Christoph Kleemann

Hans im Glück

oder

Die Reise in den Westen

Roman

mitteldeutscher verlag

2015

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-95462-510-9

Die Figuren dieses Romans sind erfunden. Sollten sich Ähnlichkeiten mit lebenden Personen ergeben, dann weil auch unsere Erfindungen dem Leben entstammen.

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

1

Wie normal das heute ist. Man kauft ein Ticket, steigt in einen Zug und fährt, wohin man will. Vierzig Jahre lang haben wir davon geträumt.

Georg saß im Großraumwagen eines ICE, seine Tasche, zu hoch für das Gepäckfach über ihm, lag neben seinem Sitz auf dem Boden. Der Zug fuhr geräuschlos an, brachte das Gleislabyrinth des Bahnhofsgeländes aus Kreuzungen und Weichen schaukelnd und ruckend hinter sich und fand seine Strecke. Ruhig glitt er dahin, mit steigender Geschwindigkeit. Georg kippte die Rückenlehne nach hinten und schaute zum Fenster hinaus. Die letzten Vorortsiedlungen verloren sich am Horizont. Abgeerntete blassgelbe Felder und mattgrüne Weiden, von dunklen Waldfetzen durchbrochen, wie das scheckige Fell einer Hyäne. Rehe blickten auf und fraßen angstlos weiter. Schwärme von Möwen schneiten auf umgebrochene Äcker nieder. Masten flogen vorbei, an durchhängenden Kabeln aufgereiht. In regelmäßigen Abständen senkten sie sich ins Bild und hoben sich wieder an seinen Rand. Ein Kirchturm, von dunklen Dächern umstellt, stach wie ein Bleistift in den stumpfen, grauen Herbsthimmel. Es war Mittwoch, der 17. Oktober, und es war der achtzehnte Herbst seit dem beherzten Aufbruch, der jetzt friedliche Revolution hieß und den so viele nur noch Wende nannten.

Er wusste nicht mehr, was für ein Herbst jener Herbst 89 gewesen war, wie stürmisch oder still, wie kalt oder mild. Er erinnerte sich an kein leuchtendes Laub an den Bäumen, keinen blutroten Abendhimmel, kein tosendes, aufgewühltes Meer. Als Naturereignis schien dieser bedeutsame Herbst ausgefallen zu sein. Geblieben waren Erinnerungen an eine stürmische Zeit, an aufgewühlte Menschen mit leuchtenden Gesichtern, an verdächtige Stille um das nächtliche Hauptquartier und tosende Menschenaufläufe auf dem Weg dahin. Er sah das blutrote Gesicht des Stasi-Offiziers vor sich, der – flankiert von zwei bewaffneten Männern des Wachregiments – die Demonstranten durch ein Megafon aufforderte, den Platz zu verlassen und nach Hause zu gehen, andernfalls … Was andernfalls? Das Weitere ging unter im Gelächter der Tausenden, die soeben ihre Angst verloren vor Drohungen, zornigen Gesichtern und mausgrauen Uniformen. So war es beim ersten Mal. Eine Woche später traute sich kein Offizier mehr vor das Tor. Die Angst hatte die Besitzer gewechselt.

Wovor hatten sie Angst, die Männer da drinnen, hinter den vergitterten Fenstern? Vor den singenden, skandierenden, klatschenden Menschen, von denen keiner eine Waffe trug oder Steine auflas, wie bei manchen Demonstrationen in der neuen Zeit? Oder vor den eigenen Befehlsgebern, derer man sich inzwischen nicht mehr sicher sein konnte? Oder vor dem Wissen um Rechtsbeugung und Gesinnungsterror, vor dem eigenen Gewissen? Nein, das kaum. Das Gewissen kam in ihrem Wortschatz vermutlich gar nicht vor.

Georg war noch ein Kind, da beeindruckte er seine Hamburger Tante Susanne, als er erklärte, er möge den Herbst von allen Jahreszeiten am liebsten. Wie er denn darauf komme, wollte sie wissen, wo doch alle Kinder den Frühling liebten. Der Herbst habe die schöneren Farben, erklärte er, der Frühling sei ihm zu grell, das Grün steche in die Augen, die Frühlingsfarben seien ihm zu knallig. Außerdem liebe er es, wenn draußen alles langsam zur Ruhe komme. Das waren die Worte, mit denen ihm seine Mutter ihre besondere Vorliebe für den Herbst beschrieben hatte. Er plapperte sie nach, ohne deren Sinn verstanden zu haben, mit dem Erfolg, in den Augen seiner Tante Suse als besonders frühreif zu gelten. Schamhaft erinnerte er sich jener altklugen Attitüde, als er, in die Jahre gekommen, die Reize des Herbstes nun wirklich für sich zu entdecken begann. Das dunkle Gelb der Rudbeckien, die schweren Karmin-, Rubin- und Violetttöne der Astern, die leuchtenden Blätter des Amber, der sich stets als Erster zu verkleiden begann, die lodernden Flammen des Wilden Weins, der von Jahr zu Jahr das Haus fester umschloss. Dann kamen die Elstern, paarweise, schritten und hüpften mit wippenden Schwanzfedern das Revier ab, als müssten sie es vor dem hereinbrechenden Winter ein letztes Mal inspizieren und prüfen, ob ihre winterflüchtigen Geschwister den Garten geordnet hinterlassen hätten. Setzten die ersten Stürme ein, begann die von freundlichen Ritualen begleitete Hausinnenzeit.

Wochenends genoss er die blauen Stunden, die immer früher einsetzende Dämmerzeit, lag schon am Nachmittag im Sessel, schlürfte würzigen Tee und las oder schaute hinaus zu den Birken, die sich im Wind wanden und mit ihren wedelnden Zweigen das Gartenhaus peitschten.

In der Zeit, in der er vor Sonnenaufgang das Haus verlassen musste – Ariane konnte eine Stunde länger schlafen – und, manchmal lange nach ihr, im Dunkeln heimkehrte, roch es im Haus nach Paraffin. Überall standen Kerzen, schon Wochen vor Advent. Selbst wenn Georg bis weit in die Nacht im Lichtkegel seiner Schreibtischlampe schrieb und las, teilte er den knappen Sauerstoff seines kleinen Arbeitszimmers mit dem letzten Stumpen einer Altarkerze, dessen flüssiges Wachs manchmal über den Rand des gläsernen Untersetzers lief und eine bleiche Spur in die rohe Holzplatte fraß.

Georg liebte diese Zeit, in der sich alles nach innen wandte, in der Natur da draußen wie auch in der eigenen Gedankenwelt. Die Zeit der stillen Stunden, die Zeit auch, in der Georg manchmal Worte fand für scheinbar Unaussprechliches und Bilder sah, die noch gemalt werden wollten.

Schließt er die Augen, kann er noch das Fauchen in den Schornsteinen hören, damals zu Hause, das durch die geschlossenen Türen der Kachelöfen dringt. Wenn das Brausen des Windes einsetzt, liegt auch schon all das schöne Laub wild zusammengefegt zwischen den Hecken, die den Garten von drei Seiten umgeben. An einem windstillen Nachmittag muss die letzte Gartenarbeit getan werden. Seine Schwester und er bekommen Laubrechen in die Hand, um die Blätter unter den Büschen wieder hervorzuholen und mitten auf der Wiese zu Haufen aufzutürmen, von wo sie der Vater mit einem dreirädrigen Karren in die hinterste Gartenecke fährt. Dort hat er einen Komposthaufen angelegt, der nun unter Laub begraben und mit einer Plane abgedeckt wird.

Die blauen Stunden bis zum ersten Schnee hocken Georg und seine Schwester oft eng an die Mutter gelehnt auf ihren kleinen Fußbänken und lassen sich in eine Welt entführen, in der es Zwerge und Feen, Riesen und Räuber, Drachen und Wölfe und vor allem Bauernjungen und Prinzessinnen oder Prinzen und Bauerntöchter gibt und in der sich ihre Mutter so gut auskennt, dass sie nie ein Buch braucht, um davon zu erzählen.

Der Herbst ist zu Ende, sobald der erste Schnee den Garten mit seinen Bäumen und Büschen und Gräsern zu verzaubern anfängt und den Zaunlatten kleine weiße Hüte aufsetzt. Dann verbringen die Kinder die Nachmittage im Freien, oft am nahe gelegenen Galgenberg, der hoch genug ist, dass man in Ketten rodeln kann. Einmal gerät eine Kette von vier aneinandergeknüpften Schlitten so ins Schleudern, dass die Schlitten kippen und sich überschlagen, während die Kinder lachend und schreiend durcheinanderpurzeln. Ein Junge aus der Nachbarschaft aber prallt gegen eine Platane, wo er hart aufschlägt, zwei Zähne verliert und mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht werden muss. Von da ab gilt Schlittenverbot am Galgenberg, zumindest für Georg und seine Schwester.

Alle anderen kindlichen Wintererinnerungen schienen wie von einem schwarzen Loch aufgesogen. Die Herbstbilder vermochte er jederzeit abzurufen, so lebendig waren sie in ihm abgespeichert.

Eine Woche seines Jahresurlaubs blockierte Georg für den Herbst, und er nahm sie für sich allein in Anspruch. Manchmal suchte er eine Unterkunft im Elbsandsteingebirge oder im Vogtland, neuerdings auch mal in der Lüneburger Heide oder im Sauerland. Diesmal verbrachte er die letzte Septemberwoche im sächsischen Dreiländereck. Das Haus, eine ehemalige kirchliche Ausbildungsstätte, befand sich im oberen Teil eines Dorfes an der Grenze zu Tschechien.

Hier hatte er schon einmal zwei Urlaubswochen verbracht. Das war im Sommer 1968. Er kann sich genau erinnern.

Mit seinem klapprigen Motorroller knattert er sechsmal in vierzehn Tagen bis nach Prag und besucht tschechische Freunde, um mit ihnen die neue Freiheit zu feiern, die unter Dubček ins sozialistische Nachbarland eingezogen ist. Schon in der Kneipe hinter der Grenze, wo Georg haltmacht, um sich ein erstes Pilsener Urquell zu gönnen, vermag er das Andere zu spüren. Man diskutiert laut und euphorisch über die neue Lage, ohne die Geheimpolizei zu fürchten. Ein alter Mann am Tresen übersetzt für Georg jeden Satz. Ihr werdet auch bald frei sein, meint einer, euer Ulbricht ist doch überfällig. Man prostet sich zu: Vivat Dubček! Vivat Svoboda! und Nieder mit Ulbricht! Nieder mit Breshnew! Russen auf den Mond! In Prag kommt sich Georg wie im Westen vor. Die Stadt legt ihr Grau ab, kleidet sich bunt und hell. Das Schwerlastige und Verkniffene, das ihn bei früheren Besuchen so an die DDR erinnert hat, ist verschwunden. Ihm scheint, er begegne einer neuen Gattung Mensch, offen, zuversichtlich und selbstbewusst. Dann aber, eines Morgens, Georg liegt noch im Bett, schießen Düsenmaschinen über den Kamm in Richtung Tschechoslowakei. Dieser Mittwoch wird sich in sein Gedächtnis tief einbrennen. Mittwoch, der 21. August. Voller unguter Ahnungen springt er aus den Federn und läuft zum Fenster. Unten sammeln sich, schreiend und heftig gestikulierend, die Dorfbewohner. Eine Frau mit Tränen in den Augen erzählt ihm, schon am späten Abend des Vortages sei eine endlose Kette von Panzern der sogenannten Bruderländer dröhnend und kreischend durch das Unterdorf gestoben, habe das Grenztor niedergewalzt und Kurs auf Prag genommen. Ratlosigkeit, Wut und Verzweiflung zeichnen die Gesichter. Ein paar Tschechen aus den benachbarten Grenzdörfern kommen hinzu. Mit zornigem Blick fragen sie: Warum macht ihr alles kaputt? – Wir wollen das doch auch nicht, sagen die Einheimischen. Das sind doch immer die da oben. Einer bemerkt: Ihr Tschechen habt die Russen doch selber gerufen. Er muss zusehen, dass er unbeschadet nach Hause kommt. Der Bürgermeister lässt sich zwei Tage verleugnen und zeigt sich erst wieder, als die offizielle Lesart der Geschehnisse aus Berlin vorliegt. Aus der Traum, denkt Georg. Aus die Hoffnung, sein Land könne sich von dieser Variante des Sozialismus doch noch anstecken lassen!

Jahre später, der Sozialismus sowjetischer Prägung gibt sich erinnerungsresistent gegenüber allen gescheiterten Ausbruchsversuchen, besucht Georg einen kranken Freund im trostlos grauen Zittau. Am Nachmittag streift er noch einmal durch den leuchtenden Lausitzer Herbstwald, sammelt Maronen und Perlpilze, gerät auch mal versehentlich auf die tschechische Seite und findet unbemerkt zurück. Er genießt die tiefe Stille der fast unberührten Natur, wie sie nur noch in den Sperrgebieten und grenznahen Zonen zu finden ist. Nur ein Fuchs kreuzt seinen Weg. Von einer Erhebung schaut er nach Böhmen hinüber und meint, ein Bild Caspar David Friedrichs wiederzuerkennen.

Wo Georg auch immer seine herbstliche Urlaubswoche zubringt, am Abend sitzt er bei Kerzenschein in seinem Quartier und schreibt, wenn er nicht liest, in sein Tagebuch. Weniger die bescheidenen Tagesereignisse scheinen ihm wert, festgehalten zu werden, als vielmehr das, was sich von einem Herbst zum anderen ereignet hat. Er berichtet von seinen Reisen, unter denen schon lange keine Westreise mehr zu verzeichnen ist. Er erzählt von Besuchen, die ihn berührt haben, Besuchen auch aus dem anderen Deutschland. Er schreibt von literarischer Bückware, Büchern, die unter dem Ladentisch verkauft werden und die als Geheimtipp gelten, weil sie verschlüsselte Systemkritik enthalten. Manche der Autoren hat er lesen gehört. Eine, die dem Schriftstellerverband den Rücken gekehrt hat, lädt er in seine Gemeinde ein. So viele fremde Gesichter habe es in seiner Kirche nur Heiligabend gegeben, schreibt er in sein Tagebuch. Bewegende Theaterbesuche und Konzerte erwähnt er wie Naturereignisse und meteorologische Besonderheiten. Aber auch kleine, ganz persönliche Begebenheiten notiert er akribisch und unverdrossen in eines seiner unzähligen Oktavheftchen, die er jeweils mit einer Jahreszahl versieht. Manchmal mischen sich schwermütige Bilder aus elenden grauen November- und Dezemberwochen dazwischen.

Später, als es ihn in den Norden verschlägt, setzt er seine Gewohnheit fort und sucht sich für seine Herbstwoche Unterkünfte auf dem Darß, auf Rügen oder Usedom.

Einmal gelingt es ihm, eine Herbstwoche auf Hiddensee zuzubringen, in der Zeit, als die Insel bereits in das Verteidigungskonzept der DDR einbezogen ist.

Auch da trägt er sein kleines Heft bei sich und notiert Stichworte, die er abends im Krug bei einer Flasche Gamza in Sätze fasst.

An einem dieser Abende stehen zwei Männer hinter ihm und wollen wissen, was er da mache. Sie tragen keine Schlapphüte und keine Ledermäntel. Georg hält sie für neugierige Kneipengäste. Er schaut kurz auf und sagt: Ich schreibe.

Das sehen wir auch, sagt der eine und zückt einen Ausweis, zu knapp, als dass Georg erkennen kann, mit wem genau er es zu tun hat. Aber er versteht.

Kommen Sie mit, sagt der andere und führt Georg in einen kleinen Nebenraum. Dort nimmt er ihm sein Heft ab und beginnt darin zu blättern und zu lesen. Er winkt seinen Kollegen herbei und zeigt ihm etwas. Beide zwinkern sich zu und lachen. Dann machen sie wieder ein ernstes Gesicht und belehren ihn knapp und förmlich, er befinde sich im Grenzgebiet und solle sich strikt an die geltende Ordnung halten. Dazu gehöre auch, keinerlei Notizen über militärische Bewegungen oder Standorte auf der Insel zu machen und nach Einbruch der Dunkelheit den Strandbereich zu meiden. Man reicht ihm sein Heft zurück und wünscht ihm ansonsten noch einen angenehmen Abend.

Doch die Leichtigkeit des Abends kehrt nicht mehr zurück, auch an den folgenden Tagen nicht. Georgs Gedanken sind wie blockiert. Bemerkungen zur allgemeinen politischen Lage fanden bisher zwar selten Eingang in seine Tagebücher. Jetzt aber bekommt diese mehr zufällige Unterlassung Vorsatzcharakter, wird zu einer Art Eigenzensur und nimmt damit seinen Notizen ein Stück Authentizität.

Aber seine jährliche Herbstwoche bleibt ihm heilig. Sowohl Sabine als später auch Ariane tolerieren diesen Alleingang, wissen sie sich doch so für eine Woche seiner zwanghaften Ordnungsliebe enthoben, die nicht selten das häusliche Klima in eine mittlere Krise treibt.

Die Liaison mit Katharina allerdings hätte diese eine Herbstwoche beinahe nicht überstanden. Denn Katharina droht, sollte er allein losfahren, sich nie wieder blicken zu lassen. Dann aber findet er sie, als er zurückkehrt, in seiner Wohnung vor, aufgeräumter als diese selber und zärtlicher denn je.

Einmal vergisst Georg seine herbstliche Auszeit. Das ist 1989. In diesem Herbst ist alles anders.

Georg steht am Ausgang und befindet sich unter den Ersten, die hinaus ins Dunkel treten. Er sieht heitere Menschen, von Kerzen angestrahlt, die nach ihm aus dem Portal der Markuskirche quellen, Menschen, die sich verschwörerische Blicke zuwerfen, viele bekannte Gesichter darunter, aber auch neue. Fremde möchte er nicht sagen. Wer jetzt mitgeht, ist nicht mehr fremd.

Georg, hört er eine Stimme, hast du mal Streichhölzer?

Damit der Wind die ungeschützten Lichter nicht ausbläst, hat Georg, wie viele andere, seinem Licht eine Papiermanschette verpasst. Noch leuchtet seines.

Nein, sagt er, hab ich nicht. Aber du kannst dein Licht an meiner Kerze anzünden.

Ich wollt eine rauchen, sagt der junge Mann neben ihm.

Jetzt, wo es losgeht, fragt Georg.

Genau, sagt er, jetzt, weil es losgeht. Ich mag aber meinen Stummel nicht in eine Kerze halten.

Eine befreiende Anspannung liegt über der ersten Demonstration in seiner Stadt.

Sein Blick streift die dunkelblauen Anoraks mit dem roten Futter, die sich schon am Nachmittag in Zweier- und Dreiergruppen völlig unauffällig um die Kirche herum postiert haben, so zivil wie irgend möglich und darin wieder uniform.

Müsste man sich die Gestalten merken, die man in sie gesteckt hat? Wozu?

Aber das Gefühl an diesem ersten Mittwoch muss uns erhalten bleiben, darf niemals ganz verloren gehen, denkt er. Wer weiß, wofür wir es noch brauchen.

Jetzt fuhr Georg in den Westen.

Für ihn war es noch immer eine Westreise, obgleich sich die Spuren des DDR-Grenzregimes inzwischen verloren hatten. Wenn er am Schalter eine Fahrkarte in die alten Bundesländer löste, nannte er den Ort und fügte hinzu: im Westen. Meistens lächelte dann sein Gegenüber.

Manchmal aber trafen ihn auch böse Blicke. Und jedes Mal, wenn er sich der einstigen Grenze durch Deutschland näherte, kroch aus einer nicht lokalisierbaren Tiefe diese alte Angst in ihm empor, die ihm den Hals zuschnürte und ihn Glauben machte, gleich würde die Tür aufgerissen, zwei Uniformierte forderten seinen Pass und stellten unangenehme Fragen, und er brächte keinen ordentlichen Satz mehr heraus.

In den Neunzigerjahren war er oft mit dem Dienstwagen unterwegs. Dann stierte er schon lange vor der ehemaligen Grenze aus den Fenstern und bat den Fahrer, das Tempo zu drosseln. Er wollte sich vergewissern, dass die Grenze wirklich verschwunden ist. Dann aber wollte er auch wieder etwas entdecken, was an sie erinnerte.

Zwei Jahre ist es her, dass er das letzte Mal mit dem Zug in den Westen gefahren ist. Auch diesmal wieder möchte er den einstigen Grenzbahnhof nicht verpassen.

Seine Gedanken verharren im Herbst 89.

Als die erste Fahne ohne Hammer, Zirkel und Ährenkranz auftaucht, erschrickt er. Es kommt ihm wie Verrat vor. Eben waren wir uns noch einig: Wir sind das Volk, wir werden es euch zeigen, wir haben keine Angst mehr, wir bauen uns unsere Demokratie selber, wir jagen euch zum Teufel mit euern Wanzen und mit euern Panzern. Manche wollen sie in einen Zug sperren, der erst in Moskau wieder hält. Dann sind sie in ihrem Paradies. Wir brauchen nur eine Wirklichkeit, in der sich gerne leben lässt. Sein Bild vom Westen ist nicht vom Westbild beeinflusst. Wenn er gefragt wird, was hast du für ein Westbild, muss er antworten: Wir haben kein Fernsehen. Ich höre Radio. Das reicht mir. Er kennt weder Traumschiff noch Schwarzwaldklinik noch Denver Clan. Aber auch Aktuelle Kamera und Schwarzer Kanal sind ihm fremd.

In Westberlin lebt Tante Veronika, die Schwester seiner Mutter. Sie versorgt die Familie mit Kaffee und Literatur. Als Patentante – mit Bedacht für beide Geschwister erwählt – erfüllt sie kleinere, später auch größere Kinderwünsche und ist Ziel und Ausgangspunkt für alle Westreisen der Familie, vor der Mauer natürlich. Wenn sie zu Besuch kommt, schmuggelt sie gern einen SPIEGEL unter ihrer Diakonissentracht über die Grenze. Vitaminkapseln und Herzpräparate für den Vater mischt sie unter die Zuckereier im Osterpäckchen. Und über die Korrespondenz, die die Schwestern mit nahezu täglichen Eilbriefen hin und her pflegen, hält sie die Familie über die Tagespolitik auf dem Laufenden. Sein Vater nennt sie: Schwester für Politik und Zeitgeschichte.

Der Brandt wird einmal Kanzler werden, schreibt sie. Der Adenauer hat zwar mit den Franzosen Frieden geschlossen und die letzten Gefangenen aus Russland zurückgeholt. Aber er hat Angst vor den Russen. Angst ist kein guter Ratgeber. Der Brandt kennt das Leben in der geteilten Stadt und weiß, wie man mit den Russen umgeht. Der wächst in Bonn, glaub mir. Außerdem respektieren ihn die Ehrlichen unter den Kommunisten, weil er in Norwegen im Widerstand war …

Der Heinemann hat neulich gesagt, wir müssen endlich aufhören, immerfort auf Wachstum zu setzen. Irgendwann kippt unser Wohlstand um. Stattdessen sollten wir Reserven schaffen, damit der Sozialstaat noch hält, wenn sich die Dritte Welt emanzipiert. Wenn das man nicht schon zu spät ist! …

Ob euer Ulbricht noch lange zugucken wird, wie die Kirche in der Zone von der Westkirche unterstützt wird? Diese Atheisten warten doch nur auf eine Gelegenheit, der Kirche den Garaus zu machen.

Im Übrigen, wenn die Alliierten nicht in West-Berlin säßen, die würden nicht davor zurückschrecken, auch noch durch Berlin eine richtige Grenze zu ziehen …

Als Kind darf er manchmal, wenn sein Vater in Berlin zu tun hat, mitfahren, im Dienstauto, einem Mercedes 170 S. Der steht heute in einem sächsischen Verkehrsmuseum. Herr Friebel, fahr mal hundertzwanzig, drängelt er dann. Und Herr Friebel gibt Gas und saust an den anderen Autos vorbei. (Wenn seine Mutter mitreist, ruft sie gleich: Nicht so schnell, Herr Friebel, da wird einem ja ganz schlecht. Außerdem wollen wir doch heil ankommen.) Ihn bringt der Vater zu Tante Vero, während er seinen Amtsgeschäften nachgeht. Wenn er abends bei Tante Veronika eintrifft, ist Georg meistens schlecht, so viel Schokolade und Marzipan hat er gegessen. Jede Schwester in Tante Veronikas Krankenhaus will dem Neffen aus dem Osten etwas Gutes tun. Meist ist es zu viel des Guten.

Apropos Schokolade. Er zog den Reißverschluss seiner Reisetasche auf und angelte nach der Schokoladentafel, die er sich eingesteckt hatte. Heute nur noch schwarz und bitter, von 75 Prozent aufwärts. Ein Stück, mehr nicht. Dafür waren die Stücken jetzt viermal so groß.

Langsam ließ er den Leckerbissen auf seiner Zunge schmelzen. Draußen fegte eben ein Kleinstadtbahnhof vorüber, zu schnell, als dass man den Ortsnamen hätte entziffern können.

Wo war ich eben? Westberlin, richtig.

Seinen letzten Besuch in Westberlin unternimmt er trampenderweise mit Ulrike, seiner zweiten Liebe, wenn man die erste mitrechnen darf. Die heißt Karin und teilt mit ihm die Schulbank von der ersten bis zur dritten Klasse, bleibt ihm aber treu, bis er in den Chor kommt. Dass sie sich aus den Augen verlieren, schreibt er sich später als sein Versäumnis zu. Sie lässt ihn noch Jahre später über seine Mutter grüßen.

Ulrike kann man nicht mehr eine Kinderliebe nennen, weil er inzwischen ausgesprochen männliche Gefühle in sich verspürt. In Westberlin gibt es 1960 eine große Expressionismus-Ausstellung. Da muss er hin. Und Ulrike, die sich mehr für Georg als für Literatur und Kunst interessiert, muss mit. Sie erhalten natürlich getrennte Zimmer auf unterschiedlichen Fluren im Christlichen Hospiz in der Albrechtstraße. Ulrike ist die Tochter eines Arztes und bekommt viermal so viel Taschengeld wie er. Sie bezahlt die Übernachtung. Er besitzt ein bisschen Westgeld und übernimmt die Eintrittskarten für die Expressionismus-Ausstellung und die Wurst am Bahnhof Zoo. Diesmal meidet er Tante Vero. So groß ihr Herz auch ist, er befürchtet, sie werde die Reise des Neffen seinen Eltern nicht verschweigen wollen. Das zu erwartende Donnerwetter würde nicht ausbleiben, erst recht nicht, wenn sein Vater erführe, dass sein Sohn in weiblicher Begleitung unterwegs war.

Georg kann nicht wissen, dass er seine Tante für Jahre nicht wiedersehen wird.

Nicht ganz unerwartet klopft es an seine Tür. Da steht Ulrike im Nachthemd und tut, als fröre sie. Er zieht sie ins Zimmer und nimmt sie mit in sein Bett. Sie schmiegt sich an ihn, und er spürt ihre straffen kleinen Brüste. Er küsst sie und streichelt sie halsabwärts, bis er ihren kleinen runden Po zu fassen kriegt. Dann streichelt er sie poaufwärts unter ihrem Nachthemd weiter. Und auf einmal geschieht es. Er erschrickt so, dass er die Hand hervorzieht und Abstand sucht. Es tut mir leid, stammelt er und weiß nicht, wohin mit sich. Sie scheint das nicht aus der Fassung zu bringen. Sie schlingt ihren rechten Arm um seinen Hals und schiebt sich auf ihn. Er aber stößt sie zurück und wendet sich ab vor Scham. Sie bleibt bei ihm, dicht an seinen Rücken gepresst. Vor Sonnenaufgang muss sie sich aus seinem Zimmer geschlichen haben. Er findet nur ihren Geruch noch vor.

Beim Frühstück kein Wort davon, stattdessen eifrige Anstrengungen, den Vormittag sinnvoll zuzuplanen. Und während sie auf den Stufen des Pergamonaltars ins Schwärmen gerät, denkt er immer nur: Das nächste Mal wird es besser werden. Aber es gibt kein nächstes Mal.

Er schaute zum Viererabteil über den Gang. Ein stoppelbärtiger junger Mann, die Ärmel halb aufgekrempelt, die oberen Hemdknöpfe offen, sodass die Wolle herausquoll, saß mit ernstem Gesicht an seinem Laptop wie in einem rollenden Büro. Immer wieder las er etwas, scrollte mit seiner rechten Hand rauf oder runter, schrieb mit flinken Fingern ein paar Zeilen, stellte die Ellenbogen auf, klemmte nachdenklich seinen Kopf zwischen die Hände und las erneut. Die junge Frau ihm schräg gegenüber krümelte eben die andere Hälfte der Tischplatte mit ihrem Kuchen voll. Jedes Mal, wenn sie abbiss, beugte sie sich über den Tisch. Ihr grün-weiß gestreifter Pullover und der Schoß ihres langen meergrünen Rockes waren ebenfalls schon voller Krümel. Durch ihre leicht verschmierte Brille schaute sie zu Georg hinüber und lächelte. Er lächelte zurück und fragte: Schmeckt’s?

Selbst gebacken, sagte sie, dabei blies sie weitere Krümel aus den Winkeln ihres vollgestopften Mundes. Sie zog die Stirn in Falten, was so viel heißen sollte wie Pardon, und wedelte die Krümel von Pullover und Rock auf den Boden.

Als er wieder zu ihr hinüberschaute, war der Platz aufgeräumt. Sie lümmelte in der Fensterecke, die Füße auf dem Nebensitz, und las.

Georg versank wieder in Gedanken.

Es ist ein sonniger Morgen. Wie immer steht er als Erster auf.

Eine Angewohnheit aus frühen Internatszeiten.

Achtzig Jungen auf vierzig Waschbecken. Wer da nicht schnell ist, muss warten. Und wer ein Becken erobert hat, lässt sich manchmal Zeit. Dann wird es für die anderen eng. Zur Morgenandacht müssen alle unten im Speiseraum sein.

Später genießt er die frühen Morgenstunden. Er gehört inzwischen zu den Oberen, ist Tischältester, Mentor von drei Fünftklässlern, besitzt einen eigenen illegalen Hausschlüssel und schläft schon längst nicht mehr im großen Schlafsaal mit den 40 Betten, sondern in einer Dachschräge, zusammen mit weiteren fünf Sechzehn- und Siebzehnjährigen. Wenn die anderen aufstehen, hat er sich schon rasiert.

An diesem Morgen steht er nackt auf einer Kuhweide bei Sparow und rekelt sich. Er läuft hinunter zum See und wirft sich ins kalte Wasser. Enten schrecken schreiend aus dem Röhricht auf. Winzige blassgrüne Fische schwärmen vor seinen Schwimmbewegungen davon. Mit kräftigen Zügen erreicht er die Mitte des Sees. Er dreht sich um, sieht, wie die Sonne über den Dächern des Dorfes aufsteigt und alle Dürftigkeit mit einem goldenen Schleier bedeckt. Er wendet. Als er nicht mehr weit vom Ufer entfernt ist, kommt ihm ein Kanon in den Sinn: Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang. Und während er zurück ans Ufer watet, fängt er laut zu singen an. Aus einem der Zelte setzt eine zweite Stimme ein, dann, zaghaft, eine dritte, eine Oktave höher. Er steigt aus dem Wasser, schüttelt sich wie ein Hund, dass es aus seinem vollen Haarschopf spritzt, und hüpft in großen Sprüngen hügelan. Außer Atem, den Kanon mit gebrochenen Lauten fortführend, gelangt er zu seinem Zelt, greift sich ein Handtuch und verstummt. Seine Schwester und Daniel haben singend den Frühstückstisch zu decken begonnen. Ein halbes Mischbrot liegt auf dem vierpfähligen Brettergestell, das er gebaut hat, sein Hirschfänger, eine neue Dose Schmalzfleisch und Marmelade, die nach nichts außer süß schmeckt.

Nächste Woche ist es vorbei mit Bundeswehrreserven, sagt er. Da essen wir nicht mehr, was die Bundeswehr an den Osten abtritt, da essen wir wie die Bundeswehr, lauter gute Sachen: Schinken und französischen Käse und Sardinen und Oliven.

Er sucht eine Musik auf dem kleinen Kofferradio, aber überall wird gerade gesprochen.

Dann müssen wir halt warten, sagt er, und stellt den Ton lauter: … hat die DDR-Führung alle Übergänge nach Westberlin geschlossen …

Alle drei stehen wie erstarrt und schauen sich ratlos an.

Das kann nicht sein, sagt er.

Aber welchen Sender er auch einstellt, überall die gleiche Meldung: Berlin ist dicht.

Das werden sich die Alliierten nicht gefallen lassen, darin sind sie sich einig.

Dann sickern weitere Einzelheiten durch. Die S-Bahn nach Potsdam halte nicht mehr auf Westberliner Bahnhöfen. Alle in Westberlin arbeitenden und studierenden DDR-Bürger seien aufgerufen, sich bei den Behörden zu melden. An den Grenzzäunen, die die DDR über Nacht gezogen habe, stünden Kampfgruppen der Arbeiterklasse zum Schutz der sozialistischen Errungenschaften. Der RIAS berichtet, auf Westberliner Seite versammelten sich Tausende Menschen. Protestrufe, Tränen und Verzweiflung charakterisierten die Stimmung in der nun erst recht geteilten Stadt.

Und wenn nicht? Wenn die Amis nichts machen? Und Adenauer auch nicht? Dann werden wir den Westen nie wieder sehen.

Daniel ist noch blasser geworden, als er sonst schon aussieht. Mein Vater wohnt in Köln, sagt er leise. Und dann heult er los. Die haben mir meinen Vater schon einmal weggenommen, jammert er.

Sein Vater steht 1954 vor Gericht wegen angeblicher Industriespionage. Sie bringen ihn nach Waldheim. Nach fünf Jahren wird er in den Westen entlassen. Daniels Mutter lässt sich, nach massiven Drohungen, von ihm scheiden – und Daniel mit.

Diese Schweine! Diese Schweine! Diese Schweine!, schreit er über den See.

Daniel, zischt Georgs Schwester, nicht so laut!

Aber Daniel ist nicht zu bremsen, Schweine, Schweine, verfluchte Schweine!

Alles für das Wohl des Volkes, zitiert Georg bitter.

Und Tante Vero, flüstert seine Schwester. Wie sagen wir ihr jetzt, dass wir nächste Woche nicht kommen, vielleicht nie mehr?

Glaubst du, die hört keine Nachrichten, ausgerechnet Tante Vero? Sie wird das schon eher erfahren haben als wir.

Dabei kommt er sich sehr erwachsen vor, obgleich auch er mit den Tränen kämpft.

Nie wieder eine Westreise, murmelt er später. Wahrscheinlich auch nicht mit dem Chor.

Inzwischen fuhren die Leute zwischen Ost und West hin und her, als wäre das immer so gewesen. Die Jungen kannten es nicht anders. Die Alten schienen vergessen zu haben, wie es war, als sich dieses kleine komische Land mit einer scharfen Grenze eingeriegelt hatte und eine Enklave der Freiheit mitten in seinem Staatsgebiet dulden musste. Enklave der Freiheit, ein Paradoxon eigentlich. Aber es war ja so vieles paradox.

Er griff in die obere Außentasche seiner Lederjacke und zog Kopfhörer und MP3-Player heraus. Das Display zeigte: Bach, Cembalokonzert f-Moll, erster Satz. Georg schloss die Augen. Die Aufnahme war ihm vertraut. Er konnte sie genießen, auch wenn ihm die andere, die er auf CD besaß und die fast doppelt so schnell gespielt wurde, lieber war.

Interpretationen sind nicht nur musikalische Auffassungen, manchmal sind es Weltanschauungen, manchmal unversöhnliche, sagte er sich.

Im Neubau des Eisenacher Bachhauses konnte man über Kopfhörer ein und dasselbe Stück unter neun verschiedenen Dirigenten miteinander vergleichen: ein musikalischer Streifzug durch hundert Jahre Musikgeschichte! Einige lagen so weit auseinander wie Peking und Paris. Georg besaß vier Aufnahmen der H-Moll-Messe. Besonders beim Credo, das durch seine klare Struktur zum Offenbarungseid jedes Chores werden kann, fiel ihm auf: Es gibt nicht die richtige oder falsche Interpretation. Wie sollte man auch anders seinen Glauben bekennen können als subjektiv? Ein Glaubensbekenntnis ist doch eine zutiefst persönliche Angelegenheit, intim wie ein Liebesgeständnis.

Als er in Eisenach den Meister ohne Perücke sieht, erschrickt er, muss aber zu der Büste immer wieder zurückkehren, bis sie ihm vertraut ist. Danach fühlt er sich seiner großen musikalischen Vorliebe um zwei Jahrhunderte näher.

Mit seiner Innenstimme summte Georg die großen Bögen mit und hoffte, die Stimmbänder würden seinem Befehl zu schweigen gehorchen. Nahezu unmerklich beschrieb seine rechte Hand in Auf- und Abbewegungen den Takt, die Kuppe des Zeigefingers auf den Daumen gelegt. Er schmolz dahin und kam nicht auf den Gedanken, schon mit dem nächsten Titel der Zufallswiedergabe aufgeschreckt zu werden, da schrie ihm bereits Grönemeyer seine Flüsternde Zeit ins Ohr. Er hatte das Lied schon so oft gehört, dass er inzwischen sogar den Text verstand. Die bildhaften und doch einfachen Sätze mochte er, mehr noch die eindringliche Stimme, die weniger mit Gesang als mit musikalischer Provokation zu tun zu haben schien.

Er stellte sich vor, er schrie mit Grönemeyers Stimme seiner Gemeinde im Gottesdienst das Evangelium entgegen. Er sah seine Herzdorfer Bauern vor sich, Herrn Ludwig, der meist schon beim Eingangslied schlief, den schwerhörigen Herrn Watzke, der immer freundlich lächelte und bei dem man nie wusste, was er wirklich mitbekommt, Frau Schreck, die ihn immer mit so erschreckend gläubigem Blick anschaute, dass er glaubte, etwas falsch gemacht zu haben, und all die andern, er sah, wie sie auf einmal aufrecht in ihren Bänken saßen, verstört und mit spitzen Ohren, als ob das Jüngste Gericht über sie hereinbräche. So müsste man predigen, dachte er. Vielleicht war Johannes der Täufer so einer, mehr missionarischer Schreihals und Exorzist als Lehrmeister. Jesus stellte er sich stiller vor, bedachter, entschieden ja, aber nicht so apodiktisch.

Es folgten Reinhard Mey, Carlos Gardel, ein Satz aus der Frühlingssymphonie, Balulalow, Mercedes Sosa mit der Missa Creola, ein Mozart-Divertimento, Piazzolla und wieder Bach. Manchmal lief ein leichter Schauer über seine Schulterblätter die Arme entlang bis in seine Fingerspitzen, wenn er Bach hörte.

Was ist das, was mich nahezu alle Bach’schen Werke, von der Matthäuspassion bis zu den Motetten, von den großen Orgelwerken über die Cembalokonzerte bis hin zu den Cellosonaten als Steigerung dessen erleben lässt, was gemeinhin Musik genannt wird? Die Ordnung, beantwortete er sich selber seine Frage. Es ist die tiefe Ordnung in dieser musikalischen Unendlichkeit, die Klarheit in einer genial-fantastischen Vielfalt, seine überraschende Berechenbarkeit.

In Georgs Auto lagen immer CDs mit Bach’scher Musik, die seine Stimmung innerhalb weniger Takte aufhellen konnten. Mitunter versetzten sie ihn in eine Art blinder Euphorie, dass er weder bemerkte, wie er zu fest auf das Gaspedal trat noch den Blitzer am Straßenrand wahrnahm.

Freunde belächelten ihn manchmal dieser Schwärmerei wegen. Ariane tolerierte seinen Tick mit Milde und gönnte sich zum Ausgleich, wenn er nicht da war, eine donnernde Klangorgie aus Maffay, Lindenberg und Turner durch das ganze Haus.

Der Zug raste mitten durch einen Wald. Wenn Georg frontal durch die Scheibe sah, verschwamm dieser in wildem Flimmern, das die Augen schmerzte, wie bei einem zu schnell laufenden Film. Er musste im spitzen Winkel aus dem Fenster schauen und so Abstand gewinnen, um aus der verschmierten Ansicht wieder Wald werden zu lassen.

Im Mai 1979 erlebt Georg wider Erwarten seine erste Westreise nach dem Mauerbau. In Brüssel findet eine europaweite Kirchenkonferenz statt, zu der aus der DDR zwei Teilnehmer zu bestimmen sind. Die Konferenz hat den Ruf, linkslastig zu sein, weshalb den Behörden eine Teilnahme von DDR-Vertretern angeraten erscheint. Die Wahl fällt auf ihn und einen weiteren Kollegen, von dem er damals noch nicht wissen kann, dass der ihn zugleich im Auftrag der Staatssicherheit begleiten wird. Die Beschaffung der Pässe und Visa obliegt einer Abteilung beim Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR. Als er eine Woche vor Reiseantritt nachfragt, wann er die Reisepapiere erhalten werde, bekommt er eine Antwort, wie er sie auf jeder polizeilichen Meldestelle erhalten würde: Warten Sie ab, Sie erhalten von uns Bescheid, ob und wann Sie den Pass bei uns abholen können. Bis dahin gedulden Sie sich, Herr Weber.

Auf die Nachfrage, wie lange vor Reiseantritt man denn erfahrungsgemäß damit rechnen könne, weil doch davon abhinge, wann er nach Berlin kommen müsse, wieder der barsche Ton: Wie gesagt, warten Sie ab. Wir können die Bearbeitung nicht beschleunigen.

Als er einen Tag vor dem vorgesehenen Reiseantritt erneut anklingelt, erkennt er die gleiche Stimme: Ich kann Ihnen nichts Genaues sagen, Herr Weber.

Aber morgen Mittag soll ich doch schon fahren, wendet er ein.

Hören Sie auf, uns weiter zu bedrängen! Es liegt nicht in unserer Hand. Kommen Sie morgen früh um 9 Uhr in die Auguststraße und bringen Sie Zeit mit. Garantieren können wir Ihnen aber nichts, auch nicht, ob die Papiere überhaupt fertig werden.

Wenn ich das richtig verstehe, ist also noch gar nicht sicher, ob ich überhaupt fahren kann?

Ich sagte doch, wir können nichts garantieren!

Schikane, sagt er, als er den Hörer auflegt, wieder mal typisch! Da darf man nun schon einmal ins sogenannte kapitalistische Ausland fahren, weil es der Staat für opportun hält, und dann wird einem seine Abhängigkeit von den Behörden noch einmal unübersehbar eingebläut. Dieser Staat lässt keine Gelegenheit aus, seine Bürger zu demütigen. Kein Wunder, dass immer wieder Leute drüben bleiben, wenn sie einmal die Mauer und diesen ganzen Sicherheitswahn hinter sich haben.

Er nimmt noch den Abendzug und quartiert sich bei seiner Schwester ein, die darauf vorbereitet ist, um am Morgen pünktlich zur Stelle zu sein.

Nein, sagte die Dame, die auf sein Klopfen hin die Tür öffnet, Ihre Papiere sind noch nicht da. Wollen Sie warten?

Das also ist die Person, die zu der Telefonstimme gehört. Das Bild, das er sich von ihr gemacht hat, stimmt mit der Erscheinung überein. Er stellt sich die junge Frau in Polizeiuniform vor. Sie muss ihm ansehen, dass sie ihm unsympathisch ist.

Stimmt etwas nicht, fragt sie.

Doch, doch, sagt er. Alles stimmt.

Im Übrigen wolle er lieber warten, als ziellos und unruhig durch die Stadt zu schweifen und aller zwei Stunden erneut zu klopfen. Er nimmt in einem Vorraum Platz, in dem nur der Ikonenkalender aus dem Union-Verlag verrät, dass er sich nicht auf einer Polizeidienststelle befindet. Er zieht ein Buch aus der Tasche, Dorothee Sölle, Atheistisch an Gott glauben, und beginnt zu lesen.

Eine andere Tür öffnet sich.

Elisa?

Er springt auf, während sie ruhig mit ihrem leicht rudernden Gang auf ihn zukommt.

Ich hab gehört, du bist hier.

Georg und Elisa haben in Greifswald drei Jahre zusammen studiert. Seit seinem Wechsel nach Halle sind sie sich nie wieder begegnet.

Ich hatte keine Ahnung, dass du hier arbeitest. Bist du denn gar nicht Pastorin geworden? Doch, schon, sagt sie. Ich habe mir mit meinem Mann eine große Landgemeinde geteilt. Er eine volle Stelle, ich der Kinder wegen eine halbe. Seitdem mein Mann Pfarrer in Berlin ist, arbeite ich in dieser Kirchenbehörde und bin zuständig für die Vorbereitung theologischer Fachtagungen. Und du?

Georg berichtet von seiner ersten Gemeinde in Sachsen, von Sabine und den Töchtern, von seinem Wechsel in den Norden, und dabei denkt er: Wo ist nur der geheimnisvolle Glanz hin, den seine Erinnerung mit Elisas dunklen Augen verbindet?

Und nun darfst du reisen, fragt sie. Nach Belgien? Wie schön. Ich freu mich für dich.

Na ja, – Georg zögert – mir ist eben mitgeteilt worden, das sei alles noch ziemlich ungewiss. Ich werd gleich mal nachschauen. Sag mir noch, wie es dir gesundheitlich geht? Damals hattest du manchmal Depressionen, vor allem in den grauen Spätherbst- und Winterwochen, wenn sich die Sonne lange versteckt hielt.

Georg schaut sie erstaunt an: Das weißt du noch?

Elisa nickt.

Ganz los bin ich sie nicht, bekennt Georg, aber ich arbeite daran. Und wenn man mich jetzt für eine Woche aus diesem Staatsgefängnis entlassen würde, ginge es mir sogar sehr gut, obwohl die graue Zeit im Anmarsch ist.

Nicht so laut, zischt Elisa. Die Wände haben überall Ohren.

Ich denke, ich bin in einer Kirchenbehörde, flüstert er.

Das hat nichts zu sagen, flüstert sie zurück und schüttelt den Kopf über so viel Naivität. Wann sollst du reisen, fragt sie, jetzt wieder laut.

Heute Mittag, hat es geheißen.

Ich werd mal nachschauen, sagt sie erneut und verschwindet hinter der bewussten Tür. Schon wenige Minuten später winkt sie ihn in das Büro, wo er vor einem Tresen stehen bleibt. Auf einem der beiden Schreibtische dahinter türmt sich ein Stapel blauer Pässe. Sie greift nach dem obersten, in den mehrere Papiere geklemmt sind und reicht ihn Georg.

Das ist dein Pass, sagt sie. Darin findest du auch die Fahrkarte Berlin-Zoo – Brüssel und zurück sowie einen kleinen Stadtplan von Brüssel. Dein Zug fährt übrigens erst morgen. Wenn du willst, kannst du schon heute rübergehen. Hast du in Westberlin jemanden, wo du übernachten kannst?

Georg nickt.

Du bekommst 100 D-Mark Reisegeld. Das klingt viel, aber du wirst sehen, wie wenig das ist. Dabei schiebt sie eine Liste unter seine Hand, auf der ein blauer Geldschein mit einer Büroklammer befestigt ist und reicht ihm einen Stift.

Du musst mir hier Pass- und Geldempfang quittieren.

Das wär’s, sagt sie und hat es auf einmal eilig. Als sie ihm die Hand gibt, macht sie mit der Linken eine Geste zur Tür in den Nachbarraum hin, die er so deutet: Tut mir leid, dass dir meine Mitarbeiterin die Papiere noch nicht geben wollte. Wer jeden Tag Pässe organisieren muss und selber nie fahren darf, nimmt allmählich die Umgangsformen der Volkspolizei an. Als er sich auf der Straße wiederfindet, weiß er nicht mehr, ob er sich bei ihr bedankt hat. Alles ist so ungewohnt und aufregend. Denn auf einmal ist die Mauer weg. Für ihn zumindest. Was er da in seiner Innentasche weiß, ist so etwas wie ein Lottogewinn. Manche riskieren ihr Leben dafür. Jetzt würde er am liebsten in ein Café gehen, einen Mokka bestellen, seinen Pass auspacken und seine Fahrkarte streicheln, den Stadtplan von Brüssel studieren und sich in Ruhe auf die neue Situation einstellen. Denn jetzt ist er – zumindest für eine knappe Woche – reiseberechtigt. Andererseits befürchtet er, irgendetwas könnte doch noch dazwischen kommen, das ihn am Übergang in den Westen hindert, ein Polizeikommando, das ihn kurz vor der Grenze einsammelt, ein Geheimer, der ihm seinen Pass wieder abnimmt.

Er begibt sich auf schnellstem Wege zum Bahnhof Friedrichstraße, holt sein Köfferchen aus dem Schließfach und wendet sich nach links, legt die hundert Meter bis zum Eingang der Grenzübergangsstelle zurück, die im Volksmund Tränenpalast genannt wird, und befindet sich am Beginn eines Ganges, dessen linke, durch ein Geländer getrennte Hälfte von Menschen mit Taschen und Koffern verstopft ist, während die rechte nahezu unbenutzt scheint. Ein Grenzer fordert seinen Pass. Georg greift in seine Innentasche und reicht ihm die Papiere, ohne die Fahrkarte herauszunehmen.

Dienstreisender, fragt der Grenzer.

Ja, sagt Georg.

Rechts, bitte.

So kann er an all den Menschen vorüber bis zu einem Schalter gehen, an dem er anzuhalten hat.

Papiere, sagt ein Grenzbeamter durch den Fensterschlitz. Diesmal reicht Georg nur den Pass hinüber. Der Pass verschwindet unter einem Tresen und bleibt für eine Weile unsichtbar. Währenddessen hat Georg Gelegenheit, sich umzusehen. Er entdeckt den Spiegel über sich, dann eine Kamera an der Wand.

Sie wollen nach Belgien?

Ja, sagt Georg.

Aus der Tiefe des Tresens holt der Grenzer einen Telefonhörer hervor und wählt offenbar eine Nummer, auch wenn von dem Apparat selber nichts zu sehen ist. Georg hört seinen Namen. Alles andere versteht er nicht. Stimmt etwas nicht, fragt er sich. Kommt jetzt dessen Vorgesetzter, um mir zu erklären, dass meine Reise nicht stattfinden werde? Es dauert.

In Ordnung, sagt der Grenzer zu irgendwem am anderen Ende und legt auf. Irgendwann liegt der Pass wieder auf dem Tresen.

Gute Reise, sagt er.

Georg fühlt sich wie ein Bergsteiger, der soeben auf dem Gipfel angekommen ist. In solchen Momenten werden alle Menschen Brüder. Er würde dem Grenzer am liebsten einen Kuss geben. Aber wofür? Dafür, dass der seiner Pflicht nachkommt, einen Reiseberechtigten durch die Sperre zu winken? Dafür, dass er – entgegen aller Grenzgewohnheit, wie Georg später noch feststellen wird – Gute Reise gesagt hat? Es gibt eine Art von Dankbarkeit, die etwas Hündisches hat, weil sie das Ergebnis von permanenter Demütigung ist. Vor der muss ich mich hüten, schießt es Georg durch den Kopf.

Der nächste Beamte holt ihn auch schnell wieder auf den Boden zurück: Halt! Führen Sie etwas mit sich, was den Zollbestimmungen der Deutschen Demokratischen Republik unterliegt?

Ich glaube nicht, sagt Georg unsicher. Außer meinen persönlichen Dingen habe ich lediglich zwei Schallplatten und ein Buch bei mir, die als Geschenk gedacht sind.

Einen entsprechenden Zettel hat er ausgefüllt und reicht ihn hinüber.

Was für ein Buch?

Brecht, Gedichte.

Verschwinden Sie, scheint die Geste zu heißen, mit der ihn der Zöllner wortlos weiterwinkt. Und nun? Was kommt als Nächstes? Ein Gang, Kabinentüren, eine Ecke, eine Treppe hinauf – und er steht auf dem Bahnsteig, den man mit einer Stahlwand von den Bahnsteigen für den Ostberliner Verkehr abgetrennt hat. Eigentlich ist er schon fast im Westen, auch wenn er territorial gesehen auf Ostberliner Boden steht, die Ost-Berliner S-Bahn vor der Nase. Der Zug steht mit offenen Türen vor ihm. Menschen steigen ein, junge Leute mit Plastiktüten und Umhängetaschen, Tagesbesucher, die ihr zwangsgetauschtes Geld in Form von Büchern wieder mit hinübernehmen, andere mit Koffern und Taschen, Rentner, die zwar keinen Anspruch auf Westreisen besitzen, aber doch in der Regel fahren dürfen, da ihr Verbleiben im Westen ökonomisch nicht als Verlust zu Buche schlägt: frei werdende Wohnung, eingesparte Sozialleistungen, langsam aussterbende bürgerliche Ansichten und Traditionen. Auf diesem Bahnsteig mischt sich wieder, was im Tränenpalast sorgfältig getrennt worden ist.

Er steigt ein. Und als sich die Türen schließen, fährt er in die Freiheit oder was er dafür hält. Und keine Mauer hält ihn mehr auf.

Lehrter Stadtbahnhof. Gott, wie der aussieht! Eine verlassene, schwarzgraue Halle, von seinen Schwesterbahnhöfen im Osten nicht zu unterscheiden. Nur ein zerschrammter Vivil-Automat verrät, dass man sich im anderen Teil der Stadt befindet. Die S-Bahn verlangsamt ihre Fahrt, hält und fährt wieder an, ohne dass jemand zugestiegen ist. Bellevue. Eine alte Frau quält sich mit ihrem großen Koffer hinaus, zwei Männer, eine Zeitung unter dem Arm, kommen in den Wagen. Tiergarten. Der Zug füllt sich. Dann Bahnhof-Zoo. Das ist nun unübersehbar der Westen. Auf dem Bahnsteig emsiger Betrieb. Frauen und Männer, die ihre Verwandten aus dem Osten abholen und sich schluchzend in den Armen liegen, Geschäftsreisende mit eckigen, schwarzen Lederkoffern, junge Leute mit verwegenen Frisuren und auffälliger Garderobe. Aber ihm scheint, auffällig nur für ihn. Die Menschen hasten aneinander vorbei, treppauf und treppab, ohne einander gewahr zu werden. Unten in der Halle wendet er sich an einen Beamten mit roter Mütze, der in seinem feinen dunklen Jackett, dem weißen Hemd mit der blaurot gestreiften Krawatte und seiner frisch gebügelten Hose aussieht, als müsse er wenigstens Bahnhofsvorsteher sein. Auch das Bahnpersonal unterscheidet sich von dem auf der anderen Seite. Ob er ihm sagen könne, wie er nach Halensee komme.

Aber gern, sagt der und nennt ihm die weitere S-Bahn-Verbindung über Westkreuz. Dabei trifft ihn ein Blick, der leichte Irritation erkennen lässt und heißen kann: so jung und schon im Westen? Georg schämt sich. Man sieht ihm den Osten an, obwohl er sich einen schicken neuen Mantel gekauft hat.

Er hätte auch einfach weiterfahren können. Nun muss er die Treppe wieder hinaufsteigen, um die nächste Bahn zu nehmen. Dazu durchquert er noch einmal die Halle, vorbei an verlockenden Imbissständen und einem Blumenladen, der überquillt von seiner blühenden Pracht, und das im Herbst, wo auf seiner Seite der Mauer außer Chrysanthemen und Alpenveilchen nichts zu haben ist. In einer Ecke hockt eine Gruppe Jugendlicher auf dem Boden, Flaschen, Zigaretten, eine Wasserlache. Einer, mit strähnigen, verklebten Haaren und dicken Ohrringen, schaut kurz auf, vernebelter Blick, und sagt: Gaff nich so!

Das gibt es im Osten auch. Aber die Trapo räumt sie unbarmherzig weg, wohin auch immer. Man erzählt sich, manchmal würden sie zwangsgeschoren und eingelocht. Er hält das für übertrieben.