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Dave MacLeod

9 VON 10

KLETTERERN

MACHEN DIE

GLEICHEN FEHLER

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Sicherheit und Eigenverantwortung

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Für Fragen und Anregungen:

www.rivaverlag.de

Für Claire

Dieses Buch richtet sich an alle, die bereit sind, ihre Klettergewohnheiten zu hinterfragen und zu verändern.

Inhaltsverzeichnis

Einführung

Auf dem Holzweg

Teil 1 Gewohnheitstiere

In den Grundlagen stecken geblieben

Die wichtigste Erkenntnis

Die wichtigste Veränderung

Scheitern, um Erfolg zu haben

Hätte ich bloß damals gewusst, was ich heute weiß

Ist das peinlich?!

Ist dieser Grad gut oder nicht?

Die erste Generation war die freieste

Ganz von vorn anfangen

Die Wahrheit über bekannte Klettergrößen

Kenne den Feind: deine Vorlieben

Nicht stecken bleiben

Gewohnheitstiere

Teil 2 Die großen vier: Bewegungstechnik, Fingerkraft, Ausdauer, Körpergewicht

Die wichtigste Lehre aus der Sportwissenschaft

Die Gesetze lassen sich nicht brechen

Technik lernen

Aufnehmen, abspielen, analysieren

Aber niemand macht doch Drills, oder?

Die Elemente der Klettertechnik

Die Notwendigkeit des dynamischen Kletterns

Die Varianten dynamischer Züge

Streitthema Körpergröße

Mehr als nur auf den Füßen stehen

Zwei gewöhnungsbedürftige Techniken

Je präziser, desto besser

Die Griffe größer machen

Kraft ist nicht alles

Bouldern ist die Nummer eins

Aber ich bouldere nicht gern!

Bouldern, um stark zu werden – oder anzugeben

Griffbrettfanatiker

Eine gute Bouldersession besteht aus …

Regeln für das Griffbretttraining

Aufstellen oder nicht?

Die Phänomene Haston und Oddo verstehen

Die Körpertypen von Ondra und Sharma verstehen

Wie leicht muss ich sein?

Wie kann man ohne zu leiden abnehmen?

Die wichtigsten Schritte zur Gewichtskontrolle für Kletterer

Wer braucht Hanteltraining, um schwer zu klettern?

Für die Hageren

Für den Muskelprotz

Für die Großen

Für die kleinen Glückspilze

Die Schuhe müssen passen

Campusboarding tut fast jedem weh

Beim Klettern spielt das Herz-Kreislauf-System keine große Rolle

Wie sieht die Ausdauer beim Klettern aus?

Kraftausdauertraining für Kletterer

Ermüdungssymptome verstehen

Regeln für das Kraftausdauertraining

Teil 3 Sturzangst: für viele das Hauptproblem

Der einzige Weg

Die Sturztechnik

Sturztraining in der Halle

Sturztraining in Sportkletterrouten

Stürze regelmäßig ins Training einbauen

Sturztraining in selbst abzusichernden Routen

Wenn ein Sturz vermieden werden muss

Teil 4 Die anderen großen vier: Einstellung, Lebensstil, Umstände, Taktik

Ich bin noch klein, füttere mich!

Warum viele Jugendliche wieder von der Bildfläche verschwinden

Der Irrglaube »Das kann ich nicht«

Zu alt zum Lernen?

Um Zeit zu finden, nutze die Zeit effizienter

Wie viel Leistungswillen hast du wirklich?

Taktik ist wichtiger als Training

Die Bedeutung des Aufwärmens

Die Aufmerksamkeit steuern

Die Psyche in den Griff kriegen

Wer will schon, dass es ganz leicht geht?

Immer genug Haut auf den Fingern

Wie wichtig ist Beweglichkeit wirklich?

Teil 5 Was nun? Den Fortschritt planen

Denke in Kurven statt in Geraden

Trau dich, und spring von dem Plateau

Das Trainingspensum: Wie viel ist machbar?

Zu viel oder zu wenig Regeneration?

Trainingspensum für Kinder und Jugendliche

Trainingspensum für Studenten

Klettern als Familien-/Karrieremensch

Der Möchtegern-Profi

Der desillusionierte Kletterer

Gleiche Routine, gleiche Ergebnisse

Gewohnheiten zu ändern, ist mühsam

Regeln für den Trainingstag

Regeln für die Trainingssaison

Jährliche Ruhe- und Erholungsphasen

Zusammenfassung

Danksagung

Über den Autor

Einführung

Wer schwerer klettern möchte, muss das Rad nicht neu erfinden. Er sollte vielmehr seine bereits vorhandenen Anlagen richtig nutzen. Jeder verfügt über das Potenzial, sein derzeitiges Leistungsniveau noch zu übertreffen, oft sogar in einem Ausmaß, von dem er kaum zu träumen wagt.

Jeder hat Zeit, seine Kletterfähigkeiten zu verbessern. Jeder hat auch Zugang zu gewissen Einrichtungen, um das Klettern zu trainieren, oder die Möglichkeit, die verfügbaren Einrichtungen (Kletter-/Boulderhallen, Naturfels oder andere Trainingseinrichtungen) effektiver zu nutzen, sodass er seine Kletterfähigkeiten steigern kann.

Grund dafür ist in erster Linie, dass sich Fortschritte beim Klettern schon mit relativ geringem Aufwand erreichen lassen, sobald einmal die richtigen Entscheidungen getroffen und eine positive Einstellung gewonnen wurden. Zweitens werden die wenigsten Kletterer durch mangelnde Mittel oder Möglichkeiten daran gehindert, besser zu werden. Sie halten sich vielmehr selbst davon ab, weil sie die verfügbaren Klettereinrichtungen und die für das Klettern zur Verfügung stehende Zeit und Energie nicht richtig zu nutzen wissen. Wirklich interessant dabei ist, dass nahezu alle Kletterer die gleichen Fehler machen.

In diesem Buch versuche ich, möglichst viele dieser Fehler vorzustellen und dir, lieber Leser, den Weg zu ungeahnten Verbesserungen aufzuzeigen.

Auf dem Holzweg

Das Umschlagbild dieses Buches ist ein Sinnbild für die Frustration vieler Kletterer, die schon mehrfach versucht haben, besser zu klettern. Sie haben jahrein, jahraus viele Stunden lang trainiert. Sie haben sich tapfer durch monotone Einheiten der jeweils für nötig erachteten Trainingselemente gebissen. Einige haben immer mehr Muskelkraft aufgebaut, andere sich durch immer mehr Routen oder Wettkämpfe gekämpft, und andere wiederum haben eine längere Auszeit vom Alltag genommen, um angemessen trainieren zu können. Aber die Ergebnisse sind ausgeblieben! Nun denken sie: »Ich habe so viel Zeit und Schweiß investiert, und wo bleibt der Lohn für all die Mühe?«

Wenn ein solcher Kletterer mich als Coach nach einer Antwort fragt, ist es natürlich hart von mir, ihm ins Gesicht zu sagen, dass er auf dem Holzweg war. Denn ein paar dickere Muskelfasern bringen keinen großen Leistungssprung. Zusätzliche Trainingsstunden an dem immer gleichen Griffbrett liefern nur einen Bruchteil des Ertrags wie zu Beginn dieses Trainings. Andererseits nimmt meine Antwort vielen auch eine große Last von den Schultern. Ja, sie mögen bei Vorbereitung und Training Zeit und Mühe »verschwendet« haben, aber sie sind mit diesem Problem nicht allein. Niemand hat eine perfekte Vorbereitung, nicht einmal die Spitzenleute. Wenn jemand beim Klettern lange Zeit immer den gleichen Bereich trainiert hat und ein Coach ihm dann eine neue Möglichkeit des Trainings aufzeigt, kommt ihm das in diesem einen Bereich aufgebaute Können (zum Beispiel Fingerkraft für kleine Leisten oder Blockierkraft) insgesamt durchaus sehr zugute.

Wer die Gelegenheit bekommt zu erkennen, was er alles falsch gemacht hat, kann sich glücklich schätzen: Erstens, weil nicht jeder dieses Glück hat. Zweitens, weil er nun anfangen kann, an den tatsächlichen Schwächen zu arbeiten … und dann endlich den verdienten Lohn erhalten wird.

Das Bild des unzufriedenen Gorillas illustriert einen der häufigsten Blickwinkel, aus dem heraus Kletterer ihr Training betrachten: Kraftzuwachs. Wer einige Zeit (vielleicht sogar Jahre) sein Training an diesem Kraftaspekt ausgerichtet hat, ist für seine derzeitigen Projekte sicherlich stark genug. Aber es ist schwer, ihn davon zu überzeugen, nach neuen Möglichkeiten zu suchen. Meist wollen die Betroffenen nicht wahrhaben, dass ihre Leistungsstagnation nicht Ursache von »zu wenig Kraft« ist. Ich nehme in diesem Buch kein Blatt vor den Mund und hoffe, dass du mir dies verzeihst. Ich möchte, dass mein Buch dir wirklich dabei hilft, besser zu klettern, und das erfordert in der Regel, dass jahrelang festgefahrene Vorstellungen mit einem Vorschlaghammer bearbeitet werden müssen. Da hilft kein Kuschelkurs. Wenn ich jemanden persönlich am Fels coache, kann ich ihm genau zeigen, wie sich eine Bewegung unter verschiedenen technischen Aspekten, die nichts mit Kraft zu tun haben, verändert und plötzlich funktioniert. Um dich aber allein mit Worten dazu zu bringen, dass du all deine unterschiedlichen Möglichkeiten für eine Verbesserung im Klettern tatsächlich unter die Lupe nimmst, muss ich sehr deutlich werden.

Teil 1

Gewohnheitstiere

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In den Grundlagen stecken geblieben

Mittlerweile 16 Jahre lange habe ich andere Kletterer aufmerksam beobachtet. Ich habe mir angeschaut, wie sie klettern, ihnen zugehört, was sie über das Klettern erzählen, und verfolgt, was sie probiert haben, um sich zu verbessern. Ich habe miterlebt, wie blutige Anfänger sich zu Weltklasseathleten entwickelten, aber auch, wie extrem talentierte Hoffnungsträger kläglich gescheitert sind und das Klettern aufgegeben haben.

Mit diesen Beobachtungen wollte ich aus ihren Fehlern lernen, um selbst besser zu klettern. Nebenbei habe ich durch meine Tätigkeit als Klettercoach mein Wissen auch an andere Kletterer – im persönlichen Gespräch oder über meinen Internetblog – weitergegeben. Indem ich während der letzten fünf Jahre Kletterer persönlich beraten habe, habe ich viel über die Hürden gelernt, die einem Fortschritt im Weg stehen. Allerdings konnte ich sie nun nicht mehr nur beobachten, sondern auch zu all ihren Erfahrungen, Einstellungen, Alltagsaktivitäten und allen anderen Dingen befragen, die bislang ihre Entwicklung als Kletterer geprägt hatten.

All diese Erfahrungen haben mir mit zunehmender Sicherheit eine Tatsache immer deutlicher vor Augen geführt, und das ist die zentrale Botschaft dieses Buches: Kletterer bleiben an den Grundlagen hängen und verlieren sich in Nebensächlichkeiten.

Unser Verständnis von Kletterleistung hat sich etwa wie folgt entwickelt: Anfangs gab es fast keine Informationen über das Klettern, und man hat sich begierig auf jeden nur denkbaren Wissensbrocken der damaligen Klettergrößen gestürzt. Die ersten Lehrbücher zum Klettern enthielten Fallbeispiele der besten Kletterer der damaligen Zeit, und die waren alle sehr unterschiedlich. Manche hatten erkannt, dass geringes Körpergewicht ein Vorteil war, und aßen kaum Fett. Andere hatten eingesehen, dass Kraft ein Vorteil war, und machten viel Krafttraining. Alles war ein Stochern im Dunkeln. Der beste Kletterer dieser Zeit, der Engländer Jerry Moffatt, fand heraus, dass systematisches Bouldern eine sehr effiziente Möglichkeit war, stark zu werden und schwerere Routen zu klettern, und so war er allen anderen eine Zeit lang voraus, bis auch sie das gleiche machten. Mit derart wenig untersuchten Variablen ließ sich unmöglich ein klares Bild von dem erhalten, worauf es ankam. Das ging erst im Nachhinein.

Heute ist das Problem komplett anders gelagert. Es gibt Tausende von Übungen, Vorgehensweisen und Trainingsplänen, wie man angeblich besser klettern kann. Die Frage dabei ist weniger, was man tun soll, als vielmehr, was man nicht tun soll. Jeder Mensch hat unterschiedliche Voraussetzungen, Erfahrungen und Lebensumstände, und es wird immer schwieriger, die Informationsflut sinnvoll zu verwerten.

Was passiert also? Die meisten Kletterer verlieren sich in Einzelheiten. Vielleicht hilft ihnen ja ein Campusboard oder Hanteltraining oder Unterarmkraft oder ein Eiweißpülverchen? Der Kletterer lässt sich auf Experimente ein, während der er irgendeinen nebensächlichen Faktor für eine viel zu kurze Zeit ausprobiert, als dass er Wirkung zeigen könnte. Am Ende ist der Kletterer über das ausbleibende Ergebnis frustriert und versucht etwas Neues. Sein Vertrauen in die Tauglichkeit von Ratschlägen ist gering, und er gibt ihnen zudem keine Chance, sich überhaupt zu bewähren.

Die Trainingsmethoden und -aktivitäten, die in Sportarten wie dem Klettern in Mode kommen, sind in der Tat oft fragwürdig. In bekannteren Sportarten, in denen mehr Geld fließt, sind sowohl die wissenschaftliche Forschung als auch die Ausbildung der Trainer deutlich fundierter. In Randsportarten hingegen besteht die jeweils anerkannte Lehrmeinung aus einer Mischung von überkommenen Überlieferungen dessen, was die Größen des Sports getan haben oder tun, und einigen aus anderen Sportarten angepassten Techniken. An diesem Punkt steht zurzeit der Klettersport. Neue Ideen, Methoden und Erkenntnisse hinsichtlich der Kletterabläufe entwickeln sich rasant, und es blieb bislang noch nicht genug Zeit, die Spreu vom Weizen zu trennen und die nützlichen Dinge in einen passenden und sinnvollen Zusammenhang zu stellen. Die beste Strategie für Kletterer, die keinen Coach haben, besteht also darin zu versuchen, die Elemente, die den Klettersport ausmachen, von der Pike auf zu lernen. Nur so können Kletterer später die richtigen Entscheidungen treffen und sich verbessern.

Indem sie aber in einem Meer von Einzelheiten, Tipps und Ratschlägen versinken, verlieren die meisten Kletterer die Grundlagen aus den Augen. Fast jeder bleibt in ein oder zwei wesentlichen Gedankenfallen stecken, die er sich im Laufe seiner Entwicklung durch schlechte Gewohnheiten selbst gestellt hat. Da ist meist ein guter Trainer nötig, um diese Fehler zu entlarven und den Kletterern einen verlässlichen Weg zu neuen Verbesserungen zu eröffnen. Dein Kletterpartner wird dir nie sagen, dass Sturzangst das Problem ist, das dich ausbremst – denn vielleicht hast du das Klettern ja sogar von ihm gelernt? Die Chancen zu erkennen, worin das eigentliche Problem besteht, stehen ohne einen unabhängigen Coach extrem schlecht, es sei denn, man startet einen Frontalangriff auf die eigenen lieb gewonnenen Ansichten.

Diese Hauptfehler, die einen von besserem Klettern abhalten, sind in keinem herkömmlichen Kletterlehrbuch zu finden. Solche Lehrbücher und Artikel sind einfach nicht darauf ausgelegt, diese Fehler auszumachen. Sie listen vielmehr alle Möglichkeiten auf, die der Leser dann ausprobieren kann.

Das vorliegende Buch wählt einen anderen Ansatz. Ich werde ständig auf die Fehler und Irrwege hinweisen, die einem Kletterer auf seinem Weg zur Perfektion begegnen und denen fast alle Kletterer auf den Leim gehen. Nutze dies als einen Spiegel – welche Fehler machst du? Ich vermute mal, dass du sie zwar siehst, aber nicht akzeptieren magst. Es ist verdammt schwer, eine Gewohnheit zu ändern – wie etwa das ständige Vermeiden eines Sturzes. Es fühlt sich am Anfang so falsch an. Statt das eigentliche Problem anzugehen, suchen sich die meisten lieber etwas anderes, das sie leichter ändern können. Das funktioniert aber nicht. Die einzige Alternative zur kurzfristigen Unannehmlichkeit, eine schlechte Gewohnheit abzustellen, besteht darin, auf Dauer keine Fortschritte zu machen. Wenn du deine Hauptfehler erkennst und den Mut hast, sie zu beseitigen, können sich die verschiedenen Aspekte des Klettersports plötzlich wie bei einem Puzzle zusammenfügen. Du hast die Wahl.

 

Die wichtigste Erkenntnis

… ist, dass jeder Aspekt deines Lebens auch ganz anders aussehen könnte. Klingt vielleicht erschreckend. In der Tat besteht eine der größten Schwierigkeiten beim Coaching von Kletterern, vor allem von denjenigen, die langfristig deutliche Verbesserungen erzielen wollen, darin, sie dazu zu bringen, dass sie es überhaupt in Betracht ziehen, Änderungen in ihrem Leben, egal welcher Art, tatsächlich vorzunehmen. Sie haben zu viel Angst davor. Der Mensch ist darauf getrimmt, sich gegen das Unbekannte zu wehren und es wann immer möglich zu vermeiden. Wenn jemand mit dem Klettern anfängt, fühlt sich alles schön und leicht an. Es gibt nichts zu verlieren. Zusammen mit Gleichgesinnten aus der Schule, dem Alpenverein oder einem Kletterkurs geht es am Wochenende in den nächsten Klettergarten, man sieht und lernt jedes Mal etwas Neues – ein neues Gebiet, eine neue Klettertechnik oder was auch immer. Man verbringt viel Zeit an Felsund Plastikgriffen und lernt, bei dieser bestimmten Wandneigung oder -struktur zunehmend besser zu klettern. Der Lohn für diese konzentrierten Maßnahmen: ein gutes Gefühl. Aber irgendwann erreichen die Fortschritte an dieser Art von Wand/Felstyp/Neigung ein Plateau, und es wird langweilig.

Dann wird nach einer Möglichkeit gesucht, dieses Leistungsplateau zu überwinden. Aber natürlich lässt sich nicht alles sofort ändern – und erstmals geht es darum, etwas zu opfern. Wer etwas Neues versucht wie Bouldern oder stark überhängende Routen, ist darin zunächst ziemlich schlecht. Wie peinlich! Schlimmer noch: Er riskiert, auch in den vertrauten Bereichen, in denen er sich so wohlfühlt und gut ist, womöglich schlechter zu werden.

Auf diese Weise tappen die meisten Kletterer in die Falle. Das ist natürlich und menschlich. Verlustangst, egal wie gering der Verlust sein könnte, wiegt für uns schwerer als die Verlockungen der Vorzüge, die sich bieten, wenn wir etwas Neues mit ungewisser Erfolgsquote probieren. Dabei geht es oft auch mit der Moral bergab. Die meisten Kletterer vertuschen sie allerdings gut, sagen, dass sie nun mal nicht dafür gemacht sind, schwer zu klettern, oder schieben die ausbleibenden Fortschritte auf einen Mangel an Zeit oder eine Verletzung. Andere machen aus reiner Gewohnheit einfach weiter wie bisher, bis sie wegen veränderter Umstände vorübergehend gar nicht mehr zum Klettern kommen und womöglich auch nie wieder den Weg zurück finden.

Diese Verlustangst ist die erste und größte Hürde, die es zu überwinden gilt, um ein besserer Kletterer zu werden. Je länger jemand klettert und je stärker seine Gewohnheiten verwurzelt sind, desto wirkungsvoller wird es für ihn sein, den alten Trott zu durchbrechen (Tipp: Worauf wartest du also noch?).

Meist kann die Angst vor einer Veränderung der aktuellen Umstände nur durch äußeren »Zwang« überwunden werden. Den Menschen werden von außen ständig selbst einschneidende Veränderungen ihres Lebens aufgezwungen: Krankheit, Arbeitslosigkeit, alles, was die bisherigen Ansichten und Zukunftsaussichten völlig über den Haufen wirft. Was passiert? Der Status quo hat sich geändert, und die Menschen gewöhnen sich an die neuen Spielregeln.

Beim Klettern suchen sich viele nur dann einen persönlichen Coach, wenn sie in einer Art Krise stecken. Aus Angst vor dem Verlust erreichter Leistungen oder ihres privaten oder öffentlichen Ansehens haben sie sich immer mehr in die fixe Idee verrannt, beim Klettern alles kontrollieren zu müssen, ohne etwas Neues zu probieren. Dabei haben sie unendlich viele Ausreden dafür, warum sie dies nicht können. Letztendlich merken sie, dass sich ihr Komfortbereich extrem verkleinert hat. Sie möchten zwar noch klettern, suchen aber erst dann Hilfe von außen, wenn sie die Angst vor Veränderung losgelassen haben. Haben sie einen guten Trainer gefunden, sind sie jedes Mal geradezu schockiert darüber, wie einfach es ist, zu einer neuen Einstellung zu finden und sich munter auf Dinge zu stürzen, die für sie vorher gar nicht zur Debatte standen.

Zumindest anfangs sind sie also offen für eine Verbesserung. Sie verstehen, dass es in ihrer Macht liegt zu ändern, wie, wann und was sie klettern, und dass diese Einstellung die Grundlage für neue Lernprozesse und Fortschritte ist. Später allerdings werden sie mit dem gleichen unangenehmen Angstgefühl konfrontiert, die neu gewonnenen Fortschritte erneut einzubüßen. Um offen für Verbesserungen und frei von Verlustängsten zu bleiben, ist ständige Wachsamkeit nötig. Nur die wenigsten schaffen dies während ihrer gesamten Kletterkarriere.

 

Die wichtigste Veränderung

… besteht darin, die Angst vor Veränderungen zu besiegen. Wer sich auf eine Veränderung einlässt, riskiert, dabei zu scheitern, und die Angst vor Misserfolg ist eine sehr grundlegende Angst. Mehr als die Hälfte der Kletterer, die ich gecoacht habe, waren für den Grad, in dem sie kletterten, (physisch) sehr stark und definitiv stark genug, um Routen in ihrem jeweils angestrebten höheren Grad zu klettern. Stattdessen waren sie völlig fixiert darauf, erst noch das letzte Quäntchen aus ihrem Kraftpotenzial herauszuholen. Mit dieser Einstellung waren sie auf dem Holzweg. Der eigentliche Grund, weshalb sie sich so auf die reine Kraft fokussierten, war der, dass sie in ihrem tiefsten Innern ihren echten Schwächen aus dem Weg gehen wollten: üblicherweise entweder der Sturzangst oder der Angst vor einem Misserfolg. Wie aber zeigt sich Versagensangst bei Kletterern?

Nun, es gibt unterschiedliche Ausprägungen. Hier sind ein paar Beispiele.

Der Kletterer:

Das Problem dabei ist, dass sich die meisten Kletterer ihrer Angst vor Misserfolg gar nicht bewusst sind. Aber wie können sie das ändern? Um ehrlich zu sein, ist das nicht leicht, wenn man niemanden hat, der einem ein objektives Feedback gibt – ohne Rücksicht darauf, die Gefühle zu verletzen. Wenn du also weit davon entfernt bist, locker und unverkrampft mit Misserfolgen umzugehen oder dir die anderen genannten Beispiele allzu bekannt vorkommen, solltest du die Warnzeichen erkennen und das Problem in Angriff nehmen.

Locker und unverkrampft mit Misserfolg umzugehen, bedeutet, ihn als absolut integralen und zentralen Bestandteil des Sports zu verstehen, ohne den keine neuen Leistungsebenen erreicht werden können. Misserfolg kann und sollte als ein psychologisches Motivationsmittel geschätzt werden, als eine gute und praktische Quelle des Feedbacks für all jene, die keinen Coach haben, und als eine Art Gewürz, das den Erfolg, wenn er schließlich kommt, umso süßer macht.

Meiner Meinung nach herrscht in der westlichen Gesellschaft ein ziemlich absurdes Verständnis von Misserfolg, das auch im Sport Einzug gehalten hat. Denn es hat sich immer mehr zum Standard entwickelt, ein Scheitern als schlecht, inakzeptabel und peinlich zu erachten. Wenn eine Regierung ihre angekündigten Ziele nicht erreicht, wird sie abgewählt. Wenn ein Fußballtrainer die Saisonziele des Vereins verfehlt, wird er rausgeschmissen. Wer einen Fehler im Job macht, kann sich bald einen neuen suchen. Und so weiter. Unter anderem in der amerikanischen Reality-Show The Apprentice (»Der Lehrling«) hört man doch ständig, wie smarte Personalchefs im Brustton der Überzeugung sagen, dass sie ein persönliches Versagen einfach nicht akzeptieren. Dabei wird ein ziemlich wichtiges Detail übersehen: Es ist natürlich in Ordnung, sich langfristig mit nichts geringerem als persönlichem Erfolg zufriedenzugeben. Aber zwischenzeitlicher Misserfolg ist nun mal ein wesentlicher Bestandteil von langfristigem Erfolg.

Wie bei allen Trainingsmaßnahmen besteht die einzige Möglichkeit darin, ein Problem direkt und ohne Umschweife anzugehen. Dazu ist zunächst ein klares Umdenken notwendig, was Misserfolg bedeutet, und dann muss aktiv damit begonnen werden, in Trainingssituationen zwar letztlich einen bestimmten Erfolg anzustreben, diesen aber erst als das krönende Ergebnis wiederholter Misserfolge zu akzeptieren.

Bei diesem Umdenken sollte im Mittelpunkt stehen, dass die Vorstellung, man müsse Misserfolge vermeiden, beim Klettern häufig der wesentliche Grund dafür ist, weshalb jemand sein Potenzial nicht voll ausreizen kann. In der Praxis ist es dann nötig, sich aktiv in solche Situationen zu bringen, die die eigenen peinlichen Schwachstellen sowohl für einen selbst als auch für andere offensichtlich werden lassen. Sprich mit anderen Menschen über deine Ziele. Sorg dafür, dass sie wissen, wann du vorhast, diese Ziele zu erreichen. Du wirst zwar vermutlich nicht alle schaffen und vielleicht auch gar keins. Dann solltest du aber auch öffentlich zugeben, dass du es nicht geschafft hast (zumindest vorläufig). Such dir eine Klettersituation aus, in der du es am wenigsten leiden kannst, wenn andere dir zuschauen, und klettere genau dort mit möglichst vielen Zuschauern. Wenn sie sogar Fotos machen oder ein Video drehen – umso besser. Mein eigener Favorit in Sachen Angst vor Misserfolg heißt klettern, wenn es heiß und schwül ist. Ich habe festgestellt, dass in solch einer Situation meine Leistung gegenüber der vieler anderer Kletterer drastisch abnimmt, und viele Leute, die sonst deutlich schlechter klettern als ich, lassen mich dann alt aussehen. Deshalb zwinge ich mich, zumindest alle zwei Monate einmal bei feuchtheißem Wetter an einen Fels zu fahren, wo die Locals die Routen lässig abspulen.

 

Scheitern, um Erfolg zu haben

Der psychologische Effekt dieser »Therapie« besteht darin, die Versagensangst zu verlieren. Im Gegenzug dazu erhält man das schöne Gefühl aus der Zeit als Anfänger zurück: eben nichts zu verlieren zu haben. Du bist nicht perfekt, du machst Fehler, schleifst deine Füße hinterher, bekommst die Nähmaschine, schreist panisch »Achtung!« und stürzt ins Seil. Dabei gerät leicht in Vergessenheit, dass jeder solche Fehler macht. Wer diese Misserfolge gut an sich abprallen lässt, kann sich schnell wieder auf die eigentliche Aufgabe konzentrieren: besser klettern zu lernen. Misserfolge geben einem immer wieder die Möglichkeit zu erkennen, welche Fehler man üblicherweise macht, bis man sie schließlich abstellt. Wer einen Misserfolg in der Öffentlichkeit erlebt, öffnet sich für wertvolle objektive Ratschläge von Freunden und lernt etwas über seine eigenen Fähigkeiten. Für all jene, die ohne Coach unterwegs sind, ist regelmäßiges Scheitern ein extrem wichtiges Hilfsmittel.

 

Hätte ich bloß damals gewusst, was ich heute weiß

Jetzt folgt je eine Botschaft für junge und ältere Kletterer.

Es ist sehr aufschlussreich, die Dynamik der Versagensangst von erwachsenen und jugendlichen Kletteranfängern zu vergleichen. Jugendliche haben oft ein Problem, sich zu konzentrieren, abgesehen von ein paar Ausnahmen Frühreifer. Vermutlich haben die meisten jugendlichen Leser dieses Buch schon für zu kompliziert befunden und zur Seite gelegt. Wenn Kinder klettern, probieren sie hier ein bisschen, da ein bisschen, und wenn es länger als drei Sekunden dauert, den richtigen Tritt oder die beste Körperposition zu finden, verlieren sie die Geduld, springen zum nächsten Griff und fangen ihr geringes Körpergewicht dann mühelos ab. Erwachsene schauen dabei neidisch zu, wie die Kids mit so erbärmlicher Klettertechnik derart weit kommen. Doch es hat seinen Preis, derart stark auf ein vorübergehend geringes Körpergewicht zu bauen. Wenn sie mit zunehmendem Alter auch das Gewicht eines Erwachsenen annehmen, folgt die Strafe im wahrsten Wortsinn auf dem Fuße: Sie müssen mit der weit schwerfälligeren Lernfähigkeit eines Erwachsenen plötzlich gute Fußtechnik lernen.

Nach ein paar Jahren ist also meist derjenige Jugendliche der beste Kletterer, der schon früh gelernt hat, sich zu konzentrieren.

Erwachsene wiederum sind zwar meist diszipliniert und können sich sowohl auf ihre Nah- als auch Fernziele konzentrieren, aber sie büßen viel von diesem Vorteil wieder ein, weil sie Angst vor dem Scheitern haben. Sie werden ganz befangen, dass andere Kletterer, ihre Kollegen oder ihr Coach sehen könnten, wie sie am Fels zittern, zappeln und versagen. Ohne sich dessen bewusst zu sein, bewerten sie eine anvisierte Route vor allem danach, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie sich darin blamieren. Das Ergebnis? Der Komfortbereich wird immer enger und schwerer zu durchbrechen, je weniger Feedback aus den anderen Bereichen kommt.

Kinder lernen hingegen alles neu. Es gibt noch nichts, was sie wirklich gut können. Von daher ist es für sie völlig normal zu scheitern, wieder aufzustehen und es noch mal zu versuchen. Sobald ein Mensch aber einmal in einer Sache gut wird (sei es beim Fahrradfahren, im Beruf oder in einem bestimmten Wissensbereich), genießt er dieses Gefühl und macht es sich damit bequem. Leider wird es genau dadurch immer schwieriger, andere Dinge mit der bestmöglichen Erfolgsquote zu lernen.

Der beste (und glücklichste) erwachsene Kletterer ist in der Regel derjenige, der schon als Kind gelernt hat, sich zu konzentrieren, ohne zu vergessen, dass wiederholtes Scheitern etwas völlig Normales ist.

 

Ist das peinlich?!

Was kann also jemand tun, der vergessen hat, dass Scheitern normal ist und jeder einmal rumzittert und stürzt (und es daher völlig in Ordnung ist, es auch zu tun)? Sich so sehr zu schämen, dass sie in der Anwesenheit anderer nicht an ihrem Limit klettern können, ist für viele Kletterer ein Problem, behindert ihre Fortschritte und lässt sich nur schwer wieder abgewöhnen.

Es lässt sich allerdings mit den gleichen Techniken überwinden, die bei anderen »Suchtverhalten« angewendet werden. In diesem Fall ist eben das Schamgefühl eine Art Sucht danach, ohne Zuschauer zu klettern. In der Regel haben alle Kletterer mit der Anwesenheit bestimmter anderer kein Problem: weniger starker Kletterer oder ihrer gewohnten Kletterpartner. Wer damit umgehen kann, dass sie zuschauen, kann sich an alle anderen gewöhnen.

Es gibt zwei Möglichkeiten, das Problem anzugehen: den Frontalangriff und die Salamitaktik, je nach persönlichen Vorlieben. In beiden Fällen aber ist der richtige Zeitpunkt zum Handeln jetzt! Je länger sich die Gewohnheit, sich vor anderen Kletterern zu schämen, manifestiert hat, desto schwieriger wird es, sie abzulegen. Die Gegenmaßnahmen noch eine weitere Trainingseinheit hinauszuzögern, bedeutet in aller Regel, nie damit anzufangen.

Den Stier bei den Hörnern zu packen und ein Problem frontal anzugehen, ist üblicherweise die schnellste und effektivste Methode, aber sie funktioniert nicht für jeden (vor allem nicht für die schwersten Fälle). Die meisten Kletterer reden sich und anderen gern ein, dass die offensichtlich leichtere Salamitaktik für sie besser geeignet ist. Allerdings ist es insofern oft die schwerere Variante, weil sie über einen längeren Zeitraum viel Engagement und Durchhaltevermögen erfordert. Und sie kann, wenn die Bemühungen nachlassen und man in seine alten Muster zurückfällt, ganz schön frustrierend sein.

Für einen Frontalangriff ist es entscheidend, genau zu überlegen, wie das eigene Klettern auf andere Menschen wirkt und welche Folgen das für die eigene Erwartungshaltung hat. Oft haben Kletterer nämlich eine unrealistische Erwartung an ihre Fähigkeiten, zum Beispiel gehen sie davon aus, nach einer längeren Pause sofort wieder an die alten Glanzzeiten anknüpfen zu können. Diese unrealistische Erwartungshaltung führt zu der Besorgnis, dass andere merken könnten, wie schlecht man gerade in Form ist. Der erste Schritt lautet also, das eigene aktuelle Leistungsniveau wirklich offen zu hinterfragen und sich klarzumachen, ob und wie stark die eigenen Fähigkeiten auf eine bestimmte Wandneigung, Gesteinsart oder Art der Kletterei beschränkt sind. Es ist wichtig, zu akzeptieren, dass die eigene Leistung noch nicht den Erwartungen entspricht, und die Erwartungen dementsprechend herunterzuschrauben.

Der nächste Schritt besteht darin zu überlegen, wie man selbst das Klettern anderer Leute empfindet, um sich klarzumachen, wie wenig die eigene Leistung für die anderen bedeutet. Stell dir einen Kletterer vor, den du kennst und der jetzt weniger gut klettert als zu seinen besten Zeiten oder von dem du weißt, dass er sich ständig wegen seiner Kletterleistungen vor Publikum sorgt. Wie wichtig oder gleichgültig ist dir seine Kletterleistung, und wie viele Gedanken hast du dir darüber gemacht? Die meisten Kletterer nehmen zwar wahr, in welchem Schwierigkeitsgrad die anderen Anwesenden klettern, aber welcher Grad das ist, kümmert sie nur wenig. Wichtig ist für sie nur, wie sie im Vergleich zu den anderen dastehen. Während die anderen also zwar zur Kenntnis nehmen, wie schwer und gut (oder auch nicht) du kletterst, machen sie sich darüber doch kaum Gedanken. Wenn du gut kletterst, sind sie beeindruckt und vielleicht etwas neidisch. Wenn du schlecht kletterst, nehmen sie das womöglich gar nicht wahr.

Eine nützliche Einstellung ist übrigens die des »Underdogs«. In der Außenseiterposition zu sein, ist immer mit weniger psychischem Druck verbunden, als vor dem eigenen Ego einen guten Ruf verteidigen zu müssen. Selbst wenn jemand es gewohnt ist, gut zu klettern (oder glaubt, es sei gut), lässt sich doch eine Zitterpartie in der Öffentlichkeit auch zum eigenen Vorteil nutzen. Er kann sich vorstellen, dass die Zuschauer erkennen, dass er auch nur ein Mensch ist, der Fehler macht, sogar große Fehler. Er kann sich vorstellen, wie sie daraufhin ihre Erwartungen an seine Leistung herunterschrauben und das Gleiche mit den eigenen Ansprüchen tun. Das kann sehr befreiend sein und die Aufmerksamkeit von der Sorge, Fehler zu machen, lösen und stattdessen auf die Aufgabe lenken, alles zu geben, auch wenn das die Gefahr birgt, ins Zittern zu kommen und zu stürzen.

Wer bereit ist, sich diese lockerere Einstellung gegenüber der eigenen Kletterleistung und deren Wahrnehmung durch andere zu eigen zu machen, gewinnt oft schlagartig Vertrauen. Sich eine furchteinflößende oder beunruhigende Klettersituation zu suchen und sich ihr auszusetzen, kann durchaus dazu führen, dass man von einem Moment auf den anderen von der alten Befangenheit befreit und offen für einen Neuanfang ist.

Doch auch wenn diese Methode für manche funktioniert, wirkt sie auf die schwersten Fälle oft zu abschreckend, und eine schrittweise Annäherung an die angstauslösende Situation ist die einzig praktikable Möglichkeit. Das ist insofern die schwerere Herangehensweise, weil der Erfolg nicht linear eintritt und die Motivation sinkt und man nach einer längeren Pause immer wieder von null anfängt. Andererseits hat diese Methode den Vorteil, dass man jeweils nur kleinere Schritte macht, die nicht von vornherein so abschreckend sind.

Diese Schritte können bedeuten, mal mit einem anderen Seilpartner zu klettern, bei Hochbetrieb in die Kletterhalle zu gehen oder eine leichtere Route im Vorstieg zu versuchen, wenn man sonst immer Toprope klettert. Dabei nimmt man sich jeweils nur eine dieser Möglichkeiten vor und bleibt ein paar Tage oder Wochen lang dabei, bis die nächste an der Reihe ist.

Ganz wichtig ist es, nicht zu leugnen, dass die Angst davor, mit Zuschauern zu klettern oder sich zu blamieren, die Macht hat, die eigene Entwicklung beim Klettern komplett auszubremsen und einem den Spaß zu nehmen, bis der ein oder andere sogar ganz damit aufhört. Diese Angst ist menschlich, aber es ist sowohl möglich, sie zu überwinden, als auch unerlässlich, es zu tun, wenn man sich weiterentwickeln will.

 

Ist dieser Grad gut oder nicht?

Fragt man zehn Kletterer, die seit vielen Jahren diesen Sport betreiben, wie es war, als sie ihre besten Leistungen erbracht haben, sagen sie alle mit hoher Wahrscheinlichkeit zu allererst etwas wie: »Wir waren immer mit so vielen Leuten unterwegs.« Sportliche Leistung lässt sich nämlich nicht unabhängig von der Tatsache betrachten, dass wir soziale Wesen sind und andere Menschen uns sehr oft wie eine regelrechte Triebfeder zu höheren Leistungen anspornen.

Für die ambitioniertesten Athleten allerdings, die unter bestimmten Umständen in relativer Abgeschiedenheit ihre besten Leistungen bringen, trifft das nicht immer zu. Die große Mehrheit der Kletterer klettert in der Regel aber besser, wenn gute Vorbilder und Freunde anwesend sind. Individualistisch motivierte Leser können diese Gedanken zur sozialen Natur des Menschen getrost überblättern.

Es ist ganz erstaunlich, wie stark wir von den Menschen um uns herum und von den vorherrschenden sozialen Normen beeinflusst werden. Das gilt für alle Bereiche unseres Lebens, und das Klettern macht da keine Ausnahme. Hast du schon mal neue Kletterpartner am Fels kennengelernt und dann deren Gewohnheiten oder Verhaltensweisen kopiert? Einer meiner Kletterkumpel hat im positiven Sinn einen sehr aggressiven und technischen Kletterstil. Ich klettere eher schnell, aber vorsichtig. Wenn wir einen Tag zusammen klettern waren, habe ich mich meist mehr an seinen Stil angepasst. Wir alle sind durch unsere jeweiligen Grenzen und Gewohnheiten unglaublich in unseren Möglichkeiten limitiert und merken es nicht einmal. Wenn wir in einem Sportinstitut wissenschaftliche Untersuchungen machen, überrascht es mich immer wieder, wie schnell und stark die Probanden ihre Kraftreserven mobilisieren können, weil ich sie lautstark anfeuere. Und dieser Effekt ist wissenschaftlich gut belegt. Im Grunde heißt ein »Los geht’s!« nichts anderes als »Lass einfach alle Hemmungen fallen und gib alles.«

In Großbritannien beispielsweise hat der Durchschnittskletterer einen sehr niedrigen Leistungslevel: VS/HVS würde ich tippen1. Hätte ein VS-Kletterer aber auch bei diesem Grad sein Leistungsplateau, wenn 90 Prozent aller Kletterer stattdessen E4 klettern würden? Aus der kulturellen Norm auszubrechen, erfordert gewissen Mut – eine eigene Meinung und die Bereitschaft aufzufallen.

Je mehr wir uns mit Menschen, Gewohnheiten und Dingen umgeben, die hohe Ansprüche an Qualität, Leistung, Einsatzbereitschaft etc. stellen, desto stärker übernehmen wir diese Normen in unser eigenes Wertesystem. Ob du es glaubst oder nicht, wenn du immer mit guten Kletterern unterwegs bist (wobei »gut« sich nicht unbedingt auf den Schwierigkeitsgrad bezieht, sondern beispielsweise auf ihre Motivation und ihren Willen), färben deren Fähigkeiten auf dich ab, ohne dass du es merkst. Das kann ein fantastisches Gefühl sein. Angenommen, keiner deiner Kletterkumpel trainiert – machst du dann allein Griffbrettübungen, wenn die anderen in die Kneipe gehen? Wenn du hingegen in Spanien leben würdest, wo selbst viele Frauen heutzutage ein Niveau von 8c haben, würdest du dich da dauerhaft mit VS zufriedengeben? Natürlich gilt es, einen Mittelweg zu finden zwischen den eigenen Kletterzielen und den Menschen und Bedingungen, mit denen man sich umgibt, aber bei den meisten Kletterern besteht durchaus Spielraum für Verbesserungen. Wir haben alle nur ein Leben, und es gibt viele verschiedene Wege, die wir nehmen können; warum also nicht einen guten Weg wählen? Häufig reicht es schon aus, mal mit neuen Kletterpartnern unterwegs zu sein und sich deren (positiven oder negativen) Einfluss bewusst zu machen, um selbst eine bessere Einstellung zu übernehmen und einen guten Mittelweg zwischen dem Spaß daran, besser zu klettern, und diversen anderen Arten von Spaß (im Privatleben, Beruf etc.) zu finden.

Im Allgemeinen üben jene Kletterer den größten Einfluss aus, die erfahrener, stärker, kühner sind als man selbst und dabei auch noch aufmunternd, unterstützend und nett. Deren angenehme Gesellschaft motiviert einen an jenen Tagen, an denen die eher langweiligen Elemente des Klettertrainings sinn- und zwecklos zu sein scheinen. Sich mit Leuten zu umgeben, die gar zu deutlich über den eigenen Fähigkeiten stehen, ist allerdings nicht immer hilfreich. Wer beispielsweise von Natur aus eher gemütlich und spontan ans Klettern bzw. ans Leben herangeht, wird auf Dauer mit einem extrem motivierten und zielstrebigen Kletterpartner mehr Probleme als Freude haben.

Ein wohlmeinender Wettbewerb ist ebenfalls ein sehr wichtiger und erfreulicher Aspekt beim Klettern. Mit guten Kletterern unterwegs zu sein, kann daher sehr bereichernd und unterhaltsam sein und einen leichter zu besseren Leistungen anspornen.

Das mag für viele offensichtlich sein. Ich möchte auch nur betonen, dass die Wirkung dieses Faktors nicht unterschätzt werden sollte. Wem es nicht leichtfällt, sich zu schwereren Klettertouren und dem entsprechenden Training zu motivieren, sollte nicht ewig warten, bis er seine Partner um Hilfe bittet. Sie sollten stattdessen eine der ersten Anlaufstellen sein.

 

Die erste Generation war die freieste

Werfen wir mal einen Blick in die Geschichte des Klettersports. Die erste Generation der Sportkletterer, die gezielt dafür trainiert haben – wie Wolfgang Güllich, Jerry Moffatt, Ben Moon, Malcolm Smith und ihre Zeitgenossen –, haben die Messlatte so hoch gelegt, dass die gesamte nächste Generation ihr Niveau nicht übertroffen hat. Meilensteine wie Action Directe (9a) und Hubble (8c+, übrigens nach traditioneller Bewertung) lassen auch 20 Jahre nach ihrer Erstbegehung viele Topkletterer der Welt abblitzen. Wie kann das sein?

Das liegt an den Bedingungen, unter denen die Großmeister damals kletterten. Es gab noch keine Normen, die sie hätten einschränken können, noch nichts, womit sie sich begnügen mussten. Sie wussten nur, dass sie gut werden und neue Maßstäbe setzen wollten, und weil sie die Ersten waren, die von den enormen Vorteilen gezielten Klettertrainings profitierten, wussten sie auch, dass sie dazu in der Lage waren. Aber wie hoch konnten sie die Messlatte legen? Sie trainierten nicht regelmäßig mit einer großen Gruppe Gleichgesinnter, von daher hatten sie also keine andere Möglichkeit, ihren Einsatz und ihre Leistung einzuschätzen als ihre eigene Wahrnehmung, wie sehr sie sich anstrengten.

Ohne umfangreiche äußere Rückmeldung zum eigenen Fortschritt gibt man sich nicht so leicht mit weniger Einsatz zufrieden. Man sieht vor seinem geistigen Auge, wie die anderen härter trainieren als man selbst, und diese Vorstellung treibt einen an.