Impressum

Autor:

Adi Hübel

Titel:

Der Hund muss weg

 

Coverdesign: © Stephan Werner

Verlag: © nexx verlag gmbh, 2015 (www.nexx-verlag.de).

Alle Rechte vorbehalten.

Überarbeitete Ausgabe. Erscheinungstermin: März 2015

ISBN/EAN: 9783958702592

 

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Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

1

Die Türen schlossen sich fast lautlos. Der sanfte Druck des anfahrenden Zuges war kaum zu spüren. Die meisten Fahrgäste hatten ihre Plätze eingenommen und ihr Gepäck in der Ablage verstaut. Eine Reisende, die ein kleines Köfferchen hinter sich herziehend den Gang entlangschritt, blieb suchend stehen und blickte von oben auf die junge Frau, die den Fensterplatz einnahm.

Kiki Wunder hatte die Abfahrt des Zuges mit einem Blick auf den langsam entschwindenden Bahnsteig registriert. Sie ließ sich entspannt in den Sitz sinken. Endlich Urlaub! Drei Wochen Urlaub! Sie seufzte genüsslich.

Sie sah hoch, als die Frau neben ihr stehen blieb. Offensichtlich wollte diese sich auf den freien Sitzplatz neben sie setzen.

Kiki musste in Stuttgart umsteigen und hatte deshalb ihren Koffer einfach neben sich hinter den vorderen Sitz geklemmt. Sie lächelte die Frau freundlich an, zeigte auf ihren Koffer und zuckte bedauernd mit den Schultern.

Das Abteil war nur halb voll. In Ulm waren nicht sehr viele Reisende zugestiegen. Schräg über den Gang war noch ein Sitzplatz frei, auf dem die Dame, als solche bezeichnete Kiki bei sich die Reisende mit dem Köfferchen, dann Platz nahm.

Eine interessante Erscheinung, diese Frau. Um die fünfzig mochte sie sein. Sie hatte eine tolle Figur. Die Haare glänzten in hellem Naturblond und schmiegten sich luftig in einer Welle nach innen. Die Frisur erinnerte Kiki unwillkürlich an Marylin Monroe in einem ihrer Filme. Bewundernd registrierte Kiki, dass die Reisende teuer bis superteuer gekleidet war. Kiki kam sich in ihrer extra für die Reise gewählten Alltagskleidung, einer bequemen Hose und der alten Lederjacke, neben einer solch eleganten Erscheinung etwas schäbig vor. Hätte sie gewusst, dass sie mit dieser Frau noch näher zu tun bekommen würde, hätte sie sie wahrscheinlich noch intensiver betrachtet.

 

Sie legte sich die Tageszeitung zurecht und dachte an ihr Zuhause, das sie der Obhut einer Nachbarin anvertraut hatte. Zuerst hatte sie ihre Freundin und Kollegin Franziska Großmann gefragt, ob sie ihr die Blumen gießen und die Post versorgen würde. Die Zeitungen überließ sie gerne einer karitativen Einrichtung. Bei ihrem Beruf war es ihr ganz recht, dass die Insassen des Untersuchungsgefängnisses für drei Wochen von ihrer Zeitung profitierten.

Als sie gestern Abend bei Franzi und Philip anrief, waren die beiden gerne bereit gewesen, den Dienst zu übernehmen. Allerdings klang Franziska verschnupft und klagte über eine angehende Grippe. Aber trotzdem, es sei kein Problem. Sie und Philip könnten sich ja abwechseln. Kiki hatte gehört, wie Philip im Hintergrund mit dem Hund herumalberte. Ja, die beiden und ihr Hund! Wieder einmal beneidete sie das Paar um ihr gutes Verhältnis zueinander. Ein Paar wie aus dem Bilderbuch, war die Meinung vieler Kollegen. Die beiden hatten sich bei der Kriminalpolizei kennengelernt und waren seit einigen Jahren verheiratet.

Kiki hatte bei ihnen nur vorgefühlt, dann aber auf dem Weg zum Bäcker noch die Nachbarin angesprochen. Die hatte äußerst bereitwillig zugesagt. Franzi war bei der Absage dann keinesfalls beleidigt. Sie wohnten am Eselsberg hätten aber mit dem Rad einen Schlenker nach Söflingen machen können. Aber so war es auch in Ordnung. Die beiden hatten ihr eine stressfreie Reise und eine gute Erholung gewünscht. Das konnte sie brauchen.

Kiki verreiste gerne, leider nicht allzu oft. Sie war nicht die Einzige im Haus, die für längere Zeit abwesend war. Es war purer Zufall, dass sie gleichzeitig mit ihrer Vermieterin drei Wochen weg sein würde. Sie musste schmunzeln, als sie an gestern dachte. Vom Balkon des ersten Stockwerks hatte Frau Zummermann nach ihr gerufen und sie zu sich hoch gebeten. Es passte wunderbar zu ihr, dass sie, die zu einer Kur nach Bad Waldsee fuhr, ihre beiden Koffer nicht schließen konnte. Zwei große Koffer für gerade mal drei Wochen! Kiki sollte ihr dabei behilflich sein, die Kleiderberge zusammenzupressen. Und es gelang mit vereinten Kräften.

Sie hatten ein gutes, fast freundschaftliches Verhältnis, ihre Vermieterin und sie, obwohl Frau Zummermann gute vierzig Jahre älter war. Wie alt sie wirklich war, hatte Kiki noch nicht in Erfahrung bringen können.

So hatten sie heute Ulm beide verlassen, Kiki zuerst nach Berlin zu ihrer Familie und anschließend an die Ostsee, Frau Zummermann zur Kur in die andere Richtung ins nicht so ferne Allgäu.

 

Karoline ärgerte sich. Konnten die Reisenden ihre riesigen Koffer nicht vorne am Anfang des Waggons abstellen? Wozu gab es in den ICEs die Gepäckablagen? Zugegeben, sie waren keineswegs ausreichend.

Das Abteil war nicht voll. Trotzdem, diese junge Frau hätte ihren Koffer nicht unbedingt zwischen die Sitze quetschen müssen. Aber manche Menschen brauchten den Blick auf ihr Eigentum. Wahrscheinlich hatten sie Angst, es könnte alles verschwinden, wenn sie nicht ein Auge darauf hätten.         

Ach, was soll’s, dachte sie, meine Handtasche hätte ja auch gereicht, aber ich musste unbedingt mein kleines Köfferchen mitschleppen. Sie schloss die Augen und dachte an Günther. Wie schön, dass sie sich wieder treffen konnten. Günther war mit dem Auto zu seiner Tagung gefahren, sie fuhr mit der Bahn. Und beide hatten sie das gleiche Ziel: ein Bett in Stuttgart. Sie musste schmunzeln, wenn sie daran dachte. Im gleichen Moment sah sie Rudolf vor sich, wie er sie beim Frühstück angeschaut hatte. Er hatte nur kurz und wortlos die Zeitung gesenkt. Anscheinend hatte er den Geburtstag einer Stuttgarter Freundin, zu dem sie fahren würde, geschluckt. Ehemänner sollten nicht zu vertrauensselig sein, hatte sie innerlich grinsend gedacht und ihn mit unschuldiger Miene angelächelt.

 

Sie war zufrieden, einen Sitzplatz gefunden zu haben. Eigentlich wollte sie ja mit dem Wagen fahren, hatte sich dann doch anders entschieden. Die Fahrt im Zug war bequemer. Sie konnte sich zurücklehnen und über ihre Situation nachdenken. Es war ihr nicht ganz geheuer, dass auch Anke, ihre Freundin und Günthers Frau, bis heute nichts von ihrem Verhältnis mit Günther gemerkt haben sollte. Aber Anke war längere Zeit in der Klinik gewesen und war erst seit Kurzem wieder zu Hause. Man würde sehen, wie sich das ganze entwickelte. Von Scheidung war zwischen ihr und Günther schon lange die Rede. Bis heute war es allerdings bei gewissen Überlegungen geblieben. Ihre Treffen waren meist viel zu kurz, um sich außerhalb des Hotels mit intensiven Planungen zu befassen.

Auch das nachbarschaftliche Verhältnis zwischen ihr und Günther, das sie in Ulm pflegten, durfte nicht zu intim wirken. Zum Glück war Günthers Tochter nicht mehr in Ulm, auch wenn Anke ihr Kind nur schweren Herzens ziehen ließ, wie sie immer wieder betont hatte. Karoline war froh gewesen, als sie hörte, dass dieses, jetzt schon den Kinderschuhen entwachsene Kind einen Studienplatz in Hamburg bekam. Wenn sie ehrlich war, hatte sie diese verwöhnte Göre nie gemocht. Und eine Tochter, die sie und Günther immer im Auge behielt, hätte ihr gerade noch gefehlt.

Wie auch immer, sie fühlte sich verliebt wie lange nicht.

 

Der Halt in Stuttgart wurde angesagt. Kiki und die Frau mit dem Köfferchen standen fast zeitgleich auf und gingen dem Ausgang zu. Kiki hatte Mühe, ihren großen Reisekoffer vor sich herzuschieben und sah neidvoll das winzige Handgepäck der Mitreisenden, das diese leicht über den Ausstieg hob. Die Dame war wohl schon am Ziel angekommen.

 

2

„Nicht weggehen“, Karoline murmelte es mehr zu sich selbst. Sie blinzelte träge in seine Richtung. Während sie sich auf den Bauch drehte, tastete sie über das feuchte, zerknüllte Leinen. Zärtlich strich sie Günther mit den Fingernägeln die Wirbelsäule entlang abwärts. Im dämmerigen Licht der Jalousien saß er nach vorne gebeugt auf dem Rand des Bettes.

„Tja, für heute sind unsere heißen Stunden wieder einmal vorbei.“ Er griff nach ihrer Hand und zog sie nach vorne auf seinen Bauch. „Du kratzt ganz schön, du Raubkatze, du!“

„Ach komm, wieso hast du es denn so eilig?“ Sie robbte sich an seinen Rücken heran und begann ihn mit kleinen Bissen zu malträtieren. „Nur noch einmal. Hm, du schmeckst gut. Bitte, komm noch einmal zu mir, wer weiß, wann wir uns wieder treffen. Immerhin ist Anke jetzt dann wieder zu Hause und da werden wir es nicht mehr so einfach haben.“

„Au, au, lass das!“ Er wehrte sich spielerisch, ließ sich dann aber doch rückwärts auf sie fallen. Sie fasste es als Einverständnis auf und begann wild mit ihm zu kämpfen.

„Ja, ich bin eine Raubkatze, und wenn du nicht noch einmal mit mir schläfst, fresse ich dich auf.“ Lachend und kreischend tobten sie über das Bett, bis er sich mit einem Sprung ins Badezimmer rettete.

„Oh nein, du bist ja so gemein! Komm raus da.“ Sie hämmerte mit beiden Fäusten gegen die verschlossene Tür.

„Ich muss weg“, hörte sie ihn von innen rufen.

Schmollend warf sie sich aufs Bett.

„Immer musst du weg! Wie ich das hasse.“ Sie schrie ihren Frust gegen die Badezimmertüre. „Ich will das nicht mehr hören. Ich will bei dir sein, immer bei dir sein, immer, immer.“

Sie zog das Leintuch zwischen die Beine. Sie hatte noch nicht genug von ihm. Mit beiden Händen streichelte sie ihre Brüste. Mein Gott ja, sie war knapp über fünfzig, aber an denen gab es nichts auszusetzen. Und an allem anderen auch nicht. Sie drehte sich zur Seite und schaute sehnsüchtig zur Tür des Badezimmers. Sie stellte sich vor, wie er sich kurz unter der Dusche abbrauste, sich in aller Eile abtrocknete und dann in Hemd und Hose schlüpfte.

 

Wenigstens hatte er sich heute mehr Zeit genommen. Atemlos, verschwitzt und erschöpft waren sie nebeneinander gelegen. Sie hatte ihn ins Ohrläppchen gebissen und ihm das Wörtchen wann ins Ohr geflüstert.

Wann, ja wann würde er seiner Frau die Wahrheit über sie beide sagen. Sie wollte nicht mehr so weitermachen. Sie brauchte reinen Tisch. Diese Heimlichkeiten waren anfangs ganz aufregend gewesen, aber die letzte Zeit nervten sie sie zunehmend. Wir werden eine Lösung finden, gedulde dich noch ein wenig, hatte er sie immer wieder vertröstet. Ich muss nur einen passenden Moment abwarten, dann beichte ich es Anke.

 

Immer diese Ausflüchte! Heute hatte er dann angedeutet, dass er es nicht fertig brächte, sich von ihr scheiden zu lassen. Sie sei schwer krank und habe einiges durchgemacht. Weil Anke Krebs hatte, war von Scheidung also plötzlich nicht mehr die Rede.

„Das ist vielleicht ein Grund, die Trennung von ihr hinauszuziehen, aber noch lange kein Grund, mich immer wieder hinzuhalten“, hatte sie sich beschwert.

„Ich will dich nicht hinhalten, ich will dich bei mir haben, meine Schönste. Ich stelle es mir jetzt nur ein wenig anders vor.“

Und dann hatte er diesen Vorschlag gemacht. Bisher war immer von Scheidung die Rede gewesen. Nur von Scheidung. Und diese Scheidungen, es waren ja zwei, hatte sie sich noch nie sehr leicht vorgestellt. Eher im Gegenteil. Sie hatte ziemliche Angst davor. Sie war auch verheiratet und musste es Rudolf beibringen. Und Anke war schließlich ihre Freundin. Einfach würde das nicht werden, das wusste sie. Sie hatte immer darauf gewartet, dass Günther den ersten Schritt tun würde. Er sollte Anke endlich reinen Wein einschenken.

 

Diese ewige Heimlichtuerei. Sie hatte das so satt. Immer alles mit größter Vorsicht arrangieren. Keinen Blick riskieren. Kein Wort zu viel! Wütend schlug sie auf das Kissen neben sich ein. „Du Schuft!“, schrie sie Richtung Badezimmertüre, doch kein Laut war zu hören.

 

Dann hatte er also diese andere Lösung ihres Problems, wie er das nannte, vorgeschlagen. Hatte sie sich tatsächlich auf den Pakt eingelassen? Glaubte er wirklich daran, dass damit ihr Problem gelöst wäre? Das konnte er nicht ernst meinen.

Aha, hatte sie bei seiner plötzlich aufgetauchten Rücksicht auf Ankes Krankheit gedacht, aha, jetzt kommen seine Bedenken. Er will mich gar nicht für immer bei sich haben. Dann hatte sie versucht, es positiv zu sehen. Er war eben ein rücksichtsvoller Mensch, der seine kranke Frau nicht einfach abservieren konnte.

Jetzt fragte sie sich allerdings, wie diese Fürsorglichkeit mit seinem Vorschlag zusammenpasste? Sie hatte zuerst gemeint, sich verhört zu haben, als er zögernd damit herausrückte. Er hatte sie so heiß geküsst und gestreichelt und ihr dazwischen Koseworte ins Ohr geflüstert.

„War das wirklich ernst gemeint?“ Die Badezimmertüre war noch immer geschlossen, aber sie rief laut und fordernd.

„Was war ernst gemeint?“ Er hörte sie also doch.

„Na, was du dir da ausgedacht hast. Du weißt schon, dein Vorschlag von vorher.“

„Aber sicher, du hast doch zugestimmt.“

Es stimmte, sie hatte ja gesagt. Sie hatte sogar geschworen mitzumachen. Beim Leben ihrer Mutter hatte sie geschworen. Ausgerechnet! Nicht einmal die Finger hatte sie hinter dem Rücken gekreuzt. Wie auch? Er war doch auf ihr gelegen und hatte sie überall geküsst und geküsst und ein Ja von ihr verlangt.

Er wolle nicht mehr so weiterleben. Es sei die einzige Möglichkeit, bald und für immer mit ihr zusammen zu sein. Wie gerne sie das hörte!

Und auch für Anke wäre das die bessere Lösung. Wer wusste schon, wie lange sie noch zu leben hatte. Außerdem hatte sich Anke während ihrer langen Krankheit immer wieder ein Ende ohne Leiden gewünscht. Eine Scheidung würde sie sicher tief treffen. Er habe schon seit längerem darüber nachgedacht.

Sie schauderte wieder bei dem Gefühl, das das fordernde Streicheln seiner Hand auf ihrer Brust hervorgerufen hatte.

Und dann hatte er nach einigem Überlegen gefragt, ob sie nicht finde, dass auch Rudolf, ihr Mann ... Zwischen zarten Bissen hatte er ihr ins Ohr geflüstert, wie viel Ärger sie sich ersparen würden. Sie wisse nicht, wie anstrengend so eine Scheidung sei. Rudolf würde sicher alles an sich reißen, vor allem dann, wenn er wüsste, dass sie mit ihm zusammen sei.

Sie sollten das vielleicht über Kreuz machen. Er ihren Mann, sie seine Frau. Oder doch jeder für sich. Wir kennen ja die Gewohnheiten unserer besseren Hälften gut und das macht die Sache leichter. Die Einzelheiten würden sie noch besprechen. Er arbeite daran. An einem todsicheren Plan. Sie war nicht dazu gekommen, etwas zu sagen.

 

Plötzlich überflutete sie eine Welle der Angst. Sollten sie das wirklich tun? Was, wenn es nicht gelingen würde? Was, wenn sie entdeckt würden? Müsste sie dann ins Gefängnis? Sie sprang auf, zog das Rollo nach oben und riss das Fenster auf. Sie brauchte Luft zum Atmen.

Auf der Straße hatte der Feierabendverkehr eingesetzt. Plötzlich fühlte sie jegliche Euphorie und alles Wohlbehagen von sich abfallen. Langsam suchte sie ihre Kleidungsstücke zusammen. „Wie lange brauchst du noch?“

Die Tür ging auf und vor ihr stand dieser Mann, so gut aussehend mit seinem graumelierten Haar, im eleganten Anzug mit einem blauen Hemd, das so gut zu seinen Augen passte. Mit ausgebreiteten Armen kam er auf sie zu. „Du meine nackte Katze“, flüsterte er samtweich. Seine Zungenspitze wühlte sich in ihr Ohr und jagte ihr einen Schauder über den Leib. Seine Hände strichen ihr den Rücken abwärts.

„Wir beide, wir werden das schaffen. Vertrau mir. Wir werden immer zusammen sein. Unser ganzes weiteres Leben.“ Er drückte sie noch einmal fest an sich. „Bis bald.“ Lächelnd griff er nach seinem Jackett und der Mappe und verschwand durch die Türe.

Sie schüttelte resigniert den Kopf. Er kann alles mit mir machen. Er kann wirklich alles mit mir machen.

Als sie im Bad die Dusche aufdrehte, atmete sie tief durch. Noch war nichts begonnen. Ein Plan war ein Plan.

 

 

3

Die Treppe passte jetzt eindeutig besser zu seiner Stimmung als der schwerfällige Aufzug. Vogelleicht fühlte er sich, als er die Stufen geradezu hinunterhüpfte. Er hatte das Zimmer für die Dauer der Tagung gebucht. Da morgen noch ein Tag mit Vorträgen und geselligem Beisammensein anstand, blieb er noch eine Nacht.

Anke hatte es etwas merkwürdig gefunden, wie sie mit einem ironischen Lächeln sagte, dass er ein Hotelzimmer in Stuttgart buchte, wo man doch in einer Stunde locker wieder nach Ulm zurückfahren konnte. Das mit der Geselligkeit und dem frühen Beginn der Tagung hatte sie dann doch überzeugt. Auf ihre Begleitung hatten weder er noch sie gesteigerten Wert gelegt.

„Finanzbeamte in großen Mengen, darauf kann ich verzichten. Und ich fühle mich auch noch nicht kräftig genug.“ Mit diesem endgültigen Satz war der Weg frei für sein Date mit Karoline.

Jetzt musste er sich beeilen, um rechtzeitig im Kongress-Center zu sein. Die anstehende Rede wollte er nicht versäumen. Immerhin war der Vortragende ein Freund. Ihn zu enttäuschen, das ging nicht.

Trotzdem schade, dass er nicht länger mit Karoline zusammen sein konnte. Immer diese Heimlichtuerei. Sie belog Rudolf und er Anke. Ach Anke, die wollte er jetzt gar nicht in seinem Kopf haben. Raus da, Anke! Aber das war leichter gesagt als getan.

 

Wie lange war das her, dass er mit seiner Frau, so wie jetzt mit Karoline ein so leidenschaftliches, wunderbares Gefühl gehabt hatte. Schon viel zu lange. Seine Laune sank mit jedem Schritt und mit jedem Gedanken an sie. Was war diese Anke damals für eine wunderbare Frau gewesen. Schön wie eine Göttin. So hatte er sie auch genannt. Meine Göttin. Einen Körper hatte sie gehabt! Und nicht nur das. Fröhlich war sie gewesen und ihr Charme hatte ihn schon beim ersten Treffen angezogen. Ihr unkomplizierter Umgang mit allem hatte ihm mächtig imponiert. Sie hatte einfach gewusst, was sie wollte. Und dass sie ihn gewollt hatte, hatte ihm geschmeichelt.

Die Ampel zeigte rot. Kurz schloss er die Augen und sah sie vor sich, damals als sie sich kennengelernt hatten. Ein dicker Mann rempelte ihn unsanft an.

„Grün“, rief er ihm im Vorbeihasten zu. „Grün!“

Ja, mach die Augen auf, Günther, sagte er zu sich selbst. Du brauchst dir keine Mühe mehr zu geben, es ist aus und vorbei. Deine Ehe ist am Ende.

 

Wie war das nur gekommen? Was war passiert, dass sie ihn so enttäuscht hatte. Bald nach der Geburt von Claudia war sie rund und runder geworden. Wie eine Dampfwalze, hatte er manchmal gedacht. Von Göttin keine Spur! Und das Kind war plötzlich das Wichtigste in ihrem Leben gewesen. Er hatte das Gefühl gehabt, nur noch das fünfte Rad am Wagen zu sein.

Schon in der Schwangerschaft hörte er nur noch Klagen. Es waren freudlose neun Monate gewesen und er war mehr als einmal aus dem Haus geflohen.

Und jetzt diese schwere Krankheit. Abgenommen hatte sie ja, aber dieses ewige Gejammer, er konnte es nicht mehr hören. So unansehnlich wie sie war, brachte er es kaum über sich, sie zu trösten. Es kostete ihn große Überwindung, sie blass wie ein Fisch in ihrem Krankenbett liegen zu sehen. Wenigstens hatte sie aufgehört, ihn ständig zu überwachen und ihm Szene um Szene hinzulegen. Dabei hätte sie jetzt tatsächlich Grund dazu.

Du meine Güte, was hatten sie sich die Jahre über gefetzt. Wie oft hatte Claudia gerufen: Hört auf zu streiten.

Sicher, es war besser geworden mit ihr. Schon als sie diese Frauenakademie angefangen hatte, war etwas Ruhe eingekehrt. Claudia war ja schon bald nach dem Abi nach Hamburg gezogen. Weg, nur weg von diesen schrecklichen Eltern, die im Dauerzwist lagen. Er konnte es ihr nicht verdenken.

Weshalb er bei Anke geblieben war? Es war wohl Gewohnheit. Das wunderschöne, alte Haus auf dem Michelsberg, die Annehmlichkeiten des Alltags. Ja, er gestand es sich ein, auch das Gefühl, reich zu sein. Reich durch ihr Vermögen. Außerdem wollte er das geliebte Kind, seine Claudia, aufwachsen sehen.

Seit einiger Zeit hielt ihn auch das Gefühl, seine kranke Frau nicht verlassen zu können. Er konnte doch auf ein Unglück nicht noch eines draufsetzen. Er war doch kein Unmensch. Aber damit war jetzt ziemlich bald Schluss. Es reichte.

Jetzt war Anke wieder zu Hause und inzwischen auch schon ganz guter Dinge. Mit ihren Freundinnen konnte sie schon wieder die längsten Gespräche führen. Na, dann ließ sie wenigstens ihn in Ruhe.

 

Die Sache mit Karoline hatte sich ja wunderbar entwickelt. Schön, dass er sie hatte. Immer noch straff und jugendlich. Sie hielt sich fit, das gefiel ihm. Und ihre Lebenslust, ihr Lachen und ihre Geschichten, die sie immer wieder erlebte und die sie mit ihm teilte.

 

Er fühlte sich jung und begehrt, als er die Stufen zum Eingang hinaufeilte. Die Empfangsdame hielt ihm die hohe Eingangstüre auf und begrüßte ihn freundlich. Das Foyer war fast leer. Jetzt hieß es, sich leise in den Saal zu schmuggeln.

Es ging um die Beschaffung von Steuerdateien, die den Landesregierungen in der letzten Zeit immer wieder auf dubiose Weise angeboten wurden. Freddy saß in der vorletzten Reihe und hatte ihm einen Platz neben sich freigehalten.

„Na, wie war sie?“, fragte er leise und anzüglich grinsend.

„Großartig wie immer“, murmelte Günther zurück. Eigentlich ärgerte er sich über den Freund. Seit er ihm in einer schwachen Stunde von seiner Affäre mit Karoline erzählt hatte, war dieser immer auf Einzelheiten aus. Aber so hatte er das damals nicht gemeint, dass sie jetzt zu zweit eine Geliebte hätten. Er in Fleisch und Blut und Freddy in blumigen, detaillierten Erzählungen. Vielleicht sollte er die Sache beenden, für Freddy wenigstens. Aber den sah er höchstens einmal im Jahr auf einer Tagung. Karoline dagegen wollte er bald immer um sich haben. Aber auch diesen schönen Gedanken schob er beiseite und konzentrierte sich auf Steuersünder im Einzelnen und im Besonderen.

 

4

Sie mochte dieses Stuttgart nicht besonders. Allerdings kannte sie es auch kaum. Die schwäbische Mentalität lag ihr nicht besonders. Dieses Jetzedle und Sodele. Sie war im Ruhrpott groß geworden. Richtig jung war sie noch gewesen, als sie ihre Arbeit ins Schwabenland verschlagen hatte. Das kleinere Ulm war ihr lieber. Hier kannte man sich und man kannte sich nicht. Heimatliche Gefühle konnte sie an sich allerdings auch hier keine entdecken.

Sie eilte mit ihrem Handköfferchen Richtung Hauptbahnhof. Eigentlich hätte ihr die Handtasche ausgereicht. Sie war geräumig und bot für einen Slip und einen BH genug Platz. Aber sie brauchte immer möglichst viele Dinge um sich. Rudolf neckte sie damit, seit sie sich kannten. Vor einiger Zeit hatte er sogar von einer Sucht gesprochen, einer Obsession. Er musste sich ja auch gewählt ausdrücken, er war ja schließlich nicht nur gewesener Oberstudiendirektor, sondern auch Schriftsteller. Mindestens nannte er sich so.

 

Er hatte es ja nie kennengelernt, wie es war, wenn Dinge zur Neige gingen, die man dringend brauchte und die man mangels Finanzen nicht ersetzen konnte. Widersprechen konnte sie ihm allerdings nicht. Ihr Bedürfnis nach Sicherheit war riesig. Deshalb war sie auch über sich selbst erstaunt, als ihr bewusst wurde, was eine Scheidung für sie bedeutete. Und trotzdem hatte sie schon vor längerer Zeit geplant, endlich mit Rudolf darüber zu reden. Irgendwann, nicht sofort. Erst musste Günther alles klar- machen.

Auch das Risiko, das sie durch ihr Verhältnis zu Günther einging, war ihr ein Rätsel. Liebe hin oder her. Es war ja keineswegs so, dass Günther in einer vorteilhaften Lage wäre, wenn er erst geschieden wäre. Sie selbst übrigens auch nicht. Die Finanzen waren keineswegs geklärt. Sie selbst würde sicher mit ziemlich leeren Händen dastehen. Es gab da diesen Ehevertrag, den Rudolf trotz aller Verliebtheit damals aufgesetzt hatte. Sie hatte sich nicht viel dabei gedacht. Jetzt aus heiterem Himmel nachzufragen, was dort genau festgelegt war, wäre sicher etwas merkwürdig. Sie musste sich deshalb auf Günther verlassen können.

Während sie die Königstraße entlangeilte, überlegte sie, ob es auch deshalb so lange gedauert hatte, dass sie beide sich endlich nähergekommen waren. In Flammen gestanden hatten sie ja schon lange.

 

Genervt kämpfte sie sich durch die Menschenmenge vor dem Hauptbahnhof. Schon wieder überschwemmten diese sogenannten Wutbürger die Straße vor dem Bahnhofsgebäude und versperrten den Zugang. Sie wusste wohl, um was es dabei ging. Ihr überkorrekter Mann, Rudolf, hatte diese Leute als Schmeißfliegen tituliert. Er fand es unerträglich, dass sie sich nicht, wie er sagte, an Abmachungen hielten und immerfort ihren Willen lautstark herausschrien. Dabei war es ihm ziemlich egal, dass es sich dabei nicht immer um die sogenannten Berufsdemonstranten handelte. Wenn sie sich umschaute, sah sie vom jungen Irokesenschnitt bis zum Tirolerhut alles auf den Beinen. Eine bunte Mischung! Wenn Rudolf sich so sehr echauffierte, konnte es sich eigentlich um keine schlechte Sache handeln, derentwegen die Leute ihre Zeit und ihr Geld hier einsetzten und sich die Beine in den Bauch standen.

Ihr war das im Augenblick alles ziemlich egal, Bahnhof oder nicht. Sie freute sich, dass sie mit der Bahn fahren konnte, relativ schnell, sicher und meist auch pünktlich. Sie musste sich beeilen, um den Zug um 20 Uhr noch zu erreichen. Sie nahm den ICE nach München und hoffte darauf, dass er keine Verspätung hatte.

Glück gehabt. Den Fensterplatz hatte ein Reisender eben frei gemacht. Der nette junge Mann daneben war ihr beim Verstauen des Köfferchens behilflich. Schön, dass manche Männer so angenehm rochen. Günther roch auch so unglaublich gut.

Rudolf würde sich sicher fragen, wo sie heute so lange blieb. Aber er fragte sich das ja schon seit einiger Zeit. Was er wohl sagen würde, wenn sie ihm ihre Scheidungspläne unter die Nase hielt.

Du meine Güte, musste der Mann vor ihr so fürchterlich schnarchen. Und dann auch noch hin und wieder lautstark nach Luft schnappen. Rudolf schnarchte auch. Lange hatte sie schon getrennte Schlafzimmer vorgeschlagen, aber er hatte das entrüstet von sich gewiesen. Sie waren verheiratet und da schlief man in einem Bett und basta. Es gab inzwischen ziemlich viele Bastas in ihrer Ehe.

Na, lange würde sie das nicht mehr mitmachen, obwohl er sie nachts in Ruhe ließ. Anfänglich hatte er noch einiges versucht, aber ihr abweisendes Grummeln und ihr demonstratives Schulterzeigen hatten ihn wohl davon überzeugt, dass es damit zu Ende war. Wer weiß, vielleicht fühlte er sich dadurch ja entlastet. Immerhin war er gute zwanzig Jahre älter als sie. Was soll´s, dachte sie zufrieden, es geht doch auch so.

Als sie die Augen schloss, stand wieder Günther vor ihr, nackt und sportlich und so unglaublich gut aussehend. Sie musste wohl geseufzt haben, denn der junge Mann neben ihr fasste sie leicht am Arm und fragte ob ihr nicht gut sei. Peinlich so etwas! Und wie gut es ihr war, das konnte sie ihm gar nicht sagen.

 

Vor zwanzig Jahren hatte Rudolf auch noch so gut gerochen. Über zwanzig Jahre waren sie nun schon zusammen, Rudolf und sie. Sie hatte ihn auf der Massageliege kennengelernt. Auf einen wohlhabenden Mann hatte sie schon immer gewartet und er war eine leichte Beute gewesen. Seine Frau hatte er schnell abserviert gehabt. Großzügig wie er war, ließ er es ihr an nichts fehlen. Nur auf ihn selbst musste sie verzichten und natürlich auch auf viele gesellschaftliche Anlässe, bei denen sie geglänzt hatte. Schön, dass er sie selbst aus all den unerfreulichen Diskussionen und amtlichen Erfordernissen einer Scheidung herausgehalten hatte.

Als er dann vor ihr stand, blitzblank, wie er sagte und sie anstrahlte, konnte es nur eine neue Hochzeit geben. Klein, aber oho! Sie war damals einfach ins kalte Wasser gesprungen, wie man so sagte. Aber, um ehrlich zu sein, dieses Wasser war alles andere als kalt, es war sehr schön temperiert, was den Sex, und ziemlich heiß, was ihren neuen Lebensstil anging. Wie hatte sie es anfangs genossen, mit diesem charmanten Mann an ihrer Seite zu glänzen. Er hatte sie verwöhnt wie noch niemand zuvor. Kleider, Schmuck, Autos, alles was sie wollte. Er hatte allerdings darauf bestanden, dass sie ihren Job bei Physio-Ost aufgab. Probleme hatte sie damit nicht gehabt. Geld auszugeben war angenehmer, als es zu verdienen. Und es war genug da, wie Rudolf immer betonte. Als einziger Sohn einer Möbelfirma hatte er die Firma zwar nicht übernommen, aber nach deren Verkauf doch ein ordentliches Vermögen geerbt. Er war auch mit seiner ersten Frau Irene kinderlos geblieben, verdiente als Oberstudiendirektor ein gutes Gehalt und so hatte sich das Kapital immer weiter vermehrt. Seine Frau solle nicht arbeiten, das hatte sie nicht nötig, das wollte er nicht.

Mit Wolfgang war sie nicht verheiratet gewesen. Da ging es ruck-zuck: Auseinandersetzung, Packen, Auszug. War ohnehin schon ziemlich am Ende diese Beziehung. Sie hatten sich zwar nicht oft gestritten, aber jeder war seiner Wege gegangen. Da wurde es Zeit für etwas Neues, Aufregendes und das kam überraschend mit Rudolf in ihr Leben.

 

Durch ihn hatte sie dann viele neue Freunde und Bekannte gefunden. Allerdings waren es eigentlich doch eher die seinigen. Sie kannten sich ja teilweise über mehrere Jahrzehnte. Wenn sie genau überlegte, musste sie sich eingestehen, dass seine Freunde sie nie ganz akzeptiert hatten. Das zeigte sich an ihrem oft sehr herablassenden Verhalten. Sie kam eben aus keinem guten Stall und war außerdem diejenige, die Rudolfs Frau verdrängt hatte. Das sahen vor allem die Frauen nicht sehr gerne. Rudolfs Freunde fanden es zwar amüsant, eine junge Frau in ihrem Kreis zu haben, aber auf ihre Ställe legten sie eben doch großen Wert, das hatte sie bald bemerkt. Vielleicht lachte sie ihnen auch einfach zu laut. Auf diese angeheirateten Freunde konnte sie gerne verzichten.

Zu einer möglichen Scheidung hatte sie sich schon einige Überlegungen gemacht. Die Freunde waren das eine, das andere die gesellschaftlichen Anlässe und Verpflichtungen, zu denen sie gerne ging. Diese Auftritte würden ihr sicher fehlen.

Gerechnet hatte sie auch. Sie würde ziemlich mittellos dastehen. Aber was hieß schon mittellos? Arm wäre sie natürlich nicht, da hatte sie vorgesorgt. Einige Konten liefen auf sie. Aber den momentanen Lebensstil, den konnte sie nur beibehalten, wenn Günther auch seinen Teil dazu beitrug. Die Villa wäre natürlich futsch. Sie hatte sich schon damit abgefunden, dass sie mit Günther zusammen in eine andere Stadt ziehen müsste. Oder aufs Land. Vor ihren Augen tauchte das Haus in der Toskana auf. Sie hatte es zusammen mit Rudolf ausgesucht. So etwas müsste es sein, ihr neues Domizil, hell und weitläufig mit einem großen Grundstück.

Vorerst ging das noch nicht. Günther arbeitete noch und konnte frühestens in vier Jahren in den Vorruhestand gehen.

Der neue Plan kam ihr wieder in den Sinn. Er hatte es ernst gemeint. Er war davon überzeugt, dass seine Frau die Scheidung nicht überleben würde. Aber das andere überlebte sie doch auch nicht. Er sprach davon, dass es leichter für sie wäre, nichts von ihrem Verhältnis zu erfahren und friedlich in den Tod zu gehen. Und der Tod war möglicherweise nur eine Frage der Zeit für Anke. Was dieser Günther sich immer ausdachte! Fantasie hatte er ja.

Und was sollte mit Rudolf sein? Auch friedlich und ohne etwas von uns zu wissen? Natürlich wäre es besser, die trauernde Witwe zu spielen, als die Böse, die ihren Mann im Stich lässt. Und das Finanzielle war auch nicht...

 

Oh je, fast hätte sie es überhört. Sie waren schon fast angekommen. Nett dieser junge Mann, höflich und hilfsbereit. Ein schönes Lächeln hat er. Wer weiß, vielleicht findet er mich sogar attraktiv. Oder hilft er hier etwa einer älteren Dame mit ihrem Gepäck? Ach was, so alt bin ich nun auch wieder nicht!

 

Karoline stand unschlüssig auf dem Bahnsteig. Sollte sie gleich über die Fußgängerbrücke zu ihrem Auto gehen? Sie entschied sich trotz des Köfferchens noch für einen Bummel durch die Innenstadt. Die Geschäfte hatten schon geschlossen, aber die Stadt war voller Leben. Langsam bummelte sie an den Schaufenstern vorbei Richtung Neue Mitte. In der Museums-Bar beim Rathaus war sie schon öfter gewesen und wurde vom Kellner freundlich begrüßt. Gut, dass sie kein bekanntes Gesicht entdeckte. Sie wollte noch etwas dem Nachmittag nachspüren. Solche Sommerabende waren selten und sie liebte es, im Freien zu sitzen. Sie entschied sich für einen Sprizz, der wunderschön orangerot im Glas leuchtete. Mit Getränken zu diesen Preisen wäre nach einer Scheidung allerdings auch Schluss.

Immer wieder drängte sich Günther mit seinem Vorschlag in ihre Gedanken. Eigentlich wollte sie sich nicht damit befassen. Das musste noch ordentlich überlegt sein. Wenn ja, dann gehörte auch das Wann und Wo festgelegt. Und die möglichen Folgen mussten abgeschätzt werden. So ins Blaue hinein ließ sie sich nicht auf eine so riskante Sache ein.

Und doch war die Aussicht, immer mit Günther zusammen zu sein, sehr verlockend. Geld hätten sie dann auch. Im Überfluss sogar, wenn sie beide ihre Bestände zusammenlegten.

 

Sie verzichtete auf ein weiteres Getränk, sie musste noch fahren. Die Fußgängerzone hatte sich jetzt schon geleert, nur vor wenigen Cafés saßen noch abendliche Bummler. Auch am Bahnhof hatte sich die Hektik gelegt. Neben dem Abgang zur Rolltreppe lagen noch einige Punks friedlich mit ihren Hunden. Erfreulich, dass es diese Fußgängerbrücke über die Gleise gab. Schade nur, dass immer alles so verschmutzt war.

Es war ein wunderbarer, leidenschaftlicher Nachmittag gewesen, aber jetzt war sie doch ziemlich müde. Eilig zog sie ihr Köfferchen hinter sich her. Sie war froh, bald nach Hause zu kommen. Schnell zum Auto! Aber wo war der BMW? Sie lief die Reihe der geparkten Wagen entlang. Kein BMW dabei. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie blieb stehen und dachte nach. Wie war sie heute Vormittag gefahren. Sie ging in Gedanken alle Straßen durch, die sie passiert hatte, und landete hier. Genau hier. Hier hatte sie das Auto abgestellt. Das konnte doch nicht sein. Panik ergriff sie. Sie lief die Straße noch einmal entlang. Und jetzt entdeckte sie das Schild. Oh nein, Halteverbot, und zwar absolutes Halteverbot. Und sie hatte sich gefreut, so einen geschickten Parkplatz zu finden. In ihrer Vorfreude auf das Treffen mit Günther war alles andere unwichtig gewesen.

Sollte sie Rudolf anrufen? Es war inzwischen fast elf Uhr geworden. Nein, den Gefallen tat sie ihm nicht. Also zurück. Über die Brücke, zum Taxi oder zum Bus. Mit dem Bus konnte sie auch fast bis vor die Haustüre fahren. Wenn sie Glück hatte, war Rudolf schon schlafen gegangen.

 

5

Das Haus lag fast im Dunkeln. Aber nur fast. Als Karoline in ihrer Handtasche nach den Schlüsseln kramte, ging die Türe auf.

„Wie von Zauberhand!“ Karoline wich zurück.

„Ich finde das nicht lustig!“ Rudolf stand in der Türe, als wollte er ihr den Eintritt verwehren. „Wo kommst du jetzt eigentlich her? Und erzähl mir nicht, du seist mit Anke unterwegs gewesen!“