schon in meinen jugendlichen Jahren hat mich der Text gestört, seine enthusiastisch-utopische Sprache, die eine Denkweise transportiert, die ich schon früh nicht nachvollziehen konnte. Als Interpret muss ich hinter dem stehen, was die Musik verlangt – was ich nicht zu können glaubte. Das ist in gewisser Weise bis heute so geblieben. Es fällt mir schwer, in einer von unseren täglichen Begebenheiten geprägten Welt enthusiastisch zu sagen: »Alle Menschen werden Brüder.« Wir erfahren täglich, dass das nicht so einfach ist. Dazu kommt, dass mich im Schlusssatz der Neunten auch Beethovens Eigenheit, naiv oder plakativ oder bewusst einfach zu schreiben, gestört hat. Er hat so viele wunderbare Themen erfunden, und nun dieser Hymnus an die Freude. Für den Hymnus selbst bin ich noch ziemlich zugänglich, aber es gibt einige quasi rezitativische Passagen mit dem Chor, wo mir das zu simpel klingt. Ich habe bis jetzt keinen interpretatorischen Weg gefunden, das aufzulösen.

Nach der Stuttgarter Aufführung gratulierte Ihnen eine Besucherin mit der Bemerkung, sie habe noch nie – jetzt kam ein Versehen – eine so schöne Eroica gehört. Ist, was Sie an der Neunten moniert haben, bei der Eroica nicht ähnlich gegeben? Hinter ihr steht ein Programm, man sieht Bilder, wenn sie erklingt.

Nein, ich habe bei der Eroica diese eben beschriebenen Probleme nie empfunden.

Bei vielen alten Dirigenten verengt sich, konzentriert sich das von ihnen öffentlich angebotene Repertoire in der Regel auf zehn, zwölf Stücke. Ihr Repertoire hingegen war und ist gekennzeichnet durch seine Breite. Es kommen sogar noch laufend neue Partituren dazu. Zwei markante Beispiele: Robert Schumanns Faust-Szenen und die Auftragskomposition der Bachakademie und des Oregon Bach Festivals an den schwedischen Komponisten Sven-David Sandström für einen neuen Messias. In beiden Fällen mussten Sie eine Ihnen bisher unbekannte Musik lernen. Zur neuen Bekanntschaft mit einem Werk entschließen Sie sich freiwillig – trotz Ihres Alters. Eine solche Arbeit hat mit dem Gedächtnis zu tun, mit dem Lernen. Sie müssen sich auf Ihnen bisher Unbekanntes einstellen.

»Bequem wollte ich nie sein«

Ein sehr breit angelegtes Repertoire habe ich immer angestrebt. Den kirchenmusikalischen Kernbereich mit Bach im Zentrum habe ich von Anfang an durch weniger bekannte und von mir als gut erkannte Werke zu erweitern gesucht. So kommen in einem Jahr schon mal leicht fünfzig verschiedene Stücke zusammen. Bequem wollte ich nie sein. Etwa zu sagen: Das Stück kann ich, muss daran nicht mehr viel arbeiten; da fahre ich hin, mache die Probe, dirigiere das Konzert – dieser Standpunkt ist mir immer fremd geblieben. Im Übrigen will ich neue Literatur entdecken. Ein Beispiel: Schumanns Faust-Szenen bildeten in jeder Beziehung eine Herausforderung. Um sie hatte ich in meinem Leben bisher einen Bogen gemacht. Aber eines Tages musste ich sie mir vornehmen, denn sie gehören zum oratorischen Zentralrepertoire. So wie ich für mich den Prozess einer Partituraneignung verstehe, wusste ich, dass das eine intensive Arbeit bedeuten würde, wenn man allein an die Beschäftigung mit dem Text denkt. Es war im Endeffekt eine ganz große persönliche Bereicherung. Die Entscheidung für dieses Werk erschien mir auch im Nachhinein richtig, obwohl es nur ein Angebot, nämlich vom Bonner Beethovenfest, gab, das Stück wiederholen zu können. Aber – wie gesagt – es war eine große Herausforderung.

Sie scheinen keinen Kräfteverschleiß zu empfinden. Der muss ja gar nicht als Folge defizitärer körperlicher Erscheinungen auftreten. Aber es kann zumindest im Alter schneller als in jugendlichen Lebensperioden Erschöpfungszustände geben.

Zu den negativen Aspekten des Älterwerdens gehört bei mir, dass ich nach Konzerten in der Tat oft sehr müde bin. Das Schlimmste, was man mir dann antun kann, ist ein anschließender Stehempfang. Den muss ich oft durchstehen – im wahrsten Sinne des Wortes …

Als künstlerischer Leiter der Bachakademie konnten Sie sich einer solchen Verpflichtung nicht entziehen. – Können Sie sich Dirigieren im Sitzen vorstellen?

Das habe ich nie gemacht.

Könnte das nicht im Ernstfall hilfreich sein? Dirigenten im Operngraben sitzen fast immer.

Ich würde mich sehr begrenzt fühlen. In den Proben nutze ich Hocker. Ich kenne die Beschränkung, die das mit sich bringt. Ich hoffe, das nicht so schnell brauchen zu müssen.

Das menschliche Gehör baut sich ab dem dreißigsten Lebensjahr ab – in kleinsten Werten selbstverständlich. Musiker hören in der Regel auch im Alter genau, zum Beispiel bei der Wahrnehmung instrumentaler und vokaler Intonationsschwächen. Spüren Sie auf diesem Gebiet Beschränkungen, die Ihre Arbeit erschweren?

Ich meine, gut zu hören. Korrekturen, die man in einer Probe anspricht, gehen vom Gehör aus. Über die physiologische Seite weiß ich zu wenig. Es hat wohl vor allem mit sehr hohen Frequenzen zu tun. Ich habe eine mich nachdenklich stimmende Erfahrung gemacht. Bei der Erstaufführung der Passion und Auferstehung Jesu Christi nach Johannes von Sofia Gubaidulina in der Dresdner Frauenkirche im Februar 2007 habe ich einen Spieler der hohen Schlaginstrumente gebeten, lauter zu spielen, worauf er entgegnete, er spiele bereits sehr laut. Darauf hin befürchtete ich, die hohen Frequenzen nicht mehr so gut zu hören. In solchen Fällen fühlt man sich wie ein Verlierer, muss mögliche Fehlentscheidungen eingestehen. Für das meist ältere Publikum, das vielleicht nicht mehr so deutlich hört, wäre ein lauteres Spiel möglicherweise sogar günstiger gewesen.

»Ich schreibe in meine Partituren, was ich denken muss«

Herr Rilling, Sie dirigieren alles auswendig. Das bedingt ein gut funktionierendes Gedächtnis.

Ich muss gestehen, dass ich manchmal fürchte, etwas, was ich eigentlich weiß, plötzlich nicht mehr zu wissen. Bis jetzt ist das nie eingetreten. Bei Stücken wie Bachs h-Moll-Messe, in der ich jede Stimme des Gesamtsatzes auswendig kenne, kann ich mir das schwer vorstellen. Die Stimmabläufe auf jeder Partiturseite erzeugen ja die Gedächtniszusammenhänge. Ich versuche, mich abzusichern … Wenn ich vor einer Woche zehn Partiturseiten gelernt habe und sie mir wieder vornehme, erkenne ich sie hoffentlich auf Anhieb wieder und weiß sie auswendig. Sie erneut zu durchdenken, das könnte für mich heutzutage notwendiger sein, als es früher gewesen ist. Vielleicht bin ich auch nur selbstkritischer geworden und will etwas noch genauer wissen, als ich es früher gewusst habe.

Warum legen Sie sich im Konzert nicht die Partitur aufs Pult?

Das will ich nicht. In Aufführungen hasse ich Partituren. Sie trennen mich vom Ensemble. Dirigierstudenten streichen sich mit verschiedenen Farben das an, von dem sie glauben, das sei das Wichtige. Bei mir steht jede Partitur voller kleiner Bleistiftbemerkungen. Ich schreibe nieder, was ich denken muss. Das hilft mir sehr beim Studium, weil es die Niederlegung meines Gedächtnisses ist. Ein interessierter Dirigent könnte in einer meiner Partituren genauestens verfolgen, wie meine Interpretation ablaufen wird. Mir selbst würde meine Partitur in einer Aufführung nichts nützen – allein schon deshalb nicht, weil die Anmerkungen viel zu klein geschrieben sind.

Haben sich bei Ihnen im Laufe Ihrer jahrzehntelangen Dirigententätigkeit bei Werkdarstellungen Auffassungsveränderungen ergeben, die auf ein fortgeschrittenes Alter zurückzuführen sein könnten? Ich denke an die Wahl von Tempi, Artikulation und so weiter.

Die Frage ist, ob so etwas mit dem Älterwerden zu tun hat. Vielleicht müsste man das dem Thema »Erfahrung« zuordnen. Wenn ich an meine Anfangszeiten zurückdenke, wo ich diese Erfahrungen nicht hatte – da probiert man zunächst mal aus. Bei unseren ersten Aufführungen von Bach-Kantaten standen in meinen Partituren dicke Crescendo- und Diminuendo-Zeichen, um Phrasenbildungen zu ermöglichen, Spannung aufzubauen und wieder wegzunehmen. In meinen heute verwendeten Partituren gibt es bei Bach-Werken keine Crescendo-Bezeichnungen; das sind für mich keine Kriterien mehr bei der Interpretation. Aber das beruht auf praxisbezogenem Erfahrungszuwachs. Aufs Älterwerden ist da nichts zurückzuführen, bei mir nicht.

Zusammengenommen: Sie als Künstler sehen dem weiteren Altern mit Zuversicht entgegen. Erkenntnisdrang bewegt Sie, Erfahrungszuwachs wird Ihr Stichwort bleiben …

Kapitel 1

Kindheit und Jugendzeit

Lebensbeginn, Wachstum

Ihre Kindheit, Herr Rilling, ist durch eine katastrophale Ausgangssituation gekennzeichnet: Zehn Tage nach Ihrer Geburt starb Ihre Mutter.

Ja, meine Geburt war wohl der Grund für ihren Tod. Meine Mutter hat als Geburtsfolge eine Sepsis erlitten. Die heutige Medizin hätte diese Komplikation mühelos abgewendet. Damals war meine Mutter nicht zu retten.

Haben Sie wegen des Todes Ihrer Mutter in Ihrem Leben Schuldgefühle empfunden, die sich, wie wir wissen, oft erst im Erwachsenenalter einstellen?

Eigentlich nicht. Natürlich denke ich immer wieder darüber nach – aber das liegt so weit weg in der Vergangenheit, ist nicht mehr erreichbar. In meinem Arbeitszimmer steht ein Bild von ihr, einer jungen, schönen Frau mit ihrer Geige unter dem Arm.

Hildegard und Eugen Rilling, die Eltern des Dirigenten. © AR

Der Tod Ihrer Mutter hat sich auf Ihr Leben ausgewirkt.

Natürlich, vor allem in meinen ersten Jahren. Ein Kind wächst in die Verhältnisse hinein, wie sie gegeben sind. In meinem Fall hat sich, weil es keine Mutter für mich gab, vor allem die Familie meiner Mutter besonders um mich gekümmert. Es gab eine Schwester meiner Mutter, Tante Maria. Sie war eine hingebungsvolle Krankenschwester, in führender Position an der Stuttgarter Kinderklinik und in der Schwesternausbildung tätig, also beruflich sehr ausgelastet. Sie hat sich meiner in meinen ersten Lebensjahren sehr angenommen, fühlte sich, als meine Patentante, immer in besonderer Weise für mich verantwortlich.

Sie blieb Ihnen bis an ihr Lebensende nahe.

Ja, auch in späteren Jahren ist der persönliche Kontakt geblieben. Ich war in meiner Stuttgarter Studienzeit oft bei ihr. Ich bin von ihr nachhaltig und mit großer Herzlichkeit und Wärme unterstützt worden. Sie hatte zum Beispiel ein Klavier, auf dem ich üben konnte, Klavierüben war für Musikstudenten wegen des festen Standorts des Instrumentes und wegen der sogenannten Lärmbelästigung immer schon ein Problem.

Es trat bald eine neue Mutter in Ihr Leben.

Als ich drei Jahre alt war, hat mein Vater wieder geheiratet. Seine zweite Frau, Helga Eymael, ist eine wunderbare Mutter für mich geworden und auch geblieben, als meine vier Geschwister ab meinem sechsten Jahr nach und nach hinzukamen. Sie hat ihre eigenen Kinder und mich gleich behandelt, ihr ganzes Leben hindurch, hat mich nie spüren lassen, dass ich nicht ihr eigener Sohn war.

Helmuth Rilling und sein Vater. © AR

Glauben Sie, dass Ihnen Ihre leibliche Mutter von ihrem Wesen her Wichtiges vererbt und mitgegeben hat?

Ich denke schon. Die Familie meiner Mutter Hildegard Plieninger ist seit vielen Generationen eine Theologenfamilie. Wenn wir in der Johanneskirche am Stuttgarter Feuersee Konzerte geben, stelle ich mir auf der Kanzel immer meinen Großvater vor, der dort Stadtpfarrer war. Diese Herkunft hat mich sehr beeinflusst, besonders in Kinder- und Jugendzeiten, denn ich war bei den verschiedenen Teilen dieser Familien immer wieder zu Gast. In Kriegszeiten, als meine zweite Mutter mit den jüngeren Geschwistern überlastet war – mein Vater war Soldat –, habe ich lange Zeit bei Martin Plieninger, einem Bruder meiner leiblichen Mutter, in Ludwigsburg gewohnt, weil ich dort zur Schule ging. Martin Plieninger war ebenfalls Pfarrer, und dieser Pfarrhaushalt hat mich stark beeinflusst. Das begann morgens mit der Lesung der Tageslosung der Herrnhuter Brüdergemeine. Und dass sonntags in die Kirche gegangen wurde, verstand sich von selbst. Die Familie meiner Mutter war zudem betont musikalisch orientiert. Alle sangen, spielten Instrumente. Ich erinnere mich an Tanten, Onkel, an Vettern und Cousinen, die ausgezeichnet musizierten, ohne professionelle Musiker zu sein. Bachsche Orgelwerke habe ich zum ersten Mal von meinem Vetter Eberhard Plieninger gehört. Der spielte mir, dem heranwachsenden Jungen, diese anspruchsvolle Musik vor, was mich begeisterte, wie ich genau erinnere.

Musikalisches Erbe

Und Ihre leibliche Mutter war ebenfalls in besonderer Weise musikalisch, was sich auf Sie ausgewirkt haben dürfte.

Sie war eine offenbar geschätzte Geigerin, auch Geigenlehrerin. Sie hatte an der Stuttgarter Hochschule studiert. Ich begegne noch heute gelegentlich älteren Menschen, die von meiner Mutter erzählen, weil sie ihre Schüler gewesen sind. Besonders bewegend sind mir die Erinnerungen der Pfarrfrau der Stuttgarter Gedächtniskirche, an der ich später Kantor war. Sie hieß Dora Jetter und erzählte sehr liebevoll von ihr – meine Mutter muss eine betont herzliche Frau gewesen sein, sehr temperamentvoll auch und musisch über die Maßen interessiert. In ihrer Schwangerschaft hat sie zu meiner Cousine Waltraud gesagt, sie hoffe, dass »des Büble auch a bissle musikalisch sein wird«.

Haben Ihre Familien an Ihrem Berufsweg Anteil genommen?

Ja, die Familien beider Mütter und auch die Familie meines Vaters, die mich bei meinem späteren Rom-Studium finanziell unterstützte. Es war für sie wichtig, dass der Junge was Ordentliches lernt und vorankommt.

Der Musikerberuf gilt in den Augen vieler Leute gerade nicht als ordentlicher Beruf.

Das ist so, und mein Vater wollte ihn bei mir wohl auch aus diesem Grund eher verhindern. Dabei war er selbst Schulmusiker.

Und warum das?

Meines Vaters Familie war von Grund auf anders strukturiert als die Familien beider Mütter. Mein Vater stammte aus Honau unter dem Lichtenstein, einem kleinen Dorf am Rande der Schwäbischen Alb.

Der Vater, zwei Mütter

Sein Vater war Schmied, der die Pferde des Dorfes beschlug. Dass mein Vater aus diesem Umfeld, aus diesem dörflichen Umkreis, herauskommen konnte, war nicht selbstverständlich. Ich denke, seine Familie hat etwas für die damalige Zeit Außerordentliches geleistet, indem sie den Sohn auf ein Lehrerseminar schickte. Dort hat er seine Liebe zur Musik entdeckt. Im schon fortgeschrittenen Alter begann er, Klavier zu spielen, wechselte auf die Stuttgarter Musikhochschule, wurde Schulmusiker. Er war kein glänzender, aber ein sehr ordentlicher Pianist und konnte auch Orgel spielen. Wichtiger war wohl, dass er die Musik ausgesprochen geliebt hat. Wahrscheinlich hat meine Mutter ihn auf der Musikhochschule kennengelernt.

Helga Rilling, geb. Eymael, Helmuth Rillings »zweite Mutter«. © AR

Sie sagen »wahrscheinlich« …

Die Generation unserer Eltern hat, wie damals wohl oft, mit ihren Kindern nicht über persönliche Dinge gesprochen. Ich habe nie von meinem Vater erfahren, wie es zu seiner Beziehung mit meiner Mutter gekommen ist. Ich stelle mir vor, dass das damals eine unerhörte Sache gewesen sein muss. Ein junger Mann aus Handwerkerkreisen kommt in eine aristokratisch gesinnte Theologenfamilie mit Mitgliedern, die Reeder in Bremen waren. Das waren starke und wohl auch schwierige Gegensätze. Trotzdem: Die Ehe meiner Eltern – es gibt sehr schöne Fotos von ihnen – muss sehr glücklich gewesen sein, bis sie so plötzlich und unvermutet abbrach.

Beide passten trotz unterschiedlicher Herkunft gut zusammen.

Soweit ich das weiß, ja. Dabei war mein Vater kein einfacher Mann. Er ging, wie man so sagt, ungeschickt mit Menschen um. Immer eckte er an, sodass gerade berufliche Dinge bei ihm nicht weitergingen. Dann brach der unselige Krieg im Herbst 1939 aus – er wurde eingezogen, war aber relativ früh, ich glaube ein halbes Jahr nach Kriegsende, schon wieder zu Hause. Aber die Kriegszeit hat ihn im Hinblick auf seinen eigenen Beruf gebremst. Er war auch kein glücklicher Schulmusiker. Er hat mich später immer wieder in seine Stuttgarter Schule – damals hieß sie Evangelisches Töchterinstitut, heute Mörike-Gymnasium – zur Unterstützung geholt. Da musste ich mit ihm irgendwas vierhändig vorspielen oder die Andacht begleiten. Er akzeptierte mich, wollte aber im Grunde nicht, dass ich wie er Musiker würde.

Sie wurden es trotzdem, und er hat Ihre Karriere noch miterlebt.

Ja, später fand er, was ich machte, wunderbar, aber am Anfang … Der professionelle Umgang mit Musik stellte sich aus seiner Sicht, aus der Sicht des Schulmusikers, als ein Beruf dar, der wenig Freude machte und von dem man nur so gerade leben konnte.

Hatte er schlechte Erfahrungen gemacht? Er war als Schulmusiker berufsständisch immerhin abgesichert.

Er hat mir – das widerspricht dem, was ich gerade sage, in gewisser Weise – im Endeffekt zugestanden, wenn ich unbedingt Musik studieren wolle, dann nur Schulmusik. Da hätte man wenigstens sein Auskommen. Er hat dann aber lange gebraucht, bis er bereit war, anzuerkennen, dass das, was ich künstlerisch machte, nicht gerade etwas ganz Normales war, um es mal so auszudrücken. In diesen Zusammenhang passt folgende Episode, sie betrifft meine Anfänge mit der Gächinger Kantorei. Nach einer in der Öffentlichkeit sehr anerkannten, erfolgreichen Aufführung von Hugo Distlers Choral-Passion im Chorraum der ansonsten zerstörten Stuttgarter Stiftskirche erklärte mein Vater, das wäre ja ganz ordentlich gelaufen und er wäre jetzt durchaus bereit, das zu übernehmen.

Was wollte Ihr Vater übernehmen?