Edgar Wallace


A.S. der Unsichtbare


Kriminalroman

Impressum




Klassiker als ebook herausgegeben bei RUTHeBooks, 2016


ISBN: 978-3-95923-055-1


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Kapitel 31



Es gab einen Mann, der diese Aussage von Hilda Masters lesen mußte, überlegte Andy. Seit einiger Zeit schon hatte er den Verdacht, dass Mr. Salter mehr über seinen Freund Severn wußte, als er vorgab.

Er sandte ein Telegramm nach Beverley Hall und bat um eine Unterredung. Als er nach Beverley Green zurückkam, erwartete ihn dort eine Nachricht, dass er sofort kommen möge.

"Ich werde dich begleiten", sagte Stella. "Ich kann ja solange in deinem Wagen warten."

Der vorsichtige Tilling schien ängstlicher denn je zu sein.

"Sie müssen sehr behutsam sein, Herr Doktor. Er hat schlecht geschlafen, und der Arzt sagte zu Mr. Francis, das ist unser junger Herr, dass jeden Augenblick mit einem Zusammenbruch zu rechnen sei."

"Ich danke Ihnen, ich werde es berücksichtigen."

Als Andy in das Zimmer trat, fand er, dass Tilling nicht übertrieben hatte. Salters Gesicht sah grau aus, trotzdem begrüßte er den Detektiv mit einem Lächeln.

"Sie wollen mir sicher mitteilen, dass Sie meinen Einbrecher gefunden haben", meinte er. "Sie können sich die Mühe sparen, es war Ihr Juwelendieb!"

Andy war darauf nicht vorbereitet.

"Ich fürchte, es ist so, aber ich glaube, dass er nicht in böser Absicht herkam. In Wirklichkeit war er hinter einem Verbrecher her, der damals in Mr. Wilmots Haus einbrach."

"Hat er ihn gefunden? Es soll doch ein geheimnisvoller Parkwächter sein?"

"Wie haben Sie denn das herausgebracht?"

Salter lachte, aber dann hatte er plötzlich Schmerzen. Andy sah es, und es tat ihm leid. Mr. Salter hatte Herzbeschwerden.

"Ich möchte Ihnen nichts vormachen", erwiderte Boyd Salter, der sich über die Wirkung freute, die seine Worte hervorgerufen hatten. "Scottie, das ist doch der Name dieses Menschen, verschwand am nächsten Tag, ebenso Miss Nelson. Sie verkehrte in einem Haus in der Castle Street und pflegte dort jemand. Und wer anders sollte das gewesen sein als Ihr wenig ehrenhafter Freund?"

Plötzlich erkannte Andy die Zusammenhänge.

"Das haben Sie natürlich von Downer!"

Salter nickte lächelnd.

"Aber wie kamen Sie denn auf den Parkwächter?"

"Das weiß ich auch von Downer und von einem gewissen Big Martin, der auch ein Verbrecher ist."

Andy war zu großzügig, um Downer die Bewunderung vorzuenthalten, die ihm gebührte.

"Ich werde Downer die Bearbeitung des Falles übergeben", sagte Andy. "Er ist der beste Spürhund."

"Er kam", begann Salter, "und ich mußte alle meine Parkwächter rufen. Er fragte sie aus, und einer gab zu, dass er in der Küche war, wir lassen nämlich Kakao für sie kochen, wenn sie Nachtdienst haben und das Haus etwa um die Zeit verließ, als Scottie ihn sah. Soviel weiß ich. Aber welche Neuigkeiten bringen Sie?"

"Ich habe Hilda Masters gefunden."

Mr. Salter schaute auf. "Hilda Masters? Wer ist denn das?"

"Sie besinnen sich sicher, dass in einem Geheimfach in Merrivans Schlafzimmer ein Trauschein gefunden wurde?"

"Ja, er wurde auch in einer Zeitung erwähnt. Es war die Heiratsurkunde eines ehemaligen Dienstboten, die später von einer geisterhaften Erscheinung gestohlen wurde, von Ihnen Selim genannt. War das der Name der Frau, auf die sich die Urkunde bezog? Und Sie haben sie gefunden, wie Sie sagen?"

Andy nahm eine Kopie des Protokolls aus der Tasche und legte sie vor den Friedensrichter.

Mr. Salter schaute lange darauf, bevor er seine Hornbrille aufsetzte und zu lesen begann.

Er las sehr langsam, und es kam Andy vor, als ob er jedes Wort abschätzte. Einmal blätterte er zurück und las eine Seite noch einmal. Fünf ... zehn ... fünfzehn Minuten verstrichen in tiefstem Schweigen. Andy wurde ungeduldig, er dachte an Stella, die draußen im Wagen wartete.

"Ach!" Mr. Salter legte das Manuskript wieder hin. "Der Geist, der in diesem Tal umging, ist gebannt, Doktor Macleod."

Andy verstand ihn nicht sofort. Mr. Salter sah seine Verwirrung und kam ihm zu Hilfe.

"Ich meine Selim. Hier ist er, enthüllt in seiner ganzen Gemeinheit. Er verkaufte Seelen, brach Herzen, spielte mit dem Leben." Er tippte auf das Manuskript.

Andy entdeckte einen ungewöhnlichen Glanz in seinen Augen. Salters Gesicht sah nicht mehr eingefallen aus, und die tiefen Falten waren verschwunden. Er mußte eine geheime Klingel gedrückt haben, denn Tilling kam herein.

"Bringen Sie mir eine Flasche Portwein." Als der Diener sich entfernt hatte, fuhr er fort: "Sie können sich beglückwünschen, Sie haben einen größeren Sieg davongetragen, als wenn Sie Ihre Hand auf die Schulter Albert Selims gelegt hätten. Wir müssen Ihren Erfolg feiern, Doktor."

"Es tut mir leid, dass ich nicht länger bleiben kann, Miss Nelson wartet draußen in meinem Wagen."

Salter sprang auf, wurde blaß und setzte sich wieder.

"Das bedauere ich aber wirklich sehr", sagte er atemlos. "Es ist unverantwortlich von Ihnen, mir nichts davon mitgeteilt zu haben. Bitte bringen Sie sie doch herein."

Andy sagte zu Stella: "Die Nachricht, dass du im Wagen wartest, hat ihn sehr mitgenommen. Er sieht sehr elend aus."

Mr. Salter hatte sich inzwischen wieder etwas erholt. Er beobachtete Tilling, wie er den kostbaren Wein in die Gläser goss.

"Verzeihen Sie, wenn ich nicht aufstehe", sagte Mr. Salter lächelnd, als Stella mit Andy eintrat. "Sie also haben den Mann gepflegt, der bei mir einbrach?"

"Hat Andy Ihnen das erzählt?" fragte sie bestürzt.

"Nein, Andy hat mir nichts davon gesagt. Aber Sie werden jetzt ein Glas Portwein mit mir trinken, Miss Nelson. Nein? Das war schon alter Wein, als Ihr Vater noch ein kleines Kind war."

Er hob sein Glas und trank ihr zu.

"Was wird nun aus Miss Masters oder Mrs. Bonsor werden?"

"Sie wird wohl kaum in London bleiben. Sie hat ein schweres Verbrechen eingestanden, obwohl es schon so lange zurückliegt, dass es verjährt ist. Aus gewissen Anzeichen könnte man fast schließen, dass diese vielfach verheiratete Dame sich, zum vierten mal in das Eheleben stürzen wird."

Salter nickte.

"Die arme Frau", meinte er. "Die arme, getäuschte Frau!"

Andy hatte nicht erwartet, bei Mr. Salter Sympathie für Mrs. Crafton-Bonsor zu finden.

"Sie ist nicht besonders arm", erwiderte er. "Scottie, der doch ein Kenner ist, schätzt den Wert ihrer Juwelen auf mindestens hunderttausend Pfund. Außerdem hat sie große Besitzungen in den Vereinigten Staaten. Ich bin aber eigentlich gekommen, um mit Ihnen über John Severn zu sprechen. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte? Ich bin fest überzeugt, dass Albert Selim diese Eheschließung zu seinem eigenen Vorteil ausnützte!"

"Das tat er. Selim teilte Severn mit, dass seine Frau gestorben sei. Severn heiratete wieder und hatte, soviel ich weiß, Kinder. Selim hatte die Beweise für seine frühere Bigamie in der Hand, wodurch er große Summen von ihm erpreßte. Der Kontrakt, den Sie fanden, war Schwindel. Selim hat meinem Freund keinen Pfennig gezahlt, er hat nur eine alte Schuld getilgt. Das ist ja auch in der Aussage von Mrs. Crafton-Bonsor angedeutet. Im Lauf der Jahre fand seine Habgier immer neue Methoden, Severn zu quälen. Sie sehen, Doktor, dass ich offen bin. Ich wußte mehr über Severn, als ich Ihnen damals mitteilte."

"Daran habe ich nie gezweifelt", sagte Andy lächelnd.

"Und Sie, Miss Nelson, sind nun auch eine große Sorge losgeworden. Aber auch Sie haben etwas dafür gefunden."

Er schaute Andy an und dann Stella. "Es wird sich alles erfüllen, wie ich hoffe."

Bald darauf verabschiedeten sie sich.

Andy schlief den ganzen Nachmittag, und sobald es dunkel wurde, begab er sich auf seinen Wachtposten in das lange, leere Arbeitszimmer Mr. Merrivans. Die Nacht ging ohne Zwischenfall vorüber. Kurz nach Tagesanbruch sah er Stella über den Rasen kommen. Sie trug etwas in der Hand. Sie kam direkt auf das Haus zu und klopfte zu seinem größten Erstaunen an.

"Ich habe dir etwas Kaffee und ein paar Brötchen gebracht, Andy. Du Armer, du mußt doch entsetzlich müde sein."

"Woher wußtest du denn, dass ich hier bin?"

"Das vermutete ich. Als du gestern Abend nicht kamst, wußte ich, dass du Geisterdienst hattest."

"Du kluges Mädchen! Ich hatte es dir absichtlich nicht gesagt."

"Hast du nicht wieder den schlimmsten Verdacht gehabt, als du mich so früh am Morgen hierherkommen sahst?" Sie zog ihn am Ohrläppchen. "Du hast doch nichts gesehen und gehört?"

"Nichts."

Sie schaute den düsteren Gang entlang und schüttelte den Kopf. "Ich möchte kein Detektiv sein. Andy, fürchtest du dich nicht manchmal?"

"O doch, oft. Wenn ich zum Beispiel daran denke, wie ich es fertigbringen soll, dir ein Heim einzurichten, das gut genug für dich ist ..."

"Wir wollen ein wenig darüber plaudern", sagte sie, und sie saßen zusammen, bis die Sonne durch die Fenster schien. Sie sprachen von Häusern und Wohnungen und von den hohen Kosten, die man für eine Einrichtung zahlen muß.

Es war Andy nichts von der schlaflosen Nacht anzusehen, als er um elf Uhr im Metropolitan-Hotel stand. Er hatte noch mehrere Punkte aufzuklären.

"Mrs. Crafton-Bonsor ist abgereist", sagte der Empfangschef.

"Abgereist?" fragte Andy erstaunt. "Wann?"

"Gestern Nachmittag, Sir. Sie und Professor Bellingham reisten zusammen ab."

"Hat sie auch das Gepäck schon mitgenommen?"

"Es ist alles fort."

"Wissen Sie, wohin sie gereist ist?"

"Ich habe nicht die geringste Ahnung, sie sagte, sie wolle für einige Tage an die See gehen."

Das war eine Überraschung für Andy.

Er fuhr zur Castle Street, um vielleicht Scottie dort zu finden, aber er traf nur den etwas verwirrten Mr. Martin an.

"Nein, Doktor Macleod, Scottie war nicht hier. Er ist seit drei Tagen nicht mehr hier gewesen."

"Hat er Ihnen denn keine Anweisungen hinterlassen, wie Sie diese Diebsherberge bewirtschaften sollen?"

"Nein, Sir." Big Martin sagte das aber in einem Ton, dass Andy sofort wußte, er log. Es hatte keinen Zweck, ihn weiter auszufragen. Andy fuhr nach Beverley Green zurück und legte sich schlafen.

Um neun Uhr abends ging er wieder in Merrivans Haus. Johnston hatte einen bequemen Lehnsessel in das Arbeitszimmer gebracht. Er war so weich, dass Andy mehrmals einschlief.

Das hat keinen Zweck, sagte er sich schließlich und ging zu dem vorderen Fenster, öffnete es und ließ die frische Nachtluft hereinströmen.

Die Kirchturmuhr in Beverley schlug eins, und es war nichts von dem nächtlichen Besucher zu sehen.

Er hatte den Riegel von dem hinteren Fenster zurückgezogen. Er war sicher, dass der Fremde auf diesem Weg ins Haus gekommen war, als Johnston ihn gesehen hatte.

Andy wartete. Jetzt schlug es zwei Uhr. Er saß wieder im Lehnsessel, und sein Kinn war auf die Brust gesunken. Er träumte von Stella und Mrs. Crafton-Bonsor.

Aber dann hörte er plötzlich ein Geräusch und war sofort ganz wach. Er schaute nach dem hinteren Fenster und sah, wie sich draußen eine dunkle Gestalt abhob. Die elektrische Leitung war auf seine Bitte hin wieder in Ordnung gebracht worden, und er schlich sich leise zum Schalter. Der Mann öffnete langsam das Fenster und gleich darauf hörte Andy Schritte im Zimmer. Aber er drehte das Licht noch nicht an, er wartete noch. Plötzlich ertönte eine merkwürdige Stimme.

"Komm heraus, Albert Selim, du verfluchter Hund!"

Die Stimme klang unheimlich hohl in dem leeren Raum.

"Komm heraus!"

Andy drehte das Licht an.

Ein Mann in einem gelben Schlafrock stand, den Rücken dem offenen Fenster zugekehrt, im Zimmer. In seiner ausgestreckten Hand hielt er eine lange Pistole, die er gegen einen unsichtbaren Feind gerichtet hatte.

Es war Salter! Boyd Salter!

Andy stockte der Atem. Dann war also Boyd Salter der kühle, gewandte Mann, der ihn so lange und so geschickt getäuscht und der seine Rolle so sicher gespielt hatte!

Seine Augen waren weit geöffnet und blickten starr ins Leere.

Er war nicht bei sich. Andrew hatte es gleich bemerkt, als er seine undeutliche, mißtönende Stimme gehört hatte.

"Das ist für dich, du verdammter Schuft!"

Salter zischte diese Worte durch die Zähne, und Andy hörte, wie die Pistole knackte. Dann sah er, wie Salter sich niederbeugte, zu der Stelle, wo sie Merrivan gefunden hatten. Dann kniete er langsam nieder und seine Hände befühlten einen Körper, den er zu sehen meinte. Er sprach dauernd mit sich selbst.

Salter durchlebte das Verbrechen noch einmal. Nacht für Nacht war er hergekommen. Es war unheimlich zu sehen, wie er das Pult absuchte, das nicht dastand, wie er den Schrank aufschloß, der längst entfernt war. Andrew beobachtete ihn genau. Jetzt steckte der Mann ein Streichholz an und glaubte die Papiere zu entzünden, die er seiner Meinung nach in den Kamin gelegt hatte. Dann blieb er an der Stelle stehen, wo man den Brief gefunden hatte.

"Du wirst keine Briefe mehr schreiben, Merrivan, du verdammter Kerl! Du wirst keine Briefe mehr unter meine Tür stecken, der war wieder für mich bestimmt, wie?" Er wandte sich wieder dorthin, wo die Leiche gelegen hatte. "Für mich?"' Seine Blicke schweiften umher, und er schien etwas aufzuheben. "Ich muß den Schal des Mädchens mitnehmen", sagte er dann leise. "Arme Stella! Dieser Teufel wird sie nicht mehr quälen. Ich will ihn mitnehmen." Er steckte seine Hand in die Tasche, als ob er etwas hineinstecken wollte. "Wenn sie ihn finden, denken sie, dass sie hier war, als ich ihn niederschoß."

Andrew folgte atemlos allen Bewegungen und Worten.

Nun war ihm plötzlich alles klar. Albert Selim und Merrivan waren ein und dieselbe Person, und der Drohbrief, der allem Anschein nach an Merrivan gerichtet war, stammte von diesem selbst. So war es! Merrivan wollte in der Nacht den Brief nach Beverley Hall bringen. Er hatte ihn geschrieben und zusammengefaltet, aber er hatte keine Zeit mehr gehabt, einen Umschlag zu adressieren, bevor ihn sein Schicksal ereilte.

Salter ging langsam durch den Raum und war ein paar Sekunden später durch das Fenster verschwunden. Er schloß es hinter sich. Gleich darauf war auch Andy im Garten und folgte dem Schlafwandler, der durch den Obstgarten ging. Plötzlich hörte er ihn wieder sprechen.

"Geh aus dem Weg, du verdammter Hund!"

Und wieder knackte der Pistolenhahn.

So war also Sweeny ums Leben gekommen! Sweeny war dort gewesen. Er hatte wahrscheinlich auch die Identität Selims mit Merrivan entdeckt und das Haus in jener Nacht beobachtet. Es war jetzt alles so einfach. Merrivan hatte Salter erpreßt. Aber wer mochte Severn sein, Severn, der Mann von Hilda Masters?

Er folgte Salter durch den Obstgarten, durch ein Tor in der Hecke. Salter war nun auf seinem eigenen Grund und Boden und bewegte sich weiter in jener merkwürdig behutsamen Art, die Schlafwandlern eigen ist. Andrew ließ ihn nicht aus dem Auge. Salter hielt sich auf einem Pfad nach Spring Covert, bog plötzlich unvermittelt nach links ab und überquerte die Wiese vor Beverley Hall.

Kaum war er hier ein Dutzend Schritte gegangen, als plötzlich ein heller Lichtschein aus dem Gras aufblitzte und eine Explosion folgte. Salter taumelte vornüber und fiel zu Boden.

Andy war sofort an seiner Seite. Salter lag bewegungslos.

Andy machte seine Taschenlampe an und rief um Hilfe. Gleich darauf antwortete ihm aus einiger Entfernung der Parkwächter Madding, den er schon von früher her kannte.

"Was ist geschehen, Sir? Sie müssen sich in einem Draht verfangen und einen Alarmschuß ausgelöst haben. Wir haben verschiedene ausgelegt, um die Wilddiebe zu fangen ... Mein Gott", rief er plötzlich erschrocken, "das ist ja Mr. Salter!"

Sie legten ihn auf den Rücken. Andy öffnete seine Pyjamajacke und legte das Ohr auf seine Brust.

"Ich fürchte, er ist tot."

"Tot?" fragte der Parkwächter erschrocken. "Es war aber doch keine scharfe Patrone in dem Selbstschuß!"

"Er ist durch die Explosion erwacht, und der Schreck hat ihn sicher getötet. Und es ist wohl gut, dass er auf diese Weise starb."


* * *


Andy ließ sich müde auf einen Sessel in Nelsons Wohnzimmer nieder.

Stella setzte sich neben ihn und legte ihre Hand auf seine Schulter. Andy nahm einen Zeitungsausschnitt aus seiner Tasche.

"Das fand ich in Salters Geldschrank. Sein Sohn hatte es ruhig aufgenommen. Man erwartete ja ein solches Ende. Er wußte, dass sein Vater Schlafwandler war, er hatte den Schmutz an seinem Pyjama entdeckt und hielt infolgedessen die Tür bewacht. Aber das alte Haus hat ein halbes Dutzend geheimer Wendeltreppen, und er ist jedesmal entkommen. Was hältst du davon?"

Sie las den Zeitungsausschnitt. Er war aus der 'Times'.


* * *


'In Übereinstimmung mit den Anordnungen des Testaments des verstorbenen Mr. Philipp Boyd Salter wird sein Neffe, Mr. John Severn, der einzige Erbe seines Onkel, den Namen und Titel John Boyd Salter führen. Eine diesbezügliche gerichtliche Erklärung erscheint in den amtlichen Bekanntmachungen dieser Nummer auf Seite 8.'

"Hier haben wir also die Aufklärung. Severn und Boyd Salter waren ein und dieselbe Person. Wenn ich so vernünftig gewesen wäre, das Testament des Onkels nachzusehen, hätte ich das schon vor einem Monat wissen können. Er ist als ein glücklicher Mann gestorben. Seit Jahren hatte er unter dem Druck seiner Schuld und der Erpressungen Selims gelebt. Durch Merrivans Verrat hätte sein Sohn den Titel und das Vermögen verloren, die nur an einen rechtmäßigen Erben übergehen können. Aus der Aussage von Hilda Masters, sie hat übrigens vor ihrer Abreise Scottie tatsächlich geheiratet, ging ja die Rechtmäßigkeit seiner Ehe mit der Mutter seines Sohnes deutlich hervor. Merrivan war der größte Schrecken für seine Mitmenschen. Um die Zukunft seines Sohnes sicherzustellen, tötete ihn Salter. Aus demselben Grund drang er, als Parkwächter verkleidet, in Wilmots Haus ein, stahl den Trauschein und verbrannte ihn."

"Woher wußte er, dass das Dokument dort zu finden war?"

"Downer verriet doch die Sache in dem Artikel, den er über uns schrieb."

"Und was wird nun. aus Selims großem Vermögen? Fällt es an Artur Wilmot?"

"Nein, an Mrs. Bellingham. Es ist beinahe tragisch."

Sie lachte und legte ihren Arm um seinen Nacken.

"Scottie ist doch eigentlich sehr geschickt", meinte sie.

"Ja, aber wie kommst du gerade jetzt darauf?"

"Denk doch daran, wie schnell er sich, die Heiratspapiere beschafft hat ..."

Eine Woche später erfuhr Mr. Downer eine Neuigkeit. Er war weder betrübt noch erfreut darüber, denn er war in erster Linie Geschäftsmann, und Hochzeiten und Morde hatten für ihn denselben Wert. Er rief sofort das 'Megaphone' an und sprach mit dem Chefredakteur.

"Haben Sie schon gehört, dass Macleod Miss Nelson geheiratet hat? Ich könnte Ihnen darüber eine Spalte schreiben und die ganze interessante Vorgeschichte dieser Ehe berichten, ja, ein Bild von ihr kann ich auch beschaffen. Wie? Zwei Spalten? Geht in Ordnung!"



Ende

Inhalt




Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

 

Kapitel 1



Der Zufall und ein schnelles Auto brachten Andrew Macleod in die Gegend von Beverley. Die Stadt selbst liegt am Ende einer kleinen Nebenstrecke der Eisenbahn. Sie hat eigentlich keine ersichtliche Existenzberechtigung und auch keine nennenswerten Einnahmequellen. Aber trotzdem leben die Einwohner und sind bis jetzt noch nicht verhungert. Im Gegenteil, die Besitzer der kleinen, sauberen Läden, die an der einzigen breiten und schattigen Hauptstraße liegen, scheinen gute Geschäfte zu machen. Die Bewohner des vornehmen Vororts Beverley Green geben ihnen allerdings nichts zu verdienen, denn sie besorgen ihre Einkäufe in großen Warenhäusern und kommen höchstens herein, wenn sie etwas vergessen haben und eilig benötigen.

Andy brachte seinen großen Wagen vor dem Postgebäude zum Stehen und stieg aus. Fünf Minuten lang telefonierte er mit Scotland Yard über Alison John Wicker, der als 'Vieraugen-Scottie' bekannt war. Diesen Spitznamen hatte der Mann erhalten, weil er eine Brille trug.

Als der geschäftsführende Direktor des Agent Diamond Syndicate an einem Montagmorgen sein Büro betrat, entdeckte er, dass jemand in der Zwischenzeit dort gewesen war und ihm die Mühe abgenommen hatte, den großen, feuer- und diebessicheren Geldschrank zu öffnen. Es war allerdings nicht der Schlüssel, sondern Thermit und ein Sauerstoffgebläse dazu verwendet worden. Dieser Einbruch sah so unzweifelhaft nach Scotties Arbeit aus, dass er ebenso gut eine Quittung über die sieben gestohlenen Päckchen Brillanten hätte zurücklassen können. Alle Bahnhöfe und Überseehäfen des Landes wurden durch besondere Polizeibeamte scharf überwacht, die Fremdenlisten der Hotels und Gasthäuser wurden durchforscht und alle Polizeistationen alarmiert.

Andy Macleod war gerade auf Urlaub gewesen. Er hatte sich mit seinen Angelgeräten und einem großen Stoß Bücher aufs Land zurückgezogen. Ganz unerwartet hatte man ihn nun aus den Ferien zurückgeholt, um die Nachforschungen nach Scottie zu leiten.

Dr. Macleod war zuerst als Pathologe in die Dienste von Scotland Yard getreten, aber im Laufe der Zeit war ein Detektiv und Verbrecherfänger aus ihm geworden, ohne dass er selbst wußte, wie das eigentlich gekommen war. Offiziell war er jedoch immer noch Arzt und erschien bei Prozessen als Zeuge, um die Todesursache der Ermordeten zu bekunden. Inoffiziell aber nannte ihn auch der jüngste Polizist nicht 'Doktor', sondern nur 'Andy'.

"Vor drei Tagen ist er zu Fuß durch Panton Mills gekommen. Ich bin ganz sicher, dass es Scottie war", sagte er. "Ich durchsuche nun den Landstrich von hier bis Three Lakes. Die hiesigen Polizeibeamten schwören, dass er nicht in der Nähe von Beverley sei, was heißt, dass er sich direkt vor ihrer Nase herumgetrieben hat. Es sind überhaupt Leuchten; sie fragten mich allen Ernstes, ob er denn schon wieder etwas verbrochen habe, und dabei haben sie bereits vor einer Woche den Bericht über den Einbruch mit allen Einzelheiten sowie eine genaue Personalbeschreibung Scotties erhalten."

In diesem Augenblick betrat eine junge Dame das Postamt. Andy betrachtete sie voller Bewunderung durch das seitliche Fenster der Telefonzelle. Anziehend, hübsch, schön? fragte er sich. Die meisten Frauen sehen in einem eleganten Kostüm am vorteilhaftesten aus. Sie war groß und schlank.

"Ja, ich glaube", antwortete er seinem Vorgesetzten mechanisch, denn seine Gedanken und seine Aussagen waren jetzt bei diesem Mädchen.

Sie hob ihre Hand, und er sah einen Ring am vierten Finger ihrer linken Hand aufblitzen. Es war ein Goldreif mit eingesetzten Smaragden oder sollten es etwa Saphire sein, nein, er sah deutlich den meergrünen Schimmer, es waren Smaragde.

Nachdem der geheime Teil seines Berichtes erledigt war, öffnete er die Telefonzelle ein wenig und lauschte mit einem Ohr auf den Klang ihrer Stimme.

Sie ist wirklich außerordentlich schön, entschied er und bewunderte ihr Profil.

Dann ereignete sich etwas Merkwürdiges. Auch sie mußte ihn beobachtet haben, während er nicht hingesehen hatte. Vielleicht fragte sie jetzt, wer er sei. Andy hatte dem mitteilsamen Postbeamten seine Karte gezeigt, um schneller mit London verbunden zu werden. Der Mann würde ihr sicher bereitwillig Auskunft geben. Andy hörte, wie das Wort 'Detektiv' fiel. Er konnte jetzt ihr Gesicht deutlich sehen.

"Detektiv!" Sie flüsterte nur, aber er hörte es doch und sah sie an. Sie war blaß geworden und mußte sich an der Kante des Schalterbrettes festhalten.

Er war so bestürzt, dass er den Hörer vom Ohr nahm. In diesem Augenblick wandte sie sich ihm zu und begegnete seinem Blick. Er las Furcht, Entsetzen und Schrecken in ihren Augen. Ein gequälter Ausdruck lag auf ihren Zügen, als ob er sie irgendwie überrascht und gefangen hätte. Sie schaute verlegen fort und machte sich mit dem Geld zu schaffen, das sie herausbekommen hatte. Ihre Hände zitterten aber so sehr, dass sie schließlich ihre hohle linke Hand unter das Schalterbrett hielt und die Münzen mit der rechten hineinstrich. Dann verließ sie eilig das Postamt.

Andy kam es gar nicht zum Bewußtsein, dass am anderen Ende der Leitung ein erstaunter Beamter saß, der dauernd auf den Haken drückte und weitersprechen wollte. Andy hängte einfach den Hörer an und trat an den Schalter.

"Wer war die Dame?" fragte er, während er die Gebühr für sein Gespräch bezahlte.

"Das war Miss Nelson aus Beverley Green. Ein herrlicher Platz, Sie müßten sich ihn einmal ansehen. Es wohnen viele reiche Leute dort, zum Beispiel Mr. Boyd Salter, haben Sie schon von dem gehört? Und dann Mr. Merrivan, auch sehr wohlhabend, aber ein wenig geizig, na und dann leben noch allerlei Herrschaften da. Es ist eine Art, wie soll ich sagen, Villenkolonie, eine Gartenstadt! Das ist der richtige Ausdruck. Da gibt's einige der größten und schönsten Häuser der ganzen Grafschaft. Die Familie Nelson ist schon seit Jahren dort ansässig, lange bevor die Gartenstadt gegründet wurde. Ich kann mich noch deutlich an Nelsons Großvater erinnern, das war ein netter Mann."

Der Postbeamte war im besten Zuge, Andy genaue Biographien der bekannten Leute von Beverley Green zu geben, aber der Detektiv wollte das junge Mädchen noch sehen und beendete seine Unterhaltung etwas schroff.

Er sah sie draußen eilig davongehen und vermutete, dass der Bahnhof ihr Ziel war.

Sein Interesse und seine Verwunderung waren geweckt. Wie sollte er sich ihre Aufregung und Bestürzung erklären? Was hatte sie denn von einem Detektiv zu fürchten? Warum hatte sie ihn mit solchem Entsetzen angesehen?

Es war Zeitverschwendung, sich darüber Gedanken zu machen. In diesen malerischen kleinen Städten, die dem großen Weltgetriebe so fern lagen, schien der Strom des Lebens so idyllisch und sanft dahinzugleiten, unberührt von den leidenschaftlichen Stürmen, die die großen Städte in Aufruhr versetzen.

Das kleine Wörtchen 'Detektiv' hatte doch nichts Schreckliches für Leute, die das Gesetz achten!

"Hm!" sagte Andy und rieb sich nachdenklich das glattrasierte Kinn. "Auf diese Weise werde ich Scottie wohl nicht fangen!"

Er verließ den Ort in seinem Auto, um erst die Hauptstraße ein Stück entlangzufahren und dann mit der systematischen Durchsuchung der vielen kleinen Nebenwege zu beginnen.

Er war etwas mehr als zwei Kilometer von Beverley entfernt, als er langsamer fuhr, um eine scharfe Kurve zu nehmen. In dem Augenblick sah er zu seiner Rechten eine breite Öffnung in der Hecke, die die Straße einfaßte. Ein bequemer Weg, der zu beiden Seiten mit Bäumen bestanden war, zweigte hier ab; er war von wohlgepflegten Rasenstreifen eingefaßt, schlängelte sich weithin und verschwand dann im hügeligen Gelände. Ein Wegweiser trug die Aufschrift 'Privatweg nach Beverley Green'.

Andy hatte die Abzweigung schon hinter sich und fuhr nun ein Stück rückwärts. Nachdenklich betrachtete er die Aufschrift und bog dann in die Straße ein. Es war kaum anzunehmen, dass Scottie diesen Weg eingeschlagen hatte. Allerdings war er ein Mann, der jede günstige Gelegenheit wahrnahm. Und in Beverley Green wohnten viele reiche Leute. Auf diese Weise versuchte Andy, seinen Abstecher vor sich selbst zu entschuldigen, obwohl er sehr gut wußte, dass ihn nur seine persönliche Neugierde vom Weg abführte. Er wollte das Haus sehen, in dem sie lebte. In welchen Verhältnissen mochte sich ihr Vater befinden?

Der Weg beschrieb viele Windungen, und endlich brachte ihn eine ungewöhnlich scharfe Kurve zum Ziel. Beverley Green breitete sich in all seiner sommerlichen Schönheit plötzlich vor ihm aus. Andy fuhr jetzt so langsam, dass ein Fußgänger neben dem Wagen hätte hergehen können. Vor ihm lag ein ausgedehnter Platz, der von einer ununterbrochenen Reihe blühender Sträucher eingefaßt war. Etwa zehn Meter von der Straße entfernt begann ein Golfplatz, der sich wahrscheinlich das ganze Tal entlangzog. Mitten im Grünen, halb verdeckt durch die umgebenden Bäume, standen mehrere Villen. Hier schaute ein Giebel aus den Bäumen hervor, dort schimmerte ein Fensterkreuz durch das Laub. Anderswo sah er kunstvolles Fachwerk.

Andy schaute sich um, ob er nicht jemand um Auskunft fragen könne, denn die Straße teilte sich jetzt ... An der Ecke lag ein sauber mit Schindeln verkleidetes Gebäude, das den Eindruck eines Klubhauses machte. Er stieg eben aus, um die Ankündigungen am Torpfosten zu lesen, als ein Herr um die Ecke bog.

Ein wohlhabender Kaufmann, der sich zur Ruhe gesetzt hat, dachte Andy. Trägt schwarze Alpakajacke, breite Schuhe, hohen steifen Kragen, doppelte goldene Uhrkette. Sehr von sich eingenommen und äußerst verwundert über mein Eindringen in diese elysischen Gefilde.

Der Herr sah Andy ernst an, aber es war keine Ablehnung in seinem Blick.

Sein Alter konnte zwischen fünfundvierzig und sechzig liegen. Sein großes, glattes Gesicht zeigte keine Falten, sein Gang war lebhaft und seine Haltung ausgezeichnet, so dass Andy zuerst nichts von seiner Anlage zur Korpulenz wahrnahm.

Ein freundlicher Gruß zeigte Andy, dass er hier gut aufgenommen werden würde.

"Guten Morgen, Sir", begann der Herr. "Sie scheinen hier jemand zu suchen? In Beverley kann sich ein Fremder nur schwer zurechtfinden. Es gibt hier nämlich weder Straßennamen noch Hausnummern." Er lachte behaglich.

"Ich wollte eigentlich niemand aufsuchen", entgegnete Andy. "Ich bin aus reiner Neugierde hierhergefahren. Es ist ein herrliches Fleckchen Erde. Ich habe in Beverley schon viel davon gehört."

Der andere nickte geschmeichelt. "Es kommen nur selten Fremde hierher zu Besuch, beinahe hätte ich gesagt, glücklicherweise. Der Grund und Boden hier gehört mir und meinen Freunden und Nachbarn. Es gibt kein Hotel, das Fremde in Versuchung führen könnte, sich hier aufzuhalten. Aber wir haben unser Gästehaus." Er zeigte auf das von Grün umsponnene Gebäude, das Andy für einen Klub gehalten hatte. "Wir unterhalten es gemeinsam für Besucher. Manchmal können wir nicht alle unsere Freunde unterbringen, und dann wohnt auch wieder nur eine einzige Person dort, die dann gewissermaßen Gast unseres kleinen Gemeinwesens ist. Augenblicklich hält sich zum Beispiel ein bedeutender kanadischer Geologe bei uns auf."

"Ein glücklicher Mann und eine glückliche Gemeinde. Sind alle Häuser hier bewohnt?"

Andy stellte diese Frage, obwohl er sich die Antwort darauf selbst geben konnte.

"Aber natürlich! Das letzte Haus dort links gehört dem großen Architekten Pearson, der sich jetzt allerdings zur Ruhe gesetzt hat. Das nächste mit dem spitzen Giebel bewohnt Mr. Wilmot, ein Herr, nun, ich kann Ihnen leider nicht genau sagen, welchen Beruf er hat, obwohl er mein eigener Neffe ist. Ich weiß nur, dass er eine Stellung oder ein Geschäft in der Stadt hat. Das Haus nebenan mit den Kletterrosen ist das Eigentum von Mr. Nelson, Kenneth Leonard Nelson, Sie haben sicher schon von ihm gehört."

"Der bekannte Maler?" fragte Andy interessiert.

"Ja, ein großer Künstler. Er hat hier sein Atelier, aber Sie können es von hier aus nicht sehen, es liegt auf der Nordseite. Künstler bevorzugen sie zur Arbeit, soviel ich davon verstehe. Dann das Gebäude dort hinten an der Ecke, dort zweigt ein ziemlich breiter Weg zu den Tennisplätzen ab, ist mein Heim", sagte er zufrieden.

"Was ist denn das für ein großes Gebäude an der Seite des Hügels?" fragte Andy und überlegte schnell: Ihr Vater war also der Maler Nelson. Was hatte er doch über ihn erfahren? Der Name rief irgendeine unangenehme Erinnerung in ihm wach.

"Das Haus auf dem Hügel? Das gehört leider nicht zu unserer Gemeinde. Das ist der hochherrschaftliche Adelssitz, um den wir anderen bescheidenen Landbewohner unsere Hütten gebaut haben." Der Vergleich schien ihm so zu gefallen, dass er noch einmal sagte: "Unsere kleinen Hütten." Dann fuhr er fort: "Das Schloß dort wird von Mr. Boyd Salter bewohnt, dessen Familie in dieser Gegend seit Jahrhunderten ansässig ist. Die Salters stammen aus, aber ich will Sie nicht mit ihrer Geschichte belästigen. Mr. Boyd Salter ist ein sehr reicher Mann, aber leider Invalide."

Andy nickte höflich.

"Sehen Sie, dort kommt unser Gast, Professor Bellingham. Nebenbei bemerkt, mein Name ist Merrivan."

Das war also Mr. Merrivan. Der Postbeamte hatte ihn 'sehr wohlhabend, aber ein wenig geizig' genannt.

Andy betrachtete den näher kommenden kanadischen Geologen, einen hageren Mann mit bauschigen Breeches. Seine Haltung war etwas gebeugt, was wohl von seiner Arbeit am Studiertisch kommen mochte.

"Er war wieder draußen in den Bergen und hat Versteinerungen gesammelt. Er hat schon eine ganze Menge hier gefunden", erklärte Mr. Merrivan.

"Ich glaube, ich kenne ihn sehr gut", erwiderte Andy, der plötzlich großes Interesse für den Fremden zeigte.

Er ging dem Professor entgegen. Als er nur noch einige Schritte von ihm entfernt war, schaute der Gelehrte auf und stutzte.

"Peinliche Sache, Scottie", sagte Andrew Macleod mit schlecht gespieltem Bedauern. "Wollen Sie hier eine Szene machen, oder soll ich Sie irgendwohin zum Mittagessen mitnehmen?"

"Wenn Sie gestatten, dass ich eben noch auf mein Zimmer gehe und mein Gepäck in Ordnung bringe, so werde ich Sie begleiten. Ich sehe, Sie haben ein Auto, aber ich möchte lieber zu Fuß gehen."

Andy sagte nichts, bis sie zu Merrivan kamen.

"Professor Bellingham will mir einige interessante Funde zeigen", erklärte er dann liebenswürdig. "Ich danke Ihnen verbindlichst für Ihre Freundlichkeit."

"Vielleicht kommen Sie wieder einmal hierher, ich würde Sie dann gerne in Beverley Green herumführen."

"Das wäre mir ein großes Vergnügen." Es war keine Höflichkeitsphrase, sondern Andys wirkliche Meinung.

Er stieg hinter Scottie die Treppe des Gästehauses hinauf und folgte ihm in das hübsche Zimmer, das 'Professor Bellingham' zwei Tage lang bewohnt hatte.

"Mißtrauen ist der Fluch unserer Zeit", beklagte sich Scottie bitter. "Glaubten Sie etwa, dass ich nicht wieder zu Ihnen hinuntergekommen wäre, wenn Sie mich allein gelassen hätten?"

Scottie war mitunter kindisch, und Andy gab sich gar nicht die Mühe, auf diese Frage zu antworten.

Ein Ausdruck gekränkter Unschuld lag auf den Zügen des großen Mannes, als er in den Wagen stieg.

"Es gibt zu viele Autos jetzt", beschwerte er sich. "Durch unvorsichtiges Fahren kommen täglich Hunderte um. Was wollen Sie eigentlich von mir, Macleod? Was Sie auch gegen mich vorbringen mögen, ich habe in jedem Fall ein Alibi."

"Wo haben Sie das her? Haben Sie es auch bei den Versteinerungen gefunden?" fragte Andy.

Scottie hüllte sich in würdevolles Schweigen.

Kapitel 2



Nachdem man in Beverley angekommen war, mußte Andy erst noch einige Formalitäten erledigen, bevor der Gefangene nach London überführt werden konnte.

Es wurde ihm auf der Polizeistation mitgeteilt, dass die Überführung erst noch von einem lokalen Justizbeamten genehmigt und angeordnet werden müsse.

"Wo kann ich denn einen finden?" fragte Andy.

"Da ist zunächst Mr. Staining, Sir", sagte der Polizeisergeant gemütlich, "aber der ist gerade krank. Dann Mr. James Bolter, aber der ist auf Urlaub. Mr. Carrol, gut, dass ich daran denke, der ist zur Pferdeschau gegangen. Er züchtet nämlich ..."

"Es scheint hier etwas in der Luft zu liegen", unterbrach ihn Andy, "das die Leute schwatzhaft macht, Sergeant. Aber vielleicht habe ich mich nicht deutlich genug ausgedrückt. Ich wollte nicht die Leute wissen, die nicht zu sprechen sind. Gibt es hier in der Nähe denn niemand, der das Amt eines Friedensrichters verwaltet?"

"Ja, wir haben hier einen solchen Herrn", erwiderte der Sergeant mit Nachdruck. "Mr. Boyd Salter. Der wird Ihnen den Schein ausstellen." Er fügte aber vorsichtig hinzu: "Wenn er zu sprechen ist."

Andy mußte lachen, machte sich aber doch auf, um sein Heil bei Mr. Boyd Salter zu versuchen.

Er fand, dass der nächste Weg zu dessen Haus nicht über Beverley Green führte. Mr. Salters Ländereien grenzten an Beverley, man konnte am Ende der Stadt durch ein großes Parktor zu seinem Besitz kommen. Andy hatte es schon vorher bemerkt und war neugierig gewesen, wer da wohnen mochte.

Beverley Hall, der Sitz Mr. Boyd Salters, war ein stattliches Gebäude, das im Stil des berühmten Iñido Jones erbaut war.

Hier herrschten Schweigen und Ruhe. Das Ticken einer Standuhr war das einzige Geräusch, das Andy vernahm, als er in die geräumige, mit Steinfliesen ausgelegte Halle geführt wurde. Der Diener, der Andys Karte hineintrug, ging völlig geräuschlos, und Andy bemerkte zu seinem Erstaunen, dass der Mann Gummischuhe trug. Als dieser nach einiger Zeit zurückkehrte, bat er den Detektiv, näher zu treten.

"Mr. Salter ist leidend. Wenn Sie in seiner Gegenwart recht leise und ruhig sprechen wollten, würde er Ihnen sicher sehr dankbar sein."

Andy erwartete nun, einen schwerkranken, zitternden, alten Herrn zu finden, der in einem Sessel saß und von vielen Kissen gestützt wurde. Aber er trat einem gesund aussehenden Mann von etwa fünfzig Jahren gegenüber, der lebhaft aufschaute, als sein Besucher den Raum betrat.

"Guten Tag, Mr. Macleod. Was kann ich für Sie tun? Ich sehe, dass Sie Polizeibeamter sind", sagte er und betrachtete die Karte noch einmal.

Andy erklärte ihm die Ursache seines Besuches.

"Es ist nicht nötig, dass Sie so leise sprechen", meinte Mr. Salter lächelnd. "Tilling hat Sie wahrscheinlich darum gebeten? Manchmal bin ich allerdings sehr nervös, aber heute habe ich einen guten Tag."

Er las das Schriftstück durch, das Andy ihm vorlegte, und unterschrieb es.

"Unser Freund ist der Diamantenräuber, nicht wahr? Wo hat er sich denn versteckt gehalten?"

"In Ihrer Gartenstadt", erwiderte Andy.

Ein Schatten legte sich über Mr. Salters schöne Gesichtszüge.

"Sprechen Sie von Beverley Green? Er war natürlich im Gästehaus?"

Andy nickte.

"Haben Sie einen der Villenbesitzer getroffen?"

"Ja, Mr. Merrivan."

"Es sind merkwürdige Leute!" sagte Mr. Salter nach einem kurzen Schweigen. "Wilmot, sein Neffe, ist ein sonderbarer Mensch. Ich weiß nicht, was ich aus ihm machen soll. Mir ist schon öfters der Gedanke gekommen, dass er ein Gentlemanverbrecher ist. Wirklich, ein merkwürdiger Kerl! Und dann dieser Nelson, ein heruntergekommener Bursche! Trinkt wie der Teufel!"

Andy erinnerte sich jetzt an die Geschichte, die er von dem Künstler gehört hatte.

"Er hat ja wohl eine Tochter", warf Andy hin.

"Ja, ein hübsches Mädchen. Wilmot soll mit ihr verlobt sein. Mein Sohn erzählt mir alle diese Neuigkeiten, wenn er zu Hause ist. Der bringt alles heraus. Er müßte eigentlich Detektiv werden, er ist aber noch auf der Schule."

Er schaute auf den Haftbefehl, löschte die Unterschrift ab und reichte Andy das Schriftstück über den Tisch.